In nuce

Donnerstag, 10. April 2008

Alle lieben Tibet! Der Dalai Lama wird als Friedensengel gefeiert, die Tibeter als friedlichstes Volk unter der Sonne verklärt und das "Dach der Welt" als irdisches Paradies feilgeboten! Wie konnte es dazu kommen, dass in Europa dies märchenhafte, geradezu irrationale Bild entstand? - Tom Grunfeld, Professor am Empire State College der State University in New York, beantwortet diese Frage und greift nochmals auf, was Karénina Kollmar-Paulenz in ihrer "Kleinen Geschichte Tibets" bereits kundtat: "Das nahm seinen Anfang im 18. und 19. Jahrhundert, als Westeuropäer durch die ganze Welt reisten, jeden Gipfel erklommen, jede Flussquelle erforschten – doch ein Ort, den sie nie erreichen konnten, war Tibet. Und je weniger zugänglich es war, desto lockender erschien es. Und je mehr es lockte, desto mehr wuchs der Mythos um die vermeintlichen Geheimnisse, die sich dort verbargen. Aber Asiaten durften immer nach Tibet reisen, es gab Handelswege und Pilgerzüge. Tibet war kein geschlossenes Land, nur für Westler war es verboten. Ich habe eine Liste mit den Namen aller Westler, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts jemals nach Tibet gereist sind, und die ist nicht sehr lang. Vielleicht ein paar Dutzend Namen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten wir im Westen die Gründung neuer Religionen, vor allem die Theosophen, die ihre Vorstellungen vom tibetischen Buddhismus in ihre Religion einbringen. Und dann, in den 20er-Jahren, schrieb der Amerikaner James Hilton „Lost Horizons“: die Geschichte einer perfekten Welt, wo niemand alt wird, niemand arbeiten muss, die Sonne immer scheint – ein westlicher Wunschtraum, natürlich. Aber daraus wurde ein Broadway-Hit, ein Kinofilm und das bestärkte die Vorstellungen dieses geheimnisvollen Ortes, die bereits vorhanden waren."

Die Demonstration als Ausdrucksmittel des Widerwillens. In den letzten Tagen fand sie hier Kritik, wurde als Einflußnahme des Bürgers auf die Politik angezweifelt, auch weil ihr ein theoretisches Fundament fehlt. Die uneingeschränkte Erreichbarkeit des Individuums, eingebettet in einer Gesellschaft der Flexibilität und Mobilität, bietet vielleicht neue Wege des Protests. Sogenannte Flashmobs provozieren, regen zum Nachdenken an, formulieren Widerwillen. Über Internet und Mobiltelefone verabreden sich fremde Menschen, um Aktionen zu starten, die verschiedene Formen annehmen können. Mal liegen 20 Personen am Boden eines Sportgeschäfts und schlafen, mal klatschen mehrere Menschen gleichzeitig ohne Grund oder es wird kollektiv ein vollkommen sinnfreier Satz an verblüffte Passanten weitergegeben. Spätestens nach ein Paar Minuten löst sich die Gruppe auf, jeder Einzelne geht seines Weges. Manchmal werden noch Flugblätter hinterlegt oder verteilt, die die Motivation der Handlung erklären. So diente die Flashmob-Aktion im Sportgeschäft dazu, die Menschen auf die Arbeitsbedingungen in großen Sportkonzernen aufmerksam zu machen.
Was in vielen Fällen als Ausdruck banalsten Dadaismus' daherkommt, kann tatsächlich als Protestform der Zukunft begriffen werden. In einer Gesellschaft, in der die Polizeigewalt schrittweise gestärkt, die Zugriffsmöglichkeiten der Staatsgewalt ausgebaut werden, können vielleicht Blitz-Demos ein wenig formulierten Unmut im politischen Alltag belassen, die allglückliche Gemeinschaft aller Bürger, entworfen in den Köpfen der Machthabenden, zum ewigen Traum derselbigen degradieren.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fordert: "Konkret verlangen die Experten aus Paris die Abschaffung des Ehegattensplittings, die kostenlose Mitversicherung von Ehepartnern bei der Krankenkasse und den Ausbau der Kinderbetreuung. Nur so könne die Aufnahme einer Vollzeitarbeit für verheiratete Frauen und für Frauen mit Kindern attraktiv gemacht werden." - Die allgegenwärte DDR darf als Metapher dienen. Alle müssen in den Produktionsapparat miteingespannt werden. Arbeit adelt! Und wenn sich wirklich jemand um seine Kinder kümmern will - ob Mann, ob Frau -, so muß die Politik eben einschreiten und dafür sorgen, dass die Arbeit eines Ehegatten bloß nicht ausreicht, um eine Familie zu sättigen. Man fragt sich, wann der "Held der Arbeit" wieder eingeführt wird, damit sich jeder angespornt fühlt, seine Normen zu überbieten; damit jeder danach giert, als nützliches und strebsames Mitglied der Gesellschaft durchzugehen.

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