Sit venia verbo
Dienstag, 1. April 2008
"In der europäischen Imagination wurde Tibet zu einem seit Urzeiten unveränderten Land, jeglicher Zeit und Geschichte enthoben, das sich den Schlüssel zu den mystischen Lehren der Menschheit bewahrt hat. Diese Wahrnehmung wurde von der Theosophie bestärkt, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Intellektuellen in Europa und Amerika großen Einfluß hatte. Tibet galt den Theosophen als sagenhaftes, spirituelles Zentrum der Welt, von dem aus die Geschicke der Menschheit gelenkt werden. Da zu jener Zeit nur wenige das Land bereisten, konnten sich solche Mythen hartnäckig halten. Erstaunlich ist jedoch, daß nach der Flucht des Dalai Lamas und tausender Tibeterinnen und Tibeter ins indische Exil keine Entmythisierung einsetzte, sondern die Tibeter in ihrer Gesamtheit zu einem völlig vergeistigten, nur der Religion hingegebenen Volk, das jedweder materiellen Neigung völlig abhold ist, stilisiert wurden. Diese Wahrnehmung hat sich erstaunlich konstant bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch unter Wissenschaftlern gehalten. Noch 1996 schwärmte der bekannte amerikanische Tibetologe Robert Thurman, der an der Colombia-University in New York lehrt, von der "lebendige(n) Einheit von Weisheit und Mitgefühl" und der "selbstlosen Hingabe", die "das Wesen des tibetischen Lebensgefühls" ausmache. Erst in den letzten Jahren hat das Bild Tibets als "Shangri-La", als irdisches Paradies, feine Risse bekommen. 1978 stellte der palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said die These auf, daß das europäische, nach-aufklärerische Bild des "Orients" nicht einer tatsächlichen sozialen Realität entspreche, sondern in der Imagination der Europäer als Gegenbild zum europäischen Selbstbild erschaffen worden sei. Die "Orientalismus"-Debatte, die in den Orientwissenschaften eine Krise ihres Selbstverständnisses ausgelöst hatte, wurde lange Zeit in der Tibetologie ignoriert. Erst 1995 erschien die erste Buchpublikation zur Buddhismusrezeption im Kolonialismus, und in den Jahren danach begann eine intensive Aufarbeitung der abendländischen Tibet-Wahrnehmung.
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Die Exiltibeter haben sich den positiven Mythos ihrer selbst größtenteils zu eigen gemacht. In seiner Autobiographie behauptet der Dalai Lama, daß die Tibeter früher ein kriegerisches und aggressives Volk gewesen seien. Aufgrund ihrer Bekehrung zum Buddhismus "änderten sich aber die Beziehungen zu den Nachbarländern und nahmen einen spirituellen Charakter an". Der tibetische Historiker Jamyang Norbu hält daher der tibetischen Exilregierung vor, daß sie "die Propagierung eines Bildes von Tibet vor 1959 als Land des Friedens, der Harmonie und der Spiritualität" als eine ihrer zentralen Aufgaben betrachte und selbst in politischen Entscheidungen dem Diktat des Mythos unterworfen sei. Damit verliere der Mythos Tibet seine politische Unschuld, und das hartnäckige Festhalten an einem mythischen Tibetbild verwehrt den Tibetern die Option, ihre eigene Geschichte als handelnde Akteure neu zu definieren und zu gestalten."
- Karénina Kollmar-Paulenz, "Kleine Geschichte Tibets" -