Wer Taschentücher sucht, sucht keine Antworten

Mittwoch, 22. Juni 2016

Eine Amerikanerin, die so gut wie obdachlos war, der der Mann abgehauen ist und die kein Geld mehr hatte, wurde im letzten Jahr schwanger. Die Frau fand das relativ unpassend und entschloss sich dazu, Adoptiveltern für ihr Baby zu suchen. Nach kurzer Zeit fand sich ein Paar. Zum Geburtstermin reisten die künftigen Eltern an. Nun kam das Kind aber mit einer Behinderung zur Welt, die Adoptiveltern suchten das Weite, man wurde sich nicht handelseinig. »Dann geschah ein rührender Moment«: Die Kindesmutter »entschied, ihr Kind zu behalten.« So berichtet es »Spiegel Online« und nennt das ganze eine »rührende Geschichte«. Rührung - das ist es, was heute den kritischen Journalismus ersetzt hat. Die Rührung ersetzt den Faktenbezug. Und das zeigt letzten Endes auch, dass wir mit der Kritik an Missständen völlig gebrochen haben. Missstände taugen nur noch als herzbrechende Story, nicht mehr als Aufhänger für Gesellschaftskritik.

Man hätte viel zur Konstellation dieses Szenarios schreiben können. Schon alleine aus der sozialstaatlich geprägten Warte eines Europäers heraus. Wenn es darum geht, den kulturellen Unterschied zu Völkern aus Erdteilen herauszuarbeiten, die wir als rückständig erachten, legt man doch journalistisch betrachtet auch gerne mal ein wenig Eurozentrismus an den Tag. Hier nicht, hier ist Rührseligkeit geboten, nichts Konkretes zum Leben in den States, in denen man zwecks Absicherung seines eigenen Glückes Schmied zu sein hat. Neoliberales Elysium. Am Ende müsste man bei so einer Story noch den Bogen zu Bernie Sanders spannen. Aber indem man es rührend findet, dass die größte Not bei den Schwächsten der Gesellschaft ab und an doch ein gutes Ende nehmen kann, bleibt der gute Freund hinterm Teich halt doch ein Land, dem man »Unrechtsstaat« nicht aufs Revers picken sollte. Rechtsruck hin, Trump her.

Letztlich ist es doch so, dass sich der moderne westliche Mensch, seit Generationen in Fragen von Ökonomie und Gesellschaft liberalistisch indoktriniert, in einer Geschichte von einer Schwangeren, die auf der Straße landet und die auf sich derart allein gestellt bleibt, dass die Adoption einen Ausweg verspricht, nichts Kritikwürdiges erkennen kann. Er hat es quasi verlernt, sich in solchen Fragen zu empören. Oh, Empörung ist mitnichten ausgestorben! Sie hat sich verlagert. Man lasse einen Schiedsrichter nur mal einen Elfer nicht gewähren, dann empört man sich lautstark und will Konsequenzen. Aber bei Armut, Obdachlosigkeit, bei Schutzlosigkeit, bei all diesen Folgen des schlanken Staates, da ist der Empörungsimpuls weg. Solche Geschichten taugen nur noch als Unterhaltung, als kleine Spalte zur Grundlagenschaffung positiver Energien, als Aufsteiger- und Alles-wird-gut-Erzählung. Ganz nach dem Muster, dass es immer eine Lösung gibt, dass stets ein Lichtlein daherkommt, wenn es nicht mehr zu gehen scheint.

Im Zuge des Attentates von Orlando berichtete ein deutscher Journalist, dass die »Solidarität funktioniert«. Zu der Erkenntnis kam er exklusiv für  »Spiegel Online«. Wieder so was Rührendes in jenen digitalen Blättern. Und immer erst, wenn es zu spät ist, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist. Dann findet sich immer einer, der was Ergreifendes fürs Herz parat hat. Alles gut in good old America, selbst in Zeiten des Elends funktioniert die dortige Zivilgesellschaft und ist solidarisch. Sie solidarisiert sich gegen den Schwulenhass der Moslems. Die Homophobie der weißen zornigen Männer, die Ablehnung schwuler und lesbischer Menschen von Seiten der Republikaner, all das kaschiert so eine rührende Geschichte, die jegliche Gesellschaftskritik negiert.

Wer gerührt ist, der will sich die Nase putzen und sucht Taschentücher, wo er nach Antworten suchen sollte. Die rührende Geschichte beruhigt die Gemüter, denn sie macht Hoffnung in einer globalen Lage, in der die Umverteilungshemmnisse hoffnungslose Reaktionen beschwört. Rührend, wie rührend sich der Qualitätsjournalismus immer wieder bemüht, das kleine Glück im großen Unglück zu finden.

6 Kommentare:

Wolfgang Buck 22. Juni 2016 um 06:22  

Vorbild und Ziel in Europa ist die US-Amerikanisierung unserer, soll ich es noch so nennen? Sozialstaaten.

Dieser Umbau dauert zwar lange. Für mich hat er bei uns mit dem geistig moralischen Wender Helmut Kohl begonnen. Und es wird wohl noch ein paar Jährchen dauern und womöglich muss erst noch eine ultra-neoliberale Partei wie die AfD an die Macht kommen bis die Verpuppung endgültig abgeschlossen ist und aus der hässlichen, alles fressenden Sozialstaatsraupe ein wunderschöner Neolibschmetterling geworden ist. (So sehen das zumindest "die").

Wie auch immer.

In Frankreich muss man den Menschen gerade den sozialen Gedanken auf der Strasse rausprügeln.

In Deutschland genügt es den warmen Gedanken an einen fürsorglichen Staat durch Unterschichten-Kitsch-Geschichten zu ersetzen.

Bei RTL und Bild hats angefangen. Heute stimmen auch die "Qualitätsmedien" (die das nur noch teilweise sind) mit ein. Ausgrenzung hier (der böse Flüchtling). Solidarität dort (der arme Obdachlose). Und es funktioniert!

Anonym 23. Juni 2016 um 09:59  

Ich habe vor Jahren meine Firma verlassen. Es gab div. Gründe. Ansich war der Job ideal für mich, und ich hatte endlich etwas, das zu mir gepasst hat. Dennoch wurde ich irgendwann wieder unglücklich. Irgendwas fehlte, passte nicht.
Ich kündigte und nahm mir eine Auszeit.
Dabei lebte ich von meinem eigenen Geld.
Mein Plan war, mich total treiben und fallen zu lassen im Strom des Lebens.
Ich wollte jeden Tag so leben, als wärs der letzte und jeden Tag all das tun, worauf ich im Moment Lust habe.
Ich bin dabei sehr vielen Leuten begegnet, aber keinen hats ernsthaft interessiert.
Das ich dabei auch eine Art Glaubensprüfung für mich ablege - wie sehr glaube ich, das sich was entwickelt, das es ein "göttliches Eingreifen" gibt, welches mich dorthin führt, wo ich hingehöre, das ich meine Träume und Wünsche realisieren kann, wenn ich am Ball bleibe - all dieses hohe Spirituelle war den Leuten Banane.
Keiner hats verstanden, selbst die stark Gläubigen nicht.
Stattdessen haben alle nur in Kategorien Arbeitlos:Angestellt gedacht.
Ich hatte die Idee, z.B. als Tagelöhne mich mal durchzuschlagen, um somit den verhassten Veträgen zu entkommen und dann zu arbeiten wann ich will und als was ich will und durch meine Leistung und Motivation entsprechend bezahlt zu werden.
Aber das Leben verhinderte all das.
Ich habe in dieser Zeit von meinem eigenen Geld gelebt und keine Stütze bezogen.
1,5 Jahre habe ich durchgehalten, dann kamen passend zum Ende des Geldes alle möglichen Schicksalsschläge mit einem Mal und ich war direkt mit Obdachlosigkeit und Hungersnot konfrontiert. Teilweise habe ich dann nur noch 2x die Woche Nahrung zu mir nehmen können.
Ich habe mein Vertrauen und meinen GLauben an mich und an das da "oben" verloren, alle meine WÜnsche und Träume lösten sich in Luft auf.
Immerzu hatte ich allen gesagt, es wird schon, aber mein Leben zeigt, das letztlich Geld unser Gott ist. Entweder man hats oder nicht.
Heute habe ich schulden, bin depressiv, fühle mich weder männlich noch menschlich habe keine LEbensfreude mehr und verkaufe mich an den ersten der mich einstellt, egal wie schlecht ich behandelt werde und wie gering der Lohn ist.
Ich habe die Erfahrung gemacht, das bei Geld die Liebe, Freundschaft, der Glaube aufhört.
Ich empfehle heute keinem mehr, aus dem Hamsterrad auszubrechen, ich war immer sehr selsbtbewusst, aber diese Erlebnisse haben mich komplett gebrochen.
Noch nie bin ich für Geld so oft und viel auf dem Boden gekrochen und habe den anderen die Füße geküsst.
Sofern ich wieder ins Hamsterrad zurück darf, wird bei mir an erster Stelle das Geld kommen, Freunde, Familie, Liebe und Glaube (den ich verloren habe) ist alles zweitrangig.
Wer mehr über diese versuchte Realisierung des unmöglichen, welche in die Selbstvernichtung führte, erfahren möchte, kann sich gern über den Admin an meiner Email nschrift an mich wenden.

Kurz und knapp: Macht es nicht nach!

habanero 23. Juni 2016 um 23:39  

@Anonym
Ich habe zwar nicht wie Du das Hamsterrad zwecks Selbstfindung freiwillig verlassen, ich "wurde das Hamsterrad" wegen Krankheit verlassen. Nach 41 Jahren Einzahlung in die Sozialkassen. Ich suchte wie verrückt nach einem Job. Zum Schluß verlangte ich, nein ich bat um 50Cent/Std. No Chance. Als alter Mensch bist du nur noch Müll. Nicht einmal recyclebarer oder kompostierbarer. Nach und nach gehen dann auch die Freunde. Wegen Schulden bleiben mir von meinen Leistungen nach SGB II ca. 25€ zum Lebensunterhalt. Nun ja, noch zwei Jahre. Dann bin ich 65.
Ich kann Dich sehr gut verstehen. Es ist so ähnlich wie es der Schuster Vogt beschreibt.
Ich wünsche Dir viel Glück auf Deinem Weg zurück ins Hamsterrad.

Kritikus 24. Juni 2016 um 23:02  

@ habanero

Es gibt auch immer Möglichkeiten, hier und da zu arbeiten...


Ansonsten alles Gute! Such' dir trotzdem noch ein paar schöne Dinge!

ert_ertrus 25. Juni 2016 um 11:39  

Symptomatisch für die Egoshooter-Gesellschaft made in USA:
Sentimentalität und Brutalität. Ein brutaler Alltag wird
durch ein sentimentales Narrativ zu kompensieren versucht.
Beides gibt es nur im Doppelpack, so wie es den Explosionsknall
nicht ohne anschließende Sprengwirkung geben kann.

habanero 28. Juni 2016 um 13:45  

@Kritikus

ich habe bereits erwähnt, daß ich selbst für 50Cent/Std. keinen Job gefunden habe, auch nicht stundenweise. Auf dem Land und ohne Führerschein ist es sowieso schwierig.
Und der Spruch "es gibt immer Möglichkeiten, hier und da zu arbeiten" ist schnell daher gesagt.
Klingt so wie "wer arbeiten will, findet auch Arbeit".

@Anonym

ich vergaß: Freunde, Familie sind nicht zweitrangig. Sie sind ebenso wichtig wie das tägl. Brot.

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