Eskapistische Arztbesuche in der Post-Demokratie
Freitag, 9. August 2013
oder Please Mister Postman, look and see / if there's a letter in your bag for me.
Man kann auf vielerlei Arten eine arme Sau sein. Man kann es sein, weil man kein Geld hat. Und man kann es sein, weil man irrationale Ängste entwickelt und sich von diesen dominieren läßt. Hartz IV gelingt es, diese beiden Gebiete der Armut gleichzeitig zu erschließen.
War ich nun mehr arme Kreatur, weil es mir an Geld mangelte oder deswegen, weil ich jeden Tag auf den Postboten wartete, wie ein Süchtiger auf sein Quantum Stoff? Ihn abpasste, meine Erledigungen nach seinem möglichen Erscheinen ausrichtete, mich danach orientierte, wann er vorfuhr und schier verzweifelte, wenn ich just zur Zeit seines potenziellen Kommens, etwas anderes erledigen musste?
Klingt ganz schön durchgeknallt. In gewisser Weise war ich das seinerzeit ganz sicher auch. Man wird verschroben. Seltsam. Ein Sozio-Eremit in der Masse. "... wenn sie eines Tages einen Weg finden, wie man ohne Briefkasten auskommt, werden wir eine Menge Probleme los sein", schrieb Charles Bukowski mal in einer Kurzgeschichte. Das hätte von mir kommen können.
Die Angst, die hinter diesem seltsamen Spleen stand, war die pure Angst vor Briefen des Jobcenters. Davor, eine Einladung für den Folgetag zu erhalten, nicht wissend, was genau mir jetzt wieder blüht. Wieder wie ein Schuljunge vor einer erbosten Lehrerin sitzen zu müssen, mich rechtfertigend, entschuldigend, dabei immer den Gedanken im Hinterkopf, dass sie mir finanziell zusetzen kann, meinen Regelsatz zu verstümpeln vermag. Die Furcht vor diesen Minuten der Entwürdigung, in denen man mich, wenn schon nicht an die Wand stellte, so doch wenigstens an sie drückte, fixierte mein Leben auf denjenigen, der der Botschafter einer möglichen schlechten Nachricht sein würde. Wie ein osmanischer Despot entwickelte ich einen Mordsargwohn gegen den Postboten, obwohl ich vom Mann mit der Ledertasche weiß, dass das auch nur arme Säue sind.
Der war freilich selten ein solcher Botschafter im Auftrag des Jobcenters. Das schrieb mich ja eher selten an. Falls doch, dann hieß es aber Springen. Immer waren die Termine für den Folgetag angesetzt. Mentale Vorbereitung war da unmöglich. Es war, als wollte mich die Behörde inflagranti beim Faulenzen erwischen, als wollte sie die Ehefrau sein, die mich Ehemann im Bett mit seiner Geliebten überrascht.
Das gelang ihr nicht immer. Ich entzog mich. Manchmal war der Druck so groß, die Angst so stark, dass ich mir provisorisch eine AU-Bescheinigung ausstellen ließ, um die Gewissheit zu haben, in den nächsten zwei Wochen mal keine Briefe vom Jobcenter zu erhalten, die ich wahrscheinlich ohnehin nicht erhalten hätte.
Wenn man heute Erwerbslosen nachsagt, sie machten krank, dann ist das die Verkennung dieses allzeit präsenten Drucks, dieser Fixierung auf diesen einen kurzen Augenblick der Entwürdigung, der zu einer Haltung des AU-Eskapismus führt. Ich machte nicht blau, ich verflüchtigte mich in eine Zone der Zugriffslosigkeit, machte mich als eigentlich autarker Mensch aus dem Staub, um dieser unerträgliche Veranstaltung in einem Büro des Jobcenters wenigstens zeitweise zu entkommen. Man könnte das freilich auch krank nennen.
Man muss das System von Hartz IV als Einrichtung der Postdemokratie begreifen. Eine Scheindemokratie, die via Post ins Haus des Arbeitslosen kommt. Dass ich in einer Post-Demokratie lebe, wurde mir besonders in den Augenblicken deutlich, als ich vom Küchenfenster aus nach den Briefträger, nach meiner Post schielte.
Politologen definieren die Postdemokratie hingegen so, wie sie Colin Crouch formuliert hatte. Es sei "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben." Ein Scheinkonzept halt.
Ich hätte seinerseits Post-Demokratie noch anders definiert. Als banges Warten am Briefkastenschlitz, als eine Scheindemokratie, in der die Post als Dienstbote des Systems Ängste in die Wohnungen liefert. Wie demokratisch ist es eigentlich, wenn der Briefkasten zum Objekt der Furcht wird?
Klingt ganz schön durchgeknallt. In gewisser Weise war ich das seinerzeit ganz sicher auch. Man wird verschroben. Seltsam. Ein Sozio-Eremit in der Masse. "... wenn sie eines Tages einen Weg finden, wie man ohne Briefkasten auskommt, werden wir eine Menge Probleme los sein", schrieb Charles Bukowski mal in einer Kurzgeschichte. Das hätte von mir kommen können.
Die Angst, die hinter diesem seltsamen Spleen stand, war die pure Angst vor Briefen des Jobcenters. Davor, eine Einladung für den Folgetag zu erhalten, nicht wissend, was genau mir jetzt wieder blüht. Wieder wie ein Schuljunge vor einer erbosten Lehrerin sitzen zu müssen, mich rechtfertigend, entschuldigend, dabei immer den Gedanken im Hinterkopf, dass sie mir finanziell zusetzen kann, meinen Regelsatz zu verstümpeln vermag. Die Furcht vor diesen Minuten der Entwürdigung, in denen man mich, wenn schon nicht an die Wand stellte, so doch wenigstens an sie drückte, fixierte mein Leben auf denjenigen, der der Botschafter einer möglichen schlechten Nachricht sein würde. Wie ein osmanischer Despot entwickelte ich einen Mordsargwohn gegen den Postboten, obwohl ich vom Mann mit der Ledertasche weiß, dass das auch nur arme Säue sind.
Der war freilich selten ein solcher Botschafter im Auftrag des Jobcenters. Das schrieb mich ja eher selten an. Falls doch, dann hieß es aber Springen. Immer waren die Termine für den Folgetag angesetzt. Mentale Vorbereitung war da unmöglich. Es war, als wollte mich die Behörde inflagranti beim Faulenzen erwischen, als wollte sie die Ehefrau sein, die mich Ehemann im Bett mit seiner Geliebten überrascht.
Das gelang ihr nicht immer. Ich entzog mich. Manchmal war der Druck so groß, die Angst so stark, dass ich mir provisorisch eine AU-Bescheinigung ausstellen ließ, um die Gewissheit zu haben, in den nächsten zwei Wochen mal keine Briefe vom Jobcenter zu erhalten, die ich wahrscheinlich ohnehin nicht erhalten hätte.
Wenn man heute Erwerbslosen nachsagt, sie machten krank, dann ist das die Verkennung dieses allzeit präsenten Drucks, dieser Fixierung auf diesen einen kurzen Augenblick der Entwürdigung, der zu einer Haltung des AU-Eskapismus führt. Ich machte nicht blau, ich verflüchtigte mich in eine Zone der Zugriffslosigkeit, machte mich als eigentlich autarker Mensch aus dem Staub, um dieser unerträgliche Veranstaltung in einem Büro des Jobcenters wenigstens zeitweise zu entkommen. Man könnte das freilich auch krank nennen.
Man muss das System von Hartz IV als Einrichtung der Postdemokratie begreifen. Eine Scheindemokratie, die via Post ins Haus des Arbeitslosen kommt. Dass ich in einer Post-Demokratie lebe, wurde mir besonders in den Augenblicken deutlich, als ich vom Küchenfenster aus nach den Briefträger, nach meiner Post schielte.
Politologen definieren die Postdemokratie hingegen so, wie sie Colin Crouch formuliert hatte. Es sei "ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben." Ein Scheinkonzept halt.
Ich hätte seinerseits Post-Demokratie noch anders definiert. Als banges Warten am Briefkastenschlitz, als eine Scheindemokratie, in der die Post als Dienstbote des Systems Ängste in die Wohnungen liefert. Wie demokratisch ist es eigentlich, wenn der Briefkasten zum Objekt der Furcht wird?
14 Kommentare:
Ist das System krank, wird es sich zwanghaft auf die Menschen in ihm übertragen.
Als es noch kein Hatz IV gab, hatte ich regelrechte Panik vor der dem Arbeitsamt. Heute wäre sie gerechtfertigt.
Es ging mir genau so. Selbst wenn man sich als gleichberechtigter, männlicher Partner in einer Beziehung um das gemeinsame Kind kümmert; dafür sorgt, dass es nicht als sozial inkompetenter Krüppel bei Fertiggerichten vor einer Spielkonsole/auf Fratzenbuch aufwächst... das System schreibt dir - das System terrorisiert dich - und wofür?
Für ein paar schäbige Taler, von denen man nichtmal am sozialen Leben teilnehmen kann - für die man aber sein Leben, sowie sämtliche Konten offenlegen und sogar die Dienstpläne der Partnerin regelmäßig zu den wassertragenden Armutsverwaltern der Regierung tragen muss, die dann selbst den angemieteten Parkplatz für den PKW, den die Partnerin braucht, um morgens um 3 in Richtung Büro fahren zu können, meinen von den "Sozial"bezügen abziehen zu wollen.
Ich habe mich dem entzogen, ich bin nicht krankenversichert, ich habe keinen gültigen Ausweis und ich erhalte keinerlei Bezüge von diesem Regime... dafür habe ich Seelenfrieden und muss mich nicht schikanieren lassen.
gut beschriebene Hilferufe.....
in der letzten Zeit schlafe ich häufig noch, wenn der Postbote kommt (obgleich wir uns persönlich kennen, klingelt er nur kurz, Dackelhündin macht Rabbatz und ich weiß, die Post war da.....)
noch in Essen wohnend hörte ich viele Vorträge auch von einem Prof. der Medizin. Was mich verblüffte war als er sinngemäß sagte: "wir Ärzte sind mit dermaßen Machtmitteln ausgestattet - wir können entscheiden, ob jemand AU ist oder nicht - quasi wir können über Tod und Leben entscheiden....
da wurde mir klar, durch die Gesetzgebung im 3. Reich hat man Ärzten eine nahezu unbeschränkte Machtbefugnis über Patienten(Mitmenschen) eingeräumt.
Heute erleben wir diese Auswirkungen besonders in dem von
Verbrechern erstellten Gesetz - genannt Hartz IV......
abschließend noch ein kleines Trostpflaster für Interessierte:
Diagnose: AM MENSCHEN VORBEI, Die Fragwürdigkeit des medizinischen Fortschritts, Sonja Chevallier !
übertreibt ihr nicht alle etwas? habe bisher noch nie eine Einladung von jetzt auf gleich bekommen waren immer mindestens eine Woche terminiert und selbst bei jetzt auf gleich, warum sollte Panik ausbrechen? es kommen schliesslich auch nicht alle Briefe pünktlich oder überhaupt an
Dank Gas-Schröder und seinem Sozialen Räumdienst ist die Existenzangst als primäres Herrschaftsprinzip in die deutsche Gesellschaft eingezogen. Und über dieses Feld aus Misstrauen, Angst und Resignation hat sich nun seit bald einem Jahrzehnt Muttis klebriger, süßlicher Meltau aus verlogenen Verheißungen, falschen Anreizen und Hoffnungen und einer substantiellen Demokratiezerstörung gelegt.
Bei der kommenden Wahl wird der "Souverän" dieses bestehende Herrschaftssystem der Reichen und Gewissenlosen grandios bestätigen.
In Deutschland wurde schon immer "die Regierung" gewählt
ich hasse meinen Briefkasten!
@ Arno Nym
Bei allem Respekt für dich und deine Situation(ich bin alleinerziehender Vater im Alg.II-Bezug), meiner Meinung nach tust du genau das, was sich das System erhofft, dass du es tust.
Ich mache es genau andersherum. Ich stehe dazu ein Systemverweigerer zu sein. Ich sage klipp und klar, dass für mein Kind keine Ganztagsbetreuung in Frage kommt. Ich mir nicht das Recht nehmen lasse, mein Kind auf seinem Weg zu begleiten. Ihm Medienkompetenz beizubringen und gesellschaftliche Zusammenhänge möglichst objektiv und frei von indoktrination zu erklären.(Danke Roberto für's immer wieder "Augen öffnen".)
Kita und Schule können das nämlich nicht leisten. Egal welche lächerlichen Erfolgsmeldungen uns die Journaille diesbezüglich immer wieder präsentieren.
Kommt dir das Jobcenter dämlich, beispielsweise mit Sanktion dann ist der Weg folgender:
Zunächst selbstverständlich der Widerspruch,
Beratungshilfeschein beim Amtsgericht,
Rechtsanwalt suchen und ihm dies hier(PDF) in die Hand drücken.
Weiterführende Info hier
Wehrt euch!!! Bevor es zu spät ist.
Beste Grüße
Respekt, gut beschrieben!
Es zeigt die Wirklichkeit der angeblichen altrömisch dekantenten Hängematte.
"Du wirst nicht gebraucht und das wissen wir beide, aber ich tyranisiere dich trotzdem. Nicht weil es hilft, sondern weil ich es kann."
In anderen deutschen "Demokratien" hat man die Ausgegrenzten morgens gegen 4 Uhr aus ihren Wohnungen geholt und in Lager verbracht.
Heute sieht die Endlösung anders aus.
...richtig, immer kräftig wehren, dann lassen sie es schnell sein...
Wir übertreiben nicht nur, wir lügen regelrecht, Kumpel.
Was hab ich für ein Glück.
Bis 2010 kam eine Einladung im Jahr - mindestens 15 Tage vor dem Termin. Dann kam eine an meinem 59sten Geburtstag zum Folgetag.
An dem Tag wurde ich von meinem "Betreuer" ausgemustert.
2012 kam wieder einmal eine Einladung, es war ein neuer Betreuer für mich - Termin in 7 Tagen. Die "Ausmusterung" war falsch gewesen. Ich sollte wieder eine EGV unterschreiben - ich weigerte mich. Seitdem ist Ruhe. Keine EGV per VA - nichts - keine Einladungen mehr.
Und warum? Weil drei Klagen vor dem SG und eine Berufung beim LSG laufen. Denn ich habe mir seit 2005 nichts gefallen lassen.
---und zwar dass
die Balken knacken!
lg. Micha
Ein paar Überlegungen dazu:
1. Nicht jeder hat die Kraft, sich zu wehren.
2. Die Schikane wird ja von den Hartz-Ämtern vorgegeben, die müssen schikanieren und zustehende Leistungen kürzen.
3. Wegen 2. suchen sich die Hartz-Ämter ja auch diejenigen raus, von denen sie wissen, dass sie die schikanieren können (schwache Gegner bevorzugt).
4. Hab mal in einem Mehrfamilienhaus gewohnt, da haben Randalierer gelegentlich über Nacht so einen Postkasten kaputt gemacht.
5. Notwehrmaßnahmen wie AU's und ähnliches sind gerechtfertigt. Ein Mensch hat die Pflicht, sich selbst zu erhalten, jedenfalls nach Kant.
6. Angeblich machen viele Hartzer hie und da kleine Schwarzarbeit.
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