Ein Patient, der nicht zappeln soll, wenn man ihm das Herz entnehmen will

Samstag, 31. Mai 2014

Vor einer Woche schrieb ich an dieser Stelle über »Meinung und Meinen«, darüber, dass die Meinungsfreiheit ein Konzept ist, dass unter Einschränkung wirkt und nicht gewährt, dass alles was man frei Schnauze so sagen kann, auch unter Artikel 5 des Grundgesetzes fällt. Kurz und gut, ich habe erläutert, dass die Meinungsfreiheit dem Entwurf der »wehrhaften Demokratie« zu unterstellen ist und nicht falsch gelesen werden sollte.

Sofort danach haben mich erboste Anschreiben erreicht. Damit zeige dieser Linke, dieser widerliche Mensch - also meine Person - sein wahres Gesicht. Er sei demokratie- und verfassungsfeindlich. Gefährlich. Und wahrscheinlich sogar Stalinist. Diese Zeilen hier wollen jetzt keine Richtigstellung sein. Wer sich rechtfertigt, spielt das Spiel mit. Aber was steckt hinter solchen, die die »wehrhafte Demokratie« zu einem Akt der Entdemokratisierung stilisieren? Darum sollen die nun folgenden kurzen Zeilen handeln. Sie sind insofern die Fortsetzung des Textes der letzten Woche. Man könnte beide Texte somit auch mit dem Untertitel »Die Maschen der neuen Rechten« versehen.

Wenn die neue Rechte nun moniert, dass ihren Thesen ständig das Recht auf Meinungsfreiheit entzogen wird, so wollen sie dieses Grundrecht als eine Art Appeasement-Erklärung demokratischer Spielregeln vor rassistischen, homophoben, frauenfeindlichen und chauvinistischen Ansichten verstehen. Als Kapitulation demokratischer Vorgaben vor den Rotten eines Weltbildes, in dem die Aufklärung immer noch nicht ausgestrahlt hat. Sie glauben, dass »Dieser Kuchen schmeckt mir besser« und »Straßenkehren ist ein Job für Neger« Sätze seien, denen man mit derselben demokratischen Neutralität zu begegnen habe. Qualitative Unterschiede gibt es demnach nicht. In »ihrer Meinungsfreiheit«, kann man das Wetter für genauso beschissen empfinden, wie den Türken in der Nachbarwohnung. Das alles sei eben nun mal Meinung.

Deshalb finden sie demokratische Spielregeln ja auch so toll. Sie legen ihnen offenbar kaum Grenzen auf. Sie können sich darin frei bewegen und sogar noch darüber jammern, dass sie sich darin nicht frei bewegen können. Und wenn ihnen einer entgegentritt und sagt, dass hier das Ende demokratischer Freiheit erreicht sei, dann benutzt das neue rechte Bewusstsein eine unerhörte Taktik: Es erklärt den »wehrhaften Demokraten« zu einem »Terroristen« oder »Tyrannen«. Mensch, sie kennen Demokratie doch ganz anders. Als absolute Freiheit, die Anti-Aufklärung ohne Hindernisse betreiben zu dürfen. Wenn das Volk einen Diktator wählt, so meinen sie, dann ist das doch Volkswille. Manchmal muss man die Demokratie jedoch vor ihr selbst schützen - und natürlich auch vor denen, die jede Menschenverachtung zur Meinung umdefinieren.

Die »wehrhafte Demokratie« ist für Rechte ein diktatorischer Zustand. Sie blättern in Geschichtsbüchern und finden dort manche Demokratie als etwas, was man ohne viel Federlesens übernehmen konnte. »Ihr Scheiß-Demokraten, seid Lämmer, hört auf mehr sein zu wollen. Lämmern habe keine Klauen. Sie sollten sich nicht wehren, das ist gegen die Natur. Demokratien sollten sich nicht wehren. Denn sie sind gegen die Natur des Menschen - jedenfalls des Deutschen.« Wenn einer behauptet, dass der liberale Aspekt demokratischer Einrichtungen nicht für die gelten sollte, die dem entgegenstehen, dann werden sie patzig, dann machen sie den Demokraten zum Vorreiter einer Diktatur. Der Dings, der ein Buch über »Tugendterror« geschrieben hat, ebenso, wie die Typen, die mir mitteilten, ich sei Stalin höchstpersönlich.

Irgendwie ist das so, als würde man einem Blinddarmpatienten kurz vor der Narkotisierung noch mitteilen, dass man ihm das Herz entnehmen werde. Und wenn er dann zappelt und flüchten will, wenn er um Hilfe schreit, beruhigt man ihn mit schroffer Stimme und sagt: »Ich Arzt, du Patient - was maßt du dir an, meine Entscheidung zu bezweifeln?« Autoritäre Ärzte können wehrhafte Patienten nicht leiden.

Es gibt für die neue Rechte einfach kein Recht, dieses demokratische Herzstück zu entnehmen, damit sie es missbrauchen können. Sie dürfen wohl viel meinen, aber Meinung im eigentlichen Sinne ist es dann noch lange nicht. Und wie gesagt, nicht jede dieser gemeinten Aussagen kann man juristisch belangen. Das ist auch gut so. Es wäre ein unerträgliches gesellschaftliches Klima, wenn jede Aussage potenziell verdächtigt würde. Und doch wünschte ich manchmal, man würde jede dieser Aussagen verfolgen. Aber das meine ich nur. So richtig Meinung ist das nicht. Denn auch Linke meinen manchmal nur.


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Neokynismus als Aufklärung oder Martin aus der Tonne

Freitag, 30. Mai 2014

Über die wirkliche Alternative für Deutschland anstelle der »Alternative für Deutschland«.

Es ist schon charakteristisch für unsere Zeit, dass ein Satiriker in einigen Interviews mehr Wahrheiten und Inhalte verbreitet, als ein ganzes Heer an Berufspolitikern in einem ganzen Jahr. Nein, ihr nun pikierten Spießbürger Deutschlands, Sonneborn ist eben kein Clown - was er macht ist hochpolitisch! Auch wenn er offenbar kein Interesse an Tages- oder Sachpolitik hat.

Was ist schon das Recherchieren und Formulieren eines Artikels, der sich seriös mit der Bürokratie und ernstlich der politischen Hochnäsigkeit befasst, gegen den offenen Zynismus, den der Satiriker an den Tag zu legen vermag? Viele Wege führen zur Aufklärung. Die klassische versuchte sich weitestgehend seriös, griff aber auch gelegentlich auf die Polemik zurück. Sonneborn polemisiert so ernsthaft, dass man mit dem Label »Clown« nicht mehr ankommen kann. Dass er das »im Amt« tut, verleiht seiner Kritik am eingeschleiften Parlamentarismus, die so tut, als sei sie gar keine Kritik, besondere Würze.

Ist das überhaupt Zynismus, was Sonneborn da praktiziert? Ist sein Kurs eine »Kritik der zynischen Vernunft«? So hieß ein zweibändiges Werk Sloterdijks Anfang der Achtzigerjahre. Damals war der Mann noch nicht auf libertären Pfaden unterwegs. Damals war er noch das, was er heute vorgibt zu sein: Philosoph. Jedenfalls sah dieser Sloterdijk seinerzeit eine Verwandtschaft zwischen Kynismus und Zynismus. Er verwendete die etymologische Veränderung des Anfangsbuchstabens, um seine These zu unterstreichen. Sie lautet in etwa so: Der Kynismus, deren berühmtester Vertreter der Diogenes war, der seine Tonne in Sinope stehen hatte, war die geistige Schule, die für das entrechtete Volk sprach. Eine Art Gegenbewegung zur herrschenden Denkschule, zur Akademie sozusagen. Kynismus war so eine Art puristisches Kabarett und gelebte Satire.

Später drehte sich das Rad und der Kynismus, aus dem jetzt der Zynismus hervorging, wurde die Lebensart derer, die eben nicht in der Tonne lebten, sondern die verachteten, die in einer solchen ihr Leben fristen mussten. Sloterdijk sagt, dass das die »Frechheit [sei], die die Seiten gewechselt hat«. Herrschaftszynismus leitete sich also demgemäß von der Frechheit ab, mit der die Kyniker der Herrschaft vor mehr als zwei Jahrtausenden begegneten. Der Zynismus der Reichen und Mächtigen ist gewissermaßen eine Reaktion, ein »Wie man in den Wald hineinschreit, so kommt es heraus«. Und Sonneborn, der nun Europaparlamentarier ist, ist demnach gar kein Zyniker, sondern eben eher ein Kyniker, der seine Tonne nach Brüssel rollt. Er ist die »Frechheit, die die Seiten [abermals] gewechselt hat«, die zurückgewechselt ist ins Lager derer, die die Herrschaft verspotten.

Was hat man nicht alles für den Rechtsruck verantwortlich gemacht! Nicht erst am Sonntag, sondern bei jedem NPD-Stelldichein in den letzten Jahren. »Politikverdrossenheit« nennt und nannte sich ein beliebter Erklärungsansatz. Man wähle rechts, so heißt es da, weil man Protest gegen eine Politik zeigen wolle, die sich immer mehr von den Menschen entferne. Wenn das stimmt, wären dann zwei, drei mehr Sonneborns nicht eine wirkliche Alternative für Deutschland gewesen? Eine, die die Auflehnung und den Protest gegen die Bürokratie und die in Rituale erstarrte Demokratie aufzurütteln vermag durch ihre Frechheit, durch den Elan des ernsthaft vorgetragenen Witzes, durch diogenesische Chuzpe? Und die nicht durch billige Xenophobie, ekelhaften Sozialrassismus und abgestandene Homophobie punkten will?

Aus Protest faschistische Modelle wählen? Damit sagt man der etablierten Parteienlandschaft doch überhaupt nichts. Wenn überhaupt, dann sagt man ihr nur, dass sie noch weiter nach rechts abdrehen sollte, damit sie das abgewanderte Stimmvieh wieder einfängt, um künftig wieder Pöstchenprofite zu zeitigen. Wie wollen denn die Rechtspopulisten Aufklärung betreiben? Wie aufklären, dass der Kurs der europäischen Institutionen falsch und nicht vermittelbar ist? Wie wollen sie in ihrer Bierernsthaftigkeit darlegen, dass sie jetzt in einem Schatten- und Spaßparlament ohne weitreichende Befugnisse, ein Abnickplenum sitzen? Und wieso braucht man dazu Hetze gegen Südeuropa und sozialdarwinistische Lehren, so wie eben diese »Alternative für Deutschland«? Aufklärung durch quasi-faschistische Schlipsbürger? Das ist ja zum Schreien! Zum Lachen jedoch nicht. Das ist Sonneborn. Er mit seinem kynischen Anlauf, diesen lausigen Versuch von europäischer »Demokratie«, der aus dem einen Hinterzimmer kommt und in das andere Hinterzimmer wieder abwandert, ad absurdum zu führen.

Der Volksmund sagt, dass der Politiker, der nichts taugt, »nach Europa« abgeschoben wird. Das stimmt natürlich so nicht. Man kann ja nicht den halben Bundestag dorthin verfrachten. Es bleiben einige dieser Taugenichtse auch in Berlin, in München, Wiesbaden, Düsseldorf oder Stuttgart. Sonneborn zeigt nur auf, wie der europäische Apparatschik tickt. Pervertiert er ihn? Wohl kaum. Er gibt einfach die Gedankengänge in Interviews an, die einige andere - wahrscheinlich nicht alle - nur im Kopf mit sich herumtragen.

Sonneborn ist ein politischer Aufklärer mit feiner Chuzpe. Sein gewollter Kurs, nichts Konkretes zur Sachpolitik sagen zu wollen, destruktiv zu sein, um das Augenmerk auf etwas anderes zu lenken, nämlich auf den Euro-Apparat-Mensch mit seinen Verordnungen und seinen Kompetenzlosigkeiten, seinem Soziolekt und seiner in den Irrsinn tendierenden Art, die Welt als eine Matrix aus politischer Willensbildung und »Mandat durch Souverän« zu sehen, wo aber nur Lobbybeeinflussung und Hinterzimmerdiplomatie wirkt, ist allerdings kein unpolitischer Nonsens, sondern ganz in Gegenteil, eine gewiefte politische Botschaft. Dazu fehlt den Rechten, die destruktiv sein wollen in einem Apparat, den sie ja weder so noch anders akzeptieren wollen, natürlich jegliche Phantasie.

Diogenes aus der Tonne hat der weltlichen Macht, die damals Alexander hieß, laut Legende gesagt, er solle ihm aus der Sonne gehen. So hat er Verachtung für den Machtapparat gezeigt, hat ihm nebenher eine andere Sichtweise aufgenötigt. »Hat sich dieser Kerl in der Tonne nicht meiner Präsenz erfreut?«, mag sich der junge Feldherr gedacht haben. »Stehe ich doch nicht im Zentrum der Welt?« Der moderne Kyniker setzt sich der »Frankfurter Allgemeinen« zum Interview aus und sagt Sachen wie »Theoretisch heißt das, jeden Monat sitzt ein anderer Abgeordneter der „Partei“ in Brüssel und kassiert das Geld« und rüttelt an den Institutionen der Ohnmacht, die wir als Europäisches Parlament kennen.


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Der stabile Dax, der das instabile Europa gut verträgt

Donnerstag, 29. Mai 2014

Der Rechtsruck bei der Europawahl ist für die Börse offenbar kein Grund zur Sorge. Die Märkte reagierten nicht negativ darauf und der Dax stieg sogar auf ein neues Allzeithoch. Seltsam, denn auf Wahlen hat die Börse schon oft ganz anders reagiert.

Zuletzt war das nach der Bundestagswahl so. Damals ging der Dax mit einem Minus aus dem Handel. »Die offene Ausgestaltung der künftigen Bundesregierung verunsichere die Wähler«, schrieb die »Frankfurter Allgemeine« einen Tag nach der Wahl. Oder gesagt: Die strukturelle linke Mehrheit, die in jenen Tagen das Land beschäftigte, bereitete den Märkten tiefe Sorge. Die mögliche rot-rot-grüne Mehrheit verursachte eine kleine Panik. Auch Immobilienwerte verloren damals. Und Händler bestätigten, dass gegen die befürchtete Mietpreisbremse eine Bekräftigung der schwarz-gelben Regierung nötig gewesen wäre. Die potenziell linke Mehrheit hat aber alles zunichte gemacht und mittels Mietpreisbremse Profiteinbußen angedeutet. Überraschend war das damals übrigens nicht. Schon Tage vor der Wahl gab es Berichte, die ein solches Szenario in Aussicht stellten. »Börsianer warnen vor Rot-Rot-Grün«, konnte man in mehreren Tageszeitungen lesen.
Der Text ist auch im »Heppenheimer Hiob« beim »Neuen Deutschlan erschienen.

Am Sonntag gewannen fast überall in Europa rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien Zuspruch. Sie werden weitaus stärker im Europäischen Parlament vertreten sein als sie es bislang waren. Und die Börse? Die wiegt sich in Zufriedenheit. Keine Ausreißer. Der Dax hat sogar zugelegt. Allzeithoch. Mal wieder. Alles im Lot. Man atmet durch. Und wir Bürger sollten es gewissermaßen auch tun, liest man aus den Berichten heraus. Denn wenn es den Märkten gutgeht, geht es uns allen gut. Alte Weisheit, die auch für Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose gilt.

Anders gesagt: Die Märkte haben überhaupt kein Problem mit Islamophobie und Rassismus, mit Chauvinismus und Nationalismus. Ein politischer Rechtsruck geht in Ordnung. Er geht den Märkten sichtlich am Arsch vorbei. Roma und Moslems müssen sich in einem rechten Klima fürchten. Aber doch nicht die Börse! Der Kontinent hat mit dieser Wahl am letzten Sonntag bewiesen, dass er zerrissen, dass er instabil geworden ist – aber die Börsenwerte bleiben stabil. Bei einem rechten Übergewicht, kann man auch die kleinen linken Zuwächse verkraften. »Balance of Power«, oder wie nennt man das?

Nur potenzieller Linksruck bringt die Börsenwelt durcheinander. Umverteilung und Partizipation, die Stärkung des Sozialstaats- und Rechtsstaatsmodells, die Regulierung der Wirtschafts- und Finanzprozesse: Da schaudert es den Märkten. Da brechen sie ein, werden ganz wuschig, haben Angst, dass die Party nun endgültig vorbei ist. Ist ja auch doof, dass Linke die Welt nicht in Weiße und Schwarze, in Deutsche und Ausländer einteilen, sondern in Arme und Reiche – diese Unterscheidung ist für die Märkte untragbar, ganz einfach, weil sie den wesentlichen Kern trifft. Das rechte »Divide et impera« ist hingegen Börsen-Balsam, denn es lenkt ab, verschleiert und führt den Bürger vor weitreichenden Erkenntnissen weg.

Die Märkte sind eine rechtslastige Einrichtung. Und dennoch schielt die Politik auf sie, wenn sie Entscheidungen zu fällen hat. Sie nimmt also Rücksicht auf ein nicht nur völlig amoralisches Orakel, sondern auf eine »Instanz«, die sich pudelwohl im rechten Sumpf fühlt - wenn nur die Dividende stimmen, wenn nur der Rubel rollt. Welcher Hohn es ist, dass sich die Kanzlerin einst für die »marktkonforme Demokratie« aussprach, sieht man jetzt mal wieder. Wie unmöglich das zusammengeht, lässt sich am Allzeithoch des Dax nach dieser Europawahl erkennen. Hätten wir hingegen einen »demokratiekonformen Markt«, dann hätte dieses Resultat drastische Kursverluste verursachen müssen. Und es wäre sicher nicht das schlechteste Zeichen, wenn Börsen so auf Rechtsrücke reagieren würden.


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Zerlumpte, Hüttenbewohner und Fußballfans

Mittwoch, 28. Mai 2014

So eigentlich comes football home. Jedenfalls könnte man das glauben, denn die Einschwörer auf die Weltmeisterschaft in Brasilien bereiten ihr Publikum mit dieser Erkenntnis darauf vor. Uns stehe nämlich die größte Fußballparty aller Zeiten bevor. Zwar sei England das Mutterland des Fußballs - worüber man logischerweise trefflich streiten könnte -, aber Brasilien sei das Land der Fußballbegeisterung, der Verinnerlichung dieses Sports schlechthin. Denn dort zähle nichts außer futebol, futebol und nochmals futebol.

Ich kann diesen Unsinn nicht mehr hören. Seit Monaten gehen in Brasilien immer wieder Menschen auf die Straße. Sie beanstanden, dass für Prestigeobjekte wie die Weltmeisterschaft Gelder verteilt werden, die im Bildungs- und Gesundheitswesen und in der Infrastruktur zurückgehalten werden. Diese Menschen fordern kurz und gut mehr Respekt im Umgang mit ihnen. Und das ist beileibe kein Einbruch in das »eitel Sonnenschein« Brasiliens, keine Randnotiz aus einem Land, in dem die Menschen immer in Feierlaune sind. Verdammt, der Protest der Deklassierten und Hemdlosen ist mindestens genauso brasilianisch, wie der enthusiastische Eifer beim Fußball.

Die cabanos, die Hüttenbewohner und weitere Gruppen der Unterschicht lehnten sich 1835 gegen die Oberschicht auf. In anderen Teilen des Landes taten dies zur gleichen Zeit die farrapos, die Zerlumpten. Schon zur Kolonialzeit brodelte es in Brasilien. Die Sklaven der Herrenschicht entwickelten in Tanz getarnte Kampftechniken, capoeira genannt. Der Aufstand der Entrechteten ist überhaupt ein großes Erbe des südamerikanischen Kontinents. Der Protest gegen Machtstrukturen hat also Tradition.

Diese romantischen »Die sind immer gut drauf«-Reden unterbuttern die Diskrepanzen innerhalb Brasiliens. Es ist eben kein Volk von Strahlemännern und -frauen. Ja, ich könnte laut aufschreien, wenn ich sowas höre. Es hört sich an wie: »Die sind arm, aber doch glücklich.« Also Hartz IV-Empfänger, nehmt euch doch mal ein Beispiel! Überwindet die Armut durch Freude, seid ausgelassen und fröhlich! Hinter dieser »guten Laune« steckt die uralte europäische Überheblichkeit, wonach Armut in warmen Gefilden etwas sei, was man aushalten könne. So ein Bullshit!

Haben die Vertreter dieser These schon mal die Favelas besucht? Schon mal gesehen, wie die Bewohner dieser Elendsviertel im Dreck der Bessergestellten wühlen, um etwas zum Fressen zu finden?

Dass die FIFA und der privilegierte Teil der Welt die Weltmeisterschaft in Länder tragen, die das Geld für die benötigte Infrastruktur aus Mitteln aufwenden müssen, die für die Bevölkerung schon nicht zur Verfügung gestellt werden, ist eine Gemeinheit. Dass sich die Öffentlichkeit dieses bessergestellten Teils der Welt aber hinstellt und so tut, als gäbe es soziale Verwerfungen nur als kuriose Randnotiz und stattdessen etwas vom »größten Fußballfest aller Zeiten« schwafelt, das setzt dem ganzen die Krone auf.

Brasilianer sind doch keine feierwütigen Fußball-Zombies, keine Feierbiester, die nichts interessiert außer ihre Nationalelf. Das könnte man schon mal betonen. Aber man will sich eben die Laune nicht verderben. Und zu unser aller Bespaßung haben die Demonstrationen gegen die Auswüchse der neoliberalen Regentschaft hintanzustehen.


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Das Wahlergebnis hinter dem Wahlergebnis

Dienstag, 27. Mai 2014

Bei der Europawahl 2014, wählten...

... 51,9 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland gar nicht.
... 16,7 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die Union.
... 12,9 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die SPD.
... 5,1 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die Grünen.
... 3,5 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die Linke.
... 3,3 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die AfD.
... 1,6 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland die FDP.
... 3,8 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland eine der Parteien, die einen Sitz im Europäischen Parlament erlangt haben.

Die beiden stärksten Parteien vereinen somit nicht mal ein Drittel aller möglichen Stimmen. Die Union hat aber an absoluten Zahlen dennoch zugelegt. Auch die Linken haben mehr Absolutstimmen als vor fünf Jahren.

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»Keine Sozialunion« darf nicht das Ende vom Lied sein

Montag, 26. Mai 2014

Es stimmt, »die EU ist keine Sozialunion« - sie hat sich unter der Kuratel derer, die to big to fail sind, zu einer »Asozialunion« entwickelt. Sie stranguliert die Sozialwesen und salbadert vom Allheilmittel »Wettbewerb«, wo er nichts zu suchen hat. Dabei wäre dieses hochgespielte Horrorszenario vom »vollen Boot« eine Chance, Europa endlich auch zu einer Union sozialer Standards zu formen.

Man hat so viel von der Euro- und Europaretterin namens Merkel gelesen. Sie gehe mutig und forsch voran, setze neue Marken und forme den Kontinent neu. Warum geschieht das nicht auch jetzt? Wieso fordern das ihre Bewunderer jetzt nicht ebenfalls? Das Narrativ vom Überfall Sozialkassen plündernder Horden wäre doch die Gelegenheit, Europa auf ein neues Level zu hieven. Ein Kontinent, der Union sein will und der so viel Ungleichheit aufweist, dem sollten doch alle, wirklich restlos alle Bürger, to big to fail sein.

Was hat man der Europäischen Union nicht alles zurecht unterstellt. Sie trimme auf ein Europa der Konzerne, sei eine Wirtschafts- und Währungsunion, ein ökonomischer Zweckverband, der auf Handel spezialisiert sei und die Bürger vornehmlich als Verbraucher wahrnehme. Nehmen wir mal kurz an, dass die Angst des deutschen Spießbürgers und seiner politischen Vertretung berechtigt ist und dass die Menschen nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kommen: Wäre das nicht der Moment, in dem sich die Union darüber beraten müsste, ein europäisches Sozialgeld einzuführen? Die Verpflichtung zum Mindestlohn und zu Kündigungsschutzgesetzen? Einen Fond, der diejenigen in Europa teilhaben lässt, die vom Wertschöpfungsprozess ausgeschlossen sind?

Kurzer Einwurf zum Narrativ, die Ausländer stürmten Deutschland: Zu glauben, dass Menschen nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen zu beziehen, um dann hier in einer spärlich eingerichteten Wohnung zu sitzen, ohne Familie und viele Kilometer fernab der Heimat, ohne Bindungen und Sprachkenntnisse, gesellschaftlich isoliert und ausgeschlossen, entspricht einem Weltbild, das sich rein auf pekuniäre Werte stützt und andere Faktoren für Auswanderung völlig ausblendet. So eine Vorstellung von »Auswanderung« können nur Menschen haben, die sich noch nie damit konfrontiert sahen, selbst auswandern zu müssen; Leute halt, die fest auf ihrer Scholle sitzen. Sie stellen sich vor, dass dann ein Spanier oder Bulgare glücklich seinen Regelsatz einheimst und dann froh ist, endlich abgesichert zu sein. Dass er aber kein Leben im eigentlichen Sinne hat, weil er aus seinem  Leben herausgerissen wurde, überlegt man sich dabei nicht. Wie schwer die Entscheidung ist, das Land zu verlassen, in dem Eltern, Geschwister und Freunde zurückbleiben, erahnt man mittels solch plumper Unterstellungen überhaupt nicht.

Jetzt wäre der Moment, ein soziales Europa zu schaffen, Sozialstandards zu verabschieden - auch weil die jetzt galoppierende Armut an der südlichen Peripherie des Kontinents ein Produkt des reichen Nordens ist. Wieso können Banken als so systemimmanent erachtet werden, dass man sie auf alle Fälle retten muss und ganze Völkerschaften gehen ohne dieses Prädikat aus der Krise? Ein Rettungsschirm, damit Menschen nicht mehr so suizidbereit sind, wieder Perspektiven sehen?

Ja, die EU ist keine Sozialunion. Merkel hat recht. Hätte sie das Gegenteil behauptet, hätte sie gelogen. Die Handvoll liberaler Feuilletonisten und Kommentatoren, die schrieben, dass die Kanzlerin die rechtspopulistische Karte gespielt hat, müssten gar nicht so besorgt tun. Die Frau hat damit doch nur definiert, was eine Europäische Union für sie und ihre Entourage zu leisten hat: Für die Bürger relativ wenig. Sie hat lediglich klargestellt, dass sie die EU zwar reformiert wissen möchte, wenn es um wirtschaftliche Fragen und Interessen geht, aber nicht, wenn das Soziale in Schieflage gerät. Da macht sie lieber die Schotten dicht, igelt dasselbe Deutschland ein, das sich verantwortlich in die Welt hinaus militarisieren will. Dann soll aus diesem extrovertierten Hegemon ein introventierter Eigenbrötler werden.

Die politische Linke sollte nun, da selbst die Sozialdemokratie mitmischt und ihre Sanktionswut von angestammten Hartz-IV-Empfängern auf solche verlagert, die nach Deutschland kommen, dieses erzkonservative, angstmacherische und übererregte Narrativ aufgreifen und es gegen die wenden, die es in die Welt gesetzt haben. Wenn sie sagen, dass Deutschland »nicht das Sozialamt Europas« sei, sollte sie sagen: »Richtig, daher brauchen wir ein Europa, das das Soziale auf alle Mitgliedsstaaten verteilt - ohne von der Freizügigkeit abzulassen.«

Denn es ist ein Hohn, dass Sigmar Gabriel noch vor Monaten sagte, dass die Freizügigkeit das Herzstück Europas sei - und nun will er mit seiner Partei mitmachen bei der Beschneidung der Freizügigkeit von Europäern, die leider nicht die Mittel haben, auf eigene Kosten freizügig sein zu können. Wenn Freiheit auf die Grenzen der eigenen finanziellen Beschränkung stößt, dann ist sie keine Freiheit mehr. Aber das hat man im Deutschland des Gauck und seiner entstofftlichten Freiheitsrhetorik schon lange verdrängt. Wo man Freiheit abstrakt predigt, weiß am Ende gar keiner mehr, dass Freiheit etwas ist, dass man für jeden möglich und erschwinglich machen muss.

Wenn es also stimmt, dass Deutschland überrannt wird von den Elenden des Kontinents, dann darf man nicht als Reaktion mit Abschottung reagieren und mit Fremdenfeindlichkeit aufwarten, dann sollte das glatte Gegenteil geschehen: Überlegungen, wie man Europa sozialisiert, wie man alle Bürger absichert und Existenznöte innerhalb des Wohlstandes unterbindet. Der Satz »Die EU ist keine Sozialunion« kann nicht das Ende vom Lied sein. Das kann man so nicht stehenlassen. So liest sich das nämlich. Und genau das ist das drastische Element dieser Aussage. Nicht der Rechtspopulismus, sondern die Absichtserklärung, dass die EU nicht mehr sein sollte als sie heute ist. Kein Wunder also, dass Europa der Europäern auch weiterhin fremd sein wird. Will die EU die Herzen gewinnen, muss sie mehr werden als sie jetzt ist.



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Ich wähle die Sozis!

Samstag, 24. Mai 2014

Um »xxxmeinxxx xxxreich xx Europa« zu verhindern.

Eigentlich wollte ich ja schreiben, dass ich morgen nicht kann. Keine Zeit habe. Keine Lust. Nicht von meiner Couch runter will. Vorwände vorbringen, weshalb ich dieses sich gegen die Europäer organisierende Europa (Stichwort: »keine Sozialunion«) ignorieren und nicht wählen werde. Eigentlich. Aber dann habe ich überlegt und mir gedacht, dass es nichts bringt, mit verschränkten Armen und Schmollmund dazusitzen. Wahrscheinlich bringt es auch nichts, gerade das nicht zu tun. Man verstehe mich nicht falsch. Ich will niemanden zur Wahl motivieren. Es ist legitim, wenn man nicht gehen will. Die Ereignisse der letzten Jahre haben begünstigt, dass man resigniert und verdrossen wird.

Aber dann ist da ja auch noch dieses TTIP, dieses Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, das von fast allen gewollt ist. Selbst Gabriel wirbt nun dafür. Merkel hat zwar behauptet, dass man keine Angst haben müsse, Sozial- und Qualitätsstandards würden nicht angetastet, »im Gegenteil« hat sie sogar gesagt. Aber was heißt das schon? Und was bitte meint sie mit »im Gegenteil« ? Will sie etwa den USA europäische Standards aufnötigen? Aber der Putin ist natürlich derjenige, der größenwahnsinnig ist, oder wie?

Was ist überhaupt von der Zusage einer Frau zu halten, die bereits aus der NSA-Geschichte eine endlose Geschichte des Zurückruderns und Zauderns machte? Wie will sie denn garantieren, dass die durch TTIP installierten Schiedsgerichte so urteilen werden, dass sie die europäischen Standards nicht antasten? Und ihr kameradschaftlicher Gegenspieler Schulz hat letztens dasselbe gesagt. Er wolle natürlich Qualität auf den Tellern erhalten. Aber wie er die Schiedsgerichtverfahren kontrollieren will, dazu hat er nichts gesagt. Er wurde aber auch nicht im Detail gefragt. Wie üblich. Mir schwant, dass man viel gegen diesen kalkulierten Deregulierungsakt im Sinne deutscher Billigheimer nicht machen kann.

Überhaupt gehe ich nur zur Europawahl, weil ich mit diesem Austeritätseuropa nicht einverstanden bin. Der Kurs der Regierung Merkel ist nicht haltbar. Er zerreißt Europa. Auf ihrem Wahlplakat deutet sie es ja kodiert an. »xxxmeinxxx xxxreich xx Europa«. An der Peripherie hat dieses neue deutsche Sendungsbewusstsein schon doll mitgemischt und so an der Destabilisierung der Region mitgewirkt.

Noch habe ich Europa ja nicht ganz aufgegeben. Vielleicht wird ja noch was daraus. Aber sicher nicht mit den amtierenden Parteien. Nicht mit den Merkelisten und den Sozialdemokraten um Gabriel, die jetzt plötzlich ganz auf EU-Kurs ihrer im Hosenanzug steckenden Richtlinienkompetenten sind. Da muss man schon was anderes wählen. Jetzt bei der Europawahl und dann bei den nächsten nationalen Wahlen auch. Immer quasi. Derzeit eignet sich die richtige Sozialdemokratie dazu. Noch. Das muss nicht ewig so bleiben. Wir passen uns eben alle mal an. Komisch nur, dass diese Sozialdemokratie derzeit unter dem Namen »Die Linke« zu Wahlen antritt. Denn die Sozialdemokratie ist ja kein schlechter Weg, wenn sie richtig gemacht wird. Geirrt hat sie sich immer mal wieder in ihrer Geschichte. Aber ein Irrweg war sie deshalb noch lange nicht. Man muss sie halt mal wieder wählen. Warum hat bis heute eigentlich kein Gericht verfügt, dass dieses Plagiat mit Namen »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« verboten wird? Auf einem Twix-Riegel darf doch auch nicht »Diätlebensmittel« stehen.

Warum so konformistisch sein und wählen? Rechtfertigt man damit nicht eine Institution, die die wenigsten Menschen in der herrschenden Art und Weise wollen? Aber was sollen da erst all die rechtspopulistischen Anti-Europäer sagen, die sich zur Wahl stellen? Die müssten viel eher in Zwiespalt verfallen. Europa so gut es geht aufheben und dennoch ins Europäische Parlament einziehen wollen: Das nenne ich mal schizophren. Als ob man einen Bagger von der Baggerschaufel und nicht vom Führerhäuschen aus bedienen will. Internationalismus war ja von je her eine Angelegenheit der Linken, ein sozialdemokratisches Konzept, wenn man so will. Und man braucht ja ein Gegengewicht gegen diese Rechten, die nicht nur die europäische Integration, sondern auch noch gleich alle Reste der Aufklärung beenden wollen. Gegen die und den Mainstream, der »Austerität« zum Synonym für »Solidarität« erklärt.

Ich höre schon einige unken: »Alter, mit dieser richtigen Sozialdemokratie kommt kein Systemwechsel raus; schon gar nicht, wenn man die EU legitimiert.« Systemwechsel? Zu was? Man lernt dazu, irgendwann merkt man, dass man schattengeboxt hat und muss einsehen, dass es nicht um Wechsel, sondern um Änderungen geht. Oder mit den Schlussworten aus Jens Bergers neuen Buch: »Noch ist es nicht zu spät: Solange die Chance besteht, diese Fehlentwicklung friedlich zurückzudrehen, sollten wir diese Chance nutzen. Zivilisiert den Kapitalismus!«

Ich habe ihm bei einem Telefonat gesagt, dass diese Zivilisierung des Kapitalismus nach sozialstaatlichem und humanistischem Muster auch eine Art Sozialismus entstehen lässt. Marx hat das lange ganz genauso gesehen. Anders gesagt: Fuck the EU - aber wenn es sie schon mal gibt, muss man das Beste daraus machen. Für mich ist das derzeit immer noch die Sozialdemokratie, die sich jetzt »Die Linke« nennt.

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Meinung und Meinen

Freitag, 23. Mai 2014

Eine kurz erläuterte Meinung über die Meinungsfreiheit und was sie nicht ist.

Die neue Rechte versteckt sich hinter einer Meinungsfreiheit, die für sie gar nicht gilt. Sie missbraucht sie, indem sie behauptet, dass alles Sagbare zugleich auch Meinung ist.

Er sagte, ich hätte wohl ein Problem mit seiner Meinung.
   Hatte ich nicht. Also sagte ich: »Nö, mit einer Meinung nicht.«
   Es ging irgendwie um Türken und darum, dass er keinen Döner isst, weil sie voller Dreck steckten. Ja, Türken seien gewissermaßen unhygienische Menschen.
   »Sondern was?«, fragte er. »Du hast ein Problem mit meiner Meinung.«
   Er hat wohl gesehen, wie ich verstimmte, wie ich die Augenbrauen verzog.
   »Ich weiß doch, wie du bist. Und solche Sprüche gefallen dir gar nicht. Ihr Linken immer mit eurem Problem mit der Meinungsfreiheit anderer«, ließ er sich aus.
   »Ich habe kein Problem mit Meinungen. Aber alles was man meinen kann, muss noch keine Meinung sein.«
   Das irritierte ihn, aber die Zeit war reif, jetzt hieß es schuften, nicht mehr quatschen. Dieses Gespräch ist bis heute abgewürgt und nicht wieder aufgenommen worden. Ich habe auch kein Interesse daran.

So in etwa argumentiert auch die neue Rechte. Sie fühlt sich in ihrer Meinungsfreiheit beschränkt und zweckentfremdet den Begriff der »political correctness«, der ursprünglich mal als Synonym für »Humanismus« galt und der im linken Diskurs durchaus nicht negativ konnotiert verwendet wurde. Heute hat sich die Rechte den Begriff unter den Nagel gerissen und führt ihn als Gegenteil der Meinungsfreiheit an.

Dabei hat die neue Rechte in den meisten Fällen gar keine Meinung. Jedenfalls keine, die mit Artikel 5 des Grundgesetzes abgedeckt wäre. Sie meint nur. Das ist aber ein gravierender Unterschied, denn die grundgesetzlich gesicherte Meinungsfreiheit ist ein komplexes Konzept und nicht einfach nur die Legalisierung allen Sag- und Meinbaren. Absatz 2 des Artikels spricht daher auch von »Schranken«. Ich kann zum Beispiel meinen, dass neue Rechte Arschlöcher sind - aber Meinung ist das deshalb noch nicht. Es ist auch nicht justiziabel, weil man Arschlöcher schon beim Namen nennen muss. Aber es ist nicht Meinung im Sinne der Meinungsfreiheit - ich meine bestenfalls nur, wenn ich das behaupte.

Meinungsfreiheit ist ein gesellschaftlicher Gestaltungsrahmen, der nicht einfach behaupten kann, dass alles, was sich der Mensch denken kann, zugleich auch reif dafür ist, als Meinung unter die Leute zu kommen. Das ist nur ver-meint-liche Meinungsfreiheit. Ein geregeltes Gemeinwesen benötigt die Differenzierung zwischen privaten Meinen und veröffentlichter Meinung. Wenn ich also wie mein Gesprächspartner erzähle, dass Türken dreckig sind, kann ich das wohl meinen, aber mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit hat diese Behauptung relativ wenig zu tun.

Es ist ein bisschen so wie mit der Lüge. Keiner mag Lügerei. Und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht nur nicht, den mag man unter Umständen auch nicht mehr. Aber ohne gewisse Lügen wäre das Zusammenleben schrecklich. Es gäbe keine Nettigkeiten mehr. Wenn man jeden Menschen jeden Tag nichts als die Wahrheit sagte, über sein Aussehen, sein Benehmen, seinen Geruch oder darüber, was man sich so über ihn vorstellt, dann hätten wir die Hölle verwirklicht. Man muss also trennen zwischen den Wahrheiten, die gesagt werden müssen und den Wahrheiten, die man in eine Lüge packen darf. Nicht alles Wahre ist es wert, auch als Wahrheit behandelt zu werden. Wir benötigen eine Abstufung der Lügenkategorien, um friedlich zu koexistieren. Wenn mir einer erzählt, wie es ihm derzeit geht, dann wäre die Wahrheit, dass mir das eigentlich komplett egal ist, ein Zustand, in dem menschliches Miteinander schwierig würde.

Und demnach ist nicht alles was man meinen kann als Meinung zu bewerten. Dass Araber eine weniger komfortable Genetik besitzen, können manche wohl meinen. Aber eine Meinung im eigentlichen Sinne ist es nicht. Hier findet Meinung ihre Schranken. Wenn wir da nicht unterscheiden, dann lassen wir Ansichten zu, die das Zusammenleben schier verunmöglichen. Die Eltern des Grundgesetzes haben deswegen Einschränkungen vorgesehen. Daher ist die Masche mit der Meinungsfreiheit, die die neue Rechte jetzt fährt, reine Augenwischerei. Die Hälfte ihrer Thesen ist schlecht gemeint, aber nicht Meinung im Sinne dieses Rechts.

Eines ist das Konzept der Meinungsfreiheit nicht: Völlig frei Schnauze zu reden und meinen, man hätte einen Anspruch auf Respektierung des Gesagten. Man kann freilich nicht alles juristisch verfolgen, was so gesagt wird - man muss es aber auch nicht als von der Meinungsfreiheit abgedeckt stehenlassen. Volksverhetzung, Diskriminierung, Ressentiments und Beleidigungen können widerspiegeln was einer oder eine Gruppe meint, aber Meinung ist das deswegen noch lange nicht. Wer solche respektlosen Töne mit »Das ist halt deren Meinung!« abtut, der verleiht dem Gemeinten mehr als ihm zusteht.


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Ein dickes Knie für die Wettbewerbsfähigkeit

Donnerstag, 22. Mai 2014

Der Niedriglohnsektor ist nur die besonders dunkle Seite des deutschen »Arbeitsmarktwunders«. Es gibt auch Arbeitnehmer, die nicht unterhalb des Existenzminimums verdienen und trotzdem arm dran sind.

Unterhalb des Knies baut sich eine Art zweite Kniescheibe auf. Der Arzt sagte ihm, dass das Knochensubstanz sei, die sich dort absetze. Und er erklärte außerdem, dass man das operieren müsse. Aber mein Vetter sagte »Nein«, momentan gehe es nicht. Er arbeite nämlich seit mehr als einem Jahr über den Umweg eines Leiharbeitgebers in einem großen Automobilwerk und erhofft sich endlich eine Festanstellung. Bislang verlängerte man nur immer seinen Vertrag vierteljährlich. Und bei Krankheit, sagte er mir am Wochenende, geben Leihfirma und Entleiher ihren Arbeitern zwei Wochen. Dauert es länger, erfolgt die Kündigung. Ein Kollege von ihm hatte einen Bandscheibenvorfall und sollte operiert werden. Man hat ihm gleich gesagt, dann müsse er mit der Kündigung rechnen.

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Europa, sie weben dein Leichentuch ...

Mittwoch, 21. Mai 2014

Die Austeritätspolitik aus Brüssel ist ein Leichenfledderer. Selten kann man das derart im wahrsten Sinne des Wortes behaupten wie jetzt im Fall der Madrider Universität, die einige Leichen im Keller hat.

Das muss man sich mal vorstellen: Unter einer europäischen Uni sieht es aus wie im Bastelkeller eines perversen Massenmörders. Hätte einer ein B-Movie mit einer solchen Storyline verfilmt, es wäre zum Haareraufen gewesen. Unglaubhafter Splatter-Mist, hätte man es genannt. Nirgends in der zivilisierten Welt stinken 250 Leichen bei Zimmertemperatur vor sich hin, ohne dass es jemand merkt, hätte man erklärt. Ein Film eben. Wieder mal ein Drehbuchautor, der so übertreibt, dass es keinen Schauer erzeugen kann.

Universität: Sind das nicht die belesenen Männer und Frauen, die Intellektuellen mit einer irgendwie gearteten Sittlichkeitslehre, die auch auf das sonstige Personal abfärbt? Und egal welcher Moralität Professoren so folgen, ob nun dem Humanismus oder dem neoliberalen Utilitarismus: Leichen mit Würde zu begegnen, sie zu beerdigen oder zu verbrennen, sie jedenfalls nicht einfach »überirdisch« dem organischen Verfall anheimzugeben, das ist ein universelles Gebot aller Denkschulen.

Tja, warum würden wir, käme die Meldung aus »The Hollywood Reporter«, nur spöttisch mit dem Kopf schütteln? Weil wir uns Europa als einen Ort denken, dem es an nichts mangelt. Aber das heutige Europa, das Merkel gerettet haben will und von dem Steinmeier sagt, dass es seine Sozialdemokratie auch getan habe, ist in einigen Regionen so unterfinanziert, dass selbst undenkbarer Horror und völlig unrealistische Traumata realiter werden. Die Konsolidierungspolitik aus Brüssel verstümmelt die Posten der nationalen Haushalte, die entbehrlich scheinen: Transferleistungen, Gesundheitsfonds, Kulturressorts und Keller, in denen an Leichen die menschliche Anatomie erprobt werden soll.

Spektakulär findet man nun, dass die Universität sogar Leichen vermietet haben soll. Natürlich fragt man sich, wer sich so einen Leichnam gegen Preis aneignen will. Aber machen wir uns nichts vor: So tickt Sparpolitik - so machen es Kommunen schon lange. Kriegen sie ihr Freibad nicht mehr flott, verkaufen sie es günstig an einen privaten Investor, der eine Luxustherme ohne sozialverträgliche Eintrittspreise daraus macht. Oder man verscherbelt das regionale Krankenhaus an »Asklepios« und ist so ganz schnell den Posten im Debet los. »Tafelsilber verscheuern«, sagt man umgangsprachlich dazu.

Wer nun Leichen im Keller hat, die er nicht mehr gebrauchen kann und die ihm nur Unkosten verursachen oder im Weg herumliegen, der versetzt eben Leichen. Jeder tut was er kann. Jeder hat so sein ganz spezielles Tafelsilber. Das ist der ganze Zynismus der herrschenden Ökonomie. Willkommen in der chronischen Unterfinanzierung des »schlanken Staates«, mit freundlichen Grüßen vom Austeritätskurs Merkel-Europas. Europa, sie weben dein Leichentuch ...


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Zu Ohren gekommen

Dienstag, 20. Mai 2014

Vom »russischen Staatsfernsehen« hört man jetzt oft. In ihm soll allerlei Propaganda abgespult werden. Wahrscheinlich stimmt der Vorwurf. Ärgerlich ist aber, dass das Wort »Staatsfernsehen« als Prädikat fungiert, welches sofort kenntlich machen soll: Dieses Fernsehen ist nicht frei - es ist vom Staat verordnet. Auch die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radioanstalten bemühen das »russische Staatsfernsehen«, wenn sie von dessen Propaganda berichten. Eigentlich gewagt für Anstalten, die selbst »von Staats wegen« senden.

Sicherlich ist es ein Unterschied, ob der Rundfunk gebührenfinanziert oder einer Behörde unterstellt ist. Und staatlicher Rundfunk ist in Deutschland ja auch verboten. Aber ist die Gebührenfinanzierung nicht eine andere Spielart staatlicher Kontrolle? Der beträchtliche Einfluss politischer Parteien auf öffentlich-rechtliche Anstalten zeigt das deutlich. Sogar das Verfassungsgericht musste eingreifen, um den staatlichen Einfluss etwas zu begrenzen. Keiner käme aber auf die Idee, die teils wüste Berichterstattung zum Ukraine-Konflikt des ZDF als Auswürfe des »deutschen Staatsfernsehens« zu bezeichnen.

Anders muss man sagen, dass man kein Staatsmedium sein muss, um unkritische, unhinterfragte oder staatsgläubige Berichterstattung zu betreiben. Zu den Hochzeiten umwälzender Reformen, als die Agenda 2010 die Schlagzeilen beherrschte, haben nicht nur die öffentlichen Sender unter staatlichen Einfluss relativ einseitig und reformwillig berichtet, sondern eben auch private. Gleichzeitig findet man gerade auch im öffentlichen Fernsehen immer auch Sendungen, die sich äußerst staatskritisch betonen.

Das »Staats-« sagt wenig darüber aus, wie viel Staat drinsteckt. Die »Deutsche Welle« wird sogar direkt mit Steuergeldern finanziert und sendet auch nicht vollendete Propaganda. Mit dem despektierlich gemeinten »russischen Staatsfernsehen« lehnen sich Medien, die durch Zahlungen der Bürger finanziert werden und die ein staatlich anerkanntes Hoheitsrecht auf diesen Gebühreneinzug haben, schon weit aus dem Fenster. Das heißt natürlich nicht, dass das »russische Staatsfernsehen« nur Wahrheiten bringt. Aber dieses Hindeuten auf die Eigentumsrechte des Senders taugt nur bedingt dazu, um gleich deutlich zu machen, in welche Richtung es in puncto »inhaltliche Ausrichtung« geht.


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Das Idyll vom engen Zusammenrücken

Montag, 19. Mai 2014

Hach, ist das kuschelig. Seit letzter Woche wissen wir dank der »Bertelsmann Stiftung«, dass Deutschland in den letzten Jahren enger zusammengerückt ist. Freiwillig? Oder hat man es nur zusammengefaltet und zusammengeschoben?

Eng zusammengerückte Arbeiter-
familie um 1900.
Die Studie untersuchte unter anderem die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen und die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen. Und siehe da: »Die Deutschen halten heute besser zusammen als noch zu Beginn der 90er Jahre.« Der Gemeinsinn sei während der vergangenen Jahrzehnte gewachsen. Schon erstaunlich für ein Gemeinwesen, dass an allen Ecken und Enden spart und auf kommunaler Ebene vollkommen unterfinanziert ist. Woher kommt denn dieser Zusammenhalt plötzlich, wenn man nicht mal mehr alle seine Freibäder und Museen zusammenhalten kann? Stärkt der Sozialabbau etwa den Gemeinsinn? Ist die »Konsolidierung der Haushalte« der kohärente Stoff der Gesellschaft?

Ist der Mittzwanziger, der noch immer bei Papa und Mama wohnen muss, weil er keine Stelle findet, so ein lobenswertes Zeichen für den »neuen Zusammenhalt«? Und der erwachsene Sohn, der Hartz IV bezieht und zu seiner Mutter geht, um bei ihr Geld für einen neuen Kühlschrank zu leihen? Zusammenhalt? Ausdruck tiefer sozialer Beziehung? Sind »Die Tafeln« in der Kalkulation beinhaltet? Die Bahnhofsmission? Und wie hervorragend könnten die Werte einer solchen Studie erst ausfallen, wenn »Die Tafeln« aufgrund Überlastung nicht Hilfebedürftige abwimmeln müssten.

So gesehen müssen die Arbeiterfamilien um 1900 wahrlich zufrieden gewesen sein. Sie klebten auf engsten Raum aufeinander und waren alle voneinander abhängig. Arbeiter mussten zusammenhalten, damit sie ihre Familien zusammenhalten konnten. »Kind wir müssen jetzt zusammenhalten, der Papa ist krank und kann nicht zur Arbeit. Geh bitte auf die Hauptstraße und putz den feinen Herren die Lackschuhe.« Na, »Bertelsmann Stiftung«, war das nicht eine tolle Zeit des Zusammenhalts? Man muss aber zugeben, dass dieser Grad nur bis zu einem bestimmten Punkt des Elends geht. Wird es ganz arg, dann driftet alles auseinander. Steinbeck hat das gut in seinem Buch »Früchte des Zorns« beschrieben. Am Ende blieb von der Familie Joad nur ein harter Kern übrig. Alle anderen starben oder verschwanden einfach.

Was ich sagen will ist: Ist dieser postulierte Zusammenhalt aus Wohlgefühl entstanden oder weil der zusammengefaltete Sozialstaat ihn bewirkte? Ist er überhaupt entstanden? Man kann solche Gegenstände ja kaum richtig messen, sie beruhen auf subjektiven Einschätzungen und können daher genauso gut nur eingebildet sein.

Ich kann ja schön bei einer Befragung angeben, dass ich bei »Die Tafeln« mitwirke und daher schlussfolgern, dass das Zwischenmenschliche durchaus vorhanden ist. Ob nun als Austeiler oder Einsammler ist egal. Wenn es mehr Arme gibt, dann gibt es auch mehr zivilgesellschaftliche und von NGOs gesteuerte Maßnahmen, die diesen Armen helfen sollen. Mit der wachsenden Armut wächst auch die Anzahl jener Akte, die man dann unter den Begriff »Zusammenhalt« zusammenhalten könnte. Und wo der Sozialstaat Not lindert, werden auch eine weitaus geringere Summe solcher Akte benötigt.

Was will die »Bertelsmann Stiftung« also sagen? Will sie indirekt zugeben, dass der Zusammenhalt außerhalb staatlicher Institutionen dringender denn je nötig ist? Oder will sie ein Loblied auf die wirtschaftliche Situation singen, für die sie selbst mitverantwortlich ist? Sie unterstellt ja den Menschen aus dem Osten des Landes, weniger Zusammenhalt zu kennen, weil die im Sozialismus gelernt hätten, misstrauisch ihre Ellenbogen zu benutzen. Soll uns das sagen, dass der Kapitalismus also doch nicht so übel ist, weil er die besten Seiten des Menschen hervorkehrt? Ganz schön zynisch: Die freie Marktwirtschaft erzeugt zwar Armut, aber zum Ausgleich auch Hilfsbereitschaft. Und deshalb: Weiter so!

Jedenfalls versteht hier ein neoliberaler Stichwortgeber mal wieder nicht, Symptome zu erkennen. Wenn sie vom allgemeinen Wohlstand berichten und dann anführen, dass das Volksvermögen zugenommen hat, dann nehmen sie diese Ansicht als Hinweis auf die Richtigkeit ihrer These, dass der freie Markt Wohlstand erzeugt. Dabei ist es ein Symptom dafür, dass das Sozialsystem schlecht ist. Je weniger der Staat umlagefinanziert, desto mehr müssen die Menschen selbst sparen. Die Rechnung zahlen sie am Ende natürlich trotzdem. Und die wird meist noch teurer. Dieser »neue Zusammenhalt«, den die »Bertelsmann Stiftung« in alle Zeitungen und Nachrichten diktierte, ist vom gleichen Kaliber. Er zeigt nur, dass Menschen in Nöten jetzt mehr von Mitmenschen abhängig sind, weil ihnen Bund, Länder oder Kommunen immer weniger helfen.


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Die »Toleranz«, die aus der Sideshow stammt

Freitag, 16. Mai 2014

Europa sei wohl doch toleranter als angenommen, meinte der Kommentator Peter Urban nach dem Sieg des österreichischen Beitrages beim Eurovision Song Contest. Und einige Feuilletonisten leierten sich tagsdrauf einen »Sieg der Toleranz« aus den Rippen. Ein Blick auf die Facebook-Seiten des Contests oder des Siegers zeigt aber: Sieg ja - aber Toleranz?

Dort waren »Schwuchtel« und Sermone über »dieses Etwas« noch herzlich. Mancher schrieb, dass Conchita Wurst kein Mensch sei, sondern ein Tier. Die Rhetorik, Menschen zu animalisieren kennt man. Sie ist die Vorstufe zur tolerierten Gewalt. Juden waren Ungeziefer, die Tutsi Schaben. Aber das führt jetzt zu weit. Ein solcher Maulheld, der sich die moderne Bequemlichkeit leisten kann, nicht mal sein Maul, sondern lediglich seine Tastatur zu betätigen, macht ja noch keinen Mordanschlag aus. Er outet sich ausschließlich als intolerantes Arschloch. Zu mehr reicht es nicht. Der Friedensengel Elsässer forderte zum Beispiel »seine Lena« zurück und distanzierte sich von dieser »eierlegenden Wollmilchsau«. »Würg« findet er das alles. Während Europa umerzogen wird, buht es Russland aus, diesen Hort traditioneller Lebensführung, bedauert er außerdem. Am Montag ist er vielleicht wieder dabei und macht die Welt wieder ein Stückchen friedlicher.

Kürzlich erst prüfte man bei »Panorama - die Reporter«, wie es mit der Toleranz gegenüber Homosexuellen bestellt ist. Der Zuschauer landete mit dem Reporter bei Protesten gegen homosexuelle Gleichstellung und musste sich die üblichen uralten Zoten anhören: Schwule seien krank und arme Kreaturen, die Mitleid verdienten. Und natürlich: Sie sollten mal einen Arzt besuchen. Den besuchte der Reporter, der sich selbst als schwul outete, dann auch. So einen katholischen Schmierlapp, der ihm die Hand auflegte und dann fragte, ob er gespürt habe, dass die falsche Energie aus ihm entwichen sei. Wahrscheinlich wollte dieser »Retter schwuler Seelen« seine Hand ganz wo anders platzieren, nicht nur auf der Stirn seines »Patienten«. Wäre nicht der erste Schwulenfeind, der mit seiner Tour nur seine eigenen Gedanken verdrängen will. Wer weiß schon so sicher, wieviele Richter Schwule rücksichtslos nach Paragraph 175 verurteilten, nur weil sie neidisch waren und selbst nicht den Schneid hatten, sich mit einem Mann ins Bett zu legen?

Aber höchstwahrscheinlich hat dieser öffentliche Schwall über die Toleranz, die uns Europäer angeblich erfasst hätte, wenig mit Homosexualität zu tun. Erstens wird hier polarisiert, weil man eine Art ideologischen Graben zwischen West und Ost ziehen möchte und zweitens ging es eher um die Inthronisierung eines Phantasievogels, der nebenher eben auch schwul ist. Ich hatte nicht das Gefühl, dass da die Toleranz Motiv war, sondern die klammheimlich Freude, das Schrille in Szene zu setzen. So wie damals, als wir uns immer den zum Klassensprecher wählten, der sich am wenigstens dazu eignete.

Jahrmärkte hatten früher spektakuläre Beiprogramme zu bieten, die wir heute für geschmacklos befinden würden. Siamesische Zwillinge und Frauen ohne Unterleib tummelten sich da. Und natürlich auch bärtige Damen. Die Besucher gafften diese Kreaturen an. Einige wenige Besucher mit Kultur grüßten »diese Ausstellungsstücke« sogar freundlich. Mir scheint, Europa hat weniger ein Bekenntnis zur Toleranz abgegeben, als einfach mal eine Sideshow besucht, in die man mit der Freundlichkeit eines neugierigen Besuchers eintrat.

Europa ist nicht plötzlich toleranter geworden. Gegen Schwule wird noch immer gehetzt. Normalität ist Homosexualität noch lange nicht. Wenn der Nachbarssohn mit Frauen ausgeht, tratscht man darüber so gut wie nicht. Wenn er Männer liebt, dann ist er Gesprächsthema. Wenn vielleicht auch nicht immer negativ. Man liebt die Sensation schwuler Naturen immer noch. Und ein Phantasievogel mag vielleicht einen Wettbewerb zwischen Barden gewinnen, aber im echten Leben empfiehlt man ihm, dass er sich rasieren soll, damit er auch der Allgemeinheit ja nicht auf der Tasche liegt. So weit geht die Toleranz also dann doch nicht.

Manchmal ist eine Zigarre auch nur eine Zigarre. Und hin und wieder ist eine Drag Queen, die den Versuch startete, eine Mischung aus Adele und Shirley Bassey zu singen, auch nicht mehr als eine Drag Queen, die den Versuch unternahm, wie Adele und Bassey zu klingen. Wenn sie dann dafür einen Preis erhält, wird daraus keine politische Botschaft. Es ist auch kein Fanal. Und je lauter man das skandiert, desto wahrer wird das dann auch nicht. Toleranz wird nicht auf Bühnen herbeigesungen, sondern sie prüft sich im wirklichen Leben. Als ich neulich im Kollegenkreis hörte, dass sie Edathy als »Kinderficker« stigmatisierten und meinten, dass er ohnehin schwul sei, da konnte ich mal wieder erahnen, wie es mit dieser Toleranz bestellt ist. Der Schwule ist halt immer noch ein perverser Päderast. Und der Paradiesvogel ist witzig, aber nur, wenn er weit weg ist und nicht die Ordnung stört.


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Über das Deutschland, das nur wenigen gehört

Donnerstag, 15. Mai 2014

Wem gehört Deutschland? Dem größten Teil der Bevölkerung sicher nicht. Und trotzdem hat man Angst vor linker Politik. Ist das die Furcht davor, das Bisschen was man besitzt, auch noch aufgeben zu müssen? 
 
Einer meiner Kollegen pflichtet mir regelmäßig bei: »Du und deine Genossen, ihr liegt mit vielem richtig«. Aber wählen will er »Die Linke« nicht. Weil erstens, »euer Kommunismus hat schon mal nicht geklappt« und zweitens, »ich möchte nicht enteignet werden«. Er hat Angst um sein Häuschen. Gemeinhin spare ich mir die Mühe, ihm zu erklären, dass ich weder Kommunist bin. Noch würden die Maßnahmen, die man damals bei den Kulaken zur Anwendung brachte, heute von einem Parteigänger von »Die Linke« gefordert. Dass die politische Linke ein gestörtes Verhältnis zum Eigentumsbegriff hat, ist eine weitverbreitete Ansicht. Das weiß man mindestens seit Proudhons Schrift »Qu’est ce que la propriété?«. Mit einigen frommen Worten kriegt man das nicht aus den Köpfen. Aber vielleicht mit einem Buch?

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Do hi muasst dei Kreizal macha!

Mittwoch, 14. Mai 2014

Ich wähle bei der Europawahl »Die Linke«. Der »Wahl-O-Mat« hat mir das empfohlen. Praktisch dieses Ding. Ich wüsste sonst nicht, was ich ohne dieses Feature wählen würde. 72 Prozent Übereinstimmung überzeugten mich dann doch. Gut, dass es ihn gibt.

Neulich haben sich zwei Kolleginnen über die Europawahl unterhalten. Nichts von Qualität. Aber aufschlussreich. Im Grunde hatten beide keine Ahnung. Aber dafür einen Link zum »Wahl-O-Mat«. Denn eine von beiden hat da wohl schon mal geprüft, wen sie wählen soll. Danach würde sie sich jetzt richten, meinte sie. Ich dachte unwillkürlich an meine Großmutter, die aus Erzählungen ihrer Mutter zu wissen glaubte, dass bei der letzten »freien« Reichstagswahl irgendwelche Leute in der Wahlkabine standen, auf den Wahlbogen tippten und sagten: »Do hi muasst dei Kreizal einemacha.« Vermutlich ist das eine Legende und man brauchte in jenem Jahr gar keine Aufpasser. Schon gar nicht in der bayerischen Provinz. Aber dieses Familiennarrativ kam mir als Assoziation in den Sinn. Ich stellte mir den »Wahl-O-Mat« anthropomorph vor, wie er vor dieser Tante steht, ihr auf die Stirn tippt und sagt: »Do schau, do musst dei Kreizal hisetzn.«

»Die App nimmt mir ne Menge Arbeit ab«, sagte sagte die Kollegin zur Kollegin. Neben Preisvergleichen und Gastronomiebewertungen ist nun also auch die politische Wahl zu einer Angelegenheit von Anwendungssoftware und Apps geworden. Die »schnelle Übersichtsmentalität« hat auch das Abwägen und Durchdenken vor den Urnengang ersetzt. Kurz und knapp gehalten, für Leute, die keine Laune haben, sich politisch zu informieren. So wie sie auch keine Lust dazu haben, von Deichmann zu Reno zu Siemes zu kariolen, um nur ja die günstigste Stiefelette zu erstehen. Sie tippen es stattdessen in ein Vergleichsportal oder eine Vergleichsapp ein und wissen unverzüglich, wohin die Shoppingtour zu gehen hat.

So wie man dem Verbraucher Zeit erspart und Vergleichskompetenzen abnimmt, so nimmt der »Wahl-O-Mat« den Wählern die Kompetenz ab, die eigenen Vorstellungen mit den Programmen und Gesichtern der politischen Parteien abzugleichen. Die reine Billigmentalität lässt den Kunden dann vielleicht zum Reno fahren - andere Faktoren, die einen Kauf begünstigen, Fachberatung zum Beispiel oder so banale Dinge wie das Ambiente eines Ladens, kommen gar nicht mehr zum Zug. Ähnlich bei der »Beratung« durch den »Wahl-O-Mat«. Denn eine hohe Übereinstimmung mit der Vergänglichkeit eines parteilichen Wahlprogrammes muss ja nicht gleich Gewissheit an der Urne bedeuten. Auch wenn die höchste Übereinkunft mit den Positionen der Grünen gegeben ist, könnten andere Faktoren wie das blasse Personal oder einfach nur zeitgeistliche Präferenzen, die Wahl von »Die Linke« zur Folge haben. Der »Wahl-O-Mat« berücksichtigt derlei aber nicht, er reduziert das Votum zur reinen Programmatik.

Der »Wahl-O-Mat« ist besonders bei jungen Wählern beliebt. Er nimmt ihnen, wie erwähnt, anstrengende Denkarbeit ab und verlagert die Wahlentscheidung in die Zeit kurz vor der Wahl. So muss er nicht die gesamte Legislaturperiode beobachten und sondieren, wohin das nächste Kreuzchen hinzusetzen ist. Der politische Reifeprozess wird abgebunden und für unnötig befunden. Schließlich gibt es im Augenblick, da man diese Reife benötigte, ja Hilfsmittelchen, die Reife und Abwägen suggerieren. Die »Ver-Wahl-O-Mat-ung« der Wahlentscheidung entwirft Bürger, die sich nicht leidenschaftlich oder inhaltlich positionieren, sondern technokratisch ihr Votum prüfen und abfragen, um dann »gut beraten« den Wahlsonntag zu begehen. Er ist albern gesagt eine Krücke für politisch Lahme, denen plötzlich einfällt, sie wollten eigentlich mal Bergsteigen gehen.

Dieses »Votematch-Tool« gibt Wahloptionen »im Überblick« an, um den leidigen Prozess der Reflexion abzukürzen. Fragen wie »Will ich das?« oder »Wenn ich das wirklich will, ist das auch vernünftig und sinnvoll?« stellen sich da kaum noch. Alleine der Abgleich unterstreicht das Votum. Was sagt denn der »Wahl-O-Mat« über richtig oder falsch aus, wenn jemand meint, er sei für die Ausweisung von arbeitslosen Ausländern? Er sagt nur, dass die »Alternative für Deutschland« das auch so sieht. Ist das aber vernünftig? Dient das einer besseren Gesellschaft? Darüber schweigt er sich aus. Er legt einem nur die Wahl der AfD ans Herz. Einem politischen Bildungsauftrag im wahrsten Sinne des Wortes dient das alles aber nicht. Und welchen bildenden Wert das Spiel »Wer-ist-der-Linientreueste?« haben soll, lässt sich nur schwer entschlüsseln.

Wer die Wahl hat, der hat auch die Qual. Das weiß der Volksmund schon weitaus länger, als es politische Wahlen überhaupt gibt. Aber wer sagt bitteschön, dass die Entscheidung an der Urne keine Qual sein muss? Der »Wahl-O-Mat« tut das aber. Und mit ihm viele Medien, die über ihn berichten, als wäre er eine der tollsten Erfindungen seit der Glühbirne. Als es die plötzlich gab, verlernte der Mensch peu a peu, wie man Feuer macht. Und das Wahl-Helferlein hilft mit beim Verlernen eigenständiger Denkprozesse.


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Kurz kommentiert

Dienstag, 13. Mai 2014

»Wieso darf man nicht selbst entscheiden, ob man mit 60 in Rente geht - oder bis 70 weiter schaffen möchte?
[...]
So ein Rentensystem (...) regte den Leistungsempfänger an, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen ...«
- Holger Steltzner, Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai 2014 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Da gibt sich das fanatische Organ der »Rente mit 67 oder gleich 70« mal liberal. Wahlfreiheit für Arbeitnehmer. Das klingt doch gut. Bürgernah irgendwie. Es liest sich so, als habe da jemand Respekt vor dem Willen derer, die »ins Alter gekommen« sind. Ging also doch ein Ruck durch die konservative Seele? Steckt ihr die »Nahles-Rente« in den Knochen?

Schon der erste Satz zeigt das gravierende Problem von Journalisten an, die für die bürgerliche Presse arbeiten: Sie haben den Bezug zu Leuten verloren, die in Berufen stecken, die unmöglich und selbst unter den besten Voraussetzungen bis zum siebzigsten Lebensjahr nicht durchzuhalten sind. Wie will man einem Dachdecker diesen»liberalen Ansatz« schmackhaft machen? Der sagt höchstens: »Mit 60? Ich bin mit 54 schon fertig - und mit 70 kann ich froh sein, wenn mich meine Arthrose morgens zum Bäcker lässt.« Wenn man sich aber zwischen prädestinierten Berufsgruppen bewegt, heute bei einem Berufspolitiker speist und morgen mit Herrn Staatsanwalt Tennis spielt, dann glaubt man irgendwann, dieser doch sehr begrenzte Ausschnitt der Lebensrealität sei das gesamte Spektrum des Arbeitsmarktes. Ob das nun wie im Falle der Rente, der Sparquote oder des Stundenlohns ist: Journalisten von »FAZ«, »Zeit« oder »Focus« schweben in anderen Sphären.

Aber wohl dann doch nicht so ganz. Denn Steltzner ist ja gewieft. Seine »Vision« soll ja nicht nur einfach so nett liberal ausschauen - sie soll auch einen entzückenden Nebeneffekt haben. Wenn nämlich ein Dachdecker »schon« mit 63 in Rente gehen will, dann muss er etwas tun, damit ihm die staatliche Rente auch reicht. Was wohl? Exakt: Er muss privat vorsorgen. Je früher er freiwillig in Rente gehen will, desto mehr. Heute gibt es wenigstens noch die Möglichkeit, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vorzeitig in Rente zu gehen. Zugegeben, nur 17 Prozent aller Rentner »gelingt« das. Aber dieses Mittel, um Menschen die in einem Beruf arbeiten, den »man nicht ewig machen kann« vorher zu verrenten, gibt es immerhin - auch wenn es ausbaufähig ist. Eigenverantwortung nach Steltzner heißt jedoch: »Du bist Maurer geworden, finde dich damit ab und plane beizeiten, wann du aus dem Beruf ausscheiden willst und sorge selbst für dieses Defizit in deinem Erwerbsleben.«

»Dass aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss« (Mackenroth) , ist bei diesem liberalisierten Ansatz der »Rente mit 70« aufgrund »gestiegener Lebenserwartung« und »bester Gesundheit« nicht vorstellbar. Sie haben es eben immer noch nicht begriffen. Nur haben die Befürworter der »längeren Lebensarbeitszeit« jetzt Kreide gefressen und geben sich in dieser Zwanghaftigkeit liberaler.


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Reiche, hört auf unter Brücken zu pennen!

Montag, 12. Mai 2014

So weit sind wir dann doch noch nicht. Noch nicht. Wir haben wenigstens noch Arbeitszeiten in Arbeitsverträgen des Niedriglohnsektors stehen. In Großbritannien diskutiert man mal wieder über so genannte »Null-Stunden-Arbeitsverträge«. Dabei handelt es sich um moderne Tagelöhner-Kontrakte, die keine Mindeststundenzahl und damit kein festes Einkommen garantieren. Schon vor einem Jahr versprach der britische Wirtschaftsminister diesbezüglich Nachbesserungen. Dabei handelte es sich aber um Placebos, wie sie für die neoliberale Wirtschaftspolitik typisch sind.

Er hatte nämlich angekündigt, dass die »Exklusivitäts-Klauseln« untersagt würden. Das heißt, dass Arbeitgeber von »Null-Stunden-Angestellten« nicht mehr verlangen dürften, dass diese in Zeiten ohne Arbeitseinsatz keinen anderen Job annehmen, um immer flexibel verfügbar zu sein. An der Existenz solcher Arbeitsgelegenheiten wird allerdings gar nicht gerüttelt. Das ist das »liberale« Element des Neoliberalismus. Der sagt, dass das, was am Markt vorkommt, schon irgendwie vernünftig sein wird. Sonst gäbe es das ja nicht auf dem Markt. Wenn also Arbeitgeber und Arbeitnehmer solche Verträge »aushandeln«, dann wird es einen triftigen Grund dafür geben. Verbieten kann man das nicht. Man kann zwar in Sonntagsreden durchschimmern lassen, dass man das ungehörig findet, aber ansonsten muss man »liberal« sein und es zulassen.

Das erinnert fatal an Anatole Frances' berühmten Ausspruch, dass das Gesetz auf erhabene Weise alle gleich mache, denn »es verbietet allen Menschen unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen - den Armen ebenso wie den Reichen«. Wenn es also für die Obdachlosen unter der Brücke eng wird, dann kann man Unterkünfte bauen oder aber auf die neoliberale Weise ein Gesetz planen, das pathetisch verkündet: Reiche, hört endlich auf unter Brücken zu pennen! Nehmt denen dort den Platz nicht weg, die ein Anrecht auf ihn haben!

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unter neoliberaler Kuratel kennt das Verbot fadenscheiniger Praxen nicht. Was Geld abwirft, kann nicht einfach unterbunden werden. Dann gibt man biedere Empfehlungen oder liberalisiert das, was eigentlich einen Ordnungsrahmen benötigte, einfach nochmal nach. Natürlich aber nicht so, dass man den Wesenskern verändert. Wenn gemault wird, dass geringfügig Beschäftigte nicht mal krankenversichert seien, erhöht man einfach die Freigrenze von monatlich 400 auf 450 Euro und lässt durchschimmern, dass man damit jetzt einen Spielraum für eigenverantwortliche Absicherung geschaffen habe. Die Diskussionen über die Dispositionskredite, die man aktuell vernimmt, ticken nach derselben Maxime. Der Justizminister will eine Beratungspflicht einführen, in denen Banken über Umschuldungskredite informieren.

Mehr zum Dispo und zur Scheindebatte demnächst an dieser Stelle. Nur so viel noch: Der erste Schritt aus der Schuldenspirale wäre, die horrenden Zinssätze etwaiger Überziehungskredits zu verbieten. Aber so weit traut sich dann keiner. Das wäre ja ein Eingriff in den Markt. Ein Frevel sozusagen. Denn es ist doch so: Wenn es so hohe Zinsen gibt, dann hat sich der Markt was dabei gedacht, dann haben sich dort Kreditgeber und Kreditempfänger auf dieses Zinsniveau »geeinigt« und da kann man nicht grundsätzlich hineinpfuschen. So würde man ja den freien Willen der Marktteilnehmer unterwandern. Und das geht in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nun wirklich nicht.


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Der Alltag und der Kriegsausbruch

Samstag, 10. Mai 2014

Kurz nach dem Aufstehen fragte mich mein Kind, ob es denn jetzt einen Dritten Weltkrieg gäbe.
   »Wer sagt denn sowas?«, fragte ich es.
   »Sagen alle. Überall. Bei Facebook und in der Schule und im Fernsehen.«
   »Ich glaube nicht. Mach dir keine Sorgen«, beruhigte ich sie fast ein wenig so wie jene Mutter, die in Camerons »Titanic« ihren Kindern ein Märchen vorlas, als der Kahn schon so gut wie abgesoffen war.
   »Es ist kompliziert. Aber einen Weltkrieg wird es nicht geben.«
   »Ich finde das schlimm, wenn Leute Streit haben und dann alle reingezogen werden«, sagte es naiv.
   Ach Kind, wie recht du hast, dachte ich mir. Gerade an so Dingen wie Krieg sieht man, wie weitsichtig Kinder und Narren wirklich sind.
   »Jetzt mach dich fertig, du musst zur Schule und ich zur Arbeit.«

Ich zog mich an, schnürte mir die Schuhe, stieg ins Auto und düste zum Job. Schwitzte. Ärgerte mich wie üblich über allerlei. Kam mal wieder zur Einsicht, dass es schwer verdientes Geld ist. Saß meine Stunden ab, fuhr heim und landete nach einem Schiss vor dem Rechner, flößte der Tastatur einen Text zum Wahl-O-Mat ein, wilderte danach in meiner geheimen Schublade mit von mir bis dato nicht veröffentlichen Manuskripten und feilte ein wenig an einem solchen. Vielleicht wird ja doch nochmal was daraus. Mal wieder ein Buch wäre nicht übel. Letztendlich landete ich im Grafikprogramm, um mir ein Bild für den Wahl-O-Mat-Text zu gestalten. Der übliche Trott halt. Tretmühle. Strukturen.

Dazwischen räumte ich die Spülmaschine ein, mischte mir einen Fleischteig für Frikadellen, erledigte zwei Telefonate und stellte fest, dass die Kaffeemaschine entkalkt gehört. Ich schrieb einen Einkaufszettel und wusch Wäsche. Zum Bettwäsche wechseln hatte ich keine Laune. Dann bearbeitete ich eine Antwortmail an einen Fan und ignorierte die Post eines Spinners und schickte meinen Text für den »Heppenheimer Hiob« an die Redaktion. Dann formte ich die Frikadellen und mehlierte sie.

Ich küsste meine Frau als sie heimkam. Machte mir eine Tasse Kaffee. Ob das Entkalken hilft, damit er weniger beschissen schmeckt? Danach Alltag im Hausstand: Besorgst du die Einkäufe am Freitag? Ist der Staubsauger noch immer in der Werkstatt? Wieso wollen diese Arschlöcher die Garantieleistung nicht erfüllen? Gucken wir heute mal wieder eine Folge »Breaking Bad«?

Beim Essen erzählten wir uns den Tag. Mein Kind erzählte von dummen Zicken und blöden Kerlen in der Schule. Im Radio dudelte was von der Ukraine. Keiner hörte richtig hin. Die Lage eskaliere, sagte eine Stimme. Aber mein Kind ist lieber sauer, weil ich es für heute nicht mehr ins Internet lasse. Und ich bin sauer, dass wir es jeden Tag neu ausdiskutieren müssen. Ich frage meine Frau, was die da über die Ukraine gesagt haben. Sie antwortet: »Es gibt wohl Krieg. Machst du die Spülmaschine an?«

Fünf Minuten Zigarette auf dem Laubengang. Die Busse fahren in der Ferne vorbei. Der ewig gleiche Trott der Busfahrer. Der Pizzabote fuhr vor, klingelte bei einem Nachbarn. Ein Paketzusteller fährt viel zu schnell. Der Hausmeister stutzt die Hecke. Der Kerl von Gegenüber guckt schon wieder einen Porno. Ich sah wippende Schenkel und hautfarbene Bereiche auf der Mattscheibe. Dessen Nachbar sitzt auf seinem Balkon und popelt. Ich lasse einen ziehen. Alles ist wie immer.

Ich ging nochmal schnell aufs Klo. »Como come el mulo, caga el culo«, hat mein Vater immer gesagt. Wie der Esel frisst, so kackt er. Mir fiel auf dem Pott ein, dass ich bald mal wieder nach Ingolstadt will. In Gedanken auf die Couch. Noch ein wenig Sudoku ausfüllen. Dann »Breaking Bad«. Im Bett las ich noch etwas. Zwei Bücher parallel, wie ich es seit Jahren tue. Nach vielen Jahren mal wieder »Der Pate« und eine Geschichte des Kommunismus. Ich schlafe ohne Probleme ein. Irgendwo wird gestöhnt - es stört nicht. Ich schlafe durch.

Und ich habe mich immer gewundert, wie Menschen im Angesicht sich ankündigender Weltenbrände einfach so weitermachten wie bisher. Ich stellte mir vor, dass man die Besonderheit der Situation hätte erkennen müssen. Aber keiner kommt aus seiner Tretmühle. Nicht mal, wenn Krieg droht.


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Die konspirative Leichtigkeit des Seins

Freitag, 9. Mai 2014

Warum Verschwörungstheorien gefährlich sind.

Linke haben mich mächtig unter Druck gesetzt, nachdem ich mich vor Wochen noch positiv zu den Montagsdemos geäußert hatte. Also habe ich meine Meinung natürlich geändert. Das haben mir jedenfalls einige Spinner per Mail unterstellt. Was sie nicht wussten: Es war die Federal Reserve, die mich angerufen und mich wieder auf Kurs gebracht hat.

Nein, Quatsch! Mal im Ernst. Und man muss ganz ernstlich sprechen, denn diese Leute glauben einem wirklich alles. An dieser Unterstellung sieht man, welche Dumpfbacken sich da im Umfeld der Friedensdemos tummeln. Alles ist für sie Verschwörung. Dass Menschen zweifeln, überdenken und sich nicht ganz schlüssig sind und später auch ihre Ansicht ändern, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Wer plötzlich revidiert, der muss von fremden Mächten instruiert worden sein. Das Beste kommt ja noch: Ich habe mich zunächst nicht mal positiv zum Personal der Demos geäußert. Man kann im Text nachlesen, dass ich schon damals diese Typen äußerst kritisch betrachtete. Ganz sicher war ich mir nur nicht, ob ich da richtig liege. Später wusste ich es dann besser.

Aber auch das wirft ein gedämmtes Licht auf diese Verschwörungstheoretiker. Wenn sie einen Text nicht richtig verstehen, deuten sie ihn sich einfach so, wie er ihnen am besten gefällt. Besonders helle sind die nicht. Aber halt, man darf diese Leute nicht für ungebildet halten. Womöglich sind sie sogar gut informiert, ziehen aber aus Bequemlichkeit nur die falschen Schlüsse.

Die Welt ist kompliziert. Verworren. Ich nehme an, dass ich jemand bin, der relativ gut informiert ist. Trotzdem fehlt mir manchmal der Durchblick. Zu viele Fronten. Zu viele Querverbindungen. Zu viele Zufälle. Die Verschwörungstheorie erlaubt es, eine Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Sie macht erklärbar, was unerklärbar ist. Daher will ich nicht behaupten, dass nur Dummköpfe verschwörerischen Theorien zum Opfer fallen können. Je mehr Informationen, desto mehr Durcheinander - und desto attraktiver eine Erklärung, die mit wenigen Worten und Mitteln alles aufdeckt und lüftet.

Die Konspiration, die die Weltenläufte regelt, ist ein moderner Mystizismus. Und es ist wie bei jedem Mystizismus so, wie schon Nietzsche meinte: »Die mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind. Außerdem ist ein solches Weltbild auf Säulen von Verschwörungen nicht einfach nur zum Lachen. Es ist gefährlich, lenkt das Hauptaugenmerk auf falsche Fährten und setzt wirkliche Erkenntnisse gleichberechtigt in eine Reihe mit ungeheuerlichem Quatsch und erschwert somit Aufklärung.

Wer Menschen mit Verschwörungsansätzen ködert, macht sie blind für die Wirklichkeit. Wer ihnen sagt, dass eine Bank plane, die Weltherrschaft an sich zu reißen, verdeckt die Mechanismen des Finanzkapitalismus. Das dem Kapitalismus immanente Wesen des notwendigen endlosen Wachstums wird so plötzlich zur Verschlagenheit einer kleinen Gruppe konspirativer Banker. Damit kommt man der These, das Versagen des Marktes gründe immer auf »bedauernswerte Einzelfälle«, schon ziemlich nahe.

Dasselbe gilt bei dem durchaus richtigen Vorwurf, die Medien würden nicht völlig neutral oder manchmal gar nicht berichten. Das tun sie aber nicht, weil eine unsichtbare Hand die Fäden zieht, nicht weil sich ein Komitee bestehend aus Sendern, Zeitungen, Politikern und Wirtschaftsleuten trifft und Nachrichten abgleicht. Das geschieht aus ökonomischen Kalkül, um Anzeigenkunden nicht zu vergrätzen und manchmal auch nur, weil in den Redaktionen eine bestimmte politische Weltsicht vorherrscht oder weil man Trauzeuge eines Altkanzlers ist. Das mag alles unjournalistisch sein - eine Verschwörung ist es aber nicht. Man erkennt, wie gefährlich Verschwörungsansätze sind, deren Ursprungsthese tatsächlich wahr ist. Halbwahrheiten verkaufen sich immer blendend.

Plötzlich sagen selbst vernunftbegabte Leute: »Die haben doch recht, die Medien sind wirklich mies. Vielleicht ist ja was dran an dieser Theorie.« Das Symptom verleiht der steilen These realitäre Züge. Oder sie sehen zum Beispiel dass es in und um Israel massive Probleme gibt und wittern in den Erklärungen zur zionistischen Verschwörung eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen. Der Verschwörungstheoretiker ist in Zeiten politischer Orientierungslosigkeit ein Problemlöser, der die schnelle Eliminierung von Zweifeln und Durcheinander verspricht. Er ist attraktiv, weil er umgehend Antworten liefert, wo andere noch kompliziert und über Umwege erklären. Er betreibt ein »Simplify your life« ganz besonderer Art. Geheimbünde und geheime Absprachen erleichtern es da ungemein, den Zustand der vollständige Verwirrung zu ordnen.

Man muss es auch mal so sehen ... Moment, es hat eben geklingelt. Komisch, immer wenn ich was über den Unjournalismus schreibe, klingelt es exakt drei Minuten später an der Türe. Ich nehme an, das ist der Ortsverband von »Die Linke«, der von der Federal Reserve« geschmiert wird, um den sozialen Frieden zu garantieren und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Ob Wagenknecht schon mal Urlaub an der Ostküste gemacht hat?


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Zwischen Chomsky und Monroe

Donnerstag, 8. Mai 2014

Die NSA kommt mit ihrer Überwachung durch, verbittet sich Kritik und Untersuchungsausschüsse. Als Linker kann man seiner Wut darüber aber kaum Luft verschaffen. Denn tut man dies zu heftig, wirft man ihm »Anti-Amerikanismus« vor.

Derzeit geistert via YouTube ein Audioclip »über die Drecks-Nordkoreaner« durch das Internet. Der Kabarettist Hagen Rether erklärt darin die Welt: Die Nordkoreaner hätten doch erst neulich die ganze Welt überwacht – und dann berichtigt er sich: »Ach nee, das waren ja die Amerikaner.« Die Nordkoreaner wären für Hiroshima, Vietnam und Drohnentote verantwortlich, fährt er fort. »Nee, das waren auch die Amerikaner«, fällt ihm plötzlich auf. Jetzt aber, Foltergefängnisse und Monsanto, das waren die Nordkoreaner – lange Pause: »Nee, das waren auch die Amerikaner.« Wir sollten die »Achse des Bösen« mal überdenken, will Rether damit sagen. Es ist längst nicht alles so eindeutig, wie man das gemeinhin kategorisiert.

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Zertrümmerte Schädel und Sitzblockaden

Mittwoch, 7. Mai 2014

Wenn ich mich der Polizei in den Weg setze, dann bin ich also genauso gefährlich wie einer, der einem Türken den Schädel zertrümmert. Gehe ich zu einer Versammlung, die in einer bestimmten Form nicht genehmigt ist, bin ich so schlimm wie einer, der einem Schwarzen in den Magen boxt. Zerdeppere ich ein Schaufenster, dann bin ich mit einem, der einem Schwulen die Knochen bricht auf einer Ebene. Sitzblockaden gegen Nazi-Aufmärsche sind so kriminell wie von Neonazigruppen abgestellte Wachen vor Asylbewerberheimen. Das alles sind nur Feststellungen, wie man sie der Statistik »politisch motivierter Straftaten« entnehmen kann.

Doch der Anstieg linker Straftaten ist ein Märchen. Was haben die Kriminalämter eigentlich aus dem Fiasko mit der NSU gelernt? Eine Sensibilisierung blieb jedenfalls aus. Wer Sitzblockaden in dieselbe Statistik packt, in der vor Jahren noch die Morde der NSU verzeichnet waren, der erweist sich nur als notorisch lernunwillig. Er setzt gleich, was nicht gleichzusetzen ist.

Eines sagt die Statistik außerdem auch nicht: Wenn linke Vergehen vor allem kleinere Angelegenheiten wie »Verstösse gegen das Versammlungsgesetz« waren, dann ist deren nicht erfasste Dunkelziffer wohl eher sehr gering. Denn einen solchen Verstoß kann nur die Polizei feststellen. Die muss also dementsprechend anwesend gewesen sein. Wenn rechte Gewalt aber bekanntlich nicht immer erkannt wird, dann finden nur die Gewalttaten Einzug in die Statistik, die man auch dem rechten Spektrum zuordnen kann. Beim Verprügeln eines Ausländers, Schwulen oder Linken ist die Polizei eben nicht immer vor Ort. Anders gesagt: Die »linke Seite der Statistik« dürfte relativ ausführlich und komplett sein, die »rechte Seite« hingegen nur bruchstückhaft. Links steht alles drin, rechts nur das, was man in die Finger bekam.

Insofern ist das Vorhaben des Justizministeriums, künftig bei besonderen Fällen die Motivation dahinter stärker in den Fokus zu rücken, zu begrüßen. Vor einem Jahr habe ich schon beanstandet, dass etwaige Vorfälle nicht mit der notwendigen Rücksicht auf mögliche politisch motivierte Antriebsfedern behandelt würden. Es muss aber sichergestellt werden, dass die »linke Gewalt bevorzugt gegen Sachen« nicht mit »rechter Gewalt vor allem gegen Menschen« zusammengeworfen wird.

Dass man gewaltlosen Protest in dieselbe Statistik packt, in der die NSU-Mordserie stand, als man sie endlich als solche entlarvt hatte, spricht eine deutliche Sprache. Wer Formen des zivilen Ungehorsams in eine Rubrik mit Formen organisierten Gehorsams angriffslustiger Schläger vermengt, der hat nichts dazugelernt. Der relativiert die rechte Gewaltbereitschaft durch gewaltlose Proteste, die man dann »links« subsumiert, während man diverse Gewaltexzesse ohne Motiv unpolitisch belässt. Die Frage ist, ob diese Erhebungsmodifikationen nicht selbst sowas wie »politisch motivierte Straftaten« sind.


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... wenn man trotzdem lacht

Dienstag, 6. Mai 2014

»Karl Marx wurde von der CIA bezahlt.«
»Was?«
»Karl Marx wurde von der CIA bezahlt.«
»Da gab es noch gar keine CIA.«
»Doch.«
»Nein, die wurde erst 1947 gegründet.«
»Die geben das aber selbst zu.«
»Die geben zu, dass sie Karl Marx bezahlt haben?«
»Ja.«
»Wo?«
»Nirgendwo.«
»Ich denke, die geben das zu.«
»Durch Verschweigen. Die sagen dazu einfach nichts. Das kann nur bedeuten: Da ist was Wahres dran.«
»Aber Karl Marx war schon tot, als die CIA gegründet wurde.«
»Die CIA gibt es schon viel länger.«
»Nein, seit 1947.«
»Im Geheimen gab es die schon seit 1815.«
»Seit 1815? Im Geheimen. Warum?«
»Damit das niemand merkt.«
»Wo hast Du das her.«
»Das ist doch logisch. Oder hast Du je davon gehört, dass die CIA vor 1947 öffentlich erwähnt wurde? Nein! Dann muss das ja geheim gewesen sein.«
»Und warum haben sie Marx bezahlt?«
»Damit er uns verwirrt.«
»Warum?«
»Damit er uns verwirrt. Mit seinen Büchern. Damit wir nicht erkennen, wie das wirklich läuft. Deshalb. Ist völlig logo.«
»Wie läuft es denn wirklich.«
»Total einfach.«
»Einfach?«
»Ja. Geld. Zinsen. Zinseszinsen. Hat schon Rothschild gesagt: Wenn die Leute wüssten, wie das mit den Geld funktioniert, wäre morgen Revolution.«
»Das war Henry Ford.«
»Ford wurde von Rothschild bezahlt.«
»Du bist verrückt. Du bist total verrückt.«
»Wenn Du das behauptet ist völlig klar, dass Du von der CIA bezahlt wirst.«

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