Der Kunde ist Täter

Samstag, 19. April 2008

Tatsächlich soll Lidl Marktanteile eingebüßt haben, seitdem von den Überwachungs- und Kontrollmethoden gegenüber dem eigenen Personal die Rede war. Dies sei die "Macht des Verbrauchers", wird optimistisch festgestellt. Der mündige Kunde würde eine derartige Behandlung nicht tolerieren, sich von einem solchen Unternehmen abwenden, am freien Markt ein anderes Angebot auswählen. Die Moral finde also einen Platz im System, wird nicht von erbsenzählender Kundschaft als Nebensächlichkeit abgetan, sondern vielmehr als grundlegende Basis für ein Geschäftsverhältnis. Man geht davon aus, dass diese ominöse "Macht des Kunden" ein wohl durchdachter Schritt desselbigen ist, lehnt es gleichzeitig ab, dahinter nur eine kurzfristige Trotzreaktion zu erblicken. Ein Trotz, dem bereits im Beginn ein schnelles Ende innewohnte, wenn nur das billige Angebot folgt, das ewige Schnäppchen lockt.

Aber vom kurzen Gedächtnis des Kunden soll nicht die Rede sein. Seine Bereitschaft, sich nach Alternativen umzublicken sei hervorgehoben - auch wenn diese Bereitschaft nicht selten einem kurzen Strohfeuer gleicht. Die Alternativen zu Lidl sind Legion: Aldi, Plus, Schlecker, Edeka, Penny, Netto, Norma, Rewe und viele mehr. Dumm nur, dass Lidl-Methoden bei allen diesen vermeintlichen Alternativen ans Tageslicht kamen. Wie sieht es nun mit der "Macht des Verbrauchers" aus? Was, wenn ein moralisch gesitteter Kunde - der mit einem schmalen Portemonnaie gestraft ist, daher von einem Discounter abhängig ist - es sich zur Aufgabe gesetzt hat, nur dort einzukaufen, wo die Angestellten wie unbescholtene Menschen, nicht wie potenzielle Verbrecher behandelt werden? Welche Alternativen bieten sich ihm?

Es ist geradewegs ein kafkaesker Zustand, in den sich ein Kunde geworfen fühlen muß. Kein Lichtschimmer, der das Dunkel erhellt. Gleich bei wem er seine Lebensmittel einkauft, er unterstützt damit ein Unternehmen, welches ein negatives Menschenbild pflegt; ein Unternehmen, das Niedertracht und Hinterlist zum dominierenden Wesensmerkmal von Menschen erhebt, weswegen absolute Kontrolle angeraten scheint. Direkter: Der Kunde lädt Schuld auf sich, weil er diese Methoden unterstützt - unterstützen muß! Wie der lohnabhängige Angestellte eines solchen Unternehmens, so ist auch der Kunde an selbiges gekettet. Seine Ketten sind variabel, nicht an ein einziges Unternehmen geschmiedet; er hat die Auswahl innerhalb einer ganzen Branche, aber innerhalb dieser Branche bleibt er doch an der Kette. Seine Moral verkommt zur sinnlosen Tätigkeit, weil er sich letztendlich immer zwischen amoralischen Arbeitsverhältnissen zu entscheiden hat.

Diese "Alternative der Alternativlosigkeiten" ist Spiegelbild einer ganzen Gesellschaft. Auswahl gibt es freilich genug: Der freie Markt erschafft ein riesiges Angebot, bietet Alternativen, aber zieht immer ähnliche "Produkte" heran. Es sind Alternativen im vorgegebenen Rahmen, sich ähnelnd und manchmal sogar haargenau gleichend. Wir geben uns umweltliebend, tun aber täglich unseren Teil dazu, der Umwelt einen weiteren Stoß zu verpassen; wir hegen Mitgefühl für die Menschen in der Dritten Welt, stacheln aber mit unseren Konsumverhalten, unserer gleichgültigen Einkaufsroutine, die Diskrepanz weiter an. Der Mensch dieser Gesellschaft ist a priori ein Mittäter. Oft ein unwissender Täter freilich, aber doch ausführend und damit zerstörend. Selbst wenn er erkannt hat, dass sein Handeln ausbeutet, ausraubt, verletzt und tötet, kann er sich kaum eines alternativen Weges bedienen. Die gebotenen Optionen bewegen sich stets in einem engen Rahmen, unterscheiden sich nur in Nuancen. Der Mensch entkommt nicht den Mechanismen, sondern versucht sein Bestes, sich damit zu arrangieren, ersinnt Ausreden und Ausflüchte, erfindet sich Lügen, zieht sich eine innerliche Gleichgültigkeit heran, will in Unwissenheit verweilen, um sich eines reinen Gewissens zu erfreuen. Mit der Einsicht, beinahe bei jedem Schritt, bei jeder Handbewegung, eine Mitschuld zu tragen, freunden sich die wenigsten Menschen an. Und tun sie es doch, so verfallen sich in depressive Phasen ob des "schlecht Gegebenen", des geradezu aussichtslosen Zustands.

Dem Menschen der modernen Industriegesellschaft ist es nicht gestattet, sich festgesetzter Rituale und Vorgehensweisen zu entziehen. Er muß - gerade auch, wenn er finanziell angebunden ist - sich sogenannten Discountern unterwerfen. Das liberale Gesäusel pflegt hier so zu tun, als habe jeder Kunde die freie Wahl. Doch ein Kunde, der einen Niedrig- und Hungerlohn bezieht, hat diese Freiheit nur als idealistisches Abstraktum, nicht als realistisch umsetzbare Möglichkeit des Handelns. Zumindest sofern er nicht Hungern will. Innerhalb einer Unternehmenslandschaft, die Kontrolle und Überwachung zur allgemeinen Mentalität gemacht hat, ist er - der Kunde - a priori zur Mittäterschaft verurteilt. Der wahre Skandal aus Sicht des Kunden ist nicht, dass Lidl kriminelle Vorgehensweisen benutzt hat, um das eigene Personal zu durchleuchten, sondern dass die Alternativen keine wahren Auswahlmöglichkeiten darstellen. Dass man unbescholtene Menschen zu Handlangern einer menschenverachtenden Praxis macht.

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