Ohne Geschichte

Freitag, 17. Juni 2016

In seinem letzten Buch sorgte sich Neil Postman, weil unserer Welt eine Erzählung fehlt. Also etwas, woran man sich als zeitgenössischer Mensch festhalten könnte. Jede Zeit hatte mehr oder weniger eine Geschichte, die den Menschen als perspektivisches Movens allen Treibens hier unten gewahr wurde. Nicht alle diese Geschichten waren der große Wurf, manche hielten die kleinen Leute exakt bei diesem Attribut. Gott und seine Angestellten zum Beispiel. Trotzdem war es ein Ordnungselement, das den Menschen eine gewisse Orientierung erlaubte. Doch dann kam die Aufklärung, ein Projekt von überwältigender Inspiration. Sie sollte die neue Erzählung werden, eine auf leidenschaftliche Vernunft (ein Oxymoron als Ideal) gründende neue Einstellung zur Welt und allem, was darin idealistisch wie materiell vorhanden ist. Die Postmoderne und explizit die Dekonstruktion, die im letzten Jahrhundert dazu überging, die Realität zu leugnen, weil diese sprachlich nicht aufzuschnappen sei, so ärgerte sich Postman seinerzeit, habe den aufklärerischen Geist (der ohnehin im Niedergang war) vollends erstickt. Er war so ein leidenschaftlicher Vernunftsmensch, dieser Neil Postman.

Kann gut sein, dass er übertrieben hat mit der Ablehnung dieser neueren Denkrichtung, für die er »Baudrillard, ausgerechnet einen Franzosen« verantwortlich macht, einen Landsmann der großen Aufklärer. Vielleicht gingen auch die Gäule mit ihm durch, als er dort den »Bann einer schweren Depression« witterte, der die dekonstruktionistische Realität (schon wieder ein Oxymoron) befallen habe. Aber so vollkommen daneben hat er nun damals auch wieder nicht gelegen. Ja, uns fehlt eine Geschichte, sei es nur ein gesellschaftliches Narrativ, das uns als Gemeinschaft in einem gewissen Ethos eint. Wir haben zwar die neoliberale Lehre, aber die eint ja nichts, die versprengt die Gruppen, die Interessensbände und subjektiviert ohne auch nur objektiv sein zu wollen. Doch »eine Erzählung [...], die unserer Welt Ordnung und Sinn gibt - eine Geschichte von Transzendenz und mythischer Kraft«, an der mangelt es uns. Postman aber war sicher, »dass wir eine Geschichte brauchen, die uns erklärt, weshalb wir hier sind und was unsere Zukunft sein wird, und viele andere Dinge mehr, darunter auch, wo Verbindlichkeit ihren Ort hat«.

Die Aufklärung hat keine Strahlungskraft mehr. Eine neue muss her, urteilte Postman seinerzeit. Stimmt schon. Aber wie soll man einfach mal eine neues intellektuelles Movement in die Wege leiten. Dummheit bewegt sich. Das lässt sich dieser Tage von Tea Party bis Montagsmärsche ganz gut erkennen. Aber wie will man die Menschen bestärken, wieder wissen zu wollen, anhand von Wissbegierigkeit die allgemeine Situation zu verbessern? Letztlich braucht es Perspektiven für die Menschen, einen Ausblick auf eine gesellschaftliche Richtungsangabe. Das hatten ja selbst so unzureichende Systeme wie der real existierende Sozialismus. Bei dem war weiß Gott vieles fehlerhaft und pervertiert. Aber dass es ein Ziel des Gemeinwesens geben musste, wenigstens theoretisch, weil es in der Praxis oft scheiterte, das war den Machthabern schon klar. Progressivität musste sein. Wenn die Leute nicht wissen, wofür sie schuften, wofür sie jeden Morgen aufstehen, dann wickelt sich Gesellschaft ab, wie es eine Feder tut, die die Spannung verloren hat und die erst langsam und dann mit einem großen Schnalz vom Bolzen springt.

Was bietet uns der Status Quo im Hinblick auf das Wohin? Arbeitsplätze prekarisieren, Löhne stagnieren. Arbeitslosigkeit manifestiert sich und der Niedriglohnsektor greift sich jeden, der stolpert. Überall wird gespart. Kommunale Freizeit- und Kulturangebote geraten an den Rand ihrer Finanzierbarkeit oder schließen tatsächlich gleich komplett. Es fehlt an Sozialarbeitern und an Angeboten für junge Leute; ganze Stadtteile verwahrlosen oder werden für den Großteil der Menschen in die Unerreichbarkeit gentrifiziert. Für was Staatsbekenntnisse abgeben, wofür noch Solidaritätsgedanken pflegen, wenn sich die Zukunft in diesem wirtschaftspolitischen System ohnehin nur als graue Masse aufbaut, als ein Zustand, über den keiner mehr spricht, weil jedermann in der Gegenwart geschäftig am Bestellen kurzfristiger Planungen fuhrwerkt, um es wenigstens für den Moment noch über die Runden zu schaffen.

Politik hat aber mehr zu sein. Sie muss Perspektiven eröffnen, muss Zielvorstellungen konkretisieren und den Menschen Vorschläge machen, wie eine Zukunft aussehen könnte und umsetzbar ist. Sie muss nicht wie ein Genie visionär sein, aber wenigstens Anhaltspunkte für eine künftige Gesellschaft haben, muss Verbesserungen und Erleichterungen postulieren und sich fragen, ob die Wertvorstellungen von gestern und heute auch noch morgen Gültigkeit besitzen. Das ist es, was Postman meinte, als er fragte, »wo Verbindlichkeit ihren Ort hat«. Aber selbst da sind wir ja nicht mit uns im Reinen, denn selbst die Demokratie ist perspektivisch betrachtet kein Zustand, den wir als Muss in eine potenzielle Zukunft überführen wollen. Marktkonform soll sie sein. Dabei bleiben demokratische Grundvorstellungen auf der Strecke. Und damit auch eine Geschichte, die wir als Gesellschaft benötigen, eine die uns sagt, dass Demokratie unabänderlich ist und alles dafür getan werden muss, dass sie erhalten bleibt für die Zukünftigen.

Nach so vielen Jahren neoliberaler Politik bleiben Bürger zurück, die eigentlich gar nicht so richtig wissen, welchem Leitfaden wir in Richtung Zukunft folgen. Was geplant ist und wie wir leben wollen. Man lebt heute so dahin. Ohne eine Geschichte zu haben. Eine Erzählung, die uns lotst. Postman fürchtete sich in seinem letzten Buch vor dem, was an die Stelle einer Erzählung geplant war. Virtualität eben. Damals war Facebook und Konsorten noch Zukunftsmusik. Eine, die kein Ersatz sein konnte für ein gesamtgesellschaftliches Konzept. Seine Ängste hätten sich tatsächlich mehr oder weniger bestätigt. Er starb jedoch, bevor es richtig damit losging. Eine zweite Aufklärung hat die virtuelle Realität nicht gebracht. Ganz so, wie Postman es ahnte. Und seit vielen Jahrzehnten stückwerken wir vor uns hin, kurzfristige Lösungen hier, Wertepragmatismus dort, wenn es nur auf die Schnelle den Laden am Laufen lässt. Austerität, Prekarisierung, Gentrifizierung - was sind das für Perspektiven? Kein Wunder, dass man nach Alternativen sucht. Auch nach falschen. Besonders nach falschen.

Wir brauchen eine Erzählung, die die ökonomische Verteilung und Bildungsbewusstsein paart, damit nicht alles auseinanderbricht. Bleiben wir noch lange ohne eine Geschichte, ist das alles hier bald Geschichte.

6 Kommentare:

Wolfgang Buck 17. Juni 2016 um 11:31  

"Die zweite Aufklärung" habe ich vor vielen Jahren, Anfang des Jahrhunderts gelesen. Ich fand es nach einigen langen Strecken über die US-Amerikanische Geschichte doch sehr inspirierend. (und auch die subjektiv "langen Strecken" sind im Nachhinein im Kontext sehr interessant)

Für mich ist die neue Geschichte eine Alte und lässt sich mit nur drei Worten erzählen:

Liberté
Égalité
Fraternité

Darauf ließe sich alles aufbauen, wenn diese Worte endlich einmal ernst genommen würden!
Da steht aber die ganze Macht der neoliberalen und faschistischen Gegenaufklärung dagegen.

Danke übrigens für diesen Text!

ninjaturkey 17. Juni 2016 um 13:07  

Hm - jetzt wollte ich wortreich vom Leder ziehen und da bringt´s der Wolfgang mit drei Wörtchen auf den Punkt!

Ansonsten brauche ich kein Narrativ, wie die Menschen nie wirklich eins gebraucht haben. Gebraucht hat man nur eines um die Menschen in der einen oder anderen Richtung zu lenken oder zu mobilisieren.
Was der Sinn des Ganzen ist und wohin wir streben - auf die Suche sollte sich ein jeder selbst machen dürfen und, mit hinreichend Bildung versehen, auch können. Die Antworten sind zu unterschiedlich und zu subjektiv um in ein Narrativ zu passen.

Peter Teichmann 18. Juni 2016 um 12:47  

Eine andere Gruppe bringt es instinktiv auch auf den richtigen Punkt, wenn auch in sehr despektierlicher Absicht: "Links-grün versifftes Gutmenschentum".
Ich übersetze das mal so:

Sozialistisch
Demokratisch
Ökologisch
Humanistisch

Es gibt zwar noch keine Mehrheit, die das weitererzählt, dürfte aber immerhin bereits die größte Gruppe sein.

ert_ertrus 18. Juni 2016 um 17:46  

Mein Vorschlag: ein Jahrhundert der Abrüstung, des Rüstungsrückbaus in ALLEN
Bereichen (jawohl, auch der Wirtschaft und des Geldunwesens). Dem stehen Big
Money und militärisch-industrieller Komplex natürlich im Wege (als besonders
fiese Agakröten, die ihren Sumpf natürlich nicht trockengelegt haben wollen) –
ein Bewußtseinswandel muss her…
Was der historischen Aufklärung noch fehlte, war ein planetarisches oder
evolutionäres Bewußtsein (dem damals noch die Wissensgrundlagen fehlten).
Vor Allem dieses muss durch Bildung und Erziehung im globalen Umfang geweckt,
entwickelt werden, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Kritikus 21. Juni 2016 um 12:11  

Ich hatte zu einem älteren Artikel (2009) etwas zu Resilienz geschrieben. Das ist nämlich die Geschichte des 21. Jh. "Resilienz" bedeutet, alles einfach aushalten zu können. Passt ganz gut zu einer in der Breite verarmenden Gesellschaft. Und Inhalte, Nachdenken und eine Geschichte oder Aufklärung braucht man dann auch nicht mehr. Alles einfach aushalten ist ja genug für jede Situation.

Dass die Menschen an sowas kaputt gehen werden, sagt und schreibt niemand.

flavo 24. Juni 2016 um 20:24  

Diese Erzählung suchen nachdem erzählt, dass es keine großen Erzählungen mehr gäbe. Große Erzählungen gibt es derweil immer. Ohne geht es gar nicht. Wir leben immer in transindividuellen Sinngeweben. Da machen wir mit, ob wir wollen oder nicht und sind darin die, die wir sind. Also erzählen wir eigentlich immer alle gemeinsam. Heute erzählen wir im wesentlichen, dass Experten einen Sachzwang realsisieren. Experten einen Sachzwang realisieren. Darin werden wir dann auch erzählt. Wir kommen drauf, wie wir gemäß dem Sachzwang zu leben haben: mit dem Geld, mit der Gesundheit, mit dem Hobby.

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