»Keine Sozialunion« darf nicht das Ende vom Lied sein

Montag, 26. Mai 2014

Es stimmt, »die EU ist keine Sozialunion« - sie hat sich unter der Kuratel derer, die to big to fail sind, zu einer »Asozialunion« entwickelt. Sie stranguliert die Sozialwesen und salbadert vom Allheilmittel »Wettbewerb«, wo er nichts zu suchen hat. Dabei wäre dieses hochgespielte Horrorszenario vom »vollen Boot« eine Chance, Europa endlich auch zu einer Union sozialer Standards zu formen.

Man hat so viel von der Euro- und Europaretterin namens Merkel gelesen. Sie gehe mutig und forsch voran, setze neue Marken und forme den Kontinent neu. Warum geschieht das nicht auch jetzt? Wieso fordern das ihre Bewunderer jetzt nicht ebenfalls? Das Narrativ vom Überfall Sozialkassen plündernder Horden wäre doch die Gelegenheit, Europa auf ein neues Level zu hieven. Ein Kontinent, der Union sein will und der so viel Ungleichheit aufweist, dem sollten doch alle, wirklich restlos alle Bürger, to big to fail sein.

Was hat man der Europäischen Union nicht alles zurecht unterstellt. Sie trimme auf ein Europa der Konzerne, sei eine Wirtschafts- und Währungsunion, ein ökonomischer Zweckverband, der auf Handel spezialisiert sei und die Bürger vornehmlich als Verbraucher wahrnehme. Nehmen wir mal kurz an, dass die Angst des deutschen Spießbürgers und seiner politischen Vertretung berechtigt ist und dass die Menschen nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kommen: Wäre das nicht der Moment, in dem sich die Union darüber beraten müsste, ein europäisches Sozialgeld einzuführen? Die Verpflichtung zum Mindestlohn und zu Kündigungsschutzgesetzen? Einen Fond, der diejenigen in Europa teilhaben lässt, die vom Wertschöpfungsprozess ausgeschlossen sind?

Kurzer Einwurf zum Narrativ, die Ausländer stürmten Deutschland: Zu glauben, dass Menschen nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen zu beziehen, um dann hier in einer spärlich eingerichteten Wohnung zu sitzen, ohne Familie und viele Kilometer fernab der Heimat, ohne Bindungen und Sprachkenntnisse, gesellschaftlich isoliert und ausgeschlossen, entspricht einem Weltbild, das sich rein auf pekuniäre Werte stützt und andere Faktoren für Auswanderung völlig ausblendet. So eine Vorstellung von »Auswanderung« können nur Menschen haben, die sich noch nie damit konfrontiert sahen, selbst auswandern zu müssen; Leute halt, die fest auf ihrer Scholle sitzen. Sie stellen sich vor, dass dann ein Spanier oder Bulgare glücklich seinen Regelsatz einheimst und dann froh ist, endlich abgesichert zu sein. Dass er aber kein Leben im eigentlichen Sinne hat, weil er aus seinem  Leben herausgerissen wurde, überlegt man sich dabei nicht. Wie schwer die Entscheidung ist, das Land zu verlassen, in dem Eltern, Geschwister und Freunde zurückbleiben, erahnt man mittels solch plumper Unterstellungen überhaupt nicht.

Jetzt wäre der Moment, ein soziales Europa zu schaffen, Sozialstandards zu verabschieden - auch weil die jetzt galoppierende Armut an der südlichen Peripherie des Kontinents ein Produkt des reichen Nordens ist. Wieso können Banken als so systemimmanent erachtet werden, dass man sie auf alle Fälle retten muss und ganze Völkerschaften gehen ohne dieses Prädikat aus der Krise? Ein Rettungsschirm, damit Menschen nicht mehr so suizidbereit sind, wieder Perspektiven sehen?

Ja, die EU ist keine Sozialunion. Merkel hat recht. Hätte sie das Gegenteil behauptet, hätte sie gelogen. Die Handvoll liberaler Feuilletonisten und Kommentatoren, die schrieben, dass die Kanzlerin die rechtspopulistische Karte gespielt hat, müssten gar nicht so besorgt tun. Die Frau hat damit doch nur definiert, was eine Europäische Union für sie und ihre Entourage zu leisten hat: Für die Bürger relativ wenig. Sie hat lediglich klargestellt, dass sie die EU zwar reformiert wissen möchte, wenn es um wirtschaftliche Fragen und Interessen geht, aber nicht, wenn das Soziale in Schieflage gerät. Da macht sie lieber die Schotten dicht, igelt dasselbe Deutschland ein, das sich verantwortlich in die Welt hinaus militarisieren will. Dann soll aus diesem extrovertierten Hegemon ein introventierter Eigenbrötler werden.

Die politische Linke sollte nun, da selbst die Sozialdemokratie mitmischt und ihre Sanktionswut von angestammten Hartz-IV-Empfängern auf solche verlagert, die nach Deutschland kommen, dieses erzkonservative, angstmacherische und übererregte Narrativ aufgreifen und es gegen die wenden, die es in die Welt gesetzt haben. Wenn sie sagen, dass Deutschland »nicht das Sozialamt Europas« sei, sollte sie sagen: »Richtig, daher brauchen wir ein Europa, das das Soziale auf alle Mitgliedsstaaten verteilt - ohne von der Freizügigkeit abzulassen.«

Denn es ist ein Hohn, dass Sigmar Gabriel noch vor Monaten sagte, dass die Freizügigkeit das Herzstück Europas sei - und nun will er mit seiner Partei mitmachen bei der Beschneidung der Freizügigkeit von Europäern, die leider nicht die Mittel haben, auf eigene Kosten freizügig sein zu können. Wenn Freiheit auf die Grenzen der eigenen finanziellen Beschränkung stößt, dann ist sie keine Freiheit mehr. Aber das hat man im Deutschland des Gauck und seiner entstofftlichten Freiheitsrhetorik schon lange verdrängt. Wo man Freiheit abstrakt predigt, weiß am Ende gar keiner mehr, dass Freiheit etwas ist, dass man für jeden möglich und erschwinglich machen muss.

Wenn es also stimmt, dass Deutschland überrannt wird von den Elenden des Kontinents, dann darf man nicht als Reaktion mit Abschottung reagieren und mit Fremdenfeindlichkeit aufwarten, dann sollte das glatte Gegenteil geschehen: Überlegungen, wie man Europa sozialisiert, wie man alle Bürger absichert und Existenznöte innerhalb des Wohlstandes unterbindet. Der Satz »Die EU ist keine Sozialunion« kann nicht das Ende vom Lied sein. Das kann man so nicht stehenlassen. So liest sich das nämlich. Und genau das ist das drastische Element dieser Aussage. Nicht der Rechtspopulismus, sondern die Absichtserklärung, dass die EU nicht mehr sein sollte als sie heute ist. Kein Wunder also, dass Europa der Europäern auch weiterhin fremd sein wird. Will die EU die Herzen gewinnen, muss sie mehr werden als sie jetzt ist.



5 Kommentare:

Anonym 26. Mai 2014 um 10:37  

ANMERKER MEINT:

Stimme voll zu, Roberto, hervorragender Artikel. Die Kanzlerin ist sich treu geblieben: Wer eine marktkonforme Demokratie bevorzugt, kann gar nicht anders argumentieren. Gegen diesen Wahnsinn gilt es, weiterhin zu kämpfen!

MEINT ANMERKR

Aldo 26. Mai 2014 um 14:28  

Dass die Europäische Union keine Sozialunion ist, habe ich schon vor 10 Jahren bemerkt, als anlässlich der sogenannten Ost-Erweiterungen nach dem Prinzip "panem und circenses" überall mit Pomp und falschem Glanz Europafeste gefeiert wurden.
Hier eine Tagebucheintragung, die auch heute noch aktuell ist : Überall Feste an diesem symbolträchtigen Tag.
Gestern unter den Linden in Berlin,ein warmer Frühlingstag und schwitzende PolizistInnen,8000 sind gestern in Berlin zusammengezogen worden, damit die Gala am Gendarmenmarkt ohne Störungenverlaufen kann.
-Die sollen nicht so viel demonstrieren,sagte ein Touristin breitem Schwäbisch,denn dann hätte der Staat mehr Geld.
Geld wozu,denke ich mir,bisher haben die Oberen ja bei denen die sich schlecht wehren
können, kräftig abgezockt, ,nämlich bei den Arbeitslosen, Kranken und Rentnern. 4 Wochen ist es her, da gab es in Berlin eine Demonstration gegenden Sozialabbau mit 250000TeilnehmerInnen. Alles schon vergessen?
Heute heißt es feiern für die Wiedervereinigung Europas,für ein Ende von Hass, nationaler Verblendung, Unterdrückung und Ausrottung von Minderheiten.
Das mag alles stimmen und es war sehr bewegend, wie die Menschen auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt/Oder und Slubisce aufeinander zugingen
Friedlich und nicht in aggressiver Absicht wie unsereVäter/Großväter im September 1939. Wir haben Grund zur Freude, gewiss
Ob die Verantwortlichen daran gedacht haben, das sdas neue Europa nicht nur die Freiheit für die Warenströme ,sondern auch soziale Gerechtigkeit für die Menschen in dieser neuen Gemeinschaft bedeutet? Dazu eine tragikomische Geschichte:Eine Spanierin beschließt nach der Trennung von ihrem französischen Ehemann von Toulouse nach Berlin zu ziehen. Nichts Außergewöhnliches. Da Elena viel Respekt vorder deutschen Bürokratie hat, meldet sie sich ordnungsgemäß auch an. Dies
war jedoch ihr Verhängnis, denn jetzt gerät sie in die Mühlen der Bürokratie -wovon sie lebt,da sie keine geregelte Arbeit hat,wollen dieBehörden wissen . Sie erzählt etwas von gelegentlichen Zuwendungen einerTante in Spanien. Wenig später flattert ein Schreiben mit amtlichen Siegel
in ihre Wohnung, das sie jedoch nicht öffnet.
Kurz darauf wird Elena von der Polizei abgeholt. Sie muss die Nacht in einer Zelle verbringen und
wird am nächsten Tag via Amsterdam nach Madrid abgeschoben.
“ Some of us are illegal,and some are not wanted ... You won''have a name when you ride the big airplane all they will call you is deportee“ :http://www.youtube.com/watch?v=TN3HTdndZec

maguscarolus 26. Mai 2014 um 15:21  

Und eben dieses zeigt das katastrophale Ergebnis der Wahl zum Europaparlament!

Eine EU die sich der Regelung sozialer Standards weitgehend verweigert und stattdessen mit geballter Ordnungsmacht zum Wohle multinationaler Konzerne Sozialabbau betreibt ist wert, dass sie zugrunde geht.

Anonym 26. Mai 2014 um 19:02  

Lehne ich mich wohl zu weit aus dem Fenster, wenn ich vermute, dass die AfD Zulauf fast ausschließlich von ehemaligen FDP-Wählern hatte? Vermutlich kamen auch einige Stimmen von früheren Wählern der Grünen, der CSU und der Republikaner, aber der generelle Trend scheint mir offensichtlich zu sein.

Wie ticken solche "Liberale" bloß?

Erschreckend sind natürlich auch die Ergebnisse von NPD und Pro NRW. Andererseits darf man nicht übersehen, dass auch eher "linke" Kleinparteien dazugewonnen haben.

Die Erfolge der Rechten/Europakritiker in einigen anderen Ländern sind freilich noch viel erschreckender.

Luna

Anonym 26. Mai 2014 um 23:04  

weiter gehts:
Was spricht dagegen, dass immer 3 Länder für- und miteinander Patenschaften übernehmen und sich gegenseitig Wohl-wollend fördern?

Wenn wir das beginnen in den Familien, in Hausgemeinschaften, in Dörfern, Städten, Firmen, ... Europaweit, Weltweit, dann wird es weder Armut noch Unverständnis geben, denn immer durchdringen sich die Kreise und es gibt Überlappungen, die zu mehr und mehr Verständnis führen.
(3er-Modell Blume des Lebens)

Doch nein, die Politiker von Deutschland hier und heute unterstützen den Krieg und sind stolz auf die unglaublichen Waffenverkäufe in alle Welt, morden via Drohnen von deutschem Boden und die Gier will mehr und mehr.

Die Menschen wollen LIEBE, FreiSEIN und LEBENsFREUDE inmitten einer lebendigen Natur mit frischer Luft, reinem Wasser und natürlicher Nahrung. UND DAS
wollen die Menschen überall auf der Welt!!!

Dazu braucht es neue Ideen, Liebe und Herzenswärme und der jedem Menschen innewohnende Funke Leben zu erhalten und zu fördern muss wiedererwachen in UNS ALLEN.

Diese Art von Demokratie ist gescheitert, denn sie hat Lobbyismus, Korruption, Verletzung des Grundgesetzes, Egomanie, ... zugelassen.

Leider -
doch die Zeit ist reif für etwas Neues aus dem Feld der unendlichen Möglichkeiten. Besonders die jungen Menschen sind aufgerufen ihre Kreativität zu entfalen und uns auf diese neuen Wege aufmerksam zu machen.

Ein kleiner Lichtblick am Horizont,
der zeigt, dass es ALLEN gut gehen kann: Der junge Bürgermeister von Monheim -
Er kam vor 5 Jahren ins Amt, hat sofort die Gewerbesteuern gesenkt (leben und leben lassen), damit neue Unternehmen angesiedelt und die Steuereinnahmen von 20 Mio. auf 150 Mio. gesteigert (Kleinvieh macht auch Mist ;) ...
und gestern 94,6% der Stimmen geholt.

http://www.express.de/duesseldorf/steuer-wunder-daniel--31--entschuldet-monheim,2858,21463354.html

Deutschland ist nicht zuständig für die ganze Welt, doch Deutschland könnte sich die Hand reichen, z.B. mit Tschechien und Österreich und so eine 3er-Blume bilden, ebenso wie ALLE anderen Nationen weltweit bis wir alle erblüht sind und voller Freude und Leichtigkeit das LEBEN LIEBEN.

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