»Masturbieren Sie täglich?«
Freitag, 10. Oktober 2014
oder Statistiker sind auch nur so Statisten im Dickicht der Konventionen.
Gott sei Dank. Entwarnung. Die Deutschen sind also doch nicht so romafeindlich. Die vor einigen Wochen veröffentlichte Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes traf in ihrer Auswertung nicht ganz zu. Nicht etwa ein Drittel der Bürger lehnten demnach Sinti und Roma ab. Es sind nur ein Fünftel. Und Deutschland ist entlastet. Doch nicht alles so schlimm. Es gibt noch Hoffnung.
Lächerlicher dürfte es kaum noch gehen. Gut, lassen wir es mal so stehen, dass nicht ganz so viele Menschen bei der Studie ihre Abneigung kundtaten, wie das die Antidiskriminierungsstelle zunächst erklärte. Und jetzt? Heißt das, dass man sich keine Sorgen mehr machen muss? Ist das Rating jetzt stimmiger? Du liebe Güte, ist diese Gesellschaft jetzt schon so verblödet, dass sie ihre Befindlichkeiten und Affekte als Zahl ausgedrückt braucht, um darauf überhaupt anzuspringen? Ab wann ist Antiziganismus noch hinnehmbar? Sind 20 Prozent, die keinen näheren Kontakt zu Roma wollen, noch hinnehmbar? Ich weiß nicht, aber mir kommt es so vor, als ob Holocaust-Leugnung und das Herunterspielen von Antiziganismus ganz ähnliche Fächer seien. Es ist also noch okay, dass nur ein Fünftel die andere große Opfergruppe der Nazis ablehnt? Wer das so sieht, unterstreicht seine Verrohung.
Eine Studie ist eine Studie. Sie ist kein Abbild der Realität. Ich kann in einer Studie über gesundes Essen ankreuzen, dass ich täglich frisches Obst esse, gehe dann aber zu McDonalds und merke irgendwann nach Tagen, dass die Banane vor anderthalb Wochen die letzte Frucht war, die ich verspeist habe. Andere geben bei der Studie »Leseverhalten und -kompetenz« an, dass sie jeden Tag etwas lesen und meinen damit das Prospekt von Aldi, Rewe oder Konsorten. Studien mögen manchmal eine Tendenz abgeben. Manchmal! Aber so zu tun, als seien Studienergebnisse quasi die Realität, die in Zahlen gegossen ist, das ist im wahrsten Sinne des Wortes vermessen. Letztlich geht es bei der Neubewertung der Studie zu Sinti und Roma in Deutschland um nichts anderes, als um die Neueinschätzung einer Realität, wie man sie lieber hätte.
Die konservativen Hüter, die dieses Land auch weiterhin als den Ort umschreiben wollen, der von Gott geküsst wurde, sehen sich jetzt bekräftigt. Leute wie Fleischhauer zum Beispiel wedeln sich jetzt einen von der Palme, weil sie einen Beleg für irgendeinen obskuren linken Zeitgeist wittern, der die Antidiskriminierung umwehe. Der würde aufbauschen und dramatisieren, um ein so mieses Bild von diesem Land zu zeichnen, dass einem das Gruseln kommt. Dabei sei alles ganz anders in Deutschland. Besser. Gerechter. Ausgewogener. Die Antiziganismus-Leugner tun dabei gerade so, als würden niedrigere Zahlenwerte in dieser Frage etwas besser machen. Deeskalieren. Als würden sie entkräften und geraderücken, was diese Gutmenschheit in ihrer linken Emsigkeit so grundlegend falsch dargestellt hat.
Was ist aber mit dieser verdammten Realität, die nicht so explizit in Studien steht? Mit all diesen bösartigen Kommentaren, die man bei »Bild« und »FAZ« unter Texte zur »Armutstouristen« fand? Wieso wollten Stadtteile eine Bürgerwehr gründen, um sich gegen Roma zu schützen? Habe ich mir die Ablehnung der Leute, die in meinem Umfeld leben, nur eingebildet? »Diese Leute sind dreckig, sie stehlen und sind laut«, sagte mir ein Bekannter völlig überzeugt. Habe ich mich letztens verhört, als mir eine Kindergärtnerin erzählte, sie müssten jetzt die Türen ihres Ladens zusperren, weil in der Nachbarschaft Roma kampieren würden, denen man alles zutraue? Unter Kindern beleidigt man sich nicht nur wieder mit »Jude« - jemanden einen »lausigen Zigeuner« zu nennen hat wieder Chic. Wie baut man solche Werte in Umfragen ein?
Und wer gibt denn bitte in Studien an, dass er so tickt? Gespielte Weltoffenheit ist doch heute Konvention. Was Ausländerfeindliches sagt man doch nicht. Jedenfalls nicht ganz so laut. Man lebt es. Ich habe ja nichts gegen Roma, aber ... Nehmen wir doch nur mal diese Kindergärtnerin. Sie traut zwar den Roma zu, dass sie den Kindern im Kindergarten das Pausenbrot klauen. Hätte sie aber bei dieser Studie teilgenommen, hätte sie womöglich trotzdem nicht angegeben, dass sie diese Leute nicht in ihrer nachbarschaftlichen Nähe haben will. Warum? Weil man auf dem Papier oft edler ist wie im Leben. Oder weil man sich nicht entblößen will. Oder einfach, weil man sich nicht eingesteht, Vorurteile zu haben. Im Alltag hat man sie zwar, aber man bemerkt es erst, wenn man über einem Bogen Papier sitzt und darüber nachdenkt.
Studien und die Wirklichkeit. Auch so eine Geschichte, die im studiengläubigen Zeitalter selten hinterfragt wird. Bloß welcher Kerl ist in Sexualstudien ehrlich? Gibt ganz offen an, dass er manchmal keinen hoch bekommt? »Masturbieren Sie täglich?« Ich gebe lieber an, dass ich es nicht tue, sagt sich da die Ehefrau, die was auf sich hält und nicht schief angeschaut werden will. Ihr eheliches Sexleben ist doch erfüllt. Wie kann man was anderes behaupten wollen? Wenn es unangenehm wird, flunkert man oder enthält sich. Selbst wenn man nur Kreuze oder Zahlenwerte eintragen muss. Dunkelziffer nennt man das unter Statistikern. In manchen Angelegenheiten soll sie höher liegen als die Hell- als die Lichtziffer. Bei Missbrauch zum Beispiel. Ich sage ja jetzt nicht, dass quasi jeder Deutsche antiziganistisch ist. Aber so zu tun, als würden niedrigere Werte plötzlich den Antiziganismus reduzieren, das ist mehr als nur lächerlich.
Studien, die den Alltag verstatistiken, sind zuweilen verlogener als die wirklichen Umstände. Im Dickicht der Konventionen ist der Statistiker auch nichts besseres als ein Statist, der herumsteht und keinen Text hat. Nicht umsonst kommen beide Worte von stare (»stehen«). Er steht halt so rum und präsentiert die Resultate, die er erheben konnte. Aber eben auch nur die. Was nicht gesagt wurde, was man abwiegelte, das kann er nicht wissen. Aber woher kommen nur all die Männer mit Potenzproblemen, wo es sie laut Umfragen doch so gut wie gar nicht geben darf? Und woher kommen nur all diese Menschen, die Sinti und Roma als osteuropäische Strauchdiebe und Kidnapper ansehen, wo es laut Studie nur wenige Leute mit einer solchen Einstellung geben dürfte?
Lächerlicher dürfte es kaum noch gehen. Gut, lassen wir es mal so stehen, dass nicht ganz so viele Menschen bei der Studie ihre Abneigung kundtaten, wie das die Antidiskriminierungsstelle zunächst erklärte. Und jetzt? Heißt das, dass man sich keine Sorgen mehr machen muss? Ist das Rating jetzt stimmiger? Du liebe Güte, ist diese Gesellschaft jetzt schon so verblödet, dass sie ihre Befindlichkeiten und Affekte als Zahl ausgedrückt braucht, um darauf überhaupt anzuspringen? Ab wann ist Antiziganismus noch hinnehmbar? Sind 20 Prozent, die keinen näheren Kontakt zu Roma wollen, noch hinnehmbar? Ich weiß nicht, aber mir kommt es so vor, als ob Holocaust-Leugnung und das Herunterspielen von Antiziganismus ganz ähnliche Fächer seien. Es ist also noch okay, dass nur ein Fünftel die andere große Opfergruppe der Nazis ablehnt? Wer das so sieht, unterstreicht seine Verrohung.
Eine Studie ist eine Studie. Sie ist kein Abbild der Realität. Ich kann in einer Studie über gesundes Essen ankreuzen, dass ich täglich frisches Obst esse, gehe dann aber zu McDonalds und merke irgendwann nach Tagen, dass die Banane vor anderthalb Wochen die letzte Frucht war, die ich verspeist habe. Andere geben bei der Studie »Leseverhalten und -kompetenz« an, dass sie jeden Tag etwas lesen und meinen damit das Prospekt von Aldi, Rewe oder Konsorten. Studien mögen manchmal eine Tendenz abgeben. Manchmal! Aber so zu tun, als seien Studienergebnisse quasi die Realität, die in Zahlen gegossen ist, das ist im wahrsten Sinne des Wortes vermessen. Letztlich geht es bei der Neubewertung der Studie zu Sinti und Roma in Deutschland um nichts anderes, als um die Neueinschätzung einer Realität, wie man sie lieber hätte.
Die konservativen Hüter, die dieses Land auch weiterhin als den Ort umschreiben wollen, der von Gott geküsst wurde, sehen sich jetzt bekräftigt. Leute wie Fleischhauer zum Beispiel wedeln sich jetzt einen von der Palme, weil sie einen Beleg für irgendeinen obskuren linken Zeitgeist wittern, der die Antidiskriminierung umwehe. Der würde aufbauschen und dramatisieren, um ein so mieses Bild von diesem Land zu zeichnen, dass einem das Gruseln kommt. Dabei sei alles ganz anders in Deutschland. Besser. Gerechter. Ausgewogener. Die Antiziganismus-Leugner tun dabei gerade so, als würden niedrigere Zahlenwerte in dieser Frage etwas besser machen. Deeskalieren. Als würden sie entkräften und geraderücken, was diese Gutmenschheit in ihrer linken Emsigkeit so grundlegend falsch dargestellt hat.
Was ist aber mit dieser verdammten Realität, die nicht so explizit in Studien steht? Mit all diesen bösartigen Kommentaren, die man bei »Bild« und »FAZ« unter Texte zur »Armutstouristen« fand? Wieso wollten Stadtteile eine Bürgerwehr gründen, um sich gegen Roma zu schützen? Habe ich mir die Ablehnung der Leute, die in meinem Umfeld leben, nur eingebildet? »Diese Leute sind dreckig, sie stehlen und sind laut«, sagte mir ein Bekannter völlig überzeugt. Habe ich mich letztens verhört, als mir eine Kindergärtnerin erzählte, sie müssten jetzt die Türen ihres Ladens zusperren, weil in der Nachbarschaft Roma kampieren würden, denen man alles zutraue? Unter Kindern beleidigt man sich nicht nur wieder mit »Jude« - jemanden einen »lausigen Zigeuner« zu nennen hat wieder Chic. Wie baut man solche Werte in Umfragen ein?
Und wer gibt denn bitte in Studien an, dass er so tickt? Gespielte Weltoffenheit ist doch heute Konvention. Was Ausländerfeindliches sagt man doch nicht. Jedenfalls nicht ganz so laut. Man lebt es. Ich habe ja nichts gegen Roma, aber ... Nehmen wir doch nur mal diese Kindergärtnerin. Sie traut zwar den Roma zu, dass sie den Kindern im Kindergarten das Pausenbrot klauen. Hätte sie aber bei dieser Studie teilgenommen, hätte sie womöglich trotzdem nicht angegeben, dass sie diese Leute nicht in ihrer nachbarschaftlichen Nähe haben will. Warum? Weil man auf dem Papier oft edler ist wie im Leben. Oder weil man sich nicht entblößen will. Oder einfach, weil man sich nicht eingesteht, Vorurteile zu haben. Im Alltag hat man sie zwar, aber man bemerkt es erst, wenn man über einem Bogen Papier sitzt und darüber nachdenkt.
Studien und die Wirklichkeit. Auch so eine Geschichte, die im studiengläubigen Zeitalter selten hinterfragt wird. Bloß welcher Kerl ist in Sexualstudien ehrlich? Gibt ganz offen an, dass er manchmal keinen hoch bekommt? »Masturbieren Sie täglich?« Ich gebe lieber an, dass ich es nicht tue, sagt sich da die Ehefrau, die was auf sich hält und nicht schief angeschaut werden will. Ihr eheliches Sexleben ist doch erfüllt. Wie kann man was anderes behaupten wollen? Wenn es unangenehm wird, flunkert man oder enthält sich. Selbst wenn man nur Kreuze oder Zahlenwerte eintragen muss. Dunkelziffer nennt man das unter Statistikern. In manchen Angelegenheiten soll sie höher liegen als die Hell- als die Lichtziffer. Bei Missbrauch zum Beispiel. Ich sage ja jetzt nicht, dass quasi jeder Deutsche antiziganistisch ist. Aber so zu tun, als würden niedrigere Werte plötzlich den Antiziganismus reduzieren, das ist mehr als nur lächerlich.
Studien, die den Alltag verstatistiken, sind zuweilen verlogener als die wirklichen Umstände. Im Dickicht der Konventionen ist der Statistiker auch nichts besseres als ein Statist, der herumsteht und keinen Text hat. Nicht umsonst kommen beide Worte von stare (»stehen«). Er steht halt so rum und präsentiert die Resultate, die er erheben konnte. Aber eben auch nur die. Was nicht gesagt wurde, was man abwiegelte, das kann er nicht wissen. Aber woher kommen nur all die Männer mit Potenzproblemen, wo es sie laut Umfragen doch so gut wie gar nicht geben darf? Und woher kommen nur all diese Menschen, die Sinti und Roma als osteuropäische Strauchdiebe und Kidnapper ansehen, wo es laut Studie nur wenige Leute mit einer solchen Einstellung geben dürfte?
2 Kommentare:
Guten Morgen,
zunächst einmal möchte ich dich darum bitten, nicht mehr solche Bilder einzubetten. Habmir schon den ersten Rüffel von meiner Frau eingefangen. ;)
Zum Thema habe ich einen ganz interessanten link für dich. Vielleicht kennst Du den Vorzuteilsforscher Prof. Dr. Wolfgang Benz schon?
Er referierte zum Thema Antiziganismus in der Dortmunder Nordstadt.
http://nordstadtblogger.de/17821
Grüße
Martin
Hatt doch schon mein selig Vater immer gewußt:
Statistik: Die Hure des Wissenschaftlers, oder, glaube keiner Umfrage wenn du sie nicht selbst gefälscht hast.
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