Ein ehrenwerter Bündnispartner

Mittwoch, 31. März 2010

Eine Autonomie, die nicht annähernd an die föderalistische Selbständigkeit deutscher Bundesländer heranreicht, die vom Zentralstaat kontrolliert und vordiktiert wird, die selbst in kleinsten Ressorts nicht weisungsbefugt ist. Eine Sprache, die keinen Bezug zum Idiom des Zentralstaates besitzt, die von der Landessprache als Gegrunze verspottet, als primitive Sprache begriffen wird; die man zwar wieder erlaubt hat, doch bestenfalls nur duldet. Parteiverbotsgesetze, die dazu ersonnen wurden, jene unliebsamen linken Parteien zu verbieten, die die Autonomiefrage nicht aus ihrer Agenda löschen möchten, die weiterhin das Ansinnen nach Selbstverwaltung und Eigenständigkeit bewahren. Eine Folterpraxis, die immer noch wie in Zeiten der Diktatur gehandhabt wird, die Eisenstangen in Enddärme einführt, Scheinertränkungen und inszenierte Hinrichtungen vollbringt, die prügelt und nervlich zusetzt und droht, auch Eltern, Brüder und Onkel zu inhaftieren. Haftstrafen im dreistelligen Bereich, die mindestens vierzig Jahre abgesessen werden müssen, bei denen es keine Aussicht auf Resozialisierung und ein zukünftiges Leben in Freiheit gibt, die überdies oftmals in Isolation abgebüßt werden, womit sie in mehreren Fällen gleichzeitig gegen die Menschenrechte verstoßen. Ein fiktives Terrorhandbuch, dass der Zentralstaat aus dem Hut zauberte, in dem den vermeintlichen Terroristen ans Herz gelegt würde, nach jeder Verhaftung Folter anzuzeigen, ob sie geschehen sei oder nicht, womit jeder Entlassene, der daraufhin Folter anzeigt, indirekt ein Geständnis ablegt, Terrorist zu sein, weil er dem Vorschlag dieses angeblichen Handbuches folgt. Horrende Geldstrafen, die zusätzlich zu Haftstrafen erlassen werden, die nach der Inhaftierung von Familienmitgliedern zu bezahlen sind, weshalb diese nicht selten in bitterste Armut geworfen, letztlich als Sippe haftbar gemacht werden. Politische Gefangene, die gesetzeswidrig Hunderte von Kilometer von ihrer Heimat entfernt einsitzen; dies, obwohl dieser offene Gesetzesbruch der gesamten Gesellschaft bekannt ist - man nimmt dieses Vorgehen als unabänderbar hin, befürwortet es gar. Schutzhaft, in der bis zu 120 Stunden festgehalten werden, in der der Häftling keinerlei juristische Hilfe erwarten, in denen kein Zugang zu Anwalt, Arzt oder Familie, nicht mal ein Telefonat erfolgen darf; in der man vollkommen seinen Häschern ausgeliefert ist, die zudem keine Rechenschaft über ihre Verhörmethoden ablegen müssen. Terroristenstatus, den selbst jene erhalten, die die Autonomiefrage im politischen Rahmen beantworten, die mittels Parteien und außerparlamentarischen Organisationen die Repression des Zentralstaates friedlich gemindert wissen wollen. Ein Regent und oberster Kriegsherr, der das Militär im inneren Konflikt, bei Fragen der Autonomie beispielsweise, einsetzen darf; der Schüsse befehligen dürfte, sofern sich der Zentralstaat in seiner Allmacht verletzt fühlt. Ein Sondergericht, das Geständnisse unter Folter toleriert, ebensowenig dagegen vorgeht; Sonderrichter ebenjenes Gerichts, die Folterknechte Pinochets verurteilen, ihren folternden Landsleuten aber zu Polizeikarrieren verhelfen.

Ein Staat in Lateinamerika? Mitnichten! Mitten in Europa! Am Rande Europas. Das war Spanien, das war das Baskenland. Das heißt: nicht war! Ist! Das ist Spanien, das ist das Baskenland. Franco ist tot, aber wie der spanische Zentralstaat auf die baskischen Autonomiebestrebungen reagiert, die sich freilich auch oftmals gewalttätig verkleidet als ETA äußern, ist oftmals so demokratisch und rechtsstaatlich, wie unter der Staatsfuchtel des caudillo. Amnesty International und die UNO ermahnen Spanien jährlich, weisen auf gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte hin: die europäische Presse, eingeschworen von Madrid, das spanische Baskenlandbild aufzugreifen und zu verbreiten, berichtet über solche Mahnungen nur zögerlich. Sie beschreibt das Baskenland als rückständige Region, in der tollgewordene Querulanten keine Unterwürfigkeit zeigen, tümelnden Nationalismus zelebrieren wollen.

Auch die deutsche Presse; vorallem Deutschland! Jenes Deutschland, damals unter sozial-liberaler Führung, dass während der Reformzeit nach Francos Tod dabei mithalf (in Person von Hans Josef Horchem, der das Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg leitete), den Geheimdienst der staatstragenden baskischen Partei PNV aufzubauen, womit dem Zentralstaat unter Ägide eines Quislings, die Kontrolle und Bekämpfung autonomer Bestrebungen in die Hand gegeben wurde. Jenes Deutschland, dass wissen mußte, dass dieser ominöse Geheimdienst folterte und tötete, zuletzt auch, weil Horchem in seinen Erinnerungen darüber schrieb. Die deutsche Presse, sie berichtet von der Selbständigkeit der Basken, die sich darin äußern soll, unbedingt eine eigene Nation zu stellen, einen eigenen Staat. Manche versteigen sich sogar dazu, ein Großbaskenland zu erfinden, dass es als Begriff in der baskischen Gesellschaft, im baskischen Diskurs gar nicht gibt. Sicher, manche wollen einen baskischen Staat, abgetrennt von Spanien, abgetrennt von Frankreich - aber der größte Teil der Basken, sie wollen Autonomie, die derzeit zwar auf dem Papier gedruckt, die aber nur leere Phrase ist. Denn der baskischen Legislative ist die zentralstaatliche Exekutive eingeschoben. Jeder Gesetzesentwurf der baskischen Regierung wird von Madrid geprüft und in den meisten Fällen als mit der spanischen Verfassung unvereinbar abgewiesen.

Alleine sich kritisch darüber zu äußern, könnte in Spanien als Verherrlichung des Terrorismus - so nennt sich jener Straftatbestand - begriffen werden; selbst wer sich als Sympathisant der seit einigen Jahren verbotenen Partei Herri Batasuna enttarnt, muß damit rechnen, aufgrund seiner subversiven Ansichten, bald zum politischen Häftling zu werden. Batasuna hat sich jahrelang geweigert, die Anschläge der ETA in einem Akt der ritualisierten Entrüstung aller staatstragender Parteien zu verurteilen; sich geweigert, mit Betroffenheitsmiene der zentralstaatlichen Dogmatik nachzueifern. Nicht, weil sie Gewalt für notwendig oder gerechtfertigt erachten würde, sondern weil sie befürchtete, sich damit instrumentalisieren zu lassen, zum eingetriebenen Keil der Autonomiefrage zu generieren.

Eine aufgescheuchte konservative Presse, und konservativ und monarchistisch sind fast alle klangvollen Namen der spanischen Gazettenwelt, zumal linke baskische Zeitungen bereits verboten wurden; diese konservative Presse also, die den Madrider Machthabern, egal ob sie der konservativen PP oder der sozialistischen PSOE entstammen, einredet, ob und wie rabiat man gegen das Baskenproblem zu agieren habe, verunmöglicht jede politische Lösung des Konflikts. Sie verfolgt entlassene Häftlinge auf Schritt und Tritt, fordert deren erneute Inhaftierung, will Gesetze erwirken, die es möglich machen, Haftentlassene nur in bestimmten Gegenden wohnen zu lassen. Und die Regierungen knicken ein, sputen sich, um ja bloß dem öffentlichen Druck gerecht zu werden. Unschuldsvermutungen sind qua öffentlicher Berichterstattung in Spanien abgeschafft - wer inhaftiert wird, 120 Stunden in Incomunicado-Haft war, der gilt für alle Zeiten als gebrandmarkt, dem bleibt der Ruch des Terrorismus allzeit an der Wäsche haften.

All das geschieht in einem Klima, in dem sich mit dem Franquismus, unter dem die Basken besonders litten, nicht auseinandergesetzt wird. Im Gegenteil, mit Aznar war ein ehemaliger franquistischer Emporkömmling Ministerpräsident; und der Sozialist Zapatero läßt bei Gedenkveranstaltungen zum Bürgerkrieg auch franquistische Veteranen mitmarschieren. Man stelle sich nur vor, dreißig Jahre nach Ende der deutschen Diktatur, würden bei Gedenkstunden SS-Männer zugegen sein - und als offizielle Gäste! Überhaupt: Fall des Franquismus! Die gesamte europäische Medienwelt spricht häufig davon, verklärt nebenher den rey zu Helden, zum königlichen Demokraten - dabei gab es nie einen Fall des Regimes; es gab Reformfranquisten, die retten wollten, was zu retten war, die erkannten, dass eine neue Ära anzubrechen habe. Die spanische Verfassung, angefangen dabei, dem Militär eine tragende Säule der spanischen Republik zu belassen, es direkt dem Staatsoberhaupt zu unterstellen, spricht Bände, denn es handelt sich dabei um repressive franquistische Überbleibsel, die so genannte Demokratisierung enttarnen. Heute besetzen Franquisten allerlei Staatspositionen. Und der Klerus, einst mit dem Regime verbrüdert, verweigert sich penetrant jeglicher Aufarbeitung seiner Vergangenheit und findet bei den demokratisierten Franquisten im Staatsdienst Befürworter dieser Verschwiegenheit.

Schon diese lose Litanei, dieses Textchen hier, ins Spanische übersetzt und den geeigneten Stellen übermittelt, könnte als Verherrlichung des Terrorismus, als Affront gegen die Souveränität des spanischen Zentralstaates interpretiert werden, könnte dem Verfasser also, dessen Vater gebürtiger Baske aus Gasteiz war, den spanischen Pass kosten; man könnte ihm Nähe zur ETA nachsagen, um seine Kritik mundtot, seine Sichtweisen zu linken Spinnereien zu machen. Dabei will er nur darauf hinweisen, wie eine hysterische Gesellschaft zum Abbau des Rechtsstaates neigt - jeder Hysteriker innerhalb Deutschlands, der wieder einmal Generalverdacht und gläserne Bürger zur Islamistenbekämpfung fordert, sollte nach Spanien linsen. Und er, der Autor, will klarstellen, dass der Hort der Vernunft, zu den man die EU gerne kürt, nichts weiter ist als eine phänomenale Selbstbeweihräucherung, ein Sichvormachen auf höchstem Niveau. Innerhalb ihrer finden sich Gesellschaften, die näher der Diktatur stehen als der Demokratie - nicht nur Italien neigt dazu, auch Spanien: und verfolgt man den Diskurs in diesem Lande, dann darf man davon ausgehen, dass früher oder später auch Deutschland aufschließt in diese Achse diktatorischer Demokraten, vollkommen hysterischer Gesellschaften.

Empfehlenswert zum Thema Baskenland ist Ingo Niebels Buch "Das Baskenland. Geschichte und Gegenwart eines politischen Konflikts".

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Facie prima

Dienstag, 30. März 2010

Heute: Die Staatsmännische, Angela Merkel


Innenpolitisch mit drögem Blick, verdöst in Stellungnahmen, häufig benebelt in der Debatte, blüht Angela Merkel immer dann auf, wenn sie die deutschen Grenzen überwunden hat. Das heißt, sie blüht nicht unbedingt selbst auf: sie wird blühend gemacht. Auf internationalem Parkett wird aus der innenpolitischen Schlaftablette mit Pagenschnitt, eine stahlharte, unbarmherzige Staatsfrau, die unerbitterlich ihren überstaatlichen Nimbus als iron lady speist. Man macht sie zur Retterin von Klimakonferenzen, zur europäischen Wohlstandswahrerin, zur unnachgiebigen Nein-Sagerin, zum defensor fidei des wirtschaftlichen Europa - das Schlafpulver mit Richtlinienkompetenz, es wird verbrämt, wird umgeschrieben und mit passenden Bildern unterstrichen. Im Inlande vor Müdigkeit nuschelnd, liest sie im Ausland mit erhobener Stimme Leviten, deutelt mit dem Finger, putzt herunter, bleibt entschieden und strikt, weicht kaum einen Zentimeter zurück. Eine aufgehende, energische Person, die in dieser Weise innerhalb Deutschlands unbekannt ist.

Sich in Auslandsabenteuer zu stürzen, weil zuhause kein Ruhm zu machen ist: das ist wahrlich nichts Neues, haben schon ganz andere gemacht. Welche Diskrepanz zwischen der Innen- und der Außenkanzlerin herrscht, selbst in der medialen Darstellung, das ist allerdings fast schon ein Novum. Wie eine gespaltene Persönlichkeit, mimt Merkel außerhalb deutschen Territoriums die staatsmännische Dame, die mit dem Auftrag aller Deutschen im Rucksack, zur arroganten Schaustellung ihrer Machtfülle aufläuft. Mit ihr sei nicht gut Kirschen essen, wird suggeriert. Sie mahnt, rügt, tadelt. Auffällig ist, dass die Außenkanzlerin oft den Finger belehrend oder mahnend schwingt; die Innenkanzlerin hat selbst dazu kaum Kraft. Sie wirkt, als würde sie schon heute ihre Rolle als elder statesman einstudieren, schon jetzt für ihre Zukunft als eiserne Mutter Europas üben. Die Presse schreibt die Kanzlerin zur europäischen Gestalt um, zum Advokaten aller Deutschen; die Fotographen flankieren diese Anwaltschaft, lichten sie in enthusiastischer Positur ab. Die schlafmützige, ab und an traumtänzerische Innenkanzlerin, sie darf international nicht zum Zuge kommen. Dabei ist unerheblich, ob Merkel ihr Phlegma wirklich im heimischen Kleiderschrank zurücklässt oder ob es lediglich aus der Szenerie retuschiert wird. Sie hat energisch zu wirken, selbst wenn sie phlegmatisch bis ins Mark ist - Abhilfe haben die Medien zu schaffen, sie müssen der Fleisch gewordenen Schlafmützigkeit unter die Arme fassen.

Wie Thomas Schaaf, Trainer von Werder Bremen, der Schlips und Kragen nur trägt, wenn sein Verein auf europäischer Bühne spielt, während er den heimischen Bundesligaalltag im abgegriffenen Trainingsanzug bestreitet, so putzt sich auch Merkel heraus - so läßt sie sich herausputzen. Sie soll als Lichtgestalt gelten, als Staatsfrau, die sich von niemanden in die Mangel nehmen läßt. Das ließe ihr Stolz, das ließe der Stolz ihres Volkes nicht zu. Sie erinnert in fataler Weise an jene operettenhaften Staatskasper des 20. Jahrhunderts, von denen man lieber nicht mehr spricht; sie erinnert an jenes Italien, dass heute wieder wie einst, jeden außenpolitischen Auftritt ihres Landesvaters, wie einen Erfolg feiert, auch wenn die Vorstellung nichts weiter als eine blamable Aufführung war. Eine Ikonographie entsteht, in der Merkel zur eisernen Kanzlerin gemeiselt wird. Dabei ist jene Merkel, deren Schädel auf dem Rumpf des ollen Bismarck montiert ist, nur der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Was anhand der Montage unabweisbar wird, findet sich auch in den meisten Fotos, die die internationale Merkel abbilden. Die mater patriae, erhaben und voll Einsatzwille für die Interessen ihres Volkes - das ist die Ikonologie einer innenpolitischen Nachtwächterin, die außerhalb der Grenzen aufgeweckter wirken soll, als sie es je war.

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Evolution braucht Hilfe

Montag, 29. März 2010

Solidarität ist zwar ein entzückendes Ideal, Gemeinsinn bewundernswert tugendhaft und Hilfsbereitschaft ein phänomenales Wunschbild - doch leider sind sie allesamt nicht genetisch programmiert. Der Mensch, so lehren sie uns in unschöner Regelmäßigkeit, sei ein habgieriges und nimmersattes Wesen, egomanisch und selbstsüchtig geartet. Dafür könne er nichts, denn dergestalt sei er von Evolutions wegen konditioniert - er sei, wie alle Wesen dieser Erde, im steten Kampf ums Dasein, damit zur Rücksichtslosigkeit verurteilt. Und weil man evolutionäre Prämissen nicht abändern kann, weil der Mensch so unbelehrbar auf gegenseitigen Kampf eingestellt ist, wie es jede Wildkatze oder jeder Wolf es ist, muß auch das soziale Lebensumfeld des Menschen darauf abgestimmt sein. In einer Welt, in der Kampf und Eigennutz zu Naturgesetzen ausersehen wurden, kann das Gemeinwesen nicht dieser vorgeblichen Natürlichkeit entzogen sein, kann sich nicht vom Menschen Unnatürlichkeit ausbedingen.

Daran sei nichts zu leugnen, lehren sie unentwegt. Darwin habe uns bewiesen, wie Arten entstehen, habe uns die schier göttliche Allmacht des ständigen Kampfes sichtbar gemacht. Darwin sei unantastbar. An seiner Lehre könne man nicht rütteln. Ein wenig feilen hin und wieder, ein bisschen Makulatur üben - das ja! Aber grundsätzlich ist die Lehre unnahbar, unberührbar. Und weil dem so ist, könne man sich zwar gelegentlich über ein Gemeinwesen echauffieren, dass viele seiner Kinder stiefmütterlich behandelt, aber endlich ist es doch nichts weiter als in Staatlichkeit hinübergelotster menschlicher Überlebenskampf. Warum sollte auch ein Wirtschaftssystem und seine sozialen Auffangmechanismen anders sein wollen, als es der menschlichen Eigenart entspricht? Warum sollte es besser sein wollen als der Mensch selbst? Nahezu anmaßend wäre so ein hoher, überhöhter Anspruch, lehren sie beständig. Dass aber erstens, Darwin seinen Survival of the Fittest zunächst durchaus nicht auf die sozialen Gegebenheiten in der Menschenwelt ausdehnen wollte, und dass er, zweitens, schon damals in der Kritik stand, dass der ewige Kampf innerhalb der Natur zu eingleisig sei, wird in den Belehrungen dieser Dogmatiker aus Eigennutz nicht angeführt.

Einer, der dieser einseitigen Auslegung der Evolution entgegenwirken wollte, war Pjotr Kropotkin, ein aus Moskau stammender Geograph und Schriftsteller. Er bezweifelte die Evolution, so wie sie Darwin in Die Entstehung der Arten beschrieb, nicht grundsätzlich - die Reduzierung von Darwins Lehre auf den steten Kampf ums Überleben, die hielt er allerdings für eindimensional, für nur einen Aspekt des Evolutionismus'. Dem Kampf ums Dasein schlug er das Prinzip der Gegenseitigen Hilfe zu. Das war nicht einfach nur theoretisches Geplänkel, um den blutigen, auf Menschen trostlos wirkenden Kampf auszubleichen, erträglicher zu machen - nein, Kropotkin zog seine sibirischen Erfahrungen, die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Forschungsreisen heran. Die Gegenseitige Hilfe, sie war empirische Beobachtung und stand dem, was Darwin verlautete und was seine Jünger später ins Unermessliche dramatisierten, entgegengesetzt.

Mit seinem 1902 erschienen Buch Mutual Aid: A factor of evolution (Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt), wollte er den sozialdarwinistischen Tendenzen seiner Epoche entgegentreten. Kropotkin berichtet von Insekten, Vögeln und Säugetieren und ihrer Hilfsbereitschaft untereinander. Gemeinsames Jagen, gemeinsames Aufziehen von Jungtieren, gemeinsame Pflege kranker Artgenossen, gegenseitiger Schutz in Herden, erlernte Konfliktvermeidung - die Gegenseitige Hilfe war für Kropotkin eine erfolgreiche Überlebensstrategie, entlarvte er als wesentlichen Evolutionsantrieb. Die Sozialdarwinisten hätten nicht verstanden, dass Survival of the Fittest nicht bedeute: der Stärkste, der Rücksichtsloseste, der Gierigste überlebe, sondern dasjenige Wesen, das am besten angepasst sei. Dass manche Spezies dennoch wie Sieger eines Kampfes aussehen, sich also hemmungsloser vermehren, während andere verschwinden, habe mehr mit Klimaschwankungen und Krankheiten zu tun - nichts aber mit Sieg oder Niederlage beim Kampf ums Dasein.

Kropotkin überträgt die Gegenseitige Hilfe im Verlauf seines Buches auf die Menschen. Aufbauend auf Clangesellschaften, Dorfgemeinschaften und Zünften landet er in der modernen Welt - sich zu helfen, es ist demnach kein christlicher oder moslemischer oder jüdischer Kodex, auch keine profane ethische Haltung, sondern dem Wesen des Menschen so immanent, wie jedem natürlichem Geschöpf. Der Mensch sei daher nicht gut, weil es Religionen gelegentlich empfehlen, es ist umgedreht: Religionen lehren hin und wieder ethische Grundsätze, weil sie im Menschen a priori verankert sind. Damit widersprach er Malthus und seinem etablierten Bevölkerungsgesetz, das den Kampf ums Überleben Darwin schon vorwegnahm. Der Kampf ums Dasein, zum alleingültigen Naturgesetz erklärt, später zum Kulturgesetz der kapitalistischen Welt gekrönt, war in Augen Kropotkins nichts weiter als die Rechtfertigungsgrundlage der Sozialdarwinisten. Die Gegenseitige Hilfe, wenn schon nicht zu leugnen, sie doch als Aspekt auszuklammern und zu verschweigen, gehört zum Konzept der Rechtfertigungslehre.

Natürlich wurden Kropotkins Gedanken von Biologen und Anthropologen aufgegriffen und weitergesponnen. In modernen Schriften, die sich mit der Evolution befassen, wird von Gegenseitiger Hilfe gleichermaßen gesprochen, wie vom Kampf ums Dasein. Dort wird Evolution weniger aufwühlend und überzogen thematisiert, als in Publikationen, die den Survival of the Fittest zur Gewissensentlastung behandeln. Kurzaufklärungen, Crashkurse zum Thema, sind da meist einseitiger, richten ihr gesamtes Augenmerk auf den Kampf, die Hilfe als Prinzip entfällt aber, wird bestenfalls kurz angerissen - dort ist the Fittest immer noch der Stärkste, der Schnellste, der mit den spitzesten Zähnen, mit dem größten Gehirn. Dass the Fittest auch heißen könnte, von einer Herde oder einem Rudel zu sprechen, das sich gegenseitig zu helfen weiß, wird heute meist immer noch unterschlagen. Die populärwissenschaftliche Verbreitung des Themas, mal in Vorabendprogrammen oder knapp gehaltenen, einfach geschriebenen, dafür reich bebilderten Büchern, hat wenig Interesse daran, ein komplexes Abbild der Evolutionslehre zu liefern.

Unterstützt wird die Verknappung des Stoffes durch Aussagen wirtschaftlicher Sozialdarwinisten, die die Gier zum maßgeblichen Faktor des Menschseins adeln, die einerseits Mildtätigkeit von den Betrogenen verlangen, weil man die Gier einzelner Milliardäre nicht verurteilen kann, leiden wir doch schließlich alle an diesem verhassten, doch notwendigen und fortschrittsbringenden Antrieb der Evolution; die andererseits aber absolute Kontrollmechanismen für gefährdende Antagonisten (Gewerkschaften, linke Parteien, anarchistische Gruppen) fordern, weil man die Gier und die Egomanie des Menschen, die sich hier als Teilhabe, Umverteilung und Gerechtigkeitssinn äußere, im Griff haben müsse. Gegenseitige Hilfe ist für sie kein Wesenszug des Menschen, der Natur generell, weil sie ihrer Selbstsucht feindlich gesonnen ist. Deshalb haben sie immenses Interesse daran, dass Evolution für die breite Masse, immer noch in den verstümmelten und halbwahren Kategorien gelehrt wird. So, wie sie schon zur Zeit Kropotkins in die Köpfe gehämmert wurde - mit all ihren tödlichen Folgen, die Jahre danach in Massenvernichtung, eugenischen Versuchen und Euthanasie mündeten.

Gerade in Zeiten wie diesen, in der Gier zur Triebfeder der Menschheit verklärt wird, in der derjenige als tugendhaft gilt, der mittels seiner Habgier, den vermeintlichen Fortschritt der Menschheit vorantreibt; gerade in solchen Zeiten, empfiehlt es sich, Kropotkin zu lesen, seiner Theorie zu gedenken, die so theoretisch gar nicht war, die aus dem Leben, aus dem Kreuchen und Fleuchen der Natur gefiltert wurde. Seine aus dem Leben entnommene Theorie, die uns eigentlich allen im Innersten bewusst ist, weil sich die Hilfsbereitschaft auch in uns regelmäßig regt. Hilfsbereitschaft, die versucht einen Ausgang zu finden, der allerdings immer schwerer auffindbar ist, weil die Fässer voll Egoismusrechtfertigungen und Ichbezogenheitslehren, die man über uns ergießt, uns die Gegenseitige Hilfe fast wie einen Frevel an der Natur empfinden lassen, wie etwas, dass schon lange seine Gültigkeit verloren habe, weil uns die Wissenschaft eines Besseren belehrte. In solchen Zeiten ist es notwendig, wieder Kropotkin im Sinn zu haben...

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Kind, das sich rechnet

Samstag, 27. März 2010

Still! Nicht lärmen! Der Herr Sohn büffelt. Er brütet über seinen Schulheften. Er weiß, um was es geht; ist erfüllt von Elan, durchdrungen von Wißbegier. Leise, bitte! Er arbeitet - er verdient uns etwas hinzu. Nicht stören! Unsere Haushaltskasse hängt von seiner Ungestörtheit ab. Was nützt der schönste Zimmerarrest zwecks Büffelei, wenn hernach der Trubel ausbricht? Sachte jetzt, piano jetzt! Wir brauchen das Geld dringend. Das weiß unser Dreikäsehoch auch, daher paukt er mächtig. Selbst das Abendbrot liefern wir ihm aufs Zimmer - er darf keine Zeit verlieren.

Ruhe, bitteschön! Lärm hatten wir ausreichend vor einigen Wochen. Bringt der Bengel doch das Halbjahreszeugnis nach Hause. Was für ein Zeugnis! Eine Freichheit von Zeugnis! Ein Schnitt von Drei Komma nochwas. Was für ein Gebrüll! Wir wollten ihm ja sachlich darlegen, dass das nicht ausreicht. Doch er hatte nichts anderes zu seiner Verteidigung vorzubringen, als brühwarm zu behaupten, er hätte sich bemüht. Er hätte sich sogar in Rechnen verbessert, hätte sich die Vier dort mit viel Schweiß erarbeitet. Schau den nicht an! Sicherlich, ein rhetorisch gestrickter Drittklässler - und ein viel zu selbstzufriedener Drittklässler, wie wir fanden. Ein Wort ergab weitere, fehlende Einsichtigkeit unseres Abkömmlings nährte die Wut und... wir haben uns später auch entschuldigt, aber die Ohrfeige war in jenem Moment dringlich. Nun wieder leise, wir werden zu laut, wir sollten unsere Stimmen senken.

Danach hat er pariert, zwar nicht begriffen, aber eine Weile das getan, was wir verlangten. Und er hatte endlich seine erwartungsfrohe Haltung aufgegeben - er glaubte doch wirklich, wir würden ihn loben und einen Kinobesuch springen lassen, weil er sich im ersten Halbjahr bemüht hatte. Nichts da, haben wir sofort klar Tisch gemacht, jetzt wird gelernt, Freundchen! Drei Komma irgendwas - das reicht nicht. Dann hielten wir ihm die Tageszeitung vor Augen und er mußte einen Artikel laut vorlesen: Bonus für gute Schulnoten! Mittellose Abkömmlinge können ihrer bedauerlichen Familie einen Dienst erweisen, können mitverdienen, sich nützlich machen. Wir taten ihm dar, dass diese Idee aus den Köpfen von Erfolgsmenschen stammte, dass damit auch in der Idee der Erfolg eingewoben sein muß. Wir hätten keine großen Ansprüche, wir wollten nur einen erfolgreicheren Sohn, ließen wir verlauten.

Augenblick, ich luge geschwind ins Kinderzimmer... Er lernt noch immer fleißig. Ruhig! Das war ein Kampf, bis wir ihn dort hatten. Alles hatte sich gegen uns verschworen: seine Freunde, die plötzlich zu Geburtstagsfeiern luden; die Sonne, die jetzt öfter schien; Verwandte, die mit ihm etwas unternehmen wollten. Dieses Geschrei, wenn wir ihn auf einen notwendigen Notendurchschnitt von Zwei Komma Fünf hinwiesen, wenn wir ihm deutlich machten, dass erst die Arbeit, dann das Vergnügen käme. Einsperren mußten wir ihn! Ohne Abendessen ins Bett schicken! Man muß dem Kind begreiflich machen, dass es Verantwortung trägt. Man muß es mit Anreizen wie diesem Bonus ködern, damit es für diese Gesellschaft gerüstet wird. Wir mußten hart zu uns selbst sein - wer sein Kind liebt, der züchtigt es; wer möchte, dass sein Kind sich rechnet, der kommt an Zucht nicht vorbei. Soll das Kind besser rechnen, könnte Nachhilfe dienlich sein; soll das Kind sich besser rechnen, dann ist nur ein unangenehmes Klima hilfreich.

Freundchen, haben wir irgendwann gesagt, so geht das mit uns nicht weiter. Einen Blödian als Sohn wollen wir uns nicht leisten, wir wollen die Schmach nicht erleben, dass es am Ende des Schuljahres heißt, es gäbe keinen Bonus, weil unser Kind zu dumm ist. Still! Mäßigen wir unsere Stimmen, man kann auch leise erzählen, wenn einem der Sproß schon Boni beschafft. Zäh mußten wir sein, seinen Freiheitswillen erwürgen. Er mußte endlich verstehen, dass dort, wo unsere Familie gesellschaftlich angesiedelt ist, keine idyllische Kindheit umsetzbar ist; er mußte einsehen, dass er nun alt genug ist, auch etwas für seine Familie zu leisten, wenn man es ihm schon anbietet. Wenn Jungunternehmer schon eine solche Idee zu modifizierter Kinderarbeit haben, dann sollte man sie auch dankbar aufgreifen. Diese Damen und Herren, sie haben erkannt, dass ein Verbot der Kinderarbeit in unseren Gesellschaftsschichten nur schadet, dass so ein Verbot nützliche Arbeitskraft brachliegen läßt, uns aufhält und behindert.

War das ein Theater! Er wollte es nicht verstehen, hat verdutzt dreingestarrt, als würde er die Zusammenhänge nicht erfassen. Wieder und wieder redeten wir auf ihn ein. Dankbar sollte er sein, dass man ihm die Gelegenheit gibt, sein hungriges Maul selbst zu stopfen. Wir seien gesetzestreue Leute, erklärten wir ihm, würden ihn nie zur Kinderarbeit drängen, solange sie verboten ist. Aber wenn sich da mal eine Türe öffnet, so wie im Falle der Boni, dann sollte man zugreifen. Auch wenn es ungerecht ist, weil ja nur die dummen Kinder der Leistungsbezieher belohnt würden - die dummen Kinder aus Arbeiterhäusern, die belohnt niemand - und die kindlichen Blödiane aus reichen Familien, die gehen auch leer aus, gehen auch mit leeren Taschen auf höhere Schulen. Er sollte dankbarer sein, dass man ihm diese Chance bietet, ihn anreizt, an ihn denkt, während der arme Millionärsbengel mit seiner Dummheit alleine und unbezahlt zum Abitur schreitet. Aber was sollen wir sagen! Es war umsonst, er wollte lieber spielen, sich im Antlitz seiner Drei Komma sonstwie sonnen.

Es tut einem Elternteil in der Seele weh, wenn man wahrnimmt, dass sein Kind ein Halbidiot, ein Drittklässler ohne Antrieb und Sinn für Anreize ist. Wir wollten schon aufgeben... doch dann wurde alles anders, schlechter - und weil es schlechter wurde, wurde es besser. Unser Herr Sohn wurde zunehmend appetitloser, blaßer, schwächlicher - und vorallem lustloser, verbrachte wieder mehr Zeit in seinem Zimmer. Wir sorgten uns zunächst, machten dann aus dem Dilemma eine Tugend. Da er eh viel Zeit zwischen seinen vier Wänden verbrachte, klemmten wir ihn ein Schulheft unter die antriebslose Nase. Unsere Sorge lichtete sich, wir nahmen seinen Wandel als Verantwortungsbewußtsein wahr, waren froh, dass er zu schwächlich war, um sich mit unnötigen Spielereien zu beschäftigen, nurmehr wenig Spaß daran fand, mit Freunden zu spielen. Endlich wurde er erwachsen, bevorzugte die Stille, mied die Auseinandersetzung, nickte einsichtig, wenn man ihm den Bonus schmackhaft machte.

Nur noch kurz, unser ganzer Stolz benötigt absolute Ruhe. Diese Idee, sie ist ein Segen. Die Damen und Herren, die sie entworfen haben, müssen über massenweise Menschenkenntnis verfügen. Sie wissen, wie man Kinder anspornt und Eltern von Erfolgskindern belohnt. Man muß Kindern zeigen, dass sich Arbeit lohnt; man muß ihnen demonstrieren, dass sich Kinderarbeit auszahlt, dass es auch selbst für den Unterhalt der Familie sorgen kann, wenn man ihm die Gelegenheit dazu gibt. Wenn wir heute unseren Sprößlingen beibringen, dass auch sie schon erwachsen sein müssen, ihre Kindheit durch den gesunden Druck familiärer Erwartungshaltung ersetzen sollten, dann muß es uns nicht bang werden. Was für ein erhebendes Gefühl für Kind und Eltern, wenn der belohnende Sachbearbeiter ein Geldgeschenk überreicht - dann weiß auch der Knirps schon, dass brave Mittellose manchmal ein Zuckerchen bekommen, dann weiß er, dass Arbeit ein kleines Stückchen Freiheit bedeutet...

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Die Fackel brennt wieder

Freitag, 26. März 2010

Eine Rezension von Britta Madeleine Woitschig.


Diese Markierung in den Weiten des globalen Netzes klingt zunächst martialisch, in der konkreten Umsetzung wird jedoch erkennbar, dass De Lapuente ein feines Garn spinnt und jedes seiner Worte, und erst recht diejenigen seiner Gegner, auf die Goldwaage legt. Die fehlenden Kommentare der frühen Eintrage beweisen meines Erachtens hinreichend seine Stellung als einsamer Rufer in der Wüste, der durch Querverweise zu anderen unabhängigen Stimmen in Blogs sich seine Aufmerksamkeit hartnäckig erwerben musste. Sein politischer Standpunkt ist aus meiner Perspektive – glücklicherweise – nur die halbe Miete, denn der 1978 geborene Ingolstädter lockt mit weiteren Qualitäten, die seine kurzen Texte über die reine Kommentierung des Tagesgeschehens erheben und damit über das Niveau der bekannteren Edelfedern des (gut bezahlten) Feuilletons der sogenannten "Qualitätsmedien" hinaus.
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De dicto

Donnerstag, 25. März 2010

"Die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts muss anders aussehen als die des 20.! Im Moment wird ein Hilfeempfänger zu 100 Prozent vom Sozialstaat versorgt, dadurch nehmen wir ihm Stolz und Antrieb, nach eigenen Erfolgen zu suchen. Eine Wohn-Pauschale würde Anreize schaffen, sich günstigeren Wohnraum zu beschaffen."
- Heinrich Alt, Rheinische Post vom 24. März 2010 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Kommt man auf die Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts, den progressiven, wegweisenden Sozialstaat zu sprechen, so vergräbt sich darunter nichts weiter als grobschlächtiger Sozialabbau. Das Ansinnen auf einen modernen, modernisierten Sozialstaat: es ist in Fortschritt gekleidete Beschneidung sozialer Errungenschaften. Blinder und übersteigerter Fortschrittsglaube wird angefacht, an die Zukunftshörigkeit appelliert, aufgefordert, sich für das 21. Jahrhundert rüsten zu müssen, um morgen nicht von gestern zu sein.

Dabei wird nicht zuletzt bei den Ausführungen des Heinrich Alt sichtbar, wohin sich die zukünftige Gesellschaft zurückrüstet. Der fortschrittliche Sozialstaat, er will den Druck auf den Hilfebedürftigen mehren, will finanziell strangulieren, um gefügig zu machen. Druck, der im fortschrittlichen Sozialwesen geschönt als Anreiz bezeichnet wird. Wohn-Pauschalen sollen demnach eingeführt werden, nicht um ein Obdach zu sichern, die Wohnung, das Umfeld zu erhalten, sondern um Anreize, d.h. Druck zu erzeugen. Der Bedürftige, der den Machern des progressiven Sozialstaates, ein raffender und vorteilssuchender Parasit ist, muß dazu gebracht werden, seine ohnedies günstige Wohnung gegen ein fast geschenktes Loch einzutauschen - vielleicht bliebe dem Raffzahn dann sogar (als Anreiz) ein wenig Wohngeld übrig. Doch wahrscheinlich würde die Pauschale so niedrig angesetzt, dass man einen Umzug nicht deshalb plant, um sich ein Zubrot zu sichern, sondern um in einer eventuell neuen Wohnung etwas weniger vom Regelsatz dazusteuern zu müssen.

Weshalb der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts, ein anderer sein muß als jener des Vorgängerjahrhunderts, beantworten die Fortschrittlichen freilich nicht. Es hat den Anschein, als seien sie der Ansicht, im 21. Jahrhundert hungere man nicht, brauche man kein Dach mehr über dem Kopf, sei es nicht chic, am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Um Sicherung eines würdigen Menschenlebens geht es dort nicht mehr, es geht darum, eine gefügige Menschenmasse zu verwalten, die sich gefälligst einem Anreizsystem unterzuordnen hat, dass dem Naturell des Menschen unserer Zeit nachgebildet scheint. Heinrich Alt und Konsorten kommen als die Bewahrer des Sozialstaates ihres Weges, ihres reaktionären Trampelpfades, tun so, als wollten sie dieses Relikt des vergangenen Jahrhunderts, diese Reliquie des gutmenschlichen 20. Säkulums, hinüberretten und ihr neue Lebenstauglichkeit einhauchen.

Sie ziehen dabei das pessimistische Menschenbild des Zeitgeistes heran, wähnen den Menschen als faulen und antriebslosen Primaten, der mit Bananen getriezt werden muß. Fast ist es, als habe der Mensch des 21. Jahrhunderts eine Schlechtigkeit erhalten, die er im 20. Jahrhundert, im Jahrhundert der Kriege und der Massenmorde, noch nicht gekannt hatte. Und weil der Mensch sich verschlechtert hat, muß auch der Sozialstaat fit für das 21. Jahrhundert gemacht, verschlechtert werden. Er soll so schlecht, so durchtrieben, so arglistig werden, wie es der Mensch angeblich schon ist - er muß ein Abbild der menschlichen Natur sein, die ja vorgeblich schlecht ist. Wenn der Sozialstaat diesem Naturell nicht entspricht, dann untergräbt er des Menschen Stolz - so sieht es jedenfalls die erkleckliche Anzahl der Fortschrittsjünger. Der Sozialstaat muß so werden, wie das Menschenbild des 21. Jahrhunderts schon wahrgenommen wird; er muß so faul werden, so faulig, wie man es dem Heer der Schmarotzer heute schon nachsagt.

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Du wurdest verführt, sie werden verführt

Mittwoch, 24. März 2010

Keiner entkommt! Alles wird gesühnt! Blitzlichtgewitter und selbstzufriedene Gesichtszüge sind Teil der rituellen Staffage, wenn wieder einmal ein Verbrecher aus grauer... aus brauner Vorzeit, seinem Richter übergeben wird. Senile Scheusale und sieche Ungetüme werden ins Rampenlicht gezerrt, Regungen bis in jede noch so kleine Runzel, noch so winzige Falte analysiert, die Boshaftigkeit im vom grauen Star verschleierten Blick studiert. Keine Bestie entkommt - sofern sie nur noch lebt! Mördergreise werden vorgeführt und köstlich ausgeweidet, sind der ganze Stolz von Staatsanwaltschaft und Justiz, lassen die gesamte Gesellschaft mit geschwellter Brust stolzieren.

Mit Selbstzufriedenheit und Hochmut schlägt man sich anerkennend auf die Schultern. Gut gemacht! Wieder einer! Keiner entkommt! Verbrechen lohnt sich nicht! Sage noch einer, der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches, er würde sich seiner Verantwortung nicht stellen. Sage noch einer, man würde die bittere Vergangenheit verlegen unter den Teppich fegen. Nein, man inhaftiert Tatteriche, reißt sie aus ihrem alterschwachen Leben jenseits von Gut und Böse und inszeniert sich auf ihre Kosten als Gesellschaft der Gerechten, der Rächer, derer mit Langzeitgedächtnis. Der verurteilte Fastneunziger, er ist der Stolz des aufarbeitenden Geschichtsbewußtseins. Er ruft förmlich: Seht her, sie haben nicht vergessen! Sie vergessen nie! Sie haben sich Unvergeßlichkeit angeeignet!

Wir dachten, wir täten das Richtige! - mit dieser Devise entschuldigen sich die Greise dutzendweise. Dummköpfe!, spottet man dann. Habt ihr denn nicht gesehen, wohin es führt, worin es endet? Hättet ihr nur den Krieg gewonnen - ja dann! Aber morden, meucheln, vergasen und auch noch verlieren? Das ist geschmacklos. Dummköpfe!, rufen sie. Und Verständnis zeigt keiner. Klar, du warst ein junger Bursche, bist mit den Gedanken eurer damaligen Machthaber erwachsen geworden, hast von Kindesbeinen an vernommen, dass bestimmte Menschen der letzte Dreck seien - woher solltest du es besser wissen? Einsichten, die heute kaum mehr ans Licht befördert, Fragen, die selten gestellt werden. Wer sie stellt, entkräftet - wer erkennen will, leugnet. Dabei könnte man verstehen und dennoch verurteilen; man könnte hinterfragen und begreifen, letztlich aber dennoch auf eine gerechte Bestrafung drängen.

Allein dies entspricht nicht der Agenda. Wir dachten, wir täten das Richtige! Armer alter Mann, oller Dummkopf! Siehst du denn nicht, dass das heute viele auch wieder als Ausrede benutzen könnten, wenn sie zukünftig hoffentlich zu den Verlierern der Geschichte gehören? Noch sitzen sie, so wie du damals, an Stammtischen und ziehen nur in Worten dem armen Schlucker, dem Arbeitslosen und Fremden, das Fell über die Ohren. Seniles altes Scheusal, wie oft warst du an solchen Biertischen gesessen? Wie oft hast du deine Eltern und Lehrer, deine Onkel und Nachbarn, deine Freunde und Sportkameraden ähnlich wettern und pulvern gehört? Wir dachten, wir täten das Richtige! Erkennst du nicht, dass sie heute wieder boshaften kleinen Männern nacheifern, die von ihren Podesten herunter ihren Minderwertigkeitskomplex auf Kosten der Ärmsten kurieren möchten? Hast du damals, als lauschender Bengel und eifriger Jungmann, den Komplex der kleinen Männer zwischen ihren kreischenden Satzfetzen erahnt? Ihren Klumpfuß, der sie böse werden ließ; ihren nur zur Halbsteifheit schwellenden Pimmel, der sie aggressiv machte; ihre aus Fronttagen verstümmelte Seele, die sie Blut und Fleischbrocken predigen ließ? Hast du all das seinerzeit vor deinem geistigen Auge gesehen, als sie dich aufwiegelten, anstachelten, zum Mord vorbereiteten?

Hast du? Hast du deren Motive erkannt? Nein? Gratuliere! Du bist in bester, in lernresistenter, in bildungsimmuner Gesellschaft! Denn auch sie erkennen heute nicht, wie ihrer Lichtgestalten Komplexe in den Diskurs geworfen werden. Sie sehen die Gier und die Selbstbereicherung nicht. Sie erblicken die Selbstbefriedigung der an Minderwertigkeit leidenden Zwerge nicht, die in Politik und Wissenschaft dabei sind, ihre genetischen Taschenspielertricks zum Dogma zu erheben. Wir dachten, wir täten das Richtige! Das mag nicht nur deine, das mag auch die zukünftige Entschuldigung unserer Zeitgenossen sein. Wie sollten sie es denn auch besser wissen? Täglich nistet sich der Wahn in ihr Leben ein, sie erwachen und erfahren, sich noch im Bett räkelnd, wie viel sie der Taugenichts kostet, wie wenig er im Gegenzug leistet - eine Treibjagd an verhetzenden Artikeln, Aussagen, Berichten findet statt; wie ein saurer Regen prasselt es auf jene herab, die hernach, immer noch durchnässt, glauben, sie würden das Richtige machen, wenn sie sich anreihen, um die Spießgasse zu verlängern.

Weißt du warum sie deine Entschuldigung verspotten? Warum sie dich gar nicht begreifen wollen? Weil du ihnen die Ausrede raubst, weil du deren Parodie bist, die vorweggenommene Persiflage auf ihre mögliche Zukunft. Weil sie sich ängstigen, irgendwann selbst als Verführte und Mitläufer dort zu sitzen, wo du gestern und heute Platz genommen hast. Morgen nicht mehr, denn du gehörst eine aussterbenden Spezies an, bist fast schon, hoffentlich schon, der letzte deiner Art. Sie fürchten sich davor, dass ihr dann ergrauter Kopf nochmal mit der Schlinge Bekanntschaft machen könnte. Mit jener Schlinge, die sie zuvor nur für bestimmte, unliebsame, ihnen zu teurere, überflüssig gewordene Menschen geknüpft hatten. Wir dachten, wir täten das Richtige! - eine Ausrede, die sie erzürnt, weil sie in lichten Momenten, in denen sie tief in sich selbst hineinstarren, ganz genau registrieren, dass ihre Überzeugung, das Richtige umzusetzen, ein fataler Irrglaube sein könnte. Sicher sind sie sich indes nicht, sie zweifeln lediglich schüchtern.

So wie du, der du dachtest, du machest das Richtige, der du aber ahntest, dass dieses Richtige nicht die einzige Option sein kann; der du ahntest, dass es mehr geben muß als das Beseitigen von Menschen, die aussahen wie du, rochen wie du, sich vor Angst in die Hose schissen wie du. Manchmal schwante es dir sicherlich, hattest du einen vagen Schimmer davon, wie anders deine Welt hätte sein können, einen Schimmer davon, dass die Welt so wie sie dir, wie sie euch jungen verführten Kerlen war, kein Naturgesetz hätte sein müssen, wenn ihr nicht gewollt hättet. Gemordet habt ihr am Ende doch - ihr kanntet nichts anderes, ihr habt gelernt Befehle zu befolgen. Und jene, die es aufgrund ihres Alters, ihrer vorbraunen Erfahrung besser wissen mußten, befolgten ja letztlich auch jeden noch so lausigen Befehl. Letztere sind schon lange dahin, ihr seid auch bald tot, eure lebenslange Haft wird ein kurzes Spektakel.

Man muß den Versuch wagen dich verstehen zu wollen. Auch wenn das nicht mehr zeitgemäß ist, auch wenn diese Krawall- und Radaugesellschaft es heute lieber sähe, in schwarz und weiß zu sortieren, Bösewichte fein säuberlich von ihrem Pendant zu sondern. Man muß es gleichwohl versuchen - heute mehr denn je. Man muß sich wie einst die Arendt ans Werk machen, die alltägliche, gewöhnliche, triviale Maske zu betrachten, mit der die menschliche Schäbigkeit verübt wird. Die Banalität des Bösen, die in Eckkneipen und Bierkellern gärt, die aus jedem Postboten einen remarquischen Himmelstoß macht, aus jeden Gartenzwerg einen Eichmann, sie muß stets neu begriffen, immerfort neu gelehrt werden. Du bist kein Relikt von damals - nicht ausschließlich jedenfalls. Du bist ein lebendes, noch lebendes, dahinvegetierendes Musterexemplar von Unmenschlichkeit. Zwar stirbst du, aber dein mitläuferischer Geist, deine Mordbereitschaft, deine Unbedachtheit, sie werden weiterleben; in Massengesellschaften, in denen Dienstorder und Gesetze mehr zählen als die Menschlichkeit, völlt sich der unmenschliche Geist wie die Made im Speck. Dort kann der billige Hanswurst skrupellose Karriere machen - dort zeigt sich die erstaunliche Abgeschmacktheit des Bösen. Ein Hanswurst, der Mahnung ist: denn jeder Pogrom, jede Verfolgung, jeder Massenmord: er beruht auf dem seichten Mitläufer, dem devoten Hofzwerg - ohne ihn bliebe das Verbrechen überschaubarer. Du stirbst in Kürze, aber dein Typus, er ist stets in Mode, wir auch in dreißig Jahren auf die eine oder andere Weise très élégant sein.

Verführter warst du, doch so heißen sie dich nicht. Monster nennen sie dich, Scheusal, einen Schlächter, Henker, Mörder, einen Blutrünstigen - schlechte Menschen haben immer mehrere Namen; von jeher waren Menschen faszinierte vom Schlechten, dekorierten das Faszinosum mit reichlich Titeln. Von deinen Untaten berichten sie, von Kopfschüssen und Massengräbern - von der Verführung, deren Opfer du zunächst warst, deren willfähriger Henker du danach erst wurdest, flüstern sie bloß. Nicht der Weg kümmert sie, nur das Ziel; das blutige Resultat klagen sie an, nicht die brandige Vorarbeit dorthin; sie wollen nur den Befund, die Infektion ist ihnen einerlei. Einen Verführten wollen dich die neuzeitlichen Verführten nicht taufen: sonst wärst du ihnen Bruder. Wenn schon nicht in der Tat, so doch im manipulierten Geiste. Natürlich widerstrebt ihnen das.

Um wie viel leichter ist es, aus dem schuldig gewordenen Opfer der Verführung, ein grässliches Monstrum zu machen, eine abscheuliche Bestie! Deshalb klagen sie die Blutbäder alleine an, die du eingelassen hast - die Verführung, der stringente Pfad dorthin, er ist meist unerwähnter Zierat. Dass du Bestie wurdest, es lag vielleicht an deinem Talent, völlig talentlos geblieben zu sein, vollgepropft mit Unwissen und unbeholfen in deiner Unbedarftheit. Hättest du hinterfragt, was man dir aufgetischt hat, hättest du gezweifelt, abgeklopft und unter die Lupe genommen: ob du heute Scheusal wärst? Dessen können sie dich leider nicht anklagen, weil es erstens nicht strafbar ist und zweitens ihre eigene Sünde. Klagen sie den Leichtgläubigen an, so klagen sie sich selbst an - daher stürzen sie sich auf deine Monstrosität, auf dein Bluthandwerk, das jede Blauäugigkeit übertüncht, zur Bagatelle schrumpft. Das Sich-verführen-lassen, es wird zur Marginalie, ist nicht mehr der Rede wert, nicht mehr der Urgrund des Massenmords. Sie schmeißen sich auf deine Monstrosität, weil euch das noch unterscheidet - du wurdest verführt, sie werden verführt; du hast dich zum Mord verführen lassen - so weit sind sie heute aber noch nicht. Das ist der sublime Unterschied, den zu betonen sie nicht müde werden.

Gut gemacht! Einer weniger draußen, einer mehr drinnen, hinter Gittern. Lebenslange Haft für einen Greis - eine kurze Lebenslänge. Und sie gratulieren sich, lassen sich feiern, weil sie den braunen Nachwehen noch immer trotzen. Dann eilen sie vor die Presse, sprechen von guten Tagen für das Land, für die Justiz, für die Opfer, brechen ihre Pressekonferenzen ab, eilen weiter, in Fernsehstudios, äußern sich dort zu den Problemen der heutigen Gesellschaft, zu den Arbeitslosen und Faulpelzen, zur Überfremdung und Islamisierung, wollen nach fünf Jahren aussortierte Gesellschaftsgruppen in die Obdachlosigkeit oder ins Lager entlassen, Ausländer ausweisen und Leitkulturen verordnen, nehmen ihre Euphorie aus dem Gerichtssaal mit in den Vorpogrom, der regelmäßig ausgestrahlt und gedruckt wird. Nicht alle tun das, nicht jeder Einzelne - doch sie alle zusammen, als Gesellschaft, sie tun es.

Weil du noch nicht gestorben bist, weil es dich Scheusal, dessen beste Tage verstrichen sind, immer noch gibt, können sie ganz ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen, wie deine Generation damals, ohne gleich in bräunlichen Ruch zu geraten. Hinter deinen gebeugten, osteoporösen Rücken, hinter dem einst breiten Mordsnacken, Mördernacken, verbergen sie ihre Ähnlichkeit zu dir. Sie schicken dich, du Mensch von gestern, an die Scheinfront, damit sie ihre Bodenlosigkeiten ein wenig ungestörter praktizieren können. Aber wir tun doch was gegen den Hass!, entrüsten sie sich. Wir sperren Greise ein! Lebenslange Haft für Neunzigjährige! Wir haben aus den Fehlern gelernt! Und nun belästige man uns nicht weiter, wir haben zu tun! Und wie schwer sie schaffen, wenn sie ihre Mitmenschen lehren, erneut das Richtige zu tun. Zunächst lehren sie das Wort, denn am Anfang stand immer schon das Wort - und dann, dann schaffen sie vielleicht Arbeit für eine Justiz der Zukunft, für eine Rechtssprechung die irgendwann Senioren inhaftieren muß; Senioren, die heute noch recht rüstig, weil auf jungen Beinen, in dunstige Bierkeller pilgern, um ihren Trommlern und Hasspredigern zu lauschen.

Ungetüm von gestern, du faszinierst nur, weil du den heutigen Bestien, die noch nicht so genannt werden dürfen, weil sie noch nicht zur Vollendung geschritten sind, weil du ihnen erstaunlich gleichst, weil du ihr Großvater nicht nur sein könntest, sondern im spärlichen Geiste auch bist. Sie sitzen über ihresgleichen zu Gericht und hoffen nur, dass sie nicht eines Tages deine Ausrede benötigen, dass sie nicht irgendwann ihre Rolle eintauschen und dort ihren Hintern abstellen, wo du ihn gestern und heute und hin und wieder auch morgen noch, wenn immer noch ein letzter deiner Art und noch ein letzterer aufgefunden wird, platziert hast. Sie hassen dich, weil du warst, wie sie gerne wären, wenn sie ihr letzter Fetzen Skrupel nicht behindern würde.

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Kampagnenjournalismus

Dienstag, 23. März 2010

Kampagnenverseuchtes Deutschland! Kommt der Journalismus doch mal seiner Verpflichtung nach, reißt sich am Riemen, beugt sich dem Berufsethos, so wittert man in dieser Republik schon Kampagnismus dahinter. Man ist es im Olymp gewohnt, dass man tun und lassen kann was man will, ohne sonderlich auf den Journalismus achten zu müssen. Man hat ihn sich ordentlich erzogen, hat ihm Manieren beigebracht, dem Schreiberling. Muckt er dann aber auf, tut das Unfaßbare, nämlich zu berichten, dann grollen und zürnen sie, erklären mit würdevoller Miene, selbstgerecht wie sie nun mal sind, dass eine Kampagne laufe, deren Opfer man sei; eine Kampagne, ins Leben gerufen vom Feind persönlich, die das beklagenswerte Opfer zum Wanken, zum Taumeln, ja zum Sturz bringen soll.

Zwar habe man Volksverhetzung betrieben und nebenher die eigene Klientel, die zufällig auch noch familiär oder freundschaftlich verbandelt ist, gefördert und auf Reisen geschickt, seine eigene kleine Amigo-Affäre inszeniert - aber wenn man genau hinblickt, dann erkenne man überdeutlich, dass die Berichterstattung eine Kampagne gegen die besten Absichten dieser Vorgehensweise ist. Gewiß habe es in den eigenen Reihen Fummeleien gegeben, in tausendfachen Einzelfällen wohl auch sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, alles zwecks Generationengerechtigkeit auf mehrere Jahrzehnte und Jahrgänge verteilt - allerdings muß man bei dem Aufgebot an Journalisten, die sich dieses traurigen Themas annehmen, davon ausgehen, dass es sich um eine Kampagne gegen die Institution selbst handelt. Freilich habe der werte Herr Verteidigungsminister einen Bericht erhalten und ihn aus den Augen verloren, geleugnet, beschwichtigt, geglättet, dem Krieg ein wohlgefälliges, adeliges Antlitz verliehen - trotzdem darf man wohl erahnen, dass bald von einer Kampagne gegen den vorgeblich populärsten Minister gesprochen wird.

Wie wild könnte man es doch treiben, bescheissen, betrügen, befummeln, sich bereichern, ausschweifend und ganz zwanglos! Wenn nur diese Campañeros nicht wären! Wie weit, wie hoch, wie reich wären wir nur, schwelgen sie, wenn es diese Kampagnen nicht gäbe! Wie fein wären wir aus dem Schneider, wenn sich die Journaille endlich ihren Aufgaben widmen und erlesene Hof- und Hausreportagen anfertigen würde. Man muß ja schon um die Demokratie fürchten, wenn da so undiszipliniert und mit unstillbarem Sensationshunger geschildert wird. Wenn der Journalismus nicht bald seiner Arbeit nachgeht, ist es aus mit der Demokratie, aus mit unserem schönen und besinnlichen Leben. Wo wir nur sein könnten, gäbe es keine Kampagnen - würden nur wir Kampagnen gegen Unliebsame ins Leben rufen, so wie wir es immer schon taten!

Weit sind wir gekommen. Die Kampagne, sie dient als Entschuldigung, als Alibi, um die vor der Öffentlichkeit mehr oder minder seelenruhig begangenen Schweinereien, für weniger gefährlich, kriminell oder unmoralisch zu erklären. Journalistische Arbeit, wenn sie denn mal stattfindet, wenn sie denn mal aufklärend auf den Plan tritt - was selten genug der Fall ist -, dann nennt man das dort, wo man ansonsten von schweigenden und hofierenden Journalisten umgeben war, eine ausgemachte Kampagne. Dann zieht man sich schmollend in die Ecke zurück und glaubt, man hätte das Privileg gepachtet, für etwaige Gemeinheiten und Schäbigkeiten mit journalistischer Stille belohnt zu werden. Wenn nicht arschkriechend berichtet wird, wittern sie Kampagne! Wenn entlarvt wird, kommt ihr ganzer Verfolgungswahn zum Vorschein, macht sich ihr schrundiges Gewissen bemerkbar, indem es ablenkend plärrt: Kampagne!

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Sit venia verbo

Montag, 22. März 2010

"Und niemand versteht besser anzutreiben, niemand versteht höhnischer zu sagen: "Schlapper Hund! Solltest mich mal sehen!" als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, als der Mit-Hungernde, als der Mit-Gepeitschte. Selbst die Galeerensklaven haben ihren Stolz und ihr Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute Galeerensklaven zu sein und "nun einmal zu zeigen", was sie können. Wenn das Auge des Kommandorufers, der mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, wohlgefällig auf ihm ruht, so ist er beglückt, als hätte ihm ein Kaiser persönlich einen Orden an die Brust geheftet."
- B. Traven, "Das Totenschiff" -

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Der Neid der Branche?

Sonntag, 21. März 2010

Der Mann gehört nicht gefeuert - er gehört befördert! Erfundene Gespräche habe er seinem Magazin angeboten. Erfunden! Wie negativ sich das doch anhört! Der Mann ist innovativ, hat ein wenig nachgeholfen, aufgepeppt, den IQ der Befragten poliert. Wenn heutzutage die Politik neue Sanktionskataloge für Leistungsberechtigte erfindet, dann spricht doch auch keiner von Erfindungen. Nein, dann heißt es, man habe optimiert. So sollte man das sehen! Der Autor hat nicht erfunden: er hat optimiert, hat das Beste aus der befragten oder zu befragenden Gestalt herausgeholt. Alles herauszupressen: das nennt man Effizienz.

Und mit welchen Köpfen er es da zu tun hatte! Man will ja nicht frech sein, niemanden Dummheit unterstellen - aber wie er aus diesen banalen Persönlichkeiten des Zeitgeschehens, an die sich in drei Stunden niemand mehr erinnern kann, weil schon wieder neue Gesichter, eben frisch der Casting-Couch entschlüpft, zu den neuesten Giganten ihrer Branche geschürt werden, wie man also aus solchen trivialen Persönlichkeiten etwas Lesenwertes herausholen soll, weiß der Teufel. PR-Gewäsch, abgestandene Sprüche, antrainierte Sätze - was für ein öder Brei aus Kommerz und Style, aus Massentauglichkeit und gespieltem Individualismus, aus Bad-Boy-Image und Habt-mich-alle-lieb. Starlets am schmalen Grat, zwischen Verkaufszahlen und Aufmerksamkeitsdefizit: dabei kann nichts Lesens- oder Erwähnenswertes herauskommen. Dazu braucht es eine effiziente und optimierende Kapazität.

Bevor man sich diesen Mix aus penetranter Belanglosigkeit antut, fingiert man, optimiert man schon lieber. Die Leute wollen doch eh nicht wissen, was ihr Star sagt; sie wollen nur den Eindruck haben, vielleicht und vermutlich wissen zu dürfen, was ihr Star eventuell und womöglich würde gesagt haben können. Heute will niemand mehr informiert sein - aber das wohlige Gefühl, sich informiert zu wähnen, das will man nicht missen. Der Autor hat das verstanden und hat dem hungrigen Publikum, diesen lauen Infoholics, die glauben, es sei die höchste aller Informationen, die Slipfarbe ihres bevorzugten Barden präsentiert zu bekommen, er hat ihnen das gegeben, was sie lesen wollten, wenn sie von ihrem Helden lesen würden. Nicht erfunden wie erwähnt - herausgefiltert, destilliert, optimiert. Aus ausgesaugten Starhüllen Hochglanzbildchen gebügelt!

Und so einer wird gefeuert! Das verstehe wer will! Befördern hätte man ihn müssen. Zu höheren Weihen geleiten. Hinüber ins politische Ressort, wo Effizienz und Optimierung dringend nötig wären, um den grauen, einförmigen, tranigen Eminenzen, die Rede und Antwort stehen müssen, dabei aber nichts als PR-Neusprech und Schlagworte und Parolen zu bieten haben, ein wenig unterstützend unter die schwitzigen Achseln zu greifen. Niemand will doch wirklich wissen, was Politiker aus dem zweiten oder dritten Glied an Eselei zu versprühen haben; niemand will wahrhaft wissen, was die erste Garde an Klüngelei und Vetternwirtschaft als politische Vernunft verkündet - es reicht, wenn man den Eindruck hat, vielleicht wissen zu glauben, was dieser oder jener von sich gegeben haben könnte. Zu genau will man es nicht wissen, es reicht, schwammig zu erahnen, dass man informiert sein könnte. Interviews in Politik und Wirtschaft, sie lassen sich zuletzt eh auf zwei, drei Sätze reduzieren. Da ufert der Befragte ellenlang aus und am Ende zitieren hunderttausend Medien nur immer denselben Satz - natürlich irgendwas, was spektakulär, drastisch, kurios klingt.

Niemand könnte besser verstümmeln und einschrumpfen lassen, wie jemand, der gelernt hat, effizient zu optimieren. Ein solcher Experte gehört nicht dem Arbeitsmarkt überstellt, er gehört auf die Politikseiten. Deswegen wird zwar der interviewende Irrsinn auch nicht erträglicher - aber die nun zürnende Journaille, die glaubt, im Autor optimierter Gespräche einen beruflichen Schandfleck, ein schwarzes Schaf der Branche entlarvt zu haben, soll nicht glauben, sie sei um so viel besser als der Beschuldigte. Denn er hat nur konsequent umgesetzt, was der größte Anteil der Zunft hinter gespielter Professionalität verbirgt. Er hat das Ringen um Scheininformationen, das den heutigen Journalismus wesentlich ausmacht, nur auf die Spitze getrieben.

Vielleicht ist es auch nur der Neid unter Kollegen. Neid, weil man einst mit Müntefering, Schröder, Merz zusammensitzen, ihren Geruch, ihre Arroganz, ihre Banalität ertragen mußte, während sich der feine Herr Kollege einen schönen Lenz machte, den Allüren der Prominenz entfloh und dennoch brauchbare Gespräche lieferte - vielleicht brauchbarere Gespräche, als sie die Realität je hergeben könnte. Ohne Aufwand dieselbe kümmerliche Qualität abgegeben zu haben: das muß die Branche doch ärgern, muß sie neidisch werden lassen...

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Zähmung der fickenden Unterschicht

Freitag, 19. März 2010

Oh, was für ein Segen, dass wir in manierlichen Zeiten leben! Oh, was für ein Glück, dass unsere Gesellschaft aus ihren Fehlern gelernt hat! Denn jetzt muß man keine Samenleiter mehr durchtrennen, Eierstöcke rausreißen oder Hoden entfernen - Schwachsinnige und Minderwertige können hormonell oder per Präservativ zu ihrer Kinderlosigkeit und zu unserem Glück gedrängt werden. Gezwungen? In keiner Weise! Alles freiwillig, alles ohne Zwang - wer aber hernach schwanger wird und sich mit fünf Bälgern quält, der soll nicht wimmern.

Dabei weint sich diese Gesellschaft turnusmäßig die Augen aus dem Kopf, weil sie zu wenig Kinder hätte. Nicht mal anderthalb Lendenfrüchtchen pro Frauenleben. Anderthalb klassenübergreifend wohlgemerkt! Denn im gesellschaftlichen Droben, berichten sie, plärren noch weniger Kinder, gleichzeitig hienieden die Geburtenrate zu hoch läge. Lakonischer: Die falschen Leute bekommen Kinder! Da beklagen sie sich, heulen unaufhörlich, weil sie schrumpfen und dann halten sie eine bestimmte Sorte Kind für unwürdig, ihre schrumpelnde und vertrocknende Gemeinde aufzufüllen.

Wenn es denn die Wahrheit wäre, dass droben weniger, drunter mehr Kinder den Nebel der Welt erblickten, so müßten doch Einsichten folgen, die sich von den heutigen Unkenrufen unterscheiden - man müßte das Unterschichtenkind besser fördern, ihm alle Möglichkeiten einräumen, finanzielle Barrieren auflösen, Bildung frei zugänglich machen, damit es die sich lichtenden Reihen schließen kann. Aber was macht diese Gesellschaft? Sie will Pariser verteilen, Hormonkuren finanzieren, damit aus den Kindern der Habenichtse nicht weitere Habenichtse entstehen. Sie will also verhindern - nicht fördern. Denn letztendlich sollen die richtigen Leute Kinder in die Welt setzen. Und das alles ohne Zwang! Zwang ist ausgeschlossen. Nicht mehr zeitgemäß. Schadet dem Image. Zwang? So ein verderbliches, so ein böswilliges Wort!

Niemand hat die Absicht, Hoden abzuklemmen; niemand will sterilisieren. Aber Pille und Kondom, großzügig angeboten, um sich der armen Schlucker und ihrer Brut zu erwehren - das muß doch erlaubt sein. Ohne Zwang, dafür mit Formular. Antrag auf Verhütungsmittelhilfe nach Paragraph soundso: Tragen Sie hier ein, lieber Penetrierender, wieviele Präservative Sie benötigen. Ihre Fallmanagerin wird Ihnen, nach eingehender Beratung, eine angemessene Stückzahl an Kondomen aushändigen. Dort gibt es dann Schelte, ob man denn krank sei, pervers vielleicht, weil man monatlich 25 Kondome wolle - das ist ja schon abartig! Selbst habe man nur zweimal Geschlechtsverkehr im Quartal, zudem einmal Fellatio im Monat - mehr Zeit habe man nicht. Aber woher soll ein Schmarotzer auch wissen, wie wenig es unter der Gürtellinie zwickt und juckt, wenn man zur Leistungsträgerschaft gehört. Denn man habe weder Zeit noch Muse, sei immer in Gedanken bei der tonnenschweren Verantwortung, die man für diese Gesellschaft trage. Sowas wird ein Schmarotzer auch nie verstehen. Zwei Ficks im Vierteljahr, einmal Blasen im Monat - und das, nach Termin und Absprache, immer mit demselben Partner. Wer aber 25 Gummis will, der nährt doch den Verdacht, dass er alles begattet, was seinem Pimmel Obdach gewährt - Sie widerliches, perverses, krankhaftes Schwein!

Dann irgendwann häufen sich die Meldungen. Jetzt sprechen die Fallmanager!, titelt Springer. Und was sie berichten! Erröten möchte man. Alles Perverse!... Rammeln wie die Karnickel!... Nur Sex im Kopf, zwischen den Stöhngelagen lockert man sich mit Alkohol und Kippen auf. Manche masturbieren direkt beim Amtstermin... Arbeitsvermittler verletzt: auf Sperma ausgerutscht!... Fallmanagerin berichtet: Asoziale vermehren sich direkt in der Amtsstube!... Wir brauchen härtere Maßnahmen!, brüllen sie dann von den Aufmachern. Pille und Gummis kosten monatlich Unsumme und kriegen die krankhafte Triebhaftigkeit letztlich auch nicht in den Griff. Die Kondomerzeuger haben zu aller Unglück die Preise auch noch angezogen - Präsermanufakturen beuten Steuerzahler aus!... Sperrt ihnen das Kindergeld!, fordert ein Ökonom. Oder ein Soziologe aus Bremen - wer weiß das heute schon so genau? Hoppla, ist ja heute schon quasi so, nennt sich nur Anrechnung des Kindergeldes - rasch den Vorschlag unter den Teppich gekehrt... Schlagworte braucht das Land: Asozialenschwemme! Der kräftige und gesunde Leistungsträger stirbt aus! Verkinderte Republik!... Und dann passiert es: Kappt die Leitungen!, schreit ein mutiger Politiker. Durchschlagt die Samenleiter minderwertiger Männer. Tippelbrüder und Alkoholiker brauchen keine Kinder, sie müssen ihr kränkliches Erbgut nicht ablassen. Fangt bloß bald an mit der Durchtrennung, bevor uns ihr Sperma erstickt. Achwas!, schreitet ein Kollege energisch ein. Nicht die Leitungen trennen, raubt ihnen besser die Hoden, damit auch gleich der lasterhafte Trieb vergeht! Die sollen nicht beischlafen, während der fleißige Teil der Gesellschaft arbeitet; die sollen nicht ficken, während sich der fleißige Teil der Gesellschaft von ihren Chefs ficken läßt. Frechheit, unmoralisch, nicht tragbar!, titeln darauf einige Zeitungen heuchlerisch. Das geht aber zu weit! Samenleiter kappen - das geht ja noch. Das sei ausreichend! Und urplötzlich wird der Samenleiterdurchtrenner zur Stimme der Vernunft - neben seinem geistigen Bruder, dem Hodenzwicker, wirkt er ausgesprochen milde, rational, menschenfreundlich... Aber einerlei, denn tagsdrauf bohrt man nach: Darf man Hoden stehlen? Die große Umfrage, sagen Sie uns Ihre Meinung. Und, welch Überraschung, vier Fünftel entblößen sich als Eierdiebe. Uiuiui, quaken sie dann einträchtig im Chor, der hat Rückhalt in der Bevölkerung, der spricht mit Volkes Mund. Und seien wir doch mal ehrlich, recht hat er schon. Nur hätte er es mit mehr Würde vortragen, einen versöhnlich-wissenschaftlichen Ton anschlagen müssen. Hodenklau sagt man nicht! Das klingt so banal, so unseriös. Kastration oder Entnahme der Testikel - ja, das wäre eine Wortwahl, die einer Demokratie würdig ist, die ihr zupass kommt...

Doch immer langsam, nur ruhig, nur still. So weit sind wir noch nicht - noch ist es freiwillig. Wir sind doch zivilisierte Leute. Und zivilisiert sollten auch alle Frauen sein, deren Lebenswunsch es immer war, Kinder zu haben - Männer mit gleichem Wunsch freilich auch. Stellt euren Wunsch zurück, verdammt euer Lebensglück - wer nicht zahlen kann, wer nicht flüssig ist, soll kein Glück gebären müssen. Aber alles freiwillig! Man kann es gar nicht oft genug erwähnen. Wer aber dann mit fünf kostenintensiven Plagen gesegnet ist, soll sich ja nicht die Frechheit erlauben und jaulen. Und warum soll eigentlich die Solidargemeinschaft für Kinder aufkommen, die auch als milchige Brühe im Pariserzipfelchen hätten zurückbleiben können? Alles freiwillig - gar keine Frage. Aber wer sich nicht helfen lassen will, wer der Gesellschaft nicht als Geburtenkontrolleur in eigener Sache hilft, der soll nicht noch finanzielle Unterstützung für seine Triebhaftigkeit erhalten.

Noch gibt man dem Bodensatz die Chance, sich selbst zu regulieren. Wobei das Problem nur am Rande beseitigt wäre - denn was bliebe, das wäre die Lust. Kinderlose Lust - die mehrt das Gestöhne nur noch. Gibt es erst keine störenden Bälger mehr, quietscht das Bett emsiger. Ich muß arbeiten und die treiben es bunt, wettern dann viele - tun sie ja heute schon. So als ob ihre Arbeit Schuld hätte, dass sie keine Frau, keinen Mann abbekommen; als ob es nicht ihr Mundgeruch, ihre zum Kinn herausragenden Nasenhaare und ihr mieser Charakter wären, die selbst ein Präservativ verschreckten. Päderasten, geile Böcke! Die finden doch keine Arbeit, weil die ständig steif oder feucht sind!

Aber zunächst geht es um die Kinder. Ihr Kinderlein kommet - das heißt: kommet bloß nicht; kommet ja nicht zur Welt. Das wird uns zu teuer. Zwar beklagen sie sich, wir hätten zu wenig Kinder - aber Kind ist eben nicht Kind. Die einen Kinder bekommen Kindergeld, das nicht an Vaters opulenten Gehalt ausgerichtet wird - die anderen bekommen ihr Kindergeld ans Sozialgeld angerechnet. Kinder und Schmuddelkinder - aber selbstverständlich sind alle gleich, haben die gleichen Chancen. Ist es etwa die Schuld der Gesellschaft, wenn Schmuddelkinds Papa keinen Nachhilfelehrer bezahlen kann? Er hätte doch die Chance, er müßte nur fleißiger sein und mehr verdienen, dann könnte auch aus seinem Spross ein geherztes Kindchen werden. Also, unterlasst das Kinderkriegen besser gleich, holt euch Pariser vom Amt, spritzt eure Lust ins Reservoire.

Solange jedenfalls, bis man mit dicken Lettern davon berichtet, dass die Verhütungsmittelbereitstellung den Staatshaushalt auffrisst. Bis das Optimierungsgesetz zu Verhütungsfragen in Kraft tritt und man euch wertvolle Ratschläge erteilt. Dann erhält die Bedarfsgemeinschaft Post, "erscheinen Sie bitte am soundsovielten... dies ist eine Einladung nach Paragraph..." - Rechtsfolgebelehrung beigelegt, bei Nichterscheinen: Sanktion! Da sitzen die Bedürftigen, da sitzt die Bedarfsgemeinschaft dann und wird von einem sexuell Bedürftigen beraten. Askese sei ein Ideal, winselt er. Und wenn schon, warum nicht mal in den Arsch penetriert. Oder keck geblasen. Oder frech geleckt. Praktiken ohne Schwangerschaftsfolgen. Liebe Bedarfsgemeinschaft, verkündet der verwelkte Beischlafsberater, treibt es patriotisch - macht es so miteinander, dass der Solidargemeinschaft nicht Unkosten aufgebürdet werden, die nicht unbedingt sein müßten. Ihr kostet doch schon eine Menge! Noch einer von eurer Sorte - wer soll das bezahlen? Fickt anal, damit der Steuerzahler und Leistungsträger nicht an einer etwaigen Schwangerschaft leiden muß. Fellatio und Cunnilingus aus Vernunft- und Kostengründen! Dann zwinkert er dem männlichen Teil der Bedarfsgemeinschaft zu, ermuntert ihn in jovialer Stimmlage zum Taschenbillard - ein Blick zur Dame des alimentierten Hauses, ein Ratschlag, es mit lusthemmenden Medikamenten zu probieren. Schließlich müsse man doch nicht dauernd im Koitus vereint sein - reicht es nicht, wenn man in Armut vereint ist?

Davon aber noch keine Rede. Noch heißt es nur, dass das Prekariat verantwortungslos sei, Kinder bekomme, die wir uns nicht leisten könnten als Gesellschaft. Dabei könnten wir sie uns leisten, wenn wir wollten. Wir könnten uns sogar leisten, sie gut zu bilden, sie teilhaben zu lassen am sozialen und kulturellen Wohlstand. Könnten wir! Wollen wir nur nicht! Man will keine Ahmeds oder Kevins, keine Kinder von unten oder von sonstwoher - man will eher Rüdiger-Pascals, die irgendwann mal beruflich als Vermögensverwalter ihres Erbes fungieren. Daher Gummis verteilt und Pillen gereicht, damit den gewollten Kindern dieser Gesellschaft ein wohliges Leben beschert ist; ein Leben, in dem sie die Armut nicht mehr finanzieren müssen; ein Leben als erwünschte Kinder, als erwünschte Jugendliche, als erwünschte Erwachsene - als Herrenmenschen.

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Verbrechen wird abgeschafft!

Donnerstag, 18. März 2010

Schließlich doch noch ein Vorschlag mit Substanz! Nahezu mußte man annehmen, dem Land der Denker seien die Ideen ausgegangen. Fast glaubte man, dies' Land kenne keine philosophische Kultur mehr! Doch ruhig Blut, es gibt sie noch, die freien Denker, die Visionäre und ungemütlichen Geister. Es gibt sie noch, die Freunde raffinierter Heilslehren.

Man muß Heinsohns Anregung, die Sozialhilfe zeitlich zu beschränken, als Chance sehen. Als Sprungbrett, als Legitimierung, in strotzende Villen einzudringen, kostbare Karossen umzuwerfen, in fürstliche Swimming-Pools zu pissen! Als Option, den sich vollstopfenden Egomanen weiszumachen, dass deren fetten Jahre vorbei seien. Als Möglichkeit, Kommunikation mit der Faust zu machen, dort wo das blanke Wort schon lange nicht mehr wirkte. Ein ganz durchtriebener Plan, den dieser agent provocateur da feilbietet. Wenn es keine revoltierenden Massen gibt, dann hungern wir sie eben aus, bis sie entkräftet und kränklich zur Revolte stolpern.

Wer die Gesellschaft verändern will, der darf sich auch nicht von Kinkerlitzchen wie dem Grundgesetz aufhalten lassen. Beseelte Veränderer sind über Gesetzestexte schon lange hinweg, ihr Drang ist ihnen einziges Gesetz. Hinfort mit dem Alibi der Sozialhilfe! Dringt man heute in ein opulentes Chalet ein, leert dort Kühlschrank und Weinkeller, werfen sie einem dies als Verbrechen vor. Wir haben doch für dich gesorgt, entrüsten sie sich dann, wir haben dir einen Regelsatz gewährt, von dem zu leben du versuchen könntest. Aber dann, wenn erstmal alle Bezüge fallen: welches Verbrechen begeht man dann noch? Essen zu wollen, erlesen zu trinken, ein warmes Örtchen zum Scheißen zu haben, mal nicht unter Brücken dem Regen entfliehen, dem Brodem der Straße enteilen - das sind doch keine Delikte! Das ist alles Menschenrecht. Würde.

Fallen die Erpressungsgelder weg, die man monatlich dem Konto des sozialen Friedens überweist, so fällt auch die Moral. Eine Gesellschaft die Menschen zurückläßt, flirtet mit der Gewalt, balzt mit dem Eindringen in Villen, kokettiert mit fliegenden Fäusten und lose sitzenden Messern. Doch wo dem Einbrecher, Schläger oder Mörder die Grundlagen entzogen wurden, da ist auch das moralische Fundament unterhöhlt. Wer hilflos zurückgelassen wird, der kämpft um sein kümmerliches Leben; wer um sein Leben ringt, dem ist alles erlaubt. Dann muß sich auch die Rechtssprechung anpassen, muß der Strafvollzug fahrengelassen werden. Das ist der Kompromiss, mit dem der Abbau sozialstaatlichen Selbstverständnisses, zu leben hat.

So besehen ist die Empfehlung Heinsohns eine Revolution. Sie hebt nämlich nicht nur den Sozialstaat auf, sie schafft auch das Verbrechen ab! Wer hungert, der raubt nicht, der holt nur, was der Magen ihm aufträgt; wer friert, der bricht nicht ein, der sorgt nur für Wärme; wer um sein Leben fürchtet, der mordet nicht, der sichert nur in Notwehr sein eigenes Weiteratmen. Die Sozialhilfe zeitlich zu begrenzen: es bedeutet das Verbrechen größtenteils aufzuheben. Kein halbwegs anständiges Gericht kann Menschen verurteilen, die unsittlich handeln, weil sie das Elend dazu trieb. Kein annähernd ordentliches Gericht hält solcherlei Handlungen für unsittlich, weil in prekären Lagen sittliche Fragen gar keine Bedeutung mehr haben können. Klassenjustiz verurteilt dennoch, sicherlich, aber ein mittelmäßig achtbares Gericht, dass ein bisschen Ahnung von menschlicher Natur, menschlichen Bedürfnissen und Nöten besitzt, muß sich geradezu weigern, einen marodierenden Habenichts schuldig zu sprechen. Denn nicht der Habenichts stiehlt, bricht ein, schlägt und mordet - seine Armut ist der Schurke, der Täter! Doch wenn sich eine Gesellschaft dazu entschließt, die absolute Armut nicht mehr zu jagen, dann darf sie sich auch nicht wundern, wenn sie in ihre Villen eindringt, wenn sie zum Terroristen wird.

Kein Regelsatz mehr, den man einem mutmaßlichen Verbrecher vor die Nase halten kann. Keine alimentierte Wohnung mehr, die Bestrafung möglich macht, weil man erklären könnte, der Täter habe nicht aus unmittelbarer Not gehandelt, sondern aus Gier, seinen subventionierten Wohlstand zu mehren. Keinerlei Partizipation mehr, die die Herrenmoral stützt. Wer für die Armen nicht mehr bezahlen will, zahlt eben auf andere Weise - bezahlt werden muß so oder so. Entweder man bezahlt den sozialen Frieden oder man bezahlt damit, dass man das Verbrechen legitimiert, dass ausgeraubte Chalets und aufgebrochene Karossen zum zulässigen Akt der Selbstversorgung werden. Dass das Verbrechen ausgemerzt wird, weil die Handlungen, die heute noch Verbrechen heißen, morgen schon legitimes Herbeischaffen von Lebensgrundlagen sind. Aus Beschaffungskriminalität wird Beschaffungsberechtigung!

Genau deshalb zierte sich das Grundgesetz mit dem Sozialstaatsmotiv. Es wollte Raub und Entwendung, Mord und Totschlag vereiteln, wollte den sozialen Frieden installieren. Denen, die nun die zeitliche Begrenzungen von Sozialhilfe, danach als Option die Brücke oder offene Pulsadern, einen Karton oder den Strick befürworten, ist aus dem Sinn geraten, weshalb lebenslange Unterstützung indirekt vorgesehen war: damit sie ihren Reichtum weiter horten können, ohne gleich mit einem Messer im Brustkorb rechnen zu müssen. Aber vielleicht endet der rumorende Frieden ja bald - vielleicht ist das Verbrechen bald passé - vielleicht gehört es bald zum guten Ton, bei Gutsherren einzudringen - vielleicht haben sie dann, was sie immer wollten: die vollendete Ellenbogengesellschaft und reichlich Ellenbogen in ihren Magengruben...

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Nomen non est omen

Mittwoch, 17. März 2010

Heute: "Innovative Verhörmethoden"
"CIA-Chef Porter Goss erklärt, die CIA habe einzigartige und innovative Techniken entwickelt, aber diese seien keine Folter und völlig legal."
- Telepolis am 22. November 2005 -
Gibt man bei der Suchmaschine Google den Begriff "Verhörmethode" ein, kommt als erster Eintrag die sogenannte "Waterboarding"-Folter auf Wikipedia. Umstrittene und grausame Verhörmethoden sind die weiteren Einträge. Dies zeigt sofort auf, dass selbst Google, den Terminus Verhörmethode als einen Euphemismus für Folter definiert. Das Adjektiv innovativ verhält sich ähnlich wie das Plastikwort "modern" – es wird als positive Aufladung für das darauf folgende Nomen verwendet. Innovativ soll neu, kreativ, modern und dem Zeitgeist entsprechend bedeuten. Ob und inwiefern eine Sache wirklich innovativ dann ist, steht auf einem anderen Blatt.

Eine "innovative Verhörmethode" ist insofern ein Euphemismus für eine besonders kreative Folter. Dazu zählen das simulierte Ertrinken (Waterboarding), stundenlanges Verharren in der halben Hocke, einen Gefangenen extremer Hitze, Kälte oder permanentem gleißenden Licht auszusetzen, Dunkelheit oder extremem Lärm auszuliefern, Elektroschocks, Isolationshaft und ständiges Wecken des Gefangenen.

Am 26. Juni 1987 trat die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen in Kraft. Mittlerweile sind 146 Staaten diesem Vertrag beigetreten, auch die USA haben ihn mit ratifiziert. Als die UN im Jahre 2002 jedoch ein Zusatzprotokoll verabschieden wollten, das festlegen sollte, dass nationale und internationale Organisationen das Anti-Folter Verbot mit überwachen durften, versuchten die USA dieses zum Scheitern zu bringen. Dabei befanden sie sich in Gesellschaft von z.B. China, Kuba und Lybien.

Die UN definiert Folter wie folgt:
"Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck "Folter" jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen."
- Artikel 1, Absatz 1 der Anti-Folter Konvention der UN
Die USA beharren nun darauf, dass sie in ihren weltweiten CIA-Gefängnissen, in Abu Ghraib oder Guantanamo Bay nicht gefoltert hätten. In einem Interview mit USA-Today vom 20. November 2005 sagte CIA-Chef Goss sinngemäß:
"Der Geheimdienst foltert nicht. Folter funktioniert nicht. Wir verwenden gesetzeskonforme Mittel, um Informationen zu sammeln, und das machen wir in einer Vielzahl von einzigartigen und innovativen Weisen, die alle legal sind und von denen keine Folter ist."
Die USA foltern nicht, sie verhören. Wieder ein Beispiel dafür, wie versucht wird, ein Phänomen einfach weg zu retuschieren, indem man es verbal umdefiniert, verherrlicht und verschweigt.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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In eigener Sache

Dienstag, 16. März 2010

oder: ad sinistram ist nominiert!

Gestern Nachmittag wurde ich darüber in Kenntnis gesetzt, dass ad sinistram bei den Deutsche Welle Blog Awards 2010 in der Kategorie Best Weblog Deutsch nominiert ist.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, eine Kategorie zu gewinnen. Oder sagen wir lieber: es gibt zwei Möglichkeiten, in einer Kategorie zum primus inter pares zu werden. Einmal durch ein Abstimmverfahren, oder durch die Entscheidung einer internationalen Jury. Die Abstimmung endet am 14. April 2010; einen Tag darauf gibt die Jury ihr eigene, von der Abstimmung unabhängige Entscheidung bekannt. Von wesentlichem Interesse ist für die Deutsche Welle (deutscher Auslandsrundfunk und Mitglied der ARD), die Förderung von Informations- und Pressefreiheit. In siebzehn Kategorien werden jeweils elf Blogs nominiert, die sich aus eingereichten Vorschlägen rekrutieren.

Für die Kategorie Best Weblog Deutsch, für die ad sinistram sich letztlich qualifiziert hat, waren 272 Vorschläge eingegangen. Deshalb halte ich alleine die Nominierung für einen Grund zur Freude. Überhaupt in Frage zu kommen, den Deutsche Welle Blog Award zu erhalten, darf schon als eine große Ehre verstanden werden. Umsomehr, weil ad sinistram neben hochklassiger Konkurrenz auflaufen darf, also in bester Gesellschaft ist. Die Nominierung, ich halte sie für eine Auszeichnung meiner bescheidenen Bemühungen. Sie ist Ansporn, mich auch weiterhin zu bemühen.

In diesem Sinne danke ich denen, die mich für diesen Preis vorgeschlagen haben. Und der Jury, die mich des verbliebenen Fünfundzwanzigstels würdig erachtete, sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt.

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In Hemdsärmeln

Wenn man die Reisegewohnheiten des Außenministers in Frage stellt, die einbegriffene Selbstbereicherung beanstandet, öffentliche Rechenschaft darüber einfordert, dann ist das mittlerweile für viele in diesem Land, eine Gefahr für die Demokratie. Zwangsarbeit zu fordern, die Verquickung von öffentlichen und privaten Interessen voranzupeitschen, Spendengelder in Steuersenkungen umzubilden: dies und noch mehr, scheint hingegen zwischenzeitlich ein ungeheuer demokratischer Akt geworden zu sein.

Es ist eine ganz besondere Form der Demokratie, die sich die FDP und viele ihrer Parteigänger in den anderen politischen Lagern, allmählich und fast unmerklich, dennoch unbeirrt, aufbauen. Eine Demokratie, wie sie im Deutschlandprogramm der Liberalen festgeschrieben ist: als Bürgergesellschaft, als Zivilgesellschaft, die auf bürgerlichen Werten fußt. Was zunächst ganz annehmlich klingt, nach friedvollem Umgang durch bürgerliche Vernunft, ist freilich unter der Ägide der Zahnarzt- und Unternehmerpartei, unter der Führung von Trödlern und Händlern, Halsabschneidern und Leiharbeitgebern, nicht zu erwarten.

Eine freie, liberale Bürgergesellschaft, das bedeutet unter Anleitung marktschreierischer Gesellen nichts anderes, als die eigene Freiheit, möglichst ohne Kontrolle, ohne gewerkschaftliches Hineinpfuschen, ohne molestierendes Streikrecht, ohne öffentliche Berichterstattung, ohne Aufschrei der Massen, ohne Rechenschaftsberichte und ohne reumütiges Gewissen durchzusetzen. Die Bürgergesellschaft, wie man sie sich in diesen Kreisen vorstellt und wie sie der Außenminister nun vorlebt, ist die Gesellschaft der ärmelgerafften Macher, die nicht lange fragen, sondern vom Fleck weg anpacken, einfach mal den Bruder und Bekannte zwischen das Reisegepäck streuen, damit deren Geschäft gedeiht und sprießt. Die Bürgergesellschaft ist solidarisch; in der Bürgergesellschaft, deren Anhängerschaft nicht nur in der FDP zu finden ist, reicht der eine Macher dem anderen Macher die Hand, pfeift auf Regelungen und Gesetze, auf sittliche Normen und das letzte Bisschen an Amtswürde, verteilt Geschäfte zum Wohlstand aller - zum Wohlstand aller Macher.

Die Bürgergesellschaft, nicht dass ein falscher Eindruck entsteht, ist nicht schlichtweg gegen Kontrollorgane. Sie braucht Kontrolle und sie liebt Kontrolle. Nur muß sie von den richtigen Augenpaaren durchgeführt werden. Es kann nicht sein, dass mehrere Händevoll prekär beschäftigter Journalisten sich kritisch mit den Gesellschaftsmachern auseinandersetzen, oder Erwerbslose öffentlich darüber mosern, dass sie ein unzureichendes Leben führen müssen - kontrolliert gehören für die Repräsentanten der Bürgergesellschaft die Nichtsnutze und Minderleister, diese rumorende, anspruchsvolle, stets unzufriedene Schicht, die die schöne Welt der Bürgergesellschaft in den Ruin stürzen würde, wenn sie nicht kontrolliert würde. Daher gehört auch nicht der Außenminister kontrolliert, er hat zu kontrollieren - zu prüfen, wie sattsam das Leben am Existenzminimum und noch weit darunter ist. Er muß, als Leistungsträger innerhalb der von ihm bevorzugten Demokratieform, seiner Kontrollpflicht nachkommen und per Rundumschlag alles zerdeppern, was sich nicht die Hemdsärmel hochkrempelt, was nicht selbst üppig verdient.

Der Außenminister, er ist kein Visionär mehr - dieser Rolle ist er bei Antritt der Macht entschlüpft. Er entwirft keine theoretischen Parteiprogramme mehr, in denen mit wohlfeilen Worten die Herrlichkeit der zivilen Bürgergesellschaft erklärt wird. Nein, heute lebt er seine ehemalige Vision ganz unbefangen aus. Er ist der gefeierte Exponent dieses Lebenstils, Vorbild für viele, die wie er von der Bürgergesellschaft träumten; er führt vor, wie man in einer solchen Gesellschaft leben könnte, man muß sich nur trauen, darf keine falsche Scham an den Tag legen. Nicht rücksichtsverseucht, dem letzten Rest an Pietät nachhängend, mit der Situation hadern - anpacken, machen, einfach drauflos korrumpieren! Das Idol auf dem Ministerposten macht es vor: Korruption, Amtsmissbrauch, Diffamierung der Kontrolleure als Antidemokraten, kurzum wahrer Schneid - es lohnt sich. Nur so entsteht eine bessere Gesellschaft... für die Haute Volée. Und er leistet eine wertvolle Vorführung, präsentiert uns, wie Demokratie unter seiner und seiner Jünger Führerschaft aussehen würde.

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Es läuft weiter, wie es immer lief

Montag, 15. März 2010

Alle waren der einhelligen Meinung, dass es so, wie es lief, nicht mehr weiterlaufen dürfe. Nach dem Tod Robert Enkes gab sich der fußballhysterischere Teil der Republik betroffen und einsichtig. Vereine, Anhänger, Verband und Medien schworen in ihrer unermesslichen Trauer und während ihres noch unermesslicheren Beileidstourismus', den allgemeinen Druck, mit dem Fußballer, Trainer und Vereinsfunktionäre zu kämpfen hätten, zu drosseln. Es sollte in der Bundesliga wieder mehr menscheln, Spieler weniger als Ware betrachtet, Trainer nicht mehr als Tontauben freigegeben werden. Der Tod Enkes, so hielt mancher im pathetischem Tonfall fest, sollte nicht vergebens sein, sondern einen Sinn erlangen. Würde es gelingen, dass allesamt wieder den Menschen, nicht den Arbeitnehmer, im Fußballer wahrnehmen, dann hätte die Tragödie wenigstens nebenher Gutes bewirkt.

Wie aufrichtig, wie nachdrücklich die Beteuerungen letztlich waren, konnte schon bald darauf beobachtet werden. Pfeifkonzerte und Raus-Rufe waren schnell wieder montiert. Fankurven machten sich wieder auf die Suche nach einem massentauglichen Sündenbock, schmähten, beleidigten, zeigten drohend die Faust oder, je nach Befindlichkeit, den Stinkefinger. Ein Blick in die Kurve, ein Blick ihn hassverzerrte Gesichter - und man war ernüchtert, wußte, wie viel von der damaligen Einsicht übrig war, wie wenig das Drama des Torhüters bewirkt hatte. Auch die Medien verfielen schnell wieder in den alten Trott, übernahmen die rigorose Art der Spielerbenotung, die mit objektiver Spielanalyse nichts, mit der Erzeugung von Druck hingegen sehr wohl etwas zu tun hatten. Zuletzt hatte die üble Laune mancher Sportredakteure doch wieder die Oberhand erlangt, ließ ihnen den Raufbold aus der Kurve, der in ihnen betäubt war, wieder aus der Zurückhaltung entgleiten.

Und dann natürlich Theo Zwanziger, der Mann mit dem Hang zum Allgemeinplatz, der keine Ansprache ohne banale und phrasenhafte Einwürfe zu halten vermag, der in seiner Schwafelei noch besonders gedankenschwanger wirken möchte. Gerade er war es damals, der ein Umdenken dringend befürwortete, der auch klarstellte, dass es nun Tabubrüche geben müsse. Damit meinte er beispielsweise, dass Profifußballer die Möglichkeit haben müßten, ihre Homosexualität offen zu bekennen, ohne dafür mit Entlassung seitens des Arbeitgebers oder mit Beleidigungen von den Rängen rechnen zu müssen. Mit wieviel Sensibilität er sich dann der Angelegenheit zweier erst entbrannter, dann ausgebrannter Schiedsrichter angenommen, wie er deren privates Sexualleben in die Öffentlichkeit getragen hat, ist schon ein erstaunliches Stück Feinfühligkeit. Die Protagonisten der peinlichen Schlammschlacht, sie stehen heute unter unbeschreiblichem Druck - Druck, wie sie ihn auf einem Spielfeld wohl nie erlebt hatten. Die Medien verfolgen seither sensationslüstern jeden ihrer Schritte. Für Zwanziger muß Intriganz wohl ein Synonym für Sensibilität sein.

Wenn dann auch noch nach einem Fußballspiel Scharen von Wildgewordenen über die Absperrungen klettern, um der eigenen Mannschaft, die mit einem Bein in der Zweiten Liga steht, mit Stangen die hohe Fußballkunst und die Siegermentalität in den Leib hineinzudreschen, dann muß das wahrscheinlich eine ganz besonders moderne, für altbackenere Beobachter daher unverständliche, Variante von Sensibilität sein. Vielleicht handelt es sich ja um eine Verfeinerung des Benehmens, einen zynischen Fortschritt, denn die Spieler müssen sich nicht mehr des Drucks und der oft unfairen Berichterstattung fürchten, sie müssen sich nurmehr um ihr Leben sorgen.

Vor vier Monaten starb Robert Enke. Oft und gut hörbar wurde unmittelbar nach seinem Tod Besserung gelobt. Mag sein, dass einige Wochen die Bestürzung noch fruchtete. Aber die Betäubung flaute schnell ab. Das ganze Trauergebaren, die emotionalisierten Berichte und öffentlichen Trauerfeiern, die mit Fanartikeln und Applaus, Sprechchören und tränenverwischten Vereinsembleme begangen wurden - sie waren für den neutralen Betrachter schon damals merkwürdig. Letztlich scheint diese distanzierte Haltung berechtigt gewesen zu sein: es war Show, die keine Früchte tragen konnte, weil sie oberflächlich und effektheischend war. Show, die niemals an die Wurzeln der Tragödie ging, die mit seichten und vordergründigen Ansprachen und Analysen stattfand. Der Verband blieb still, hat nichts unternommen, um den Druck zu mindern - er hat die Diskussion um gegenseitigen Respekt nicht mal aufrechterhalten, sondern das Thema schnell ad acta gelegt, um zum Tagesgeschehen übergehen zu können. Er hat Lethargie bewiesen; eine Lethargie übrigens, die der DFB immer wieder an den Tag gelegt hat. Als Anfang der Neunzigerjahre die Fremdenfeindlichkeit aus Solingen, Mölln und Rostock auch in die Fußballstadien schwappte, als man schwarze Spieler mit Dschungelgeräuschen begrüßte und sie als Sauneger bezeichnete, da fertigte man flink Trikots mit der Aufschrift "Mein Freund ist Ausländer" an und ließ gelegentlich die Nationalmannschaft mit diesem Aufdruck spielen. Mehr Initiative erlaubte der Spielplan damals nicht - heute erlaubt er noch weniger, denn er ist noch enger und undurchdringlicher geworden.

Die Medien indes sind so schnell vom menschelnden Zug abgesprungen, wie die Anhängerschaften der Klubs. Und die Vereine selbst, sie hatten sowieso nie Interesse daran, in ihren Arbeitnehmern auch Menschen mit Sorgen und Nöten erkennen zu wollen. Würden sie sich derart sentimental vereinnahmen lassen, wäre der nächste Abschiebeakt unliebsamer, nicht mehr benötigter Spieler nur unnötig verkompliziert. Zuviele Wärme würde nur den eisigen Poker behindern. Man möchte es zwar nicht behaupten, klingt es doch makaber und pietätlos. Doch wahrscheinlich muß man es doch tun. Als man verkündete, der Tod des Torhüters sollte nicht umsonst gewesen sein, da hat man sich von den Emotionen erschlagen lassen. Nein, man möchte es wirklich nicht behaupten, aber es muß sein: Enke, er ist umsonst gestorben - einen neuen Geist kennt die Bundesliga jedenfalls nicht, die Show läuft weiter, wie sie immer lief...

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Zugehörig

Samstag, 13. März 2010

Unlängst, di Lorenzo hatte sich gerade mit halbseidenen Bemerkungen ins Räderwerk der Demagogie verschrauben lassen, warf sich die Frage auf, wie jemand, dessen Wurzeln in der Fremde liegen, sich derart vergessen auf die Seite der Xenophoben zu stellen getraut. Weshalb wird man zum hundertfünfzigprozentigen Deutschen, zu jemanden, der bis ins Mark angekommen sein möchte und daher, mit einem halben Pfund Übereifer und nationaltümelnden Dünkel aufgeladen, durch die Lande tingelt? Zu jemanden also, der seine Verbissenheit im Gepäck herumträgt. Ein Gepäckstück, das man jedoch niemals abstellt, wenn man hier als Mensch mit ausländischen Wurzeln anwesend sein darf.

Nun weiß ich diese Zugehörigkeitsreflexe nicht hinreichend zu erklären, unbekannt sind sie mir aber nicht. In meinem Buch schleiche ich mich mit einer Handvoll Sätze heran, deute an, dass auch ich, Jahre ist es her, in falsche Richtungen zugehörig sein wollte. Lediglich zaghaft, ein wenig schüchtern, streckte ich meine Hände aus - nicht schüchtern genug, nicht zaghaft genug, so dass ich nun allzeit ein wenig beschämt meines Lebensromans gedenken muß. Nach meines Vaters Tod, nach dem Absterben der spanischen Wurzel letztlich, fischte auch ich in trüben, in bräunlichen Brackwassern, um meinen Mangel an Zugehörigkeit durch hundertfünfzigprozentiges Engagement, durch eine radikale Sichtweise, wettzumachen. Plötzlich erschien es mir geschmackvoll, rassistisch zu vernünfteln, einem soften, ja flauschigen Rassismus zu folgen; jählings gab ich mich sozialdarwinistischen Standpunkten hin, war ich kurzzeitig ein Starker und meinte, fort mit den Schwachen. Herrlich einfach war mir die Welt, unkompliziert ließ es sich auf Sündenböcke schimpfen, die sich ihre Hörner, ihre Gegenwehr, schon lange abgestoßen hatten. Dieses dampfige Gemisch süffiger Stammtische, es schien nur einen Augenblick so, als wäre ich jemand, der mitmacht, dazugehört, zugehörig ist - leise und besonnene Trauergestalt neben lauteren, bissigeren Trauergestalten: das war ich.

Manch tristes Geschehnis in meinem Leben, es hat mich Demut gelehrt. Auch den Schatten durchflutet Licht. Fern davon, den Stammtischbruder in mir zu reanimieren, wähne ich mich heute in Sicherheit. Ohne Fehler kein Lernen, kein Zurechtfinden in der Welt. Es ist wohl eine irrationale Eigenart von Menschen mit fremden Ursprung, sich irgendwann mit ganzer Statur, zu hundertfünfzig Prozent, dem Autochthonen zu verschreiben. So wie jene Rumänen, die mein Vater gerne belächelte und zuweilen, wenn sie es besonders bunt trieben, verachtete; jene Rumänen, die voll Inbrunst erklärten, sie würden nur deutsche Wagen kaufen, um die deutsche Wirtschaft zu beflügeln; die mehr Kraut und Würstel verdrückten, als je eine bayerische Plauze vertragen würde; die brüllten und jaulten, wüster als deutsche Hooligans; die auf schmarotzende Türken und parasitäre Afrikaner spuckten, wie weiland polierte Glatzköpfe. Irgendwann, so scheint es, gelangt jeder, der ausländische Wurzeln aufweist, an seine hundertfünfzig Prozent. Manche auf ewig. Andere vorübergehend, fallen wieder davon ab, um zeit ihres Lebens eindringlich vor diesen künstlichen, fast schon krankhaften Mitläuferversuchen zu warnen.

Dann gleichen sie Nichtrauchern, die vormals paketeweise inhalierten, die ausgemergelte Kettenrauchergestelle waren, und nun das Rauchen einer Todsünde als gleichstellen; sie sind wie alkoholverdammende Abstinenzler, die früher mit ihrer Leber um die Wette soffen, um herauszufinden, wer wohl zuerst verliere: das Leben oder die Leberfunktion; sie wirken wie Zölibatäre, die einst fickten und trunken vor Geilheit ihren Unterleib hinräkelten, die jetzt aber erklären, der erregte Mensch sei schlecht.

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