Ohne Plan, ohne Perspektiven

Mittwoch, 28. August 2013

Die Fünf-Jahres-Pläne waren lächerlich. Die von der Politik exekutierte Erhöhung der Normen lebensfremd. Das Hangeln alter saturierter Männer von Plan zu Plan musste zwangsläufig ein Wirtschaftssystem der Flickschusterei erzeugen. Gleichwohl, man hat im Rückblick den Eindruck, die Köpfe des Sozialismus wollten damit eine Richtung, wollten Perspektiven blanklegen, die Bevölkerung für eine Zukunft gewinnen, die es dann zwar nicht gab, die aber ein Leitmotiv sein sollte.

Das geht dem Kapitalismus völlig ab. Er lobt sich beständig, die Probleme der Menschheit ins Gute zu arrangieren. Langsam zwar, nicht geplant zwar, aber doch wirksam. Er putzt den Wohlstand heraus, den er "für alle" sichert, läßt sein Personal Maßnahmen verkündigen, die das Vorwärts! in jedem Satz mitführen und stärkt sich so als ein System von mehr Arbeitsplätzen, mehr Betreuung, mehr Wachstum, mehr Bildung und mehr verkauften Autos. Aber wozu das alles? Warum dieses beständige Mehr? Das verklickert einem im Kapitalismus keiner. Eine Perspektive gibt es nicht. Es gibt kein Ziel, nur einen undeutlich kenntlichen Trampelpfad ins Nichts, er definiert sich als a road to nowhere.

Wahrscheinlich war zu viel Pathos in den Kitsch des Sozialismus gemischt. Zu viel künstliche Zuversicht vom Besser und Gerechter. Aber wenigstens gab es, wenn auch manchmal schwer vorstellbar, die Absicht einer gerechteren Gesellschaft. Der neoliberale Kapitalismus versucht gar nicht erst, irgendetwas in dieser Art zu predigen. Er sagt nur: Weitermachen, immer weitermachen! Aber für was? Wohin soll es gehen? Wo ist der Fingerzeig? Die Vision, die das Schuften und alle Prozesse innerhalb des Systems wenigstens rechtfertigen könnte?

Es wird gearbeitet und das Los der Arbeitslosigkeit ertragen, wertgeschöpft, konsumiert und investiert, es werden Reformen geduldet - aber am Ende weiß man nicht mal, was das Ziel dieser ganzen Prozedur ist. Seine Rechnungen bezahlen können. Klar! Und darüber hinaus?

Man hat den realen Sozialismus in dieser Frage ganz richtig in die Nähe des Christentums gerückt. Er sei nach christlichem Vorbild eschatologisch gewesen, habe eine zukünftige Vollendung propagiert. Dieser "Anbruch einer besseren Welt" war zwar sicherlich noch weit entfernt, aber man konnte wenigstens hin und wieder glauben, dass es den sozialistischen Eliten zwischen ihrer ganz ordinären Machtbesessenheit auch um hehre Motive ging.

Vielleicht ist dieser amtierende Kapitalismus auch das erste Herrschaftssystem, das keine Eschatologie entwickelt hat. Die Sozialisten hatten erst ihre Revolution als Hoffnung und später dann die Fortentwicklung einer gerechteren Gesellschaft. Im Mittelalter spähte man auf das Himmelreich - und selbst die Faschisten haben sich ein Endziel ausgedacht und an den Endsieg geglaubt. Es fällt schwer, das Endziel des Kapitalismus zu beschreiben. Das verwundert nicht, denn es wird ja nie erläutert. Mit dem Ende der Geschichte, das man ihm anklammerte, scheint auch die Aussicht auf eine Welt mit rosigeren Perspektiven keine Geschichte mehr zu sein, die man gerne erzählt.

Lenin deutet mit dem Finger visionär in eine Richtung. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, nuschelte der alte Erich. Völlig vergessen, dass es ein Ziel gibt, auf das hinzuarbeiten ist, hat man "drüben" nicht. Die Perspektive wurde nicht ausgeblendet, man behielt sie im Auge. Da war natürlich auch viel Symbolik dabei. Aber nicht mal die gibt es im Kapitalismus. Oder halt, denn natürlich muss man den kapitalistischen Fingerzeig berücksichtigen. Er deutet nicht in die Ferne, er deutet in die Höhe und ist das Vorrecht des Mittelfingers.

Der Stinkefinger ist die ganz spezielle Perspektive, die dieses System seinen Insassen gibt. Leck mich am Arsch! Fick Dich! Nach mir die Sintflut! Das sind die schönen Aussichten, die der neoliberale Kapitalismus in die Gesellschaft hineinspart und reinprivatisiert. Das Ende der Geschichte ist, dass der visionär deutende Finger des Lenin durch den vulgär strotzenden Mittelfinger des Kapitals und seiner Zweckerfüller ersetzt wurde. Ohne Plan und Perspektive durch eine Geschichte, die sich selbst schon für beendet erklärt hat.


8 Kommentare:

Sledgehammer 28. August 2013 um 09:13  

Der Kapitalismus entzieht sich jeglicher Legitimation; er ist allseits internalisierte und akzeptierte Gesetzmässigkeit.
In ihm feiert das Gesetz des Dschungels täglich fröhliche Auferstehung.
Er lässt den "Ungewaschenen" Brosamen und baut seinen Hohepriestern Paläste, um Gott Mammon zu opfern.
Er appelliert an niedere Instinkte; ist bisweilen funkelnde Schimäre und dann wieder ungeschminkte Brutalität.
Er ist die Sehnsucht des Wahnsinns nach sich selbst.

maguscarolus 28. August 2013 um 09:42  

Da führst du etwas sehr Richtiges sehr treffend aus. Der Kapitalismus in seiner Angloamerikanischen Ausprägung basiert auf dem Ekelhaftesten, was das Christentum hervor gebracht hat – der Prädestinationslehre in ihrer Calvinistischen Ausprägung: "Sieh zu, dass du am Ende deines Lebens reich bist, auf dass dein Leben gottgefällig gewesen sei. Mach dir dabei keine Gedanken über all jene, die du auf deinem Weg zum Reichtum ruinierst, denn wenn sie zu den Auserwählten gehörten, hättest du sie gar nicht ruinieren können."

So steht es zwar nirgends geschrieben, aber so ist es gemeint und auch in den Köpfen angekommen.

Es ist die Gottlosigkeit zur Religion geadelt.

Sledgehammer 28. August 2013 um 10:14  

Der Kapitalismus ist die "Verkörperung" der Sehnsucht des Wahnsinns nach sich selbst.

flavo 28. August 2013 um 10:39  

Nein, heute hat niemand mehr einen Plan. Im Ausnahmezustand ist die Zukunft kurz geworden, die Gegenwart ist aufgedunsen und die Vergangenheit schal und eintönig. Was gibts neues? Was soll es neues geben? Es ist nichts geschehen, obwohl jeden Tag so viel geschehen ist. In der Paradoxie leben, mutet uns der Neoliberalismus zu.
Drehpunkt ist die Energie für die Paradoxie. Leben ohne Plan ist der Plan. Leben mit leichtem Gepäck, oberflächlichen, rasch auswechselbaren Sinnkonglomeraten. Heute hierfür denken, morgen schon dort weiterdenken und neu bedenken. Das Bankkonto ist noch der größte Plan, es ist Indikator der Wirbel des Lebens, der rock solid in den Wirren des neoliberalen Alltags. Ist es schwarz, war die Planlosigkeit ok. Es ist der Schlüssel, wenn auch nur zu weiteren Wirren des neoliberalen Alltags. Alle handelnden Entitäten haben das Bankkonto als rock solid: der Einzelner, das Unternehmen, der Staat, der Planet. Striche man das Bankkonto und all seine Sinnrochaden und -fäden in den Existenzvollzug der gesamten Menschheit, was bliebe da noch? Zombies wären wir wohl. Und doch befreit vermutlich in eine chaotische Wirrnis, aber eine freiere.
Die Zukunft bliebe wohl trotzdem kurz. Die kurze Zukunft haben wir bekommen. Vormals hatte die Zukunft automatische Herankommende Zwischenziele, die nur Intellektuelle erkennen konnten und welche daher die große Masse in die Zukunft lenkten, damit sie die Torgänge der Zwischenziele durchqueren und letztlich das Heil finden würden. Nun, die Intellektuellen sind geflüchtet aus der Zukunft. Von Automatiken in der Zeit und ihrer Herankunft reden sie nun nicht mehr. Aber wo sind wir gelandet? In der aufgedunsenen Gegenwart, zukunftsamputiert. Was will man noch hoffen, wenn die Zukunft nur eine Kopie der Gegenwart werden kann? So oder so, im Guten wie im Schlechten. Es ist alles gesagt, in der Zukunft wird nur mehr das Gleiche gesagt. Wann mag es solche Zeiten schon gegeben haben? In gewisser weise ist es die trügerische Zeitanordnung einer Ruhe vor dem Sturm. Alles zieht sich zusammen, die Zeitekstasen schrumpfen auf die Gegenwart zu und um so mehr sie dies tun, um so enger wird es dort. Alles ist im Jetzt. Nichts in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Der Sinnstrom zirkuliert aus sich auf sich zu und entfärbt sich zusehends, findet keine Sinnahrung mehr, erlahmt und erschlafft zu einem sich selbst erhitzenden Leergang. Die Wahrnehmung wird taub, der Geschmack erquickt sich nicht mehr, das Auge kursiert ohne Fokus, die Wörter lauten nicht, Rauschen ist unabbringlich im Ohr, der Sex wird nicht mehr geiler, selbst die Muskeln und die Knochen werden träge ob der immer gleichen Bewegungen. Das Denken durchwandert diese seine Welten und fühlt sich schwer, es merkt die undenkbaren Wände vor ihm selbst, durch die es nicht hindurch kommt und durch die es immer auf die vormals gedachten Gedanken nur zurückfällt. Es kommt nicht hindurch und alle Rückgriffe der Reperspektivierung steigern die Einöde des Gleichen und bringen keine Rausgriffe in die Zukunft, kein schallendes Hinausbrausen der Gedanken in die Weiten der Zukunft, keinen lösenden Drall durch Gegenwart und Vergangenheit.

Michel / Klassenkampf nicht weglassen 28. August 2013 um 11:22  

"road to nowhere" ist nicht ganz die richtige Metapher - da fehlt ein Teil.
Für die ärmeren, schwächeren, "weniger leistungsfähigen nach kapitalistischen Maßstäben" geht es tatsächlich ins "nowhere" - und dann ins Grab.
Für die reicheren, gerisseneren, aka "leistungsfähigen" geht es ins Paradies, in dem einem gebratene Täubchen in den Mund fliegen, sei es im Restaurant oder im Strip-club.

Und der Kapitalismus hat durchaus eine Eschatologie entwickelt: die "leistungsfähigen" Leben im Paradies, die "leistungsunfähigen" kommen auf den Abfallhaufen. Daher ja auch die soziale Marktwirtschaft, um die Untiefen des Kapitalismus auszubügeln.

Bei allen Überlegungen zu Neoliberalismus, Kapitalismus und Sozialismus kann man, glaube ich, Überlegungen zu sozialen Schichten, die in verschiedenem Maße profitieren, nicht weglassen.

Hier mal ein schönes, aktuelles Beispiel:

Daniel Bahr will die private Krankenversicherung für alle.

Typisch neoliberales Spielchen.
Erst die gesetzliche KV kaputt machen und schlechtreden, ihr Einnahmen entziehen und vernünftiges Wirtschaften unmöglich machen, und dann alles privatisieren, die Armen gehen vor die Hunde, die Reichen kassieren die Profite.

http://www.volkssolidaritaet.de/cms/pressemitteilung_bahr_krankenversicherung.html

ernte23 28. August 2013 um 17:47  

Die politische Ziellosigkeit ist das paradoxe Ziel neoliberaler Politik, deren Hardliner durchaus zugestehen würden, dass es nur um eine "leisured group" geht, die es sich gut gehen lassen kann, während der Rest ruhig vor die Hunde gehen darf, solange erstere die negative Freiheit genießen dürfen. Negative Freiheit bedeutet die Freiheit von persönlichem Zwang.

Die meisten Politdarsteller haben sich freilich nie mit Hayek, Mises, Buchanan, Friedman, Becker usw. beschäftigt, sondern nur Ideenbruchstücke übernommen, die ohnehin von den wirtschaftlichen Eliten geteilt werden.

Anonym 29. August 2013 um 11:44  

Lieber Blogger,

was für Perspektiven soll denn ein generell auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhendes System, aus daraus ganz logisch folgenden endlosen Kriegen und Verbrechen, permanenter verbrecherischer Umweltvergiftung ,Lügen und Heuchelei, gezüchteter und zugleich gefeierter Unmoral in allen Ecken für die großen Masse jener Erdlinge bringen, die nicht zu den tatsächlern Nutznießern, Abschöpfern, Mächtigen gehören?
Man sollte hier schon mal endlich Farbe bekennen, eine Farbe, die wir alle kennen, und nicht wenige sehr lieben, wenn auch aus mitunter unterschiedlichen Motiven.

In meinem Fall ganz Rote Grüße!

michal 30. August 2013 um 14:48  

Ziellos? Keineswegs, denn die endgültige Unterwerfung ganzer Völker ist schon immer ein Ziel gewesen. Unter der Überschrift "Globalisierung" hat das wunderbar und beschleunigt funktioniert. Das beste daran ist: Man braucht keine übernationale Führungsstrukturen zu institutionalisieren, denn die Gier vereint die Interessen und gibt die gemeinsame Richtung vor, auch und vor allem für diejenigen, die nicht einmal zu erkennen in der Lage sind, dass sie nicht die Macher sondern die Marionetten sind.
"Die Menschen sind dumm" ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet "aber zahlreich". Ich wäre lieber anderswo, wenn es einmal soweit kommt, dass sich die Wut des Volkes entlädt. Insofern hoffe ich immer noch auf ein rechtzeitiges Einsehen derer, die in Wirklichkeit die Macht haben und die wissen sollten, dass eine Schraube überdreht werden kann, ein Faden reißen könnte oder ein Volk durch Verdummung oder wegen Hungers mal anders reagieren könnte als vorgesehen.
So wie die Finanzblasen plötzlich geplatzt sind, wobei alles vorhersehbar gewesen sein wird.

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