Damals war nicht alles falsch und heute ist nicht alles richtig
Mittwoch, 9. Oktober 2013
Ein Aufruf für mehr Ausgewogenheit auch bei widerlichen Themen.
Konservative Medien schossen sich in den letzten Wochen auf die Grünen und teilweise auch auf die „Liberalen“ ein, weil die in den Achtzigern teilweise Sympathie für Pädophile pflegten und deren Strafverfolgung einstellen wollten. Dieser Kuschelkurs war zwar falsch. Die heutige in der Mitte angekommene inquisitorische Gnadenlosigkeit ist es allerdings auch.
Es waren progressive Jahre. Man wollte umbauen und fortentwickeln. Trieb die Versoziologisierung voran; selbst in Nischen, in denen etwas weniger davon angebrachter gewesen wäre. Nicht alles was die Elterngeneration an Vorstellungen und Idealen pflegte, war zwangsläufig generalzuüberholen. Es waren Jahre mit all ihren Verirrungen und Übertreibungen. Mit verkitschter Analyse. Und manches war hierbei naiv philantropisch. Jedes Tabu stand auf dem Prüfstand. Die Gesellschaft sollte entkrustet werden. In diesem Klima formierte sich die Gleichstellung der Geschlechter (inklusive radikaler Irrtümer), emanzipierten sich Schwule und Lesben (inklusive hedonistischer Sackgassen), suchte die westliche Linke nach gangbaren Wegen im kapitalistischen System (inklusive Auflösungserscheinungen) und kämpften alternative Lebens- und Liebesformen um Anerkennung (inklusive libertärer Romantizismen). Es war letztlich eine Phase des trial and error - manchmal auch ganz ohne Versuch.
Doch nicht alles war falsch. Selbst im Falle jenes Theorems von der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht. Auch wenn diese Erkenntnis heute nicht populär ist. Wenn man nämlich die Romantik abschminkt, die in jenen Jahren arg die soziologische Sicht auf gesellschaftliche Phänomene bestimmte, dann bleibt allerlei übrig, was den heutigen Diskurs, der zwischen "lebenslang wegsperren dem Wortsinn nach" und Todesstrafe taumelt, nicht schlecht täte.
Der Pädophile darf eben nicht als Monster angesehen werden, als tickende Kalkül-Bestie. Er ist nicht, um es sich einfacher zu machen, als krank oder gestört zu kategorisieren. Das sind Nischen, die sich die bürgerliche Gesellschaft geschaffen hat, um kategorische Einteilungen zu simplifizieren und gesellschaftliche Prozesse leichter zu umreißen. Die moderne Psychologie ist im Regelfall auch autark genug, sich von solchen Konstrukten nicht beeindrucken zu lassen. Pädophile haben - vereinfacht gesagt - das Problem, dass sie eine sexuelle Vorliebe entwickelt haben, die in die moderne Gesellschaft nicht mehr passt. Das hat auch mit der Lebenserwartung und der weitaus besseren Überlebensquote werdender Mütter zu tun.
Islamophobe Stimmen gehen oft so weit, den Propheten Muhammad einen Kinderficker zu nennen, weil er auch junge Mädchen zur Frau nahm. Das geschieht in der Verkennung damaliger Zustände. Alan Posener schreibt in seinem Büchlein über Maria, dass es im Judentum der Zeitenwende nötig war, wollte man die Bevölkerungszahl konstant halten, dass jede Frau durchschnittlich fünf lebende Kinder zur Welt bringen musste. Hinzu kamen eine Reihe von Fehl- und Totgeburten oder Kindern, die nach wenigen Wochen oder Monaten starben. Die Lebenserwartung lag damals bei etwa 25 Jahren, sodass Mädchen spätestens im Alter zwischen 12 und 14 in die Pflichten des Erwachsenenlebens eingeführt wurden.
Da die Lebenserwartung und die hygienischen Bedingungen sich grundlegend verändert und verbessert haben, ist dieses Modell kaum noch existent. Es ist schlicht nicht mehr notwendig, um die Existenz der Menschheit zu sichern. Insofern sind Personen mit pädophilen Neigungen auch - aber nicht ausschließlich - als Anachronismus anzusehen.
Das entschuldigt natürlich nichts. Darf nicht als Ausrede dienen. Sollte aber als Hintergrund bewusst gemacht werden. Die Stimmen jener progressiven Jahre, in denen der Kuschelkurs mit Pädophilie begründet wurde, haben den freien Willen dieser Menschen geleugnet. Auch wenn sie Vorlieben entwickelt haben, unter denen sie natürlich auch leiden, so muss das "Subjekt unter freien Willen" gewahrt bleiben. Und der unterstellte freie Wille eines Kindes, wie man das in jenen Kreisen damals zwischen den Zeilen las, ist grundlegend in Zweifel zu ziehen. Kindern kann man allerlei gegen ihren Willen einreden.
Was man aber aus jenen Jahren lernen kann, dass ist die etwas entspanntere Haltung zur Problematik. Das klingt natürlich arrogant für jemanden, der Erfahrungen mit dem sexuellen Gebrauch eines Kindes gemacht hat. Dazu gehört Distanz. Aber Pädophile als problembeladene Menschen zu sehen, als Personen mit einer sexuellen Neigung, die nicht mehr tragbar ist, dieses Problem aber nicht in Bausch und Bogen in Moral zu tunken, sondern offen damit umgehen, dabei aber auch immer Grenzen aufzeigen: Das wäre ein Auftrag an diese Gesellschaft, in deren bürgerliche Mitte sich eine Lynchstimmung gegen Menschen etabliert hat, die in dieser Weise schon mal auffällig wurden. Diese radikale Gesinnung gipfelte in der Forderung eines berühmten Schauspielers, wonach Sexualstraftäter keine Menschenrechte mehr haben sollten. Und die Gattin des ehemaligen Verteidigungsministers rief zur Straftat auf und glaubte damit ihren Teil zur "Jagd auf Perverse" zu leisten.
Die Abgeklärtheit des Pädophilieverständnisses der frühen Achtzigerjahre und der heutige Anspruch, sie - die Pädophilie - nicht durchgehen zu lassen: Würden sich beide Haltungen vereinen, könnte man mehr zur Prävention und Aufklärung leisten, als es diese beiden extremistischen Sichtweisen je für sich könnten. Es war damals eben nicht alles falsch und es ist heute eben nicht alles richtig.
Doch nicht alles war falsch. Selbst im Falle jenes Theorems von der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nicht. Auch wenn diese Erkenntnis heute nicht populär ist. Wenn man nämlich die Romantik abschminkt, die in jenen Jahren arg die soziologische Sicht auf gesellschaftliche Phänomene bestimmte, dann bleibt allerlei übrig, was den heutigen Diskurs, der zwischen "lebenslang wegsperren dem Wortsinn nach" und Todesstrafe taumelt, nicht schlecht täte.
Der Pädophile darf eben nicht als Monster angesehen werden, als tickende Kalkül-Bestie. Er ist nicht, um es sich einfacher zu machen, als krank oder gestört zu kategorisieren. Das sind Nischen, die sich die bürgerliche Gesellschaft geschaffen hat, um kategorische Einteilungen zu simplifizieren und gesellschaftliche Prozesse leichter zu umreißen. Die moderne Psychologie ist im Regelfall auch autark genug, sich von solchen Konstrukten nicht beeindrucken zu lassen. Pädophile haben - vereinfacht gesagt - das Problem, dass sie eine sexuelle Vorliebe entwickelt haben, die in die moderne Gesellschaft nicht mehr passt. Das hat auch mit der Lebenserwartung und der weitaus besseren Überlebensquote werdender Mütter zu tun.
Islamophobe Stimmen gehen oft so weit, den Propheten Muhammad einen Kinderficker zu nennen, weil er auch junge Mädchen zur Frau nahm. Das geschieht in der Verkennung damaliger Zustände. Alan Posener schreibt in seinem Büchlein über Maria, dass es im Judentum der Zeitenwende nötig war, wollte man die Bevölkerungszahl konstant halten, dass jede Frau durchschnittlich fünf lebende Kinder zur Welt bringen musste. Hinzu kamen eine Reihe von Fehl- und Totgeburten oder Kindern, die nach wenigen Wochen oder Monaten starben. Die Lebenserwartung lag damals bei etwa 25 Jahren, sodass Mädchen spätestens im Alter zwischen 12 und 14 in die Pflichten des Erwachsenenlebens eingeführt wurden.
Da die Lebenserwartung und die hygienischen Bedingungen sich grundlegend verändert und verbessert haben, ist dieses Modell kaum noch existent. Es ist schlicht nicht mehr notwendig, um die Existenz der Menschheit zu sichern. Insofern sind Personen mit pädophilen Neigungen auch - aber nicht ausschließlich - als Anachronismus anzusehen.
Das entschuldigt natürlich nichts. Darf nicht als Ausrede dienen. Sollte aber als Hintergrund bewusst gemacht werden. Die Stimmen jener progressiven Jahre, in denen der Kuschelkurs mit Pädophilie begründet wurde, haben den freien Willen dieser Menschen geleugnet. Auch wenn sie Vorlieben entwickelt haben, unter denen sie natürlich auch leiden, so muss das "Subjekt unter freien Willen" gewahrt bleiben. Und der unterstellte freie Wille eines Kindes, wie man das in jenen Kreisen damals zwischen den Zeilen las, ist grundlegend in Zweifel zu ziehen. Kindern kann man allerlei gegen ihren Willen einreden.
Was man aber aus jenen Jahren lernen kann, dass ist die etwas entspanntere Haltung zur Problematik. Das klingt natürlich arrogant für jemanden, der Erfahrungen mit dem sexuellen Gebrauch eines Kindes gemacht hat. Dazu gehört Distanz. Aber Pädophile als problembeladene Menschen zu sehen, als Personen mit einer sexuellen Neigung, die nicht mehr tragbar ist, dieses Problem aber nicht in Bausch und Bogen in Moral zu tunken, sondern offen damit umgehen, dabei aber auch immer Grenzen aufzeigen: Das wäre ein Auftrag an diese Gesellschaft, in deren bürgerliche Mitte sich eine Lynchstimmung gegen Menschen etabliert hat, die in dieser Weise schon mal auffällig wurden. Diese radikale Gesinnung gipfelte in der Forderung eines berühmten Schauspielers, wonach Sexualstraftäter keine Menschenrechte mehr haben sollten. Und die Gattin des ehemaligen Verteidigungsministers rief zur Straftat auf und glaubte damit ihren Teil zur "Jagd auf Perverse" zu leisten.
Die Abgeklärtheit des Pädophilieverständnisses der frühen Achtzigerjahre und der heutige Anspruch, sie - die Pädophilie - nicht durchgehen zu lassen: Würden sich beide Haltungen vereinen, könnte man mehr zur Prävention und Aufklärung leisten, als es diese beiden extremistischen Sichtweisen je für sich könnten. Es war damals eben nicht alles falsch und es ist heute eben nicht alles richtig.
9 Kommentare:
Moralinfreie Diskussionen zu komplexen und dabei noch hoch emotionalen Themen zu führen, scheint mir in der heutigen Zeit, in der wir nicht mehr nachdenken, sondern nur noch schnell entscheiden sollen, immer schwieriger zu werden. Dies noch anhand des Themas Pädophilie zu tun und derart konstruktiv auf den Kern zu kommen, nämlich sich die Zeit zum gründlichen Anschauen eines Themas und zum Nachdenken anzuregen, hätte ich kaum noch für möglich gehalten.
Dieser Artikel, lieber Roberto, ist daher für mich ein ganz großer Lichtblick!
Vielen Dank dafür!
Beste Grüße
Günther
Ist eigentlich an allen Beteiligten vorbeigegangen, worum es in diesem Gesetz damals eigentlich ging? Hintergrund waren doch überhaupt nicht die sexuellen Neigungen Erwachsener. Soweit ich weiß, wollte man den Sex zwischen 18- und 15-jährigen entkriminalisieren, was nicht gelungen ist und noch heute ein Problem darstellt.
Immerhin ist Sex zwischen zwei so jungen Menschen etwas anderes als zwischen einem 15- und einem 35-jährigen Menschen.
Von diesem Zusammenhang ist allerdings nirgends, nicht mal auf den kritischen Seiten, zu lesen.
Trotzdem Lob für den Mut, sich dem Thema auch mal von einer anderen Seite zu widmen. Auch wenn ich finde, dass sexuelle Themen derzeit in allen Medien überrepräsentiert sind.
Günter 89: Nein. Für mich ist es kein Lichtblick, sondern ein Blick in die Abgründe falscher Toleranzen und eines vorgeschobenen Verständnisses zu Lasten der Opfer. Hier wird mit dem Moralvorwurf relativiert, Emotionalität auf Seiten der mit den Opfern Solidarischen unterstellt und auch noch mit exkulpatorischer Absicht ein historisch verharmlosnder Kontext geliefert.
Herr Lapuente verwechselt in klassisch männlicher Art Sexualität und Gewalt. Pädophilen geht es nicht um Sexualität, sondern um Herrschaft gegenüber statusniedrigeren Subjekten, die zum Objekt ihrer Begierden umfunktioniert werden. Die Attraktivität von Kindern für Pädophile besteht ja gerade in der noch unterentwickelten geistigen, sozialen und körperlichen Reife. Eine "Einvernehmlichkeit" kann es daher gar nicht geben.
Grusslos von einem Opfer
Jeder Kulturkreis entwickelt sich permanent über Irrungen und Wirrungen.
Dies trifft selbstredend auch auf seine Tabus und deren Sanktionierungen zu.
@anonym 08:06
"Eine "Einvernehmlichkeit" kann es daher gar nicht geben."
Das wird doch gar nicht bestritten. Der Autor schreibt doch selber:
"Und der unterstellte freie Wille eines Kindes, wie man das in jenen Kreisen damals zwischen den Zeilen las, ist grundlegend in Zweifel zu ziehen. Kindern kann man allerlei gegen ihren Willen einreden."
Was das Thema Lebenserwartung in der Vergangenheit betrifft - hier sollte man berücksichtigen, dass darin auch die Kindersterblichkeit mit einfließt, die in der Vergangenheit oft viel höher war. Eine statistische Lebenserwartung von 25 Jahren (Quelle?) bedeutet aber nicht, dass niemand älter als 25 wurde.
Es ging damals darum, die Verhältnisse an neue ideologische ("freiheitlichere") Anschauungen anzupassen, und zwar häufig orientiert an einer krassen Gegenposition zu einer als "Altlast" empfundenen bisherigen Handhabung.
Beispiel antiautoritäre Bewegung: da wurde im Nachklang des Dritten Reiches die Erziehungstheorie ebenso radikal in eine ideologische Richtung ausgerichtet, wie es vorher Nazis und Kaiserzeit (mit umgekehrten Vorzeichen) getan hatten.
Zu diesen hysterischen Forderungen nach lebenslanger Haft, Kastration und sogar Todesstrafe kann ich aus meiner Erfahrung sagen: Diejenigen die sic über Kindesmissbrauch, Homosexualität oder andere, nicht Gesellschaftsgerechte Neigungen am meisten und am lautesten aufregen sind Leute die genau diese Neigungen bei sich selber wahrgenommen haben und meinen, sie auf diese Art und Weise zumindest verbergen zu können.
Zur Lebenserwartung allgemein: Ich habe mal gelesen das die mittlere Lebenserwartung dadurch bestimmt wird das das Alter wenn von einem Geburtsjahrgang noch 50% am Leben sind als mittlere Lebenserwartung bezeichnet wird.
MfG. M.B.
ANMERKER MEINT:
Ein insgesamt gelungener Artikel, Roberto. Allerdings ist die Passage mit der Pädophilie und dem Anachronismus zumindest unklar. Denn Anachronismus heißt eigentlich "nicht in die Zeit gehörend", "nicht zeitgemäß". So lässt sich aber das Phänomen Pädophilie nicht abtun. Denn es ist ja gerade eine nicht an eine Zeit gebundene Neigung, seelische Bedingtheit mit der der jeweilige Mensch lernen muss, umzugehen. Dafür bedarf es dringend der Hilfe, wie Du mit Recht betonst. Aber leider neigt unsere Gesellschaft derzeit mainstreammäßig eher "zur ...abmethode". Dass Du dagegen anschreibst, finde ich toll.
MEINT ANMERKER
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