Arbeitet ihr mal länger, ich kann nicht mehr!

Montag, 13. Juni 2016

Bundespräsidial betrachtet wurden wir ganz schön aufgehalten. Fünf vergeudete Jahre. Die moralische Instanz, die dieses Amt darstellen kann, hätte für das Allgemeinwohl einen Präsidenten benötigt, der gegen den neoliberalen Kurs rhetorisch zu Felde zöge. Eine Person, die eine Kurskorrektur anmahnte. Gauck allerdings war das nicht. Er sonnte sich als unbequemer Präsident, der es sich neben den politischen Entscheidungsträgern nur zu bequem gemacht hatte. Er war ein großes Missverständnis und in letzter Konsequenz eine durch und durch bigotte Gestalt, die savonarolisch Freiheit predigte, aber politische Freiheit für entbehrlich hielt, wenn sie nur den wirtschaftlichen Interessen im Wege steht. Für die Ängste, die die Prekarisierung bei den Menschen verursacht, für die Furcht vor Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit, zeigte er kaum Verständnis. Und dass er jetzt mit Rücksicht auf sein Alter zur Entscheidung kam, lieber nicht mehr zu einer erneuten Amtszeit zu schreiten, zeigt uns vielleicht ein letztes Mal in seiner Karriere als Bundespräsident, wie scheinheilig dieser Mann die Welt und seine Stellung darin wahrnimmt.

Er befürchtet, er packe es nicht mehr. Altersbedingt. Also lässt er die Finger davon. Das ist in seinem Alter nachvollziehbar. Solche Fälle gibt es viele in unserem Land. Dann muss man eben aufhören. Oft noch vor dem Renteneintrittsalter. Die Strafe folgt prompt. Man bekommt die Bezüge gekürzt. Wer sich in diesem Land ängstigt, altersbedingt nicht mehr mithalten zu können, wer verbraucht von vielen Jahren des Sichverdingens ist, der kann es machen wie Gauck. Diese Freiheit gibt es. Wer die Verantwortung für seine Handicaps übernimmt und sich diese Freiheit nimmt, muss bloß finanzielle Einbußen bei seiner Rente akzeptieren. Freiheit in Verwantwortung halt - das Thema seiner Präsidentschaft. Gauck nahm sich seinerzeit die Freiheit, pastoral für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit einzustehen. Ohne sie gehe es nicht, erklärte der Mann, der seine Lebensarbeitszeit eben offiziell für beendet erklärt hat. Schon interessant, wie dieser Mann als gutes Beispiel vorangeht, wie er Wein säuft und Wasser predigte. Die moralische Präsidialinstanz war halt immer nur eine doppelmoralische.

»Arbeitet mal alle schön länger, ich kann nicht mehr, ich bin raus!« Natürlich, Gauck ist ja auch schon ein Mittsiebziger. Aber darum geht es nicht. Was hier den ganzen Charakter seiner Person herauskehrt ist eben, dass es ungezählte Menschen gibt, die nicht mehr können und denen der Pastor der neoliberalen Kirche eiskalt diktierte, dass sie sich auf noch längere Arbeitszeiten einstellen sollten. Man soll bitte nicht falsch verstehen, hiermit soll nicht gesagt sein, dass er weitermachen soll in seinem Alter. Selbstverständlich steht jemanden, der es nicht mehr packt, auch die Freiheit des Abgangs zu. Aber nicht deswegen, weil er Bundespräsident ist, sondern weil er eine Menschenwürde besitzt. Und die besitzt der Maurer wie die Kindergärtnerin.

Nicht in diesem Land, dem Gauck jetzt fünf Jahre als oberster Repräsentat vorstand. Da gibt es vielleicht keine Stände im klassischen Sinne, aber schon so eine gewisse Abstufung im klassistischen Stile. Der in die Jahre gekommene Präsident sagt den in die Jahre gekommenen Arbeitern, dass sie noch anpacken müssen, dreht sich um und bekennt, er könne nicht mehr und beende daher sein Gastspiel an der Spree. Ein Irrtum, der uns fünf Jahre raubte und dem Neoliberalismus weitere fünf Jahre den Anstrich einer vernünftigen Haltung verlieh. Das ist der Unterschied zwischen den klassischen Calvinisten und den neuen Typus der Chicagoer Schule: Die Alten tyrannisierten das Umfeld mit ihrer Moral und legten denselben Maßstab an sich an. Die Neuen schwingen dieselben Reden wie einst die Alten, haben sich aber in eine von Moral befreite Parallelgesellschaft verkrochen. Hoffentlich bleibt der Mann dann auch im Ruhestand. Er hat genug Unsinn in diesem Leben verzapft.

7 Kommentare:

Anonym 13. Juni 2016 um 07:53  

......das war doch der ideale Abschluss seiner "Karriere".....neben seinen anderen Altersruhegeldern noch schnell die 200.000 mit allen Vorteilen abgreifen......einfach nur ein widerlicher alter Sack....

Kritikus 13. Juni 2016 um 15:41  

Bei jedem Profifußballer akzeptiert man, dass die es nicht bis 40 machen.
Wenn aber ein Maurer oder Dachdecker mit 45-50 nachweislich kaputte Bandscheiben und einen kaputten Rücken hat, dann soll der froh sein, wenn er Hartz IV mit Kürzungen für seine "mangelnden Bemühungen" kriegt, auch wenn er körperlich schlicht verschlissen ist und keinen Handwerksberuf mehr machen kann.

Ich habe neulich mal die Zahlen zu Ausbildungen gesehen. Viel zu viele brechen ab. Und das muss nicht an den Azubis liegen, sondern vielleicht sehen sie einfach die Zeitverschwendung und die Perspektivlosigkeit einer bestimmten Ausbildung.
Im Ausbildung- und Weiterbildungswesen wäre viel zu reformieren. Stattdessen wird einfach nur gekürzt.

In den alten Lehramtsstudiengängen (nicht modularisiert) mussten grob beschrieben pro Fach, z.B. Deutsch, 8 Hausarbeiten und einige Klausuren geschrieben werden. Von den 8 Hausarbeiten sind in den modularisierten Bachelorstudiengägen noch 4 übriggeblieben. Die Klausuren sind auch etwa auf die Hälfte reduziert worden.

Die alten Lehramtsstudiengänge hatten eine Regelstudienzeit:
von 9 Semestern, 4 Grund- und 4 Hauptstudium und 1 für Abschlussarbeit. Durchschnittlich wurde aber 12 Semester studiert!

Die neuen modularisierten Studiengänge haben eine Regelstudienzeit von 10 Semestern für Lehramt Gym + Ge, erst 6 Sem. für den BA, dann 4 Sem. für den MA. Die Abbrecherquoten sind höher als in den alten Studiengängen! Die durchschnittliche Studiendauer liegt auch deutlich höher als 10 Semester.

Nur mal, um zu erklären, wohin dieses Land driftet.

ert_ertrus 13. Juni 2016 um 17:48  

Weiß nicht mehr genau, obs in diesem Blog war, wo ich den Job des BuPrä
als den eines Frühstücksdirektors bezeichnet habe und für ebenso sinnvoll
halte. Er ist auch nicht mehr zeitgemäß – welcher aufgeklärte Mensch braucht
einen Ersatzmonarchen a.Z.? Gerade jetzt, wo man wieder nach »starken Vorbildern«
schreit (vor Allem von Rechts) sollte eine Revision dieses »Amtes« in Erwägung
gezogen werden. Es könnte fortan mehr schaden denn von Nutzen sein, sofern
dieser jemals existiert haben sollte …

Anonym 13. Juni 2016 um 19:20  

@Roberto De Lapuente

Ich weiß immer nicht so recht, was ich von solchen Kommentaren halten soll.

Zugegeben, ich kann diesen Gauck mit seiner pastoralen Leutseligkeit auch nicht ab und er hat genug Blödsinn geredet. Mein persönliches Highlight war seine Rede vor Bundeswehroffizieren, bei der er für mehr Auslandseinsätze warb und den Satz von seiner imaginären Kanzel absonderte:
"Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glücksüchtige Gesellschaft schwer zu ertragen"

Andererseits ist er nun mal nur der Bundespräsident.
Jeder Bürgermeister und Lobbyist hat mehr Macht als er. Also was soll er machen? Selbst wenn er die wirklich wichtigen Probleme dieses Landes ansprechen und die Reichen geißeln würde, was würde sich wirklich ändern?
Außerdem würden ihn die Medien platt machen, man denke nur mal an Christian Wulff.
Der Bundespräsident darf keine Machte haben, wäre ja auch noch schöner, wenn da jemand wäre, der unabhängig von einer Parteibasis operieren könnte.
Deswegen wird der Posten auch zwischen den Parteieliten ausgekungelt, da kann man keinen wirklich unbequemen Kandidaten erwarten. Er soll alle repräsentieren, also darf er auch niemandem wehtun.

Und überhaupt, nimmt jemand den Mann ernst? Also ich meine jetzt nicht irgendwelche selbstverliebten Elitejournalisten, sondern normale Leute.

Anonym 13. Juni 2016 um 21:16  

"[...]Im Ausbildung- und Weiterbildungswesen wäre viel zu reformieren. Stattdessen wird einfach nur gekürzt[...]"

@Kritikus

Da rennt jemand bei mir offene Türen ein, denn ich wurde vom Jobcenter hier eiskalt verarscht, als ich meine Weiterbildungsabsicht bekundete nachdem ich selbst festgestellt habe, dass ich in meinem einstigen Lehrberuf keine Chance mehr auf einen Wiedereinstig sehe. Mir wird derzeit eine schulische Weiterbildung verweigert, und ich werde auf Zeitarbeit und Helferjobs verwiesen damit ich Kohle verdienen muss....

Tja, damals, als es noch Unterhaltsgeld und kein Hartz IV gab, da war vieles einfacher, da wurde man nicht bestraft für seine Weiterbildungsbemühungen sondern belohnt....mit einer betrieblichen oder schulischen Umschulung....dank Gauck, Hartz & Konsorten sind diese Zeiten auch vorbei, und ich bin Teil einer Generation, die sich noch darüber aufregt - Ich weiß es, da die jungen Menschen heute die "Reformen" kritiklos annehmen....ist halt selbst schuld wer seine einstige Ausbildung "veralten" ließ....wie es so schön heißt....

Übrigens, ich lernte einmal, dass man einmal gelernt immer gelernt hat, aber in unserer schnelllebigen Zeit verfallen sogar ganze Lehrabschlüsse....nach einer gewissen Zeit....die Berufe haben sich nicht geändert, aber die Dokumente....dt. Bürokratie eben.....

Zynischer Gruß
Bernie

dlog 14. Juni 2016 um 10:13  

Das Ganze wäre natürlich wesentlich spannender, wenn der Grüßaugust direkt vom Volk gewählt würde. Wenn parteilich unabhängige Kandidaten kandidieren könnten. Das wäre zwar auch nicht astrein, schließlich würden dann die Parteien solche Leute wohl zur Kandidatur einladen, aufrufen, aufstellen aber besser wäre es allemal. Da der Präsi eh so gut wie nix zu melden hat, würde er dann immerhin als Repräsentant "des Volkes" seiner Aufgabe gerecht.

Aber die Forderung nach der Direktwahl ist ja ein alter Hut ...

Kritikus 21. Juni 2016 um 12:05  

@ dlog

Ein direkt gewählter Präsident?
Es könnte auch einer kommen wie Donald Trump in USA.


@ Bernie

Danke!
Und dir alles Gute für den berufl. Erfolg. Vielleicht schafft es die Linke ja doch noch, dass sich was ändert.

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