Ridendo dicere verum
Montag, 4. August 2008
"Merkblatt für Selbstmörder
(die sicher gehen wollen, daß ihre Verzweiflungstat in BILD beachtet wird.)
von einem Insider
Wenn Sie nur Arbeiter sind, haben Sie es schwer.
Stadträte, Millionäre, Beamte und Fabrikanten (da kann die Firma auch nur zwei Mitarbeiter haben) kommen leichter ins Blatt.
Wählen Sie eine "interessante" Todesart: Selbstgebastelter Elektrischer Stuhl zum Beispiel oder "öffentlicher Tod". Das heißt: Springen Sie von einem möglichst hohen Dom. Oder verfüttern Sie sich im Zoo - möglichst an einem Tag mit viel Publikum - den Raubtieren.
Wenn Sie aber unbedingt einsam in ihrem Zimmer sterben wollen, weil Ihnen wirklich nicht nach Öffentlichkeit zumute ist, dann suchen Sie sich wenigstens ein gutes Motiv für Ihren Freitod aus. Vorsicht - "seelische Depressionen" oder wenig origineller Freitod wegen sozialer Deklassierung oder Arbeitslosigkeit gibt es bei BILD gar nicht. Schlagzeilenträchtig sind dagegen Motive wie: Liebeskummer, Ehekrach, schlechte Schulnoten, Pickel im Gesicht, Stottern, Ladendiebstähle (unter 20 Mark), Dauerregen, verpaßte Züge, das Fernsehprogramm, Essen verbrannt, Beule im Auto oder möglichst eine Mischung von allem.
Sorgen Sie dafür, daß das Motiv bekannt wird. Das heißt: Legen Sie Ihren Abschiedsbrief so hin, daß ein Nachbar ihn findet. Denn BILD-Reporter fragen immer erst bei Nachbarn. Zur Sicherheit sollten Sie aber - falls Ihr Nachbar BILD nicht mag - ein Duplikat des Abschiedsbriefes an die Zentralredaktion schicken.
Schreiben Sie, daß Sie auf Ihre Persönlichkeitsrechte verzichten, sonst wird Ihr Name abgekürzt oder gar erfunden und abgekürzt.
Legen Sie ein Foto bei, dann haben Sie den Fotochef von BILD auf Ihrer Seite. Wenn Sie Familie haben, dann möglichst ein Bild mit Frau und Kindern.
Hinweis für die Hinterbliebenen: Pro Foto gibt es im Schnitt 45 Mark. Wird der Freitod Seitenaufmacher, kommt noch Zeilenhonorar von rund 100 Mark dazu."
- Aus Günter Wallraffs "Der Aufmacher" -