Du wurdest verführt, sie werden verführt

Mittwoch, 24. März 2010

Keiner entkommt! Alles wird gesühnt! Blitzlichtgewitter und selbstzufriedene Gesichtszüge sind Teil der rituellen Staffage, wenn wieder einmal ein Verbrecher aus grauer... aus brauner Vorzeit, seinem Richter übergeben wird. Senile Scheusale und sieche Ungetüme werden ins Rampenlicht gezerrt, Regungen bis in jede noch so kleine Runzel, noch so winzige Falte analysiert, die Boshaftigkeit im vom grauen Star verschleierten Blick studiert. Keine Bestie entkommt - sofern sie nur noch lebt! Mördergreise werden vorgeführt und köstlich ausgeweidet, sind der ganze Stolz von Staatsanwaltschaft und Justiz, lassen die gesamte Gesellschaft mit geschwellter Brust stolzieren.

Mit Selbstzufriedenheit und Hochmut schlägt man sich anerkennend auf die Schultern. Gut gemacht! Wieder einer! Keiner entkommt! Verbrechen lohnt sich nicht! Sage noch einer, der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches, er würde sich seiner Verantwortung nicht stellen. Sage noch einer, man würde die bittere Vergangenheit verlegen unter den Teppich fegen. Nein, man inhaftiert Tatteriche, reißt sie aus ihrem alterschwachen Leben jenseits von Gut und Böse und inszeniert sich auf ihre Kosten als Gesellschaft der Gerechten, der Rächer, derer mit Langzeitgedächtnis. Der verurteilte Fastneunziger, er ist der Stolz des aufarbeitenden Geschichtsbewußtseins. Er ruft förmlich: Seht her, sie haben nicht vergessen! Sie vergessen nie! Sie haben sich Unvergeßlichkeit angeeignet!

Wir dachten, wir täten das Richtige! - mit dieser Devise entschuldigen sich die Greise dutzendweise. Dummköpfe!, spottet man dann. Habt ihr denn nicht gesehen, wohin es führt, worin es endet? Hättet ihr nur den Krieg gewonnen - ja dann! Aber morden, meucheln, vergasen und auch noch verlieren? Das ist geschmacklos. Dummköpfe!, rufen sie. Und Verständnis zeigt keiner. Klar, du warst ein junger Bursche, bist mit den Gedanken eurer damaligen Machthaber erwachsen geworden, hast von Kindesbeinen an vernommen, dass bestimmte Menschen der letzte Dreck seien - woher solltest du es besser wissen? Einsichten, die heute kaum mehr ans Licht befördert, Fragen, die selten gestellt werden. Wer sie stellt, entkräftet - wer erkennen will, leugnet. Dabei könnte man verstehen und dennoch verurteilen; man könnte hinterfragen und begreifen, letztlich aber dennoch auf eine gerechte Bestrafung drängen.

Allein dies entspricht nicht der Agenda. Wir dachten, wir täten das Richtige! Armer alter Mann, oller Dummkopf! Siehst du denn nicht, dass das heute viele auch wieder als Ausrede benutzen könnten, wenn sie zukünftig hoffentlich zu den Verlierern der Geschichte gehören? Noch sitzen sie, so wie du damals, an Stammtischen und ziehen nur in Worten dem armen Schlucker, dem Arbeitslosen und Fremden, das Fell über die Ohren. Seniles altes Scheusal, wie oft warst du an solchen Biertischen gesessen? Wie oft hast du deine Eltern und Lehrer, deine Onkel und Nachbarn, deine Freunde und Sportkameraden ähnlich wettern und pulvern gehört? Wir dachten, wir täten das Richtige! Erkennst du nicht, dass sie heute wieder boshaften kleinen Männern nacheifern, die von ihren Podesten herunter ihren Minderwertigkeitskomplex auf Kosten der Ärmsten kurieren möchten? Hast du damals, als lauschender Bengel und eifriger Jungmann, den Komplex der kleinen Männer zwischen ihren kreischenden Satzfetzen erahnt? Ihren Klumpfuß, der sie böse werden ließ; ihren nur zur Halbsteifheit schwellenden Pimmel, der sie aggressiv machte; ihre aus Fronttagen verstümmelte Seele, die sie Blut und Fleischbrocken predigen ließ? Hast du all das seinerzeit vor deinem geistigen Auge gesehen, als sie dich aufwiegelten, anstachelten, zum Mord vorbereiteten?

Hast du? Hast du deren Motive erkannt? Nein? Gratuliere! Du bist in bester, in lernresistenter, in bildungsimmuner Gesellschaft! Denn auch sie erkennen heute nicht, wie ihrer Lichtgestalten Komplexe in den Diskurs geworfen werden. Sie sehen die Gier und die Selbstbereicherung nicht. Sie erblicken die Selbstbefriedigung der an Minderwertigkeit leidenden Zwerge nicht, die in Politik und Wissenschaft dabei sind, ihre genetischen Taschenspielertricks zum Dogma zu erheben. Wir dachten, wir täten das Richtige! Das mag nicht nur deine, das mag auch die zukünftige Entschuldigung unserer Zeitgenossen sein. Wie sollten sie es denn auch besser wissen? Täglich nistet sich der Wahn in ihr Leben ein, sie erwachen und erfahren, sich noch im Bett räkelnd, wie viel sie der Taugenichts kostet, wie wenig er im Gegenzug leistet - eine Treibjagd an verhetzenden Artikeln, Aussagen, Berichten findet statt; wie ein saurer Regen prasselt es auf jene herab, die hernach, immer noch durchnässt, glauben, sie würden das Richtige machen, wenn sie sich anreihen, um die Spießgasse zu verlängern.

Weißt du warum sie deine Entschuldigung verspotten? Warum sie dich gar nicht begreifen wollen? Weil du ihnen die Ausrede raubst, weil du deren Parodie bist, die vorweggenommene Persiflage auf ihre mögliche Zukunft. Weil sie sich ängstigen, irgendwann selbst als Verführte und Mitläufer dort zu sitzen, wo du gestern und heute Platz genommen hast. Morgen nicht mehr, denn du gehörst eine aussterbenden Spezies an, bist fast schon, hoffentlich schon, der letzte deiner Art. Sie fürchten sich davor, dass ihr dann ergrauter Kopf nochmal mit der Schlinge Bekanntschaft machen könnte. Mit jener Schlinge, die sie zuvor nur für bestimmte, unliebsame, ihnen zu teurere, überflüssig gewordene Menschen geknüpft hatten. Wir dachten, wir täten das Richtige! - eine Ausrede, die sie erzürnt, weil sie in lichten Momenten, in denen sie tief in sich selbst hineinstarren, ganz genau registrieren, dass ihre Überzeugung, das Richtige umzusetzen, ein fataler Irrglaube sein könnte. Sicher sind sie sich indes nicht, sie zweifeln lediglich schüchtern.

So wie du, der du dachtest, du machest das Richtige, der du aber ahntest, dass dieses Richtige nicht die einzige Option sein kann; der du ahntest, dass es mehr geben muß als das Beseitigen von Menschen, die aussahen wie du, rochen wie du, sich vor Angst in die Hose schissen wie du. Manchmal schwante es dir sicherlich, hattest du einen vagen Schimmer davon, wie anders deine Welt hätte sein können, einen Schimmer davon, dass die Welt so wie sie dir, wie sie euch jungen verführten Kerlen war, kein Naturgesetz hätte sein müssen, wenn ihr nicht gewollt hättet. Gemordet habt ihr am Ende doch - ihr kanntet nichts anderes, ihr habt gelernt Befehle zu befolgen. Und jene, die es aufgrund ihres Alters, ihrer vorbraunen Erfahrung besser wissen mußten, befolgten ja letztlich auch jeden noch so lausigen Befehl. Letztere sind schon lange dahin, ihr seid auch bald tot, eure lebenslange Haft wird ein kurzes Spektakel.

Man muß den Versuch wagen dich verstehen zu wollen. Auch wenn das nicht mehr zeitgemäß ist, auch wenn diese Krawall- und Radaugesellschaft es heute lieber sähe, in schwarz und weiß zu sortieren, Bösewichte fein säuberlich von ihrem Pendant zu sondern. Man muß es gleichwohl versuchen - heute mehr denn je. Man muß sich wie einst die Arendt ans Werk machen, die alltägliche, gewöhnliche, triviale Maske zu betrachten, mit der die menschliche Schäbigkeit verübt wird. Die Banalität des Bösen, die in Eckkneipen und Bierkellern gärt, die aus jedem Postboten einen remarquischen Himmelstoß macht, aus jeden Gartenzwerg einen Eichmann, sie muß stets neu begriffen, immerfort neu gelehrt werden. Du bist kein Relikt von damals - nicht ausschließlich jedenfalls. Du bist ein lebendes, noch lebendes, dahinvegetierendes Musterexemplar von Unmenschlichkeit. Zwar stirbst du, aber dein mitläuferischer Geist, deine Mordbereitschaft, deine Unbedachtheit, sie werden weiterleben; in Massengesellschaften, in denen Dienstorder und Gesetze mehr zählen als die Menschlichkeit, völlt sich der unmenschliche Geist wie die Made im Speck. Dort kann der billige Hanswurst skrupellose Karriere machen - dort zeigt sich die erstaunliche Abgeschmacktheit des Bösen. Ein Hanswurst, der Mahnung ist: denn jeder Pogrom, jede Verfolgung, jeder Massenmord: er beruht auf dem seichten Mitläufer, dem devoten Hofzwerg - ohne ihn bliebe das Verbrechen überschaubarer. Du stirbst in Kürze, aber dein Typus, er ist stets in Mode, wir auch in dreißig Jahren auf die eine oder andere Weise très élégant sein.

Verführter warst du, doch so heißen sie dich nicht. Monster nennen sie dich, Scheusal, einen Schlächter, Henker, Mörder, einen Blutrünstigen - schlechte Menschen haben immer mehrere Namen; von jeher waren Menschen faszinierte vom Schlechten, dekorierten das Faszinosum mit reichlich Titeln. Von deinen Untaten berichten sie, von Kopfschüssen und Massengräbern - von der Verführung, deren Opfer du zunächst warst, deren willfähriger Henker du danach erst wurdest, flüstern sie bloß. Nicht der Weg kümmert sie, nur das Ziel; das blutige Resultat klagen sie an, nicht die brandige Vorarbeit dorthin; sie wollen nur den Befund, die Infektion ist ihnen einerlei. Einen Verführten wollen dich die neuzeitlichen Verführten nicht taufen: sonst wärst du ihnen Bruder. Wenn schon nicht in der Tat, so doch im manipulierten Geiste. Natürlich widerstrebt ihnen das.

Um wie viel leichter ist es, aus dem schuldig gewordenen Opfer der Verführung, ein grässliches Monstrum zu machen, eine abscheuliche Bestie! Deshalb klagen sie die Blutbäder alleine an, die du eingelassen hast - die Verführung, der stringente Pfad dorthin, er ist meist unerwähnter Zierat. Dass du Bestie wurdest, es lag vielleicht an deinem Talent, völlig talentlos geblieben zu sein, vollgepropft mit Unwissen und unbeholfen in deiner Unbedarftheit. Hättest du hinterfragt, was man dir aufgetischt hat, hättest du gezweifelt, abgeklopft und unter die Lupe genommen: ob du heute Scheusal wärst? Dessen können sie dich leider nicht anklagen, weil es erstens nicht strafbar ist und zweitens ihre eigene Sünde. Klagen sie den Leichtgläubigen an, so klagen sie sich selbst an - daher stürzen sie sich auf deine Monstrosität, auf dein Bluthandwerk, das jede Blauäugigkeit übertüncht, zur Bagatelle schrumpft. Das Sich-verführen-lassen, es wird zur Marginalie, ist nicht mehr der Rede wert, nicht mehr der Urgrund des Massenmords. Sie schmeißen sich auf deine Monstrosität, weil euch das noch unterscheidet - du wurdest verführt, sie werden verführt; du hast dich zum Mord verführen lassen - so weit sind sie heute aber noch nicht. Das ist der sublime Unterschied, den zu betonen sie nicht müde werden.

Gut gemacht! Einer weniger draußen, einer mehr drinnen, hinter Gittern. Lebenslange Haft für einen Greis - eine kurze Lebenslänge. Und sie gratulieren sich, lassen sich feiern, weil sie den braunen Nachwehen noch immer trotzen. Dann eilen sie vor die Presse, sprechen von guten Tagen für das Land, für die Justiz, für die Opfer, brechen ihre Pressekonferenzen ab, eilen weiter, in Fernsehstudios, äußern sich dort zu den Problemen der heutigen Gesellschaft, zu den Arbeitslosen und Faulpelzen, zur Überfremdung und Islamisierung, wollen nach fünf Jahren aussortierte Gesellschaftsgruppen in die Obdachlosigkeit oder ins Lager entlassen, Ausländer ausweisen und Leitkulturen verordnen, nehmen ihre Euphorie aus dem Gerichtssaal mit in den Vorpogrom, der regelmäßig ausgestrahlt und gedruckt wird. Nicht alle tun das, nicht jeder Einzelne - doch sie alle zusammen, als Gesellschaft, sie tun es.

Weil du noch nicht gestorben bist, weil es dich Scheusal, dessen beste Tage verstrichen sind, immer noch gibt, können sie ganz ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen, wie deine Generation damals, ohne gleich in bräunlichen Ruch zu geraten. Hinter deinen gebeugten, osteoporösen Rücken, hinter dem einst breiten Mordsnacken, Mördernacken, verbergen sie ihre Ähnlichkeit zu dir. Sie schicken dich, du Mensch von gestern, an die Scheinfront, damit sie ihre Bodenlosigkeiten ein wenig ungestörter praktizieren können. Aber wir tun doch was gegen den Hass!, entrüsten sie sich. Wir sperren Greise ein! Lebenslange Haft für Neunzigjährige! Wir haben aus den Fehlern gelernt! Und nun belästige man uns nicht weiter, wir haben zu tun! Und wie schwer sie schaffen, wenn sie ihre Mitmenschen lehren, erneut das Richtige zu tun. Zunächst lehren sie das Wort, denn am Anfang stand immer schon das Wort - und dann, dann schaffen sie vielleicht Arbeit für eine Justiz der Zukunft, für eine Rechtssprechung die irgendwann Senioren inhaftieren muß; Senioren, die heute noch recht rüstig, weil auf jungen Beinen, in dunstige Bierkeller pilgern, um ihren Trommlern und Hasspredigern zu lauschen.

Ungetüm von gestern, du faszinierst nur, weil du den heutigen Bestien, die noch nicht so genannt werden dürfen, weil sie noch nicht zur Vollendung geschritten sind, weil du ihnen erstaunlich gleichst, weil du ihr Großvater nicht nur sein könntest, sondern im spärlichen Geiste auch bist. Sie sitzen über ihresgleichen zu Gericht und hoffen nur, dass sie nicht eines Tages deine Ausrede benötigen, dass sie nicht irgendwann ihre Rolle eintauschen und dort ihren Hintern abstellen, wo du ihn gestern und heute und hin und wieder auch morgen noch, wenn immer noch ein letzter deiner Art und noch ein letzterer aufgefunden wird, platziert hast. Sie hassen dich, weil du warst, wie sie gerne wären, wenn sie ihr letzter Fetzen Skrupel nicht behindern würde.

13 Kommentare:

PeWi 24. März 2010 um 09:20  

Danke für diesen feinsinnigen Artikel. Er regt an, sein eigenes Handeln, sein eigenes Denken zu hinterfragen. Jeder von uns wird schon einmal auf die gängigen Parolen hereingefallen sein, ob wir ihnen weiterfolgen, liegt an unser Nachdenken darüber, an unser "sich-selbst-in-Frage-stellen".

willi 24. März 2010 um 09:52  

"Weißt du warum sie deine Entschuldigung verspotten? Warum sie dich gar nicht begreifen wollen? Weil du ihnen die Ausrede raubst, weil du deren Parodie bist, die vorweggenommene Persiflage auf ihre mögliche Zukunft."
Sehr gut. Je verlotterter die eigenen Sitten desto größer der moralische Hochmut. Ein Phänomen dass sich immer wieder beobachten lässt. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die hunderte von "Dokumentationen" zur deutschen Geschichte, mit denen die Zuschauer Jahr für Jahr beglückt werden, irgendeinen anderen Effekt haben, als die Leute entweder völlig abzustumpfen oder am schwarzen Mythos der Deutschen weiter zu stricken, der die Geschichte des Dritten Reichs ins absolut Böse erhöht. Das führt dann zu so merkwürdigen Anwandlungen wie der eines Herr Jenninger, der vom "Faszinosum" brabbelte.
Schöner Artikel.Kompliment.

Lutz Hausstein 24. März 2010 um 10:22  

Manchmal frage ich mich, warum nun plötzlich, über 60 Jahre nach diesen Verbrechen, die Verbrecher "ausgegraben" werden und ihnen öffentlichkeitswirksam der Prozess gemacht wird. Und da komme ich dann zum selben Schluus, den auch Du gezogen hast:

"Aber wir tun doch was gegen den Hass!"

Über 60 Jahre haben diese willfährigen Helfer mitten unter uns, mitten in diesem Land, gelebt. Unbehelligt, konnten sie ihr Leben in aller Ruhe weiterleben, während ihre Opfer schon lange zu Staub zerfallen waren. Und alles mit dem Wissen des "freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates".

Letzten Endes sind solche Prozesse nur eine große Show. "Seht her! Wir tun doch etwas!" Das Feigenblatt, hinter dem man sich gut verstecken kann. Die Nebelkerze, die man zündet, um den Menschen etwas vorzugaukeln, was gar nicht so ist.

So war es schon bei Demjanjuk, so ist es auch jetzt wieder. Währenddessen man, im vollen Wissen, einstige Nazi-Größen direkt nach dem Krieg problemlos in das bundesdeutsche System eingebaut hat. Scheinheilige Justiz.

HMxxx 24. März 2010 um 12:30  

Ich sehe in diesem Artikel Parallelen von damals und zukünftig bezüglich der Ablehnung von Verantwortung und Argumenten der eigenen Verteidigung der Täter, sowie ein (offensichtlich gewolltes) Versagen der Justiz.
Vielleicht ein Paradox, damals und zukünftig!?
Aber seit geraumer Zeit schon frage ich mich wie all die Hetzer in politischen und anderen Ämtern, wie Wissenschaftler, wie Beamte und Angestellte in ARGEn und Optionskommunen etc., wie all diese Hanswürste sich herauswinden wollen aus ihrer Verantwortung, in einer Zukunft, in der (hoffentlich) unwiderruflich festgestellt werden wird, das bspw. Hartz IV doch menschenverachtend war und gegen jede, dann wieder gültige oder wieder eingeführte moralische und ethische Norm verstoßen hat.

Nun, die Einen werden lapidar sagen, „wir dachten, wir täten das Richtige“, die Anderen werden sich auf den „Befehlsnotstand“ und die bis dato herrschende Gesetzeslage berufen. Und wenn das ganze Ausmaß dieser und anderer unmenschlichen Gesetze mit ihren Sanktionen und Willkürlichkeiten, mit ihren „wissenschaftlich“ untermauerten Begründungen, der Hetze und Stigmatisierung gegen die Betroffenen, als das bezeichnet werden wird was es war, unmenschlich und perfide, dann werden auch wieder, und nicht Wenige behaupten, „wir haben von alldem nichts gewußt“.
Geschichte wiederholt sich eben doch! Und immer wieder!

Warum sollten Ausreden, die vor mehr als 60 Jahren, zum großen Teil erfolgreich waren, in Zukunft aus der Mode kommen? Eben weil „Dienstorder und Gesetze mehr zählen als die Menschlichkeit“! Wie sollte „der billige Hanswurst“ (sehr treffende Bezeichnung übrigens) auch sonst skrupellos Karriere machen?

Ich hoffe, daß in einer Zukunft, in der sich das neoliberale Geschmeiß und seine Mitläufer für ihr Handeln verantworten müssen, die Prozesse nicht wieder mehr als 60 Jahre auf sich warten lassen, sondern zeitnah und konsequent geführt werden.
Das es nicht möglich sein wird, von Seiten der Justiz darauf zu warten bis die Täter kurz vor einem natürlichen Ableben stehen, und das Ganze nur zu Alibizwecken inszeniert wird.
Aber ich weis, die Hoffnung stirbt zum Schluß!

Der eigentliche Skandal im vorliegenden Fall ist doch, daß ein 1949 von einem niederländischen Gericht verurteilter Verbrecher, von der Bundesrepublik nicht ausgeliefert wurde, Jahrzehntelang ziemlich unbehelligt in Deutschland leben konnte und nun im Alter von 88 Jahren (als Alibi) noch einmal vor Gericht gestellt, und zu „Lebenslang“ verurteilt wurde (vermutlich 1½ Jahre). Wobei nicht mal anzunehmen ist, daß er überhaupt eine Hafttauglichkeitsuntersuchung übersteht, sofern denn eine erfolgt. Das ist wirklich ganz großes (Kino) Theater.
Der Mann hätte von seiner lebenslangen Haftstrafe schon 60 Jahre hinter sich haben können und wäre jetzt quasi EK.

Danke für den Artikel.

Jutta Rydzewski 24. März 2010 um 15:24  

"Wir dachten, wir täten das Richtige! - mit dieser Devise entschuldigen sich die Greise dutzendweise."

In der Tat, damit versuchen diese Greise, in aller Regel, ihre unglaublichen Verbrechen zu erklären oder gar zu rechtfertigen.

Es gibt aber auch Greise, die "argumentieren" in einer Form, die schlicht sprachlos macht. Z.B. ein gewisser Helmut Schmidt, über neunzigjährig, hoch angesehen, in seiner aktiven Zeit mit höchsten Ämtern bis zum Bundeskanzler betraut, als Einziger in der Republik mit dem Privileg, Fernsehstudios und andere öffentlichen Lokalitäten mit seiner Qualmerei zu verpesten, immer noch gern gesehener Gast diverser Talkshows, hat im Jahre 2005, wohlbemerkt 2005, in einem Interview allen Ernstes behauptet "von den Greueltaten der Nationalsozialisten, der deutschen Wehrmacht, anderer "Einsatzgruppen" und Verbrecher, also von dem, was die Shoa genannt wird, nichts gewusst zu haben". Doch damit nicht genug. Schmidt will nicht nur von Auschwitz, sondern auch von Konzentrationslagern in Deutschland (damaliger Kindermund: "Wenn du nicht brav bist, kommst du nach Dachau!") nichts mitbekommen haben. Am 8. April 2005 antwortete der Altkanzler im Interview mit Stefan Aust und Frank Schirrmacher, nachdem er zuvor jegliche Kenntnis des Genozids an den Juden bestritten hatte, auf deren konsternierten Einwand, aber man hat doch gewußt, dass es Konzentrationslager gab: "Ich habe davon nichts gewußt." Auf nochmaliges Insistieren, daß mit Neuengamme und Bergen-Belsen Konzentrationslager praktisch vor Schmidts Hamburger Haustür lagen, beharrte er darauf: "Wir alle haben davon nichts gewußt."

Eine Behauptung von einer solchen moralisch-intellektuellen Ungeheuerlichkeit, daß sie nicht nur den Interviewern, sondern der gesamten "kritischen Öffentlichkeit" die Sprache verschlug. Schmidts beispiellose zeitgeschichtliche Ignoranz, die in jedem anderen Zusammenhang die alsbaldige gesellschaftliche Ächtung des Exponenten nach sich gezogen hätte, verschwand folgenlos im großen Orkus des Verdrängens.

Fortsetzung folgt

Jutta Rydzewski 24. März 2010 um 15:27  

Und der Schmidtsche Rest:

Dabei war Helmut Schmidt nicht gerade ein Lieschen Müller im Dritten Reich. Von 1941 bis 1942 nahm er als Offizier am "größten Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug der Geschichte" (so der Historiker Klaus Hildebrand) gegen die Sowjetunion teil. Der Wehrmacht auf dem Fuße, nicht selten von ihr unterstützt, folgten die "Einsatzgruppen" der SS, deren Mordkommandos während Schmidts Russlandeinsatz eine halbe Million Juden zum Opfer fielen. Doch der, mit dem Eiserenen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet, will davon nichts mitbekommen haben: "Ich war bei der vordersten kämpfenden Truppe, und da sieht man nicht, was in der Etappe passiert, darüber redet man auch nicht."

Schmidt zufolge wurde "darüber" auch in den folgenden Jahren, bis zum Untergang der braunen Diktatur, nicht geredet - jedenfalls nicht mit ihm. Und das, obschon ihm, als es für die Wehrmacht in Russland nur noch rückwärts ging, die für einen Frontsoldaten ungewöhnliche Gunst zuteil wurde, sich ins Zentrum der Macht nach Berlin absetzen zu dürfen. Seit 1943 im Range eines Oberleutnants Referent im Reichsluftfahrtministerium, galt er bei seinen Vorgesetzten als derart zuverlässig, daß man ihn mit der Rolle eines "Beobachters" des Volksgerichtshof-Tribunals gegen die 20.Juli Attentäter betraute. Eines Tribunals wohlgemerkt, dessen Todeskandidaten vor allem wegen ihrer Gewissensnot angesichts "der vielen Morde" des Regimes (so der Angeklagte Graf Schwerin von Schwanenfeld) vor dem rasenden Vorsitzenden Roland Freisler standen. Gleichwohl will "Beobachter" Schmidt auch als Zeuge dieser in brutaler Offenheit inszenierten Verbrechensbilanz der braunen Diktatur vom "Genozid an den Juden" nicht ein Sterbenswort erfahren haben.

Nach alle dem frage ich mich, welche Greise eigentlich schlimmer sind, die die dachten, das Richtige zu tun, oder die quasi bis zum heutigen Tage immer noch nix gewusst haben (wollen).

Christian 24. März 2010 um 15:54  

"Die zuständige Zentralstelle für NS-Verbrechen stellte noch Anfang der achtziger Jahre ein Ermittlungsverfahren gegen ihn mit der Begründung ein, die Taten seien als zulässige völkerrechtliche Repressalien der Besatzer gerechtfertigt gewesen." - Zitat aus dem Spiegel-Artikel

Mich würde mal interessieren, gegen wieviele Kriegsverbrecher die Zentralstelle für NS-Verbrechen außerdem nicht weiter ermittelt hat, weil sie deren Taten für völkerrechtlich zulässig hält.

Es ist auch seltsam, dass diese Stelle überhaupt die eigenen Entscheidungen, die vor 20 Jahren getroffen wurden, nochmal durchgeht.

Sieht wirklich so aus, als hätte man ein Bauernopfer aus den Archiven herausgesucht, weil man ansonsten gerade niemanden zur Hand hatte.

Anonym 24. März 2010 um 16:42  

Empfehlenswert der Artikel bei Wikipedia zur Filbinger-Affäre.

Enrico C. 24. März 2010 um 16:46  

Natürlich wiederholt sich die Geschichte. Wenn man die Buddhistische Lehre anschaut wird ein Mensch solange wiedergeboren bis er in seinem Leben das richtige tut. Wie können wir erwarten dass das deutsche Volk aus den Fehlern der Geschichte gelernt hat? Von wem sollen wir Deutschen denn die wahre Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Akzeptanz gegenüber anderen ethnischen Gruppen und Solidarität gelernt haben? Das gleiche wird jetzt im Irak und Afghanistan gemacht. Es wird die Demokratie, wie es der Weltscheriff USA vorgibt, mit Waffengewalt eingetrichtert. Wahre Demokratie geht vom Volke und muss sich in den Köpfen der Menschen manifestieren. Roberto, Du bist einer der schon eine Ebene weiter ist, als der Rest der Deutschen. Danke

landbewohner 24. März 2010 um 16:52  

all diese widerlichen "befehlsempfänger" in diversen staatsdiensten werden wohl leider zu dem schluß kommen, daß sie auf der sicheren seite stehen, wenn sie brav alles abnicken. Schließlich waren die nazis ja viieeel schlimmer und von denen musste keiner für seine untaten büßen. von einigen bauernopfern aus der 3. reihe und nach 60 jahren mal abgesehen. und, diejenigen die vom schreibtisch aus 1000de ermordet haben, die wurden mit ordentlich honorierten pöstchen und fetten pensionen belohnt belohnt. wenn denn mal ab und ein exempel statuiert werden musste, denn hats eben eher die ganz kleinen lichtlein - natürlich auch verbrecher - erwischt. logisch also: möglichst skrupellos sein und vorankommen. und: vorsicht vor den linken. als die in der ddr das sagen hatten wurden viele aufrechte "staatsdiener" zur rechenschaft gezogen.also cdu-fdp-spd-grün wählen, gut funktionieren und man wird unschuldiger täter.

Anonym 24. März 2010 um 22:45  

Dem eigentlichen Kommentar habe ich nichts hinzuzufügen, er bringt alles bestens auf den Punkt.
Ein weiterer Dank gilt meinerseits aber auch Jutta R., ihrer Demaskierung dieses höchst medial inszenierten Idols bzw dieser Polit-Ikone Helmut Schmidt!
Wie er sich in puncto SEINER NS-Vergangenheit reinwusch ist wirklich unglaublich, eine kaum noch zu überbietende Mischung aus Zynismus und Arroganz.
Und passt es da nicht ganz gut zu seiner Karriere unterm FÜHRER und zu seiner später einfach fortgesetzten Karriere im Adenauer-Staat, dass dieser Wehrmachts-Büttel und gehormsame einstige Helfershelfer des deutschen Faschismus bzw. Imperialismus einige Jahre später zu einem der eifrigsten Kämpfer für die so genannte Nato- "Nachrüstung" wurde, Helfershelfer einer Politik, welche die Völker Europas damals zu einer Geisel verbrecherischer atomarer Nato- Politik machte?
Einmal ein Büttel des Imperialismus - immer ein Büttel des Imperialismus!
Das gerade in der Tasche steckende Parteibuch ist da von eher zufälliger Natur.....

mfg
Bakunin

endless.good.news 25. März 2010 um 05:00  

Sehr schöner Artikel. Eine Vision von der Zukunft oder ein Blick in die Vergangenheit, da bin ich mir nicht ganz sicher.

Saperaud 26. März 2010 um 10:32  

Ein Artikel der zum Hinterfragen und Nachdenken anregt, also das tut was Journalismus bei uns gerne von sich behauptet.

Dabei würde ich in einem historischen Vergleich zur Weimarer Republik sogar ein positives Urteil sprechen.

Es gibt da bei uns eine Klasse moderner Luddendorfs die versuchen ihre Legenden zu verbreiten und die damit auch gerade da Gehör und Unterstützung finden, wo man sie zwar vielleicht nicht ganz ernst nimmt, aber dafür umso nützlicher findet. Anstatt Dolchstoss geht es dann eben um die Zukunft der Arbeit oder warum die anderen (Europäer, Amerikaner, Chinesen, Globalisierung) schuld sind und wir nicht. Deren Mittelmäßigkeit wird dank schwacher Gegner auch kaum so verlacht, wie man es dank ach so hoher Bildung eigentlich müsste. Oft genug sind sich sogar diese Gegner (semper fidēlis SPD) nicht zu blöde/machtlos sie auch noch zu loben, es könnte ja sein man braucht mal ein paar journalistische Freikorps, um mit dem aufrührerischen Volk fertig zu werden und es von der gottgegebenen Richtigkeit der arbeiterfeindlichen Politik einer SPD-Regierung zu überzeugen. Der Justiz aber, der scheint in weiten Teilen noch der Schrecken eigener Bedeutungslosigkeit im Nazistaat in den Knochen zu stecken und es gab in der BRD durchaus einige Juristen, die in der Demokratie angekommen sind und für den Berufsstand verstanden: ohne Rechtsstaat keine starke Justiz. Zumindest aus ihrer Ecke werden es mögliche möchtegern Willkürherrscher nicht einfach haben, wenn auch der Rechtsstaat immer ein Staat des Geldes und der Staatsräson geblieben ist. Vielleicht muss man die Richter erst zu einer Selbstgerechtigkeit erziehen, die sich darin gefällt und die darin ihre staatstragende Rolle sieht, für jede Verwarnung gegen einen rechten Haudrauf zehn angetrunkene Arbeiter ins Zuchthaus zu schicken. Zu solchen Grobheiten sind wir aber auch noch viel zu reich/stabil, da müsste erst einiges an Staatsgefährdung passieren. Heute sehen sich die Herren noch üblicherweise in ihrer Rolle als Hüter und Bewahrer der echten BRD, mitsamt aller Rituale und Eigenbeweihräucherung.

Die Saat von der auch der Artikel in eigener Form spricht ist aber gesät: Geschichte ist altes Zeug und was Adorno mit "Erziehung nach Auschwitz" meinte ist gruselige Langweiligkeit, die man sich nicht einreden lässt. Schließlich lernt jedes deutsche Schulkind genug über 33-45, um nie wieder etwas davon hören zu wollen und dennoch nichts wirklich Wichtiges darüber zu wissen. Auch wieso Menschen Dinge wie Bombenattentate, Amokläufe, Selbstmorde oder überhaupt Verbrechen begehen (oder gar was ein Verbrechen ist), wird nur versucht zu 'verstehen', wenn man Killerspiele, Sozialschmarotzer oder den Islam auf dem Kieker hat. Vielleicht auch noch wenn man vor irgendetwas Angst haben will, dass das Böse in der Welt ohne eigenes Zutun erklärt. Eher soll ein Richter Gnadenlos die Welt geraderichten, als das man anfängt sie sich etwas weniger schief zu denken.

Derweil sind Eifersucht und Hass ganz normale Gefühle sowie Bildung eine Selbstverständlichkeit in jeder Sonntagsrede. Ich denke generell gilt, dass die Menschen zum funktionieren im status quo eher unmündiger werden müssen als sie es ohnehin schon sind. Das verträgt sich aber schlecht mit einem Bewusstsein dafür, wie man sich selbst dazu bringt das Leben zu führen das man führt und wozu einen dies letztlich verdammen wird.

Fazit: wir sind reicher und friedlicher als damals und leben sowieso in einer anderen Welt mit - zumindest auf der Makro-Ebene - anderen Herausforderungen und Möglichkeiten, wir sind aber auch als Mensch unter Menschen fast ebenso dumm.

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