Kein unantastbares Vorbild

Samstag, 27. Februar 2010

oder: die Vermessenheit der Margot Käßmann.

Derjenige, der sich mit Moral, mit Ethik, mit Sittlichkeit befasst: er weiß von dieser eigenen Schwäche, den persönlichen Ansprüchen nicht ausreichend gerecht zu werden. Er ist darüber in Kenntnis gesetzt, selbst verfehlen zu können, eben deshalb, weil er Mensch ist, weil ihm deswegen nichts Menschliches fremd sein kann - um es mit der berühmten Sentenz des jüngeren Seneca zu sagen. Kein noch so ausgefeilter ethischer Kanon, kein moralisches Lehrbuch, kein sittlicher Ratgeber können den Fehltritt vereiteln - selbst derjenige, der täglich das moralische Flickzeug anwendet, Ethik philosophiert, von Kanzeln predigt, selbst wer also ausgewiesene Kapazität in Fragen der Moralität ist, ist vor Missetat und Fehler nicht gefeit. Der Schritt zum Fehltritt, er ist für jedermann ein ausgesprochen kleiner.

Tritt ein solcher Mensch, nennen wir ihn Moralisten, von seiner Bühne ab, nachdem ihm ein Fauxpas unterlaufen ist, so unterstreicht das nicht seine moralische Integrität, seine Autorität auf dem Gebiet der Moral - es hebt einen Anspruch hervor, der nicht übertrieben als Anmaßung, als Vermessenheit, als Arroganz gedeutet werden könnte. Denn der Moralist, er sollte sein Ideal nicht von sakrosankter Kanzel herabflehen, sich nicht unberührbar, unantastbar wähnen. Die eigene Unzulänglichkeit, der eigene Mangel sollten ihn stets aufs Podest begleiten. Er sollte nicht herabschauen auf seine Gemeinde, nicht den Zeigefinger erheben und Ihr Sünder! schreien - er ist dazu verpflichtet, für alle Menschen zu sprechen, sich eingeschlossen: Wir Sünder! Der Moralist ist kein unantastbares Vorbild, kein lustwandelnder Wertemaßstab. Er ist vielmehr deswegen Moralist, weil er von der Notwendigkeit moralischer Imperative, weil er von der schnellen, leichtsinnigen, unbedachten Übertretung weiß. Weil er erkannt hat, dass die Sünde, die Rücksichtslosigkeit, die Ignoranz, die Beleidigung etc., jede für sich so unvermeidbar ist, wie Speis und Trank, wie Darmentleerung.

Jener aber der herabschaut, der sich für unantastbar hält, für moralisch erhaben, der ist Klugscheißer, Besserwisser, Wichtigtuer - alles mögliche, nur kein Moralist. Tritt der Freund moralischer Lehren von Ämtern zurück, weil er gesündigt hat, so kehrt er hervor, dass er sich eigentlich für erlaucht genug hielt, niemals in so eine Bredouille zu geraten. Im Grunde warf er a priori, vor der Sünde, den ersten Stein, weil er glaubte, ohne Sünde sein zu können. Ein Stein, von dem er annimmt, er käme gleich einem Bumerang zurückgeflogen, wenn er voreilig und zu Unrecht geworfen wurde. Das Metier scheint verfehlt, wenn der moralistische Sünder flüchtet, sich nicht vor die Menge stellt und festhält, dass er als Mensch verfehlt hat - verfehlt hat, wie jeder Mensch irgendwann irrt, sündigt, fehlgeht. Gerade jetzt, da der Fehler ins Leben trat, hat er über Ethik zu sprechen, hat sich selbst anzuklagen, um glaubhaft zu bleiben, als Mensch unter Menschen zu gelten, nicht als abgehobener Prediger ohne Fundament, weil ihm die Sünde stets als Gebrechen der anderen galt. Jetzt, nach der Verfehlung, ist der Moralist erst wirkliche Koryphäe der Moralität geworden, eine empirische Autorität, jemand, der weiß, wovor er warnt.

Ein Rücktritt wirkt arrogant, wirkt wie eine Flucht, eines gestürzten Moralgottes. Es ist ein Bekenntnis, den eigenen Fehler als unbehebbares Manko einzustufen - als etwas, was nie wieder wettzumachen ist; als etwas, was nie hätte passieren dürfen. Dabei weiß der Moralist, dass jeder einmal in die Falle tappt. Selbst ertappt worden zu sein, darf nicht als Antrieb zum Rückzug herhalten, sondern hat die Bestätigung seiner Morallehre, seines predigenden Geschäfts zu sein. Tritt man in solchen Augenblicken ab, ist das freilich menschlich begreiflich, da die enttäuschte Erwartungshaltung der Betrachter Druck erzeugt. Doch letztlich ist es ein übereilter, ja logisch durchdacht, ein anmaßender Schritt. Der Rücktritt bestätigt eben nicht, dass man als moralische Größe versagt hat, nicht mehr glaubhaft wäre, integere Größe an den Tag legt - er legt nur dar, dass man sich selbst außerhalb des Sündhaften glaubte. Derweil wäre Aufgabe des Moralisten, jeden, auch sich selbst, darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Fehler bereut und fast jeder Fehler auf die eine oder anderen Weise revidiert werden kann. Das gilt auch für den Moralisten selbst - für den Moralisten, der in der sündigen Masse weilt, nicht darüber schwebt.

Zu seinen Schwächen zu stehen, sie zum Alltag menschlicher Existenz zu erklären, sie nicht zu verdammen, auszugrenzen, zu verleugnen - das ist Moral, das ist menschliche Ethik; das ist berechtigte und notwendige Moral; das ist die schlummernde Zukunft der anmaßenden Spezies Mensch, wenn sie überleben möchte - wenn sie ihn lebenswerten Zuständen überleben möchte. Zu oft schließt diese Gesellschaft Schwächen und Schwache aus - es braucht ein Bekenntnis zur Schwäche, zur Unzulänglichkeit, zum Gebrechen, auch zur Vergänglichkeit. Was die Menschheit mehr denn je benötigt, ist ein Credo auf Nicht-funktionieren, Nicht-perfekt-sein, Nicht-wissen. Ein zurechtstutzendes Credo, das das unrealistische und überhobene Menschenbild, wie es uns heute begegnet, mit all seinen gottgleichen und götzenhaften Facetten, mit seiner Arroganz, das Universum lenken, darin schalten und walten zu können, wie es beliebt - ein Credo, das solche Auswüchse abwürgt, das Begrenztheit, Fehlerhaftigkeit blanklegt. Ein mutiges Credo, das nicht die Perfektion liebkost und mit Stärken und Starken Händchen hält, sondern im Mangel und im Makel, das wahre Wesen des Menschen erahnt, in der Nacktheit unserer Spezies, in der Anfälligkeit, sich auch mal irren, Fehler machen zu können. Ein unerschütterliches Credo zur Verständnis, zum Einfühlungsvermögen, zur Bereitschaft, die Fehlerhaftigkeit des Nächsten nicht zu schelten und zu bestrafen, sondern sie zu akzeptieren und sie als menschliche Eigenart zu erkennen.

Die kürzlich zurückgetretene Bischöfin, sie hat damit deutlich gemacht, dass auch sie die Schwäche, die Unzulänglichkeit als verdammungswürdigen Frevel am herrschenden Menschenbild betrachtet. Wäre sie zu sich und ihrem Fehler gestanden, hätte sie erklärt, dass sie als Mensch, als Frau, als Moralistin ebenso fehlerhaft ist, wie jeder einzelne Mensch auf Erden - sie wäre unantastbares Vorbild gewesen. Sie hat ihre Vorbildrolle aufgegeben, da sie offensichtlich meinte, unberührbares - weil von Fehlern erlöstes - Vorbild sein zu müssen, das nur in hoher Position verharren sollte, wenn es makellos bleibt. Es wirkt fast arrogant anzunehmen, als Vorbild müsse man unfehlbar, dem menschlichen Makel abhold sein. Fehler zu bejahen, sie zur Kenntnis zu nehmen, sie zu bereuen, sie wiedergutmachen: das ist des Vorbilds Unantastbarkeit. Alles andere ist unerschwinglich, ist der Anspruch Heiliger sein zu wollen; einem idealisierten Bild von Heiligen zu entsprechen, einem Idealbild, einem Wunschbild, dem wirklich Heiliggesprochene sicherlich nie entsprachen - denn auch sie waren nur Menschen und hätten seinerzeit, sofern möglich, alkoholisiert einen Wagen gesteuert...

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Nomen non est omen

Freitag, 26. Februar 2010

Heute: "Gefährliches Halbwissen"

Als gefährliches Halbwissen wird Wissen bezeichnet, dass nicht ausreichend oder lückenhaft vorhanden ist und letztlich zu einem fehlerhaften Urteil oder einer vermeintlich falschen Entscheidung führen kann. Der Begriff ist negativ aufgeladen und wird in der Regel gegenüber Personen abwertend verwendet. Der Terminus suggeriert außerdem, dass eine bestimmte subjektive Sichtweise zu einer fehlerhaften Einschätzung führt. Vielmehr wird ausgesagt, dass ein vermeintlich lückenhaftes Wissen zu einer Einschätzung führt, die nicht ernst genommen werden muss. Genauer: die fehlerhaft oder falsch ist und womöglich zu schlimmen Konsequenzen führt. Halbwissen kann hierbei zu Experten-Hörigkeit führen, zum unerschütterlichen Glauben an Zahlen sowie zum Quiz- und Rezeptwissen.

Halbwissen kann hierbei folgendermaßen differenziert werden:
  • Situationen können eingeordnet/eingeschätzt werden, es mangelt jedoch an der Durchführungskraft und der Anwendung des Wissens
  • Sachverhalte werden auswendig gelernt, ohne wirkliche Hintergrundinformationen zu besitzen
  • Situationen könnnen eingeschätzt werden, ohne jedoch zu wissen, wie man an einer Verbesserung/Problemlösung arbeiten kann
  • Sachverhalte werden nicht wirklich verstanden oder hinterfragt, auffällige Beispiele oder Erzählungen dienen als Aufhänger
Dabei ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist, jemals "ganzes Wissen" statt "Halbwissen" zu erreichen? Können wir überhaupt eine Sache völlständig in seiner Gänze erfassen? Sokrates Ausspruch "Ich weiß, dass ich nichts weiß" verdeutlicht, dass wir ständig Halbwissen unterliegen. Die Frage ist also vielmehr, wozu wird das vorhandene Wissen verwendet? Wie wird mit dem Wissen gearbeitet? Folgen Konsequenzen oder Bewertungen, die unbequem oder nicht erwünscht sind, kann die Formel "Du besitzt gefährliches Halbwissen" als rhetorisches Werkzeug benutzt werden, um Aussagen zu diskreditieren. "Halbwissen" kann indes nicht gefährlicher sein als "Vollwissen". Schließlich haben Wissenschaftsexperten die Atombombe gebaut und keine Amateure.

Letztlich ist auch Wissen immer der Subjektivität unterworfen und kann damit getrost als relatives Wissen bezeichnet werden.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Die Ihnen ans Beffchen wollen...

Donnerstag, 25. Februar 2010

Tja, Frau Käßmann, da haben Sie sich aber einen Schnitzer erlaubt. Angetrunken mit dem Auto zu fahren - das hätte Ihnen in Ihrer Position nie passieren dürfen. Verstehen Sie mich richtig, halbblaue Autotouren hatten schon viele auf ihrem Kerbholz: Fußballer ebenso wie Politiker. Man erwischte sie, erleichterte sie um die Fahrlizenz, weihte ihnen einige Lettern in Tageszeitungen - das übliche Procedere einer sensationsgierigen Gesellschaft eben. Was Sie vor diesen Fahrsündern unterscheidet ist... falsch, nicht, dass Sie als Geistliche nicht sündigen dürften, ganz im Gegenteil: denn wer sich wider die Sünde stellt, der sollte wissen, was Sünde ist - der sollte dann und wann selbst mal gesündigt haben. Das macht Sie menschlich, Frau Käßmann, unterstreicht, dass Ihnen nichts Menschliches fremd ist.

Nein, was Sie von den gewöhnlichen Alkoholsündern scheidet, ist Ihre jüngste Vorgeschichte. Erwischt man heute einen Stürmer oder Mittelfeldspieler eines Bundesligavereins sturzbetrunken in seiner Luxusdroschke, spult man das übliche Standardprogramm des attraktionsgeilen Boulevards herunter. Nur Rücktrittsforderungen, moralische Frömmelei und dergleichen, das müßte er nicht über sich ergehen lassen. Und wissen Sie warum? Na, kommen Sie drauf? - Weil er nicht Wochen zuvor von der Kanzel herabblickte, um einen Krieg zu verurteilen, an dem die Mehrzahl unserer Eliten mit Leidenschaft haften. Ein großer, alles erklärender Unterschied!

Jenen, die Ihnen nun ans Beffchen wollen, ist es doch vollkommen gleichgültig, ob Sie die Promillegrenze überschritten hatten oder nicht. Pah, das kann doch jedem passieren! Sollte nicht - aber kann! Was einem aber nicht passieren darf, wovor man heute gefeit sein muß, dass ist die Konfrontation mit den Mächtigen dieser Gesellschaft. Und genau denen und ihren Handlangern haben Sie eine Strafpredigt erteilt, haben überdies noch nachgelegt, als Sie erklärten, dass weniger Appeasement vor 1939 den Krieg hätte verhindern können - welch famoser Frevel an der Unabänderlichkeit der Historie, am Dogma deutscher Geschichtsdeutung! Dabei sollten Sie es besser wissen: Man darf alles predigen, nur nichts, was der Wahrheit nahe kommen könnte. Hätten Sie von Gottes weiten Auen oder vom Paradiese gepredigt, davon, dass der Untertan seinen Dienst auf Erden brav und stumm zu verrichten hätte, damit er zur Belohnung einst einzieht in das Reich Gottes - und wären sie hinterher beschwipst kutschiert: Sie wären nur eine kleine Schlagzeile wert gewesen - wenn überhaupt!

Aber als Querulantin, als jemand, der den Frieden in den Wirren des Krieges nicht zu erspähen vermag, der sich in den theologischen Tabernakel sperrt, ohne die Sachzwänge dieser Welt einzukalkulieren, als so jemand, dürfen Sie sich keine Milde ausrechnen. Das war Ihr Fehler, Ihr Schnitzer, Frau Käßmann. Nicht der feuchtfröhliche Abend - wer hat solche Abende nicht gerne? In Ihrer Position erlaubt man sich partout keine Fehler. Damit sei nicht Ihre Position als Bischöfin oder Ratsvorsitzende gemeint, sondern jene als Kritkerin, als Friedliebende. Sie hätten besser auf sich aufpassen müssen, denn nun haben Sie den Kriegsherrn und den Speichelleckern der Kriegsindustrie Futter geliefert; ganze Ballen Stroh, für die Strohmänner der industrialisierten Kriegskunst. Womöglich müssen Sie Ihrem Irrglauben abschwören, öffentlich erklären, kurzzeitig der Ketzerei anheimgefallen zu sein. Wenn Sie dem Frieden abschwören, stattdessen kundtun, dass auch im Krieg der Same der Friedfertigkeit liegt, dass auch ein zerfetzter Schädel eine Friedensbotschaft, in Bergen von Leichen die Pax Dei zuhause sein kann, dann könnten Sie schneller rehabilitiert sein als gedacht.

Gläubig sollte man ja sein, wenn man Dienerin eines transzendenten Herrn sein darf - aber gutgläubig keinesfalls! Und genau diese Gutgläubigkeit wird Ihnen zum Verhängnis. Frau Käßmann, mal ernsthaft, haben Sie wahrhaft gemeint, dem militarisierten und militanten Zeitgeist so an den Marschstiefel pinkeln zu können, ohne dass man Sie zur Rechenschaft zieht? Ohne dass man Sie observiert, kontrolliert, ausspioniert, jeden Ihrer Schritte überwacht? Und falls Sie dann einen Schritt zu weit gegangen oder eben gefahren wären - und leider ja auch sind: Haben Sie nicht geahnt, dass man sich auf Sie stürzen, Sie zermatschen würde, dass Sie zur Kost eines tollgewordenen Rudels Schabrackenhyänen würden?

Für diese kriegerische Bagage sind Sie eine Feindin. Sie sind gefährlich, weil Sie von der Kanzel etwas verkündet haben, das den Interessen der Mächtigen entgegensteht. In anderen, auch vergangenen Regimes, hätte man Sie dafür eingesperrt. Staatsschädigendes Verhalten hat man Ihnen ja auch zwischen den Zeilen vorgeworfen - für viele Staatswesen Grund genug, eine Zelle zu reservieren. Hier klappt das (noch) nicht, Frau Käßmann, hier sperrt man (noch) nur in der Phantasie ein. Ich möchte wetten, mancher, der sich ob Ihrer Predigt angefeindet sah, hatte Sie schon in gestreifter Kutte von seinem geistigen Auge schwirren. Hierzulande sperrt man (noch) nicht ein - hierzulande reicht es (noch - oder schon?), wenn man solange auf Fehltritte oder Affären eines unliebsamen Charakters wartet, bis sich die Zelle in ein gigantisches Freigängergehege aufgelöst hat. Bis die Kabine als Option fallengelassen werden kann, weil die erschlagende und verhetzende öffentliche Berichterstattung zu einer Spielart von offenen Vollzug wurde.

Ich will Ihnen keine Angst machen, zumal Sie sicherlich Halt und Unterstützung im Umfeld Ihrer Kirche finden werden - wenigstens ein bißchen. Für die öffentliche Berichterstattung im Namen einer angeblich freien Presse, sind Sie aber mehr als ein gefundenes Fressen für einen lauen und öden journalistischen Arbeitstag - man kann einmal mehr ein Exempel an einer Person statuieren, die dem Zeitgeist nicht völlig erlegen ist, die sich einige veraltete Aspekte wie Menschlichkeit und Rücksichtnahme bewahrt hat, die immer noch in der sozialverkitschten Vergangenheit weilt, die die sozialen Härten, die zur Notwendigkeit theoretisiert wurden, nicht stillschweigend hinnehmen will. Und man kann sich ebenfalls dafür rächen, dass nicht nochmals ein theologischer Managertyp im Stile Ihres Vorgängers Huber, statt Ihrer Person den Ratsvorsitz der EKD erhielt - jemand also, der Ökonomie und Kirche zusammenbrachte, wie vermutlich nur Ahnengalerien von Renaissance-Päpsten zuvor.

Sie haben damals für Frieden gepredigt. Das war kein gelungener Einstand in diesen kriegerischen Tagen - ich befürchte, das versaut Ihnen Ihre ganze restliche Amtszeit. Aber trösten Sie sich: eine versaute Amtszeit, nur weil man Frieden und eine Abkehr von Kriegspolitik forderte, ist eine gelungene Amtszeit. Vor Ihnen hatte jemand ein gelungenes Pontifikat, aber genug Protestanten aus meinem Umfeld waren der Ansicht, dass diese erfolgreiche Zeit eine verlorene, rückwärtsgewandte, versaute Zeitspanne war, vorallem eine, die sich von den wahren christlichen Motiven abwandte, die sich immer stärker von den Armen und Alleingelassenen distanzierte, letztlich zum Unternehmen umgebaut, sich also Selbstzweck wurde. Solange man Ihnen aber nachsagt, Sie seien ein zu suspekter Kopf für die Spitze der evangelischen Kirche, solange machen Sie es richtig. Wehe dem, der sich mit den Häschern arrangiert.

Tja, so kann es gehen, Frau Käßmann. Gerade als ich Ihnen diese anspruchslosen Zeilen darbrachte, wird von Ihrem Rücktritt berichtet. All meine Mühen umsonst! Ihr versauter Einstand geschenkt! Nun ist der Raum frei für eine neue Variante des Huber, so ein Gschaftl-Huber mit betriebswirtschaftlicher Gesinnung, der selbst die Seelsorge auf Kosten und Nutzen prüfen würde, wenn man ihm nur mehr tyrannische Freiheit ließe. Wer weiß, welcher Militärpfarrer schon Spalier steht für Ihren Posten. Diese Gesellschaft mit ihrem kriegerischen Sendungsbewußtsein benötigt Feldgeistliche, Prediger friedbringender Schlachtfeste - was will sie mit Kriegsgegnern anfangen? Dieser Rücktritt: es war Ihr zweite Schnitzer innerhalb einiger Tage...

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Weltanschauliche Unterhaltung

Mittwoch, 24. Februar 2010

Bertelsmann sorgt sich um die politische Unbildung in Deutschland. Und weil Bildung heute Spaß machen, unterhaltend sein muß, baut man den Lernfaktor in abendliche Fernsehfilme. Politisch aufgeladen war schon manches Projekt, doch derart unwirsch und schemenhaft dürfte etwaiges Lehrmaterial noch nie mit politischer Botschaft ausgestattet worden sein. Premiere für den wohl plumpesten und durchsichtigsten TV-Film des Jahres.

Der Inhalt ist leicht skizziert. Deutschland ist zwischen Rechten und Linken zerrissen - beide Seiten wollen Mecklenburg-Vorpommern in die Unabhängigkeit führen, um ihre jeweiligen Vorstellungen dort zu verwirklichen. Zwischendrin harrt die bürgerliche Mitte, ausstaffiert mit dem Verfassungsschutz, ausgerüstet mit bürgerlichem Maßhalten, mit Vernunft und demokratischem Esprit. Eine Mitte ohne Makel, vermutlich eine Mitte, die Westerwelles, Sarrazins und Kauders nicht kennt; der Idealfall von gesellschaftlicher Mitte schlechthin.

Während die fiktive Partei der Rechten einen lachhaften Namen trägt (DNS), der eher an Erbanlagen als an zufällige Ähnlichkeiten mit realen Parteien denken läßt, wirkt der Name der anderen Seite (Neue Linke) vertraut und erschwert es sehr, nicht an Zufälligkeiten mit wirklichen Organisationen glauben zu wollen. Liest man dann noch, welche Absichten beide Seiten hegen, dann ist kaum noch zu unterscheiden, wer von rechts, wer von links kommt. Die DNS ist so sozialistisch, wie die Neue Linke national ist.

Natürlich, es handelt sich nur um einen Film. Aber schleierhaft ist schon, warum gerade die linke Ausgeburt namentlich so unbeholfen an jene Linkspartei erinnert, die im wirklichen Deutschland entstanden ist. Und seltsam ist, warum die Linke als rabiater Nationalistenverband dargestellt wird, die zudem den Sozialismus wiederaufleben lassen, die scheinbar zurück in die DDR will. Der unbedarfte Konsument wird sicherlich an die Linkspartei denken, wenn ihm die Neue Linke den Abend versüßt. Und dann sieht er da einen Haufen von Nationalsozialisten, im wahrsten Sinne des Wortes, der vom rechten Spektrum nicht mehr zu unterscheiden ist. Das soll prägen, das soll konditionieren, Konnotationen schaffen.

Und er erblickt eine bürgerliche Mitte, die vorgibt, sie wäre frei von Ideologie, die mit Ratio geschlagen zu sein scheint, während die NPD alias DNS die Rolle der wirklichen Mitte übernimmt, mit all ihren Phobien und Zwangsneurosen, mit ihrem Jargon und ihrer Kraftmeierei, wenn mal wieder gegen Parasiten und Schmarotzer ins Feld gezogen wird. Was dem schlichten, dem naiven Zuseher zubereitet wird, ist das Musterbild einer gesellschaftlichen Mitte, wie sie nicht (mehr?) existiert, wie sie sich dieser Tage nie und nimmer präsentiert. In Phantasiewelten mag die Trennung zwischen Radikalismen und Vernunft gelingen - die politische Wirklichkeit dieses Landes lehrt uns aber, dass die Übergänge fließend sind, dass diese ominöse Mitte sich zuweilen, gar nicht so selten, ebenfalls radikal gibt.

Zufall? Vielleicht! Es könnte zugegeben schon ein blöder Zufall sein, dass man die Linkspartei mit einer aufgeblasenen, in der Realität vollkommen abwesenden NPD in einen Kessel wirft. So, als wären beide Seiten Menschenschinder und Mordbrigaden in spe; so, als wäre Lafontaine eben doch ein Hitler und Gysi sein treuer Heinrich. Zufall: mag ja sein. Aber so aufrichtig will man daran nicht glauben, wenn man weiß, dass die Produktionsfirma teamWorx, ein Tochterunternehmen der UFA - die wiederum im Besitz von Bertelsmann ist -, hinter dem Spuk steckt.

Mit welcher Orthodoxie Bertelsmann den derzeitig herrschenden Kapitalismus stützt und befürwortet, die Zugrundeökonomisierung des Alltags, das Wettbewerbsdenken bis aufs Blut, die Privatisierung der res publica betreibt, ist hinlänglich bekannt. Dass jener Krake in jeder sozialreformerischen Bestrebung Häresie wittert und als exorzistisches Austreibungswort ein lautes Sozialismus! brüllt, ist ebensowenig neu. Nur dass dergestalt offensichtlich gegen das sozialistische Ungetüm agitiert wird, wie in dieser TV-Produktion, kommt selten vor. Bertelsmann ist sich für keinen Stumpfsinn zu schade, stumpft stetig mehr ab - einige unbeschriebene Zuseher, politisch uninteressiert, einige Jugendliche, eine Handvoll Verängstigter werden wohl schon abgerichtet werden können. Auf dass der Geifer tropft, wann immer von der Linken die Rede ist - auf dass die Augen funkeln, wenn als Hort der Vernunft die gesellschaftliche Mitte gefeiert wird...

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Sit venia verbo

Dienstag, 23. Februar 2010

"Aber selbst Mieter, die dem Regime ablehnend gegenüberstanden, äußerten sich beschwichtigend. "Was wollen Sie denn?" fragte Herr Deecke aus dem Erdgeschoß, der Vater des hübschen "Trautchens": "Sie übertreiben!" Jeder begreife doch, daß die Dinge täglich besser liefen. Ebenso redete Frau Dölle, die sich gern als Hausmeisterin aufspielte und keine Gelegenheit ausließ, von ihrem dickbäuchigen, immer zu Schweieigeleien aufgelegten Sohn zu schwärmen. Herr Patzeck wiederum mit der tiefen, offenen Stimme, dessen Frau inzwischen niedergekommen war, sprach vom bloßen "Budenzauber" der Nazis, der noch lange nicht das Abendland bedrohe; mit solchen Überdrehungen arbeite man der "Hitlerbande" nur in die Hände. Und der für seinen derben Zynismus bekannte Herr Leopold aus irgendeinem Ministerium meinte, die ganze Nazidiktatur laufe doch, von den üblichen Kinderkrankheiten abgesehen, auf eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hinaus. Das tue ihm nicht einmal "auf der linken Arschbacke weh", so drückte er sich aus. Denn man müsse sich bloß anhören, was die berühmten "Leute von der Straße" an Unfug alles daherredeten; da sollte man den neuen Herrschaften eigentlich dankbar sein, daß sie dem elenden "Politgequatsche" ein Ende machten. Mein Vater antwortete auf solche Einwürfe zumeist, wie er uns später erzählte, daß es überhaupt nicht um die Arbeitslosen gehe. Und um die Meinungsfreiheit schon gar nicht. In Wirklichkeit suche jeder nur nach einer Rechtfertigung fürs Wegsehen von den Verbrechen ringsum. Sogar auf seiten erklärter Hitlergegner machte sich bald eine zunehmende Gleichgültigkeit breit. Zu einem nicht geringen Teil war sie auf das verharmlosende Vokabular des Regimes zurückzuführen. Mein Vater war "abgebaut", wie die Bezeichnung lautete, anderen waren "vorläufig" pensioniert, Verhaftungen hießen "Sicherheitsverwahrungen", was war so schrecklich daran? Mit dem SPD-Freund Ma Fechner unternahm mein Vater Ende 1933 einen Spaziergang durch die Kiefernwaldungen bei Erkner, die er aus Sicherheitsgründen gern aufsuchte, wenn er politische Gespräche führen wollte. "Also lassen wir uns mal eine Zeitlang von Rüpeln regieren", sagte Fechner, die machten es nicht lange. Mein Vater führte auf, was diesem Urteil widersprach, und wies auf die "Schmach" der Machtergreifung hin. Die republikanischen Verbände hätten nach Millionen gezählt, aber nicht einmal einen Generalstreik zustande gebracht. Sondern sich binnen weniger Tage auf bloße Regierungsanordnung hin widerstandslos in Luft aufgelöst und es sich bei den Aufmärschen unter den Fahnen der Nazis gemütlich gemacht. Jetzt fielen allen ständig neue Gründe für ihr Mitlaufen ein."
- Joachim Fest, "Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend" -

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Lorenzo der Prächtige

Montag, 22. Februar 2010

Wenn di Lorenzo sich dazu äußert, wenn er kundtut, dass die "oft geringen Qualifikationen" Ursache dafür seien, dass Migranten häufiger Sozialhilfe erhielten als Deutsche, dann wird daran schon Ehrlichkeit haften. Denn di Lorenzo, selbst Sohn eines Italieners, bestätigt aus der Warte des Ausländers (er ist erst seit 2004 mit deutscher Staatsbürgerschaft ausgestattet), dass es eben jene Ausländer, Fremde wie er, sind, die dieses Land ausbluten lassen. "Andererseits aber drängt sich der Verdacht auf", so erklärt der Grande der Zeit zudem, "dass unser in Deutschland so angefeindetes Sozialsystem immer noch attraktiv genug ist, dass es eine massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze auslöst was das Prinzip der Einwanderung, in einem fremden Land durch eigener Hände Arbeit sein Glück zu finden, auf den Kopf stellte." Die Bundesagentur für Arbeit springt in die Bresche, zählt vielerlei Gründe für die Motivation, (was soviel heißt wie: die fehlende Motivation) des faulen Ausländers auf. Dieser sei in den meisten Fällen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, hätte kaum höhere Schulabschlüsse oder spräche kaum oder gar kein Deutsch.

Schuld, so destilliert man aus dieser zu Buchstaben gewordenen Farce, tragen die Ausländer selbst. Jeder aufgezählte Grund ein offener oder unterschwelliger Vorwurf, abgesegnet durch di Lorenzos Prächtigkeit. Es mag schon zutreffen, dass Ausländer häufiger arbeitslos sind (immer noch weniger häufig als man annehmen mochte) - aber die Gründe sind mannigfaltiger. Wo liest man beispielsweise den Hinweis, dass es in deutschen Landen immer noch als Makel gilt, mit einem ausländischen Nachnamen durchs Leben zu eilen? Wo wird man darüber informiert, dass in Zeiten, in denen der Begriff "Moslem" als Synonym von Teufel oder Satan benutzt wird, es für moslemische Mitmenschen also immer schwieriger wird, hierzulande zu leben, geschweige denn, einen Arbeitsplatz zu ergattern? Neinnein, di Lorenzo macht es sich zu einfach in seiner Paraderolle als vorbildlicher Ausländer, wenn er nun wieder einmal so tut, als läge Schuld alleine bei denen begraben, die hier zu Gast seien (Gäste, die Steuern zahlen dürfen!), denen aber qua ihrer Herkunft als Lebensaufgabe aufgetragen ist, fortwährend die Kirche, die Moschee ums Dorf zu tragen, denen ständig Gesteinsbrocken gerade Wege verkomplizieren.

Nun ist es keine frische Erkenntnis, dass des Verfassers Herkunft eine war und ist, die ihn immer schon und immer wieder, unzugehörig erscheinen ließ. Wie es sich mit einem Namen lebt, der nicht unauffällig zwischen Schmidts und Wagners und Scholzes in Anonymität verfallen darf, hat er viel zu oft erleben müssen - und wird er für den Rest seines Lebens, so fürchtet er, aber und abermal erfahren dürfen. Wenn schon Staubsaugervertreter, das Klingelknöpfchen unterhalb des Namensschildes ausgelöst, nach Öffnen der Haustüre in radebrechendem Deutsch über ihre etwaige Kundschaft stürzen: wie muß es dann erst sein, wenn sich Bewerbungen mit exotisch klingender Unterschrift in Vorzimmern von Personalverantwortlichen stapeln? Und ob heute, wo jeder Kahraman oder Faruk oder Türkcan als möglicher Terrorist seine Integrationsunwilligkeit fristet - ob für Türken oder Araber große Aussichten auf Wohlwollen bestehen, darf zumindest bezweifelt werden.

Der Verfasser will nicht arrogant klingen. Doch fallweise scheint es von Dringlichkeit zu sein, diese Arroganz aufzubieten. Er - der Verfasser - wähnt sich der deutschen Sprache mächtig, mit bayerischem Einschlag zwar, mit der Unzweifelhaftigkeit, dass sein deutsch Gesprochenes, ein bayerisch Erbrochenes ist - aber immerhin. Ob er sprachgewandter ist als solche, die sich in ihren Agitationen über das Unglück "Ausländer" hermachen, sollen andere bewerten. Dennoch, obwohl des Deutschen mächtig, obwohl er diese Sprache schätzt, immer in diesem Lande gelebt hat, reicht alleine der nicht gerade urdeutsche Nachname aus, um in den Ruch der Fremdheit zu geraten. Di Lorenzo verstümmelt die Lebenswirklichkeit ausländischer Menschen und solcher, die auch nur ausländisch klingen oder aussehen. Er bietet eine Art dankbaren Gast dar, der sich selbst dann noch artig bedankt, wenn er bei Tisch des Gastgebers Rülpswinde schnuppern durfte - wenn er denn jemals diesem Gusto ausgesetzt war.

Natürlich unken die Schranzen entsolidarisierter Lebensart nun, dass einer wie di Lorenzo, selbst Italiener, gewesenes Ausländerkind, tiefste Einblicke besitzen muß. Wenn einer von denen, einer von der Sorte "anständiger Ausländer", schon mit seinen schmuddeligen Fingern in Wunden bohrt, dann wird schon ein Fünkchen Aufrichtigkeit in den Thesen Kochs, Westerwelles und Sarrazins stecken. Di Lorenzo hat es doch auch geschafft - er ist Redakteur und hat einen festen Platz im deutschen Fernsehen, ist rechtschaffen und gehorsam, sieht makellos aus, spricht makellos, vertritt makellose Thesen. Und als Bonbon für braves Benehmen, hat man ihn mit einem deutschen Pass belohnt - das große Ziel aller Ausländer, di Lorenzo hat es sich erfüllt, man hat ihn zum Menschen erwählt. Dass er Kind aus gehobeneren Kreisen war, seine Kindheit nicht in diesem Lande verbrachte, dass er seinen ausländischen Vater niemals verspottet und veralbert, herabgewürdigt und ehrabschneidend behandelt erleben mußte in diesem Land, weil der Vater nach der Trennung von Lorenzos Mutter in Italien zurückblieb, davon keine Rede. Di Lorenzo ist nicht der Regelfall, sein Lebensentwurf ist nicht der eines Ausländers, der aus bitterer Armut, aus Anatolien oder aus dem Kosovo etwa, hierherkam, mit der Absicht ein etwas besseres Leben zu führen, Arbeit zu finden, etwas Geld zu verdienen.

Es liegt schon mehr als ein schmaler Streifen Niemandslandes dazwischen, ob jemand vermögend an Vakuum im Geldbeutel in ein fremdes Land kommt, oder ob er als gemachter Mann, als Knabe aus gemachten Verhältnissen, einreist. Ein anatolischer Tagelöhner, ein kroatischer Hilfsarbeiter oder das baskische Faktotum für jede Spielart von Fron, ist nun mal niemand aus oder mit gefertigten Verhältnissen; und er ist schon gar niemand aus der Deutschen Land der Sehnsüchte, was Italien spätestens seit Goethe war. Denn, da mag man behaupten was man will, als charmanter Italo, der zudem nett anzusehen ist, der knuffiges Gelati-Deutsch spricht, durchwoben mit Ciao Bella! und Come stai?, als süßholziger Kerl mit italienischer Herkunft, der pfiffig alle Klischees bedient, die des deutschen Urlaubsherz erfüllen, da kann man zwischen Eis und Espresso, sowas wie Integration verspüren. Aber nur dann! Denn wenn, wie der Verfasser, der ja selbst Wucherung südländischer Triebe ist - wenn der fremdklingende Name mit beleibter Plauze aufläuft, kein geschäftstüchtiges Dauerlächeln auf den Lippen trägt, dann ist es aus und vorbei mit der Integrationsbereitschaft der autochthonen Bevölkerung, dann schieben sie einen schon gerne mal zur Seite - nicht immer, nicht alle, aber immer noch ausreichend.

Nein, man muß di Lorenzo keine böse Absicht unterstellen. Das wäre infam und würde ihm wahrscheinlich auch nicht gerecht. Aber warum er sich mit halbausgegorenen Thesen, mit süffisanter Schuldzuweisung an jenen, die wesentlich ausgeprägter Opfer als Täter sind, an dieser unseligen Debatte beteiligt, muß man ihn schon fragen dürfen. Man muß ihm die Frage stellen, weshalb er nicht zur Sprache bringt, dass es mit ausländischem Namen, gerade wenn man aus den unteren Gesellschaftsschichten entstammt, kaum sowas wie Zugehörigkeit oder Teilhabe gibt. Außen ist der angestammte Platz, man wird ausgegrenzt. Nach allen Rufschädigungen an moslemischen Menschen, darf es nicht verwundern, wenn deren Lebenssituation nochmals erschwert wurde, wenn Personalchefs mit Argwohn Bewerbungen sichten, auf denen Kahramans oder Türkcans ihr Passfoto zurückgelassen haben. Am Ende, so ängstigt sich die arbeitsplatzverteilende Zunft, erscheint er mit Turban beim Dienst, mit Krummsäbel im Hosenbund, betet zu Unzeiten und geht jedem an die Gurgel, der ihm nicht mit Allahs erbotenem Gruß begegnet.

Wie unsäglich schwer müssen es Moslems derzeit haben, als annehmbare Menschen wahrgenommen zu werden? Wie schwer, einen Arbeitsplatz zu erhalten? Dabei reicht es heute immer noch, nur einen ausländischen Namen zu tragen, damit kundzutun, anderer Herkunft zu sein, Sohn oder Tochter eines Gastarbeiters - fremd hier, fremd auch im Heimatland des Elternteils, fremd allerorten. Irdisch ist man nirgends, man ist ohne Erde, man wird zum Außerirdischen, zum Fremdling über alle Grenzen. Hier hemmt der ausländische Name, drüben, in Spanien, hemmt der deutsche Dialekt. Alleine der Name genügt; aus einer Religionszugehörigkeit auch noch die Mordslust zu filtern, das Unmenschentum herauszukristallisieren, muß als Verschärfung der Gangart betrachtet werden. Wenn dann auch noch jemand wie di Lorenzo mit halben Wahrheiten auftritt, dann ist das zweifellos die Verschärfung der Verschärfung. Dann sind beide, die von Lorenzo geohrfeigten Ausländer ebenso wie Lorenzo selbst, als Idioten zu betrachten. Die einen werden zu Idioten gemacht, weil man ihnen unterstellt, unnützlich geworden zu sein, überdies selbstverschuldet, in der sozialen Hängematte zu flacken; während der andere gerade nicht unnützlich ist, sondern ein ganz besonders prächtiger, ganz besonders nützlicher Idiot.

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Lautsprecher schweigender Mehrheiten

Samstag, 20. Februar 2010

Wenn es sie nicht gäbe, schwiege die Mehrheit bis in alle Ewigkeit. Der erste im Bunde der mutigen Lautsprecher, der Herr mit brauner Lippenbürste, zog mit seinem Organ in den Wahlkampf, wollte für seine lärmige Stimme schweigende Stimmen einheimsen. Sein Nachfolger auf dem Pfad der Mutigen, wähnte sich akzeptiert, als er in den Gewässern fischte, in denen vormals der Wahlkämpfer seinen dürren Stecken reinhielt. Und nun, da der dritte Erlöser schweigender Mehrheiten zur Bergpredigt ansetzt, scheinen jene Gewässer immer noch reichhaltig, noch lange nicht überfischt. Alle drei Fischer verabscheuen sich gegenseitig, beargwöhnen sich gehässig, gönnen sich gegenseitig keinen beachtenswerten Fang. Alle drei Fischer sagen der eigenen Konkurrenz nach, sie würde ihr Geschäft schlecht betreiben, den gesamten Berufsstand in Verruf bringen, die guten Sitten der Zunft ruinieren. Alle drei Fischer wollen miteinander nichts zu tun haben, wissen voneinander nichts außer Nachteiliges zu berichten. Alle drei Fischer sind sich fremd und doch in derselben Branche zuhause; sich fremd, aber doch verwandt; sich fremd, dennoch vom selben Fach.

Drei Fischer, gleich an Würdigkeit, durch alten Groll zu neuem Kampf bereit - drei erlesene Fachleute hoher Güte, vereint durch das ewige Gestern, sollten sich zusammenschließen, damit verwächst, was nie so recht getrennt war. Sich zusammentun, um ihren Mehrheiten, die sich aufgrund Verschwiegenheit nicht zur Wehr setzen können, eine neue Führerschaft zu erteilen. Neue Streitkultur, so reibt man sich freudig die Klauen, sei im Entstehen, "Politik in Bestform" sei derzeit geboten, weil der Einheitsbrei politisch korrekter Sprache überwunden wurde, weil Pluralismus herrscht innerhalb der politischen Kultur. Wahrlich, wie pluralistisch, wie vielfältig das Menschenbild der selbstgekrönten Lautsprecher doch ist, kann man wieder einmal erkennen - die Vielfalt ist wahrhaft erschlagend: die Vielfalt der Einfältigkeit.

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Willkürherrschaften

Freitag, 19. Februar 2010

Rufe aus der Politik, die Regelsätze zur Beherzigung des Lohnabstandgebots zu mindern, sie abzusenken, um Erwerbsanreize zu setzen, sind nicht nur Ausdruck haarsträubender Arroganz und abgehobener Anmaßung, zeigen nicht nur auf, wie weit entfernt Lebenswirklichkeit und parlamentarisches Phantastentum voneinander sind - nein, in solchen Forderungen schlägt Einsichts- und Belehrungsresistenz einer ganzen Gesinnung und ihrer Anhängerschaft durch.

Dieses willkürliche Festsetzen der Regelsätze - das war es, was das Bundesverfassungsgericht vor einigen Tagen bekrittelte, was Grund genug war, für verfassungswidrig erklärt zu werden. Aber die Uneinsichtigkeit ist langlebig, die Unbelehrbarkeit gehört zum politischen Repertoire. Wenn nun generöse Stimmen auftauchen, die von Kürzung schwärmen, dann ist das in erster Instanz natürlich eine sozialpolitische Schweinerei und die zum Ritus gewordene Verächtlichkeit einiger Megalomanen - aber in zweiter Instanz, entemotionalisiert, mit kühlerem Kopf begutachtet, spiegelt sich darin die vollendete Lächerlichkeit eines elitären Standes wider, der bar jeglicher Klarsicht, naiv und treuergeben an eingeimpften Lehrsätzen und Doktrinen hängt. Ein Stand, der sich der Willkürherrschaft im Namen von pseudoliberalen Grundsätzen verschrieben hat, der es gewohnt war (und immer noch ist), jede Lüge durch gekaufte Medienanstalten zur Wahrheit zu quengeln, jede soziale Ferkelei zur Reform zu küren, jeden Krieg zur Friedensmission zu adeln.

Der Herrschaft nach freiem Belieben fällt es schwer, sich von der guten alten Einrichtung der Willkür zu trennen, sie objektiv zu überdenken. Das merkt man täglich aufs Neue, wenn die Großzügigkeit der Regelsatzkürzer durch die Öffentlichkeit hallt, wenn wiederholt auf willkürliche Abzüge gepocht wird. Eine Denkart, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Denn das eigenmächtige Verstümmeln des Bedarfs, etwaiges Vorgeben erwünschter Regelsatzhöhen oder der pauschale Abschlag bei einer errechneten Bedarfssumme, um selbige künstlich herabzusenken, lassen sich mit der Verfassung, mit dem Sozialstaatsgebot, nicht zusammenführen. Aber einer Gesellschaftsschicht, die über allen anderen thront, die sich Logenplätze in wattigen Wolkenstädten unter den Nagel gerissen hat, kann man nicht mit irdischem Frevel an der Willkür kommen. So einfach trichtert man das nicht in dünkelhafte Schädel.

Irgendwann, so scheinen diese unbelehrbaren Inhumanisten, zu denken, wird man unsere Willkür schon anerkennen. Wenn der willkürlich zustandegekommene Regelsatz fallen soll, so zimmern wir uns eben eigenhändig einen neuen Satz, gestützt auf Pi mal Daumen. Und wenn der auch wieder kassiert wird, weil man ihn der Willkür bezichtigt, dann entwerfen wir eben erneut einen, basierend auf unserer Laune. Prangert man diesen Regelsatz dann nochmals an, so flicken wir uns eben einen aus willkürlichen Studien und subjektiven Eindrücken. Und hat das Bundesverfassungsgericht dann immer noch genug Chuzpe, um erneut zu intervenieren, dann sei es ein Leichtes, anhand von Kaffeesatz oder Auspizien, beim seherischen Wühlen in Eingeweiden oder durch Riechen an Socken, erneut Willkür bei der Neuberechnung walten zu lassen. Irgendwann, so glauben diese Herrschaften, diese Willkürherrschaften, wird man müde werden, unseren Willküranspruch zu torpedieren. Irgendwann wird man schläfrig einbrechen und unsere Willkür eine gute Herrschaft sein lassen...

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Allgemeine Befindlichkeit

Donnerstag, 18. Februar 2010

Zotige Predigten, anzügliche Bemerkungen, flegelhaftes Gezeter zwischen Bier und Qualm. Trunkenes Jubelpersonal, parolenschwenkend, heiligenverehrend. Feiste Visagen, die verschwitzt ins Mikrofon brüllen, andere speckige Visagen verspotten. Fäuste die auf Biertische knallen, die die Richtigkeit des Gepredigten unterstreichen sollen. Lachen, spotten, Heiterkeit! Ein Hoch soll er leben! auf den selbstgefälligen Prediger, dem Seelenhirten seiner Gemeinde. Noch mehr Bier, noch mehr Qualm - dazu der Dunst erhitzter Gemüter. Schweißnoten, Körperbukett, seifenfremdes Odeur. Auf der Kanzel unausstehliche Fratzen, erniedrigende Worte, Rundumschläge, starrer Blick und fanatisch-rasputinhaft funkelnde Augen. Auch oben, am Hochsitz, schmetternde Fäuste - bäuerliche Rhetorik und rüde Sätze, verziert mit Fausthieben auf Sperrholz.

Recht hat er!, schallt es durch die Hallen. Prost, Gemeinde!, dankt es der Redner. Ohrfeigen für die einen, Backpfeifen für die anderen - nur die heimische Gemeinde, die Jünger des eben lärmenden Apostels, sind reinen Herzens. Jubelarien, Parteisingsang, Hemmungslosigkeit und feuchte Höschen. Philippika als politischer Inhalt; Beleidigung als politisches Programm; Spöttelei als politisches Manifest! Die eigene Leere, den eigenen Irrwitz hinter dem Wahnwitz, der Ödnis der anderen vermummt. Zwischen Bier und Brotzeit, Predigt und dinglich gewordener Satire, tosender und ungezügelter Beifall. Politisch gewandete Geilheit allerorten, erigierte Schwellkörper geistesschwacher Parteisoldateska, flammende Fleischeslust ob aufgeheizter Brauhausatmosphäre.

Rundumschläge für die politische Konkurrenz und ein Stöhnen geht durch die Menge. Nackenschläge für Frieden und Sozialstaat und es quietscht und wiehert und kocht orgiastisch im Saal. Tiefschläge für die Besitzlosen und der Haufen ejakuliert, engverschlungen und einträchtig, zur himmlischen Glückseligkeit. Lüsterne Devisen auf Plakate gekritzelt. Im Sinnenrausch gejohlte Losungen. Bier zur Kühlung, Bier zum Aufheizen. Hie kühlt es aufgepeitschte Gemüter, kühlt den Arbeitslosenhasser; dort facht es das noch beherrschte Gemüt, den Hass an. Politik auf Bierbänken. Demokratie für Stammtische. Staatskunst für schlichte Gemüter. Volksherrschaft der süffigen Seelen, der loyalen Verehrer, der lichtlosen Parteibuchträger. Politik als Bierzeltspektakel, zwischen Hau den Lukas und Achterbahn. Dumpf, inhaltslos, schlichte Gemüter anheizend. Politik zwischen Klamauk und Radau, als Rummel und Trubel.

Politischer Aschermittwoch? - Nein! Die alltägliche Befindlichkeit, die stinknormale Verfassung der politischen Inszenierung hierzulande. Und nur am Aschermittwoch spielt diese Normalität der Politik im stilsicheren Rahmen.

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Kompromiss genug

Mittwoch, 17. Februar 2010

Man sei nicht kompromissfähig, muß man sich mitunter an den Kopf werfen lassen; dass man nicht auf Anpassung bedacht, auf Schlichtung erpicht sei, kriegt man zu hören. Seien Sie doch nicht so radikal! Mäßigung sei angeraten. Man habe Kompromisse mit einer gefühllosen Welt zu schließen - das mache das Leben, das Zusammenleben per se, erst aus. Heute heißt es auf Ausgleich bedacht zu sein, zwischen Soll und Sein zu vermitteln, pragmatisch auf dem Grat der Gegensätze zu balancieren, um mit dem Wehgeschrei der Welt ins Reine zu geraten. Kompromisse nicht nur bei Nichtigkeiten im nachbarschaftlichen Guerillakrieg oder bei Ehezoffs, nein, Kompromisse müsse man selbst mit dem elenden Arrangement auf Erden, dieser ganzen himmelschreienden Komposition aus Tränen und Blut, eingehen.

Sich nach durchmachten Presswehen, zwischen Schnipsel von Eihäuten und Blutkrusten - nach ohrenbetäubendem Gebrüll von hektisch umherlaufender Hebamme über das Gebell gehetzter Ärzte bis hin zum Gekläffe aufgeschreckter Schwestern - sich nach durchgezwängter Passage durch den engen Schacht, für dessen Dammriss man verantwortlich gemacht wird - nach angsteinflössenden Tränen des Schmerzes und der Rührung hier, bitteren Tränen der Nacktheit dort - nach dem Sprung der Fruchtblase und dem Verlust des ersten, des warmen, des wohligen Plätzchens - nach Blut, Schweiß und Sekreten, herausgedrückt in eine emsige, laute, kalte Welt - sich nach all dem für das Atmen zu entscheiden, gleicht einem Kompromiss. Sich beizeiten zwar brüllend und kreischend aufzulehnen, letztlich aber weiterzuatmen, sich nicht störrisch zu weigern, den Sturkopf einzudämmen, darf als Akt von Kompromissfähigkeit begriffen werden.

Nicht fähig für Kompromisse? Geschenkt! Aus der wohlbehüteten, innerbauchigen, wärmenden Beschaulichkeit herausgerissen geworden zu sein, sich dennoch für den plötzlich vagen, erkalteten Takt des Lebens zu entscheiden, trotz Absurden, Grotesken nicht wider dem Leben zu sein, weiterzuatmen, jeden Tag neuerlich - alleine das ist Anzeichen größter Kompromissfreude. Ins irdische Schattenreich getreten, sich mit ihr aber nicht zu versöhnen - das ist ausreichend Kompromiss. Sich mit Ausbeutung, Unterdrückung, Vertreibung, Pein zu arrangieren, sich mit dem Ausbeuter, dem Unterdrücker, dem Vertreiber, dem Peiniger versöhnlich gemein zu machen, zeugt nicht von Kompromissfreude - es dokumentiert lediglich die Resignation. Wer den Kompromiss des Lebens eingeht, wer in dieser tristen, bewölkten, heuchlerischen Welt lebt, dem sollte man nicht noch mehr Ausgleichmomente abnötigen - der eine, der große, der lebensbejahende Kompromiss reicht aus. Einen Kompromiss mit dem Unrecht kann es nie geben, selbst dann nicht, wenn das Unrecht manchmal eine Schippe Vorteile mit sich bringen mag.

Das Leben in einer Welt zu bejahen, die sich überaus lebensverneinend zu erkennen gibt, stellt riesenhafte Vereinbarungsbegabtheit dar. Mit der Lebensverneinung der Welt seinen Frieden zu machen, ist allerdings kein Kompromiss mehr - es ist Aufgabe, Selbstaufgabe. Wer seinen persönlichen Kompromiss mit den Ausbeutern dieser Erde schließt, wer als Kompromiss eine Tätigkeit in der Ausbeutungsmechanik ergreift, um Schlimmeres zu verhindern (wie man es heute noch oft hört und schon damals, in khaki gehaltenen Tagen hören mußte), um dort abzuwägen zwischen privaten Profitinteressen und der der Welt aufoktroyierten Mängel wie Hunger, Krankheit, Verletzung, der vermittelt nicht mehr, der resigniert schon, der hat sich bereits abgefunden. Wer kompromisslerisch an verbindlichen Werten rüttelt, der verbessert die Erde nicht mehr, er reißt sie immer tiefer in den Nihilismus.

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Ridendo dicere verum

"Guido Westerwelle war seit 1983 Juli-Chef, seit 88 im FDP-Bundesvorstand und schloss sein Jurastudium erst 1991 ab: Parteiamtssalär, Diäten, Ministergehalt: Der Mann hat nie ernsthaft von etwas anderem als Staatsknete gelebt. Dass nun ausgerechnet er wirklich Bedürftige als überfressene Orgiasten schmäht - im vorrevolutionären Frankreich wäre das als der mannhafte Wunsch verstanden worden, sich immerhin die eigene Laterne auszusuchen."
- Friedrich Küppersbusch, taz.de, 15. Februar 2010 -

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Vor dem Standgericht

Dienstag, 16. Februar 2010

Dass es der Anarchist schwer hat, dass er keine Solidarität erleben und erwarten darf - das ist die Konstante. Variablen sind nur seine Gegenspieler, seine Häscher. Heute Konservative, Liberale und linke Gruppen, die zum gemeinschaftlichen Kesseltreiben blasen - gestern Faschisten und Kommunisten, die die Treibjagd genossen. Der Anarchist hatte es allzeit schwer - und er hatte es deshalb stets leicht. Denn wer vorab weiß, dass seine Standpunkte eingekesselt und in Stahlgewittern verteidigt werden müssen, der muß sich keine nervenaufreibenden Gedanken darüber machen, mit wem er aus taktischen Gründen und zur strategischen Ausgestaltung, in mehrerlei Haltungen wippt und wackelt und keucht, mit wem er aus Kalkül heraus beischläft. Leichter und würdevoller ist es, nicht als Kokotte des gottgegebenen politischen und wirtschaftlichen Sachzwangs verenden zu müssen.

Freilich haben sich die Zeiten geändert - der Anarchist landet nicht vor Schauprozessen und Standgerichten. Er nicht! Aber seine Zusammenschlüsse, seine ins Leben gerufene Eigeninitiativen, seine syndikalistischen Versuche - die werden standgerichtlich abgeurteilt und in den Hinterhöfen staatlicher Justiz erschossen. So wie im aktuellen Fall, in dem der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) Berlins bei angedrohter Geld- oder Haftstrafe untersagt wurde, sich als Gewerkschaft zu bezeichnen. Ein einmaliger Fall in der Geschichte der Bundesrepublik - ein zugegeben nicht einmaliger (An-)Fall von regulativer Wut, bei dem erneut Eigenverantwortung, Emanzipation und Selbstwert zertrümmert wird, um koscheren Organisationen, staatlich gewollteren, geduldeteren Banden, zu ihrem Recht zu verhelfen. Der Aufschrei artverwandter Cliquen, der Aufschrei von ver.di und Linkspartei, er war über Städte und Flure, auf Bergen und in Tälern... ausgeblieben.

Unbewandert in Geschichte könnte man sich nun darüber echauffieren, so jämmerlich im Stich gelassen worden zu sein. Dabei war von Angebinn anzunehmen, dass auch artverwandte Gruppen unsolidarisch handeln, wenn nicht sogar selbst im Erschießungskommando des Hinterhofs einige Posten beziehen würden. Sie sind Teil staatlicher Präsenz, sind trotz aller Opposition zum Geist unserer Zeit, Bestandteil der staatlichen Apparatur - selbst die Linkspartei, die man immer wieder als Außenseiter beschreibt, gehört dem Staat. Solidarität mit denen zu üben, die den Staat zwar nicht deinstallieren wollen (und auch gar nicht können), die allerdings keine falschen Vertreterschaften aus gezähmten Organisationen befürworten wollen, eine solche solidarische Verbundenheit ist da einfach nicht vorstellbar. Die FAU, selbst eine, die (noch) wenig Einfluss hat, ist der wahrgewordene Alptraum etatistischer Rudel. Räuber sind jene, die den traditionellen, den verbürgerlichten, den überlieferten Räuberbanden ins Gehege kommen.

Der Frevel am Alpha und am Omega der politischen Tretmühle, führt zur Vereinsamung. Diese Lästerung am Grundprinzip war es stets, die Anarchisten isolierte. Denn in einer Sache waren sich Hitleristen und Stalinisten genauso einig, wie heute christliche und liberale Konservative, Sozialdemokraten, Sozialisten und Ökos: der Mensch braucht Führer, er braucht Anleitung, er kann nichts alleine organisieren und verwalten, schon gar nicht seine Interessen vertreten. An ein solches negatives Menschenbild mag der Anarchist einfach nicht glauben. Sein Ideal ist eine Gesellschaft, in der Menschen selbstbestimmt leben können - er begegnet dem Menschen mit Zuversicht, räumt der Skepsis nicht das Primat ein. Ob im Staat oder frei von Staat ist dabei irrelevant - denn ein Staat mit menschlichen Prinzipien, pazifistisch und verständnisvoll, sich der Hilfebedürftigen annehmend und wenig bürokratisch, einen unrealistischen Idealfall von Staat folglich, den könnte sich der Anarchist gefallen lassen - da ist er ganz pragmatisch. Menschen, die keinen Sprecher, keinen Abgeordneten, keinen Vertreter aus etablierten Gruppierungen mehr benötigen - da graust es selbst den liberalsten Esprit, da schütteln sich selbst ver.di und Linkspartei angewidert um die Wette. Denn mit Anarchosyndikalisten ist einfach kein Staat zu machen - jedenfalls keiner im heutigen Sinne.

Man braucht gar nicht stutzen, wenn auch nun, da das Standgericht zur FAU in die nächste Runde geläutet wird, ver.di und Linkspartei schweigen oder womöglich sogar freudig ein Verbot begrüßen. Es sind eben Traditionalisten, die wie alle ihre Vorgänger keinen Bedarf an frei denkenden, frei handelnden, frei sich selbst verwaltenden Menschen haben. Eine Gruppe, die Menschen zur Eigeninitiative leitet, in einer Gesellschaft, in der Eigeninitiative lediglich bedeutet, ein Kreuzchen zu setzen oder einen monatlichen Mitgliedsbeitrag zu erstatten - eine solche der herrschenden Logik zuwiderhandelnde Gruppe, darf nicht auf Unterstützung hoffen. Wer frevelt, leidet einsam...

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Schützt Westerwelle!

Montag, 15. Februar 2010

Beendet euer Defilee! Stellt umgehend die Entrüstung ein! Man kann das Oberhaupt der wirtschaftsliberalen Kirche Deutschlands, diesen Führer der gelb-blauen Terrorzelle, man kann Westerwelle feurig verabscheuen, sich dessenungeachtet jedoch vor ihn stellen. Selbst vor dem Geringschätzigen, dem Verpönten und Verachtenswerten sollte man sich zuzeiten behütend auftürmen, um es von allzu stürmischen Aufmärschen und Prozessionen abzuschotten. Respektieren muß man deshalb ein solcherlei abstoßendes Fabrikat, einen Westerwelle etwa, nicht, um ihn beschützen zu wollen.

Was dieser Kopf fundamentalistischer Standesordnung unlängst aus seinem Denkorgan erbrach, kann natürlich nicht entzücken, ist ein Knäuel, bestehend aus vielerlei Eindrücken und Motiven - aus egomanischer Unterwerfung des Allgemeinwohls zugunsten von Eigeninteressen, aus zwanghaften Beißreflexen aufgrund finanzieller Verlustängste, aus anal-charakteristischer Sparmanie, aus bürgerlichen Manierismen und einer althergebrachten Senatorenarroganz. Ein unappetitlicher Eintopf, für den man, bevor man sich empört, allerdings dankbar sein sollte, an dem man dieser Tage nie übersatt werden kann. Westerwelles Auswürfe sind geschmacklos, aber sie sind ehrlich, kennen keine heuchlerischen Eskapaden, sind authentisch, legen sein degoutantes Weltbild bloß, maskieren seine kleinkarierten Absichten nicht mit Scheinheiligkeit. Es ist der biedere Elan des Grundehrlichen, der beeindruckt; Elan, gespickt mit der aufrichtigen Blindheit des Einfältigen, von Grund auf offenherzig und jedem Pharisäertum fremd, vollgestopft mit einer selbstinszenierten und selbstgefälligen Wahrheit, die zwar keine Anwartschaft auf Wirklichkeit erwarten darf, die aber bar von Heuchelei und Scheinbarkeiten randvoll schäbigen Bekenntnisses ist.

Laßt also von eurer Entrüstung ab! Entwöhnt euch für einen Moment von ihr! Laßt diesen Ehrlichen nicht den Dummen sein, auch wenn es mitunter besonders Dumme sind, die uns mit ihrer widerborstigen Ehrlichkeit anekeln. Wie unerträglich sind doch diese geschminkten, glanzlos getupften Politikersekundanten, die heute so und morgen anders predigen - so wie es ihren jeweiligen aktuellen Herrn gerade einfällt. Die heute Sozialfälle erzeugen und lächerlich machen, um sie forthin zu betreuen, sich zu deren moralischen Rechtsvertretern zu erheben. Steinmeiers, Rüttgers, Kuhns, die ihren öligen Brei aus Egoismus, Selbstüberschätzung, Ignoranz und Geltungssucht hinter erlauchten Festreden und wohlfeilen Versöhnlichkeiten absetzen, die bisweilen nur deshalb zum Seelsorger der Schwachen und Entrechteten werden, um heuchlerisch den Mann für alle Fälle, die klassenübergreifende Alternative simulieren zu können - solche tückischen Kaliber gibt es viel zu viele. Wie erhaben sich doch ein Westerwelle, dieser tollgewordene Liberalengeneralissimus, abseits solcher Gestalten ausnimmt. Der zeigt Profil - das muß man anerkennen; er ist ein glaubwürdiger (Handels-)Vertreter seines Glaubenssatzes, überzeugender Feldherr innerhalb seiner Miniatur- und Spielzeugwelt, die freilich mit der wirklichen Erde nur gering zu tun hat.

Welcher Luxus! Und ihr moniert, nörgelt, entrüstet euch! In Zeiten, in denen Wölfe wie Schafe blöken, in denen Feinde meist in freundschaftlicher Umarmung, als verständige Organisation vielleicht oder als liebevolle Partei, die Lebensbühne betreten, da sind solche, die offen zur Schau stellen, die freimütig bekennen, Feinde zu sein, fast schon wieder Freunde. Wo der Feind so freundlich ist, seine Feindschaft mit Silberbesteck zu servieren, da sollte Lob erfolgen. Westerwelle ist ein ausgesprochener Luxus.
Ein Luxus, an dem es der US-amerikanischen Politik derzeit mangelt. Passé die luxuriösen Tage, in denen ein Bush die Missgeschicke steuerte. Damals glichen sich Fassade und Aura der präsidialen Werbefigur mit den Gelüsten und Trieben der US-Konzerne. Dieses rüpelhafte und ungehobelte, verrunzelte, ausgekocht dreinglotzende Gesicht eines grobschlächtigen Naturburschen und Menschenschlächters - es war das Werbeschild, die Litfaßsäule einer kriegerischen, imperialistischen, geostrategisch ausbeutenden Politik, die mit Sachzwängen rechtfertigend, spielend in der Lage war, Bombenterror und Minenfelder schönzureden. Der Luxus ist dahin! Heute lächelt ein puttenhaftes, gutaussehendes, glatthäutiges Antlitz aus dem Oval Office, das es maßlos erschwert, der US-Politik, die seither - wenn überhaupt! - nur an Marginalien modifiziert wurde, mit der gleichen inbrünstigen Vehemenz entgegenzutreten wie damals, als dieser texanische Hauruck und passionierte Brezelgourmet Herr der Welt war. Bush konnte man herzlichst verachten; verachten, wie man jenes Gebräu aus Politik und Wirtschaft, diesen Filz zur Weltkontrolle, verachten konnte. Ja, man konnte ihn verachten und hassen, konnte ihm reinen Herzens die Syphilis an den Hals, einen harten Schanker an den Schwanz wünschen. Bush und Krieg, Bush und Arroganz, Bush und Freihandel auf Teufel komm' raus - wie aus einem Guss! Obama hat diese Maskottchenqualitäten kaum, ihm wünscht keiner Geschwüre ans Gemächt - und dennoch ist er derselbe Herr über Krieg und Rüstung, Besatzungs- und Ausbeutungspolitik, wie der rauhe Klotz von einst.

Westerwelles machen uns das Leben einfacher, erträglicher, weniger zeitaufwändig. Sie erlauben es, dass wir nicht mehr nach dem Kannibalen forschen, ihn aus Festtagsreden mit versöhnlichem Kolorit herausfiltern müssen, weil sie ihre Menschenfresserei gar nicht erst verkappen. Wie herrlich leicht das Leben doch sein kann! Solche Gemüter schwatzen ohne falsche Scheu von Menschenverachtung, starten nicht einmal den Versuch, ihrem Wolfsgeheul einen Schnipsel Schafsfell überzuwerfen. Erkennt soviel Freimut doch an! Lobt diesen ehrlichen Makler! Und seid dankbar! Es gibt ja genug Typen, die ihren Hass ungeniert zu Markte tragen, Randexistenzen wie Voigt oder Apfel oder Schlierer - aber die fungieren lediglich als Feigenblatt für die Rotte Braungebrannter aus den anderen Parteien der würgerlichen Mitte - die sich würgend an der Unterschicht gütlich tun -; aus Parteien, die ihr spießbürgerliches Klöppeldeckchen zur Sicherheit immer mit sich tragen, um ihre ausgebreiteten Pläne, wie etwa die Renaissance des Reichsarbeitsdienstes oder die erzwungene freiwillige Ausreise für Ausländer, um also diese rostbraunen Vorhaben mittels eilig übergeworfener Klöppelei zu vertuschen. Westerwelle trägt diesen Menschenhass, den man üblicherweise nur den Randexistenzen nachsagt, in die Mitte, in die etablierte Mittelmäßigkeit, macht sichtbar, wie durchbräunt diese Mitte schon ist, wie verseucht mit Gedankengängen von Henkern und Folterknechten, Kapos und Rottenführern. Pionierarbeit ist das! Dankbarkeit wäre angebracht! Schimpft Westerwelle nicht - schützt ihn! Dankt ihm!

Er spielt uns keine falsche Bescheidenheit vor, legt offen Bekenntnis ab, läßt seinen Speichel, dieses Produkt seiner Tollheit und seiner Gier, öffentlich aus Mundwinkeln triefen - er läßt seine Hetzer- und Herrenmenschenseele für die ganze Welt sichtbar erblühen. Sein Weltbild ist kein Geheimnis - man bekommt es jederzeit als Memo zugestellt. Weil es Westerwelle, weil es überhaupt wieder vermehrt aufrichtige Damen und Herren aus der bürgerlichen Mittelmäßigkeit mit brünettem Weltbild gibt, ist es uns erst erlaubt zu erahnen, wie weit das deutsche Kleinbürgertum, diesmal ohne Bärtchen im Fliegenschissformat und gescheitelter Tolle, ohne Reiterhosen und khaki herausgeputzter Hühnerbrust, bereits wieder zu gehen bereit ist. Nur weil es ehrliche Häute wie Westerwelle gibt, die sich für ihre unausgereifte Weltanschauung, ihre niveaulose Ideologie nicht schämen, ahnt man, dass diese Gesellschaft bereits knöcheltief in der Scheiße watet. Weil er wütet und schnaubt, fallen die Feigenblätter vom nationaldemokratischen oder republikanischen Laienverein wie vom herbstlichen Ast herab. Bewahrt Westerwelle vor denen, die nun aus der Mitte herauswettern, er habe verfehlt, gefrevelt, gesündigt - bewahrt ihn vor diesen Halbseidenen, die mit Selbstbräuner eingeschmiert, ihr goldbraunes, schwarz-rot-goldbraunes Weltbild, mit ausgewogener Heuchlerei bedecken! Schützt den Grundehrlichen vor den Grundverlogenen!

Bevor ihr Westerwelle ohrfeigt, dankt ihm - ihm und seiner parteiübergreifenden Kamarilla. Dankt ihm und den Clements und Sarrazins und Sloterdijks. Dankt ihm und den Führern und Bonzen der kleinbürgerlichen Mitte dafür, dass sie mit offenen Visier ins Gefecht ziehen, ihre geistige Herkunft nicht verleugnen, nicht vorheucheln unbescholtene Schäfchen zu sein. Lieber drei Westerwelles als ein Steinmeier, lieber drei Clements als eine von der Leyen. Denn mit denen weiß man, was man hat - und man weiß, was es braucht: Umsturz!

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Notizen im Zeitgeschmack

Samstag, 13. Februar 2010

Verehrtes Tagebuch,
nunmehr seit Tagen betrauere ich die Gemütsverfassung dieses Landes. Es sei zugegeben, dass es mich fuchst, wohin wir blindlings steuern. Ob wir jetzt noch, nachdem das Fuhrwerk so tief im Schlamm steckt, zu retten sind, erkühne ich mich zu bezweifeln. Mindestens sollte man es aber noch versuchen, ehe es vollends zu spät ist.
Es hat mir noch immer wohl getan, auf deine Seiten zu kritzeln, mir meine Gedanken vom Hirn zu schreiben. Meist waren es bedeutungslose Dinge, die ich dir ins Innenleben notiert habe, kleine Ereignisse meines schlichten Daseins zumeist; Ereignisse, die einem Diarium blendend zu Titelblatte stehen. Schließlich war man ja unpolitisch, denn damit fuhr man stets am gesündesten. Jetzt muten mir diese unpolitischen Tage für vergangen an, endgültig versunken, wettgemacht durch die Erfordernis politischer Haltung. Ja, man muß überdies das Großeganze ins Auge fassen - unsere Zeit erfordert es. Eine Zeit, in der ich mich ebenso bedroht wie verärgert fühle, in der ich Ohnmacht und Wut verspüre, ja, in der ich überhaupt das Gefühl habe, dass vielen meiner Zeitgenossen gar nicht klar ist, wie gefährlich und hinterlistig unsere Lebenslage geworden ist.

Aber zunächst habe ich mich zu erklären, verehrtes Tagebuch, denn das hier Niedergelegte könnte die Vermutung aufkommen lassen, hier schriebe ein Menschenfresser. Aber man ist ja doch kein Unmensch, nur weil man unbequeme Sachverhalte aufreiht. Immerhin ist man ja doch nicht mit Begeisterung geradeheraus. Doch manchmal tut die Wahrheit eben weh, reißt Wunden auf, die davor nie hätten heilen dürfen. Aber sie bleibt wahr, selbst wenn sie Qualen beschert. Es scheint mir dieser Tage die heilige Pflicht jedes beherzten Bürgers, Wahrheit auch dann zu verbreiten, wenn sie verletzt. Man muß sich ja nicht in Vergnüglichkeit suhlen, wenn man sich zur überhandnehmenden Arbeitsscheue äußert.
Das solltest du wissen, verehrtes Tagebuch, denn auch ich erfreue mich nicht, einem solchen Umstand zur Wahrheit zu verhelfen, selbst wenn die folgenden Zeilen das vermuten lassen könnten. Nein, ich bin Fragment der zivilisierten Welt. Mir geht es um die vernünftige Lösung von Problematiken, nicht um Freude am asozialen Kuriositätenkabinett. Ich wäre geradezu glücklich, wenn ich diese bittere Wahrheit nicht zur Sprache bringen, sie mir von der Seele schreiben müßte - ich wäre erleichtert, wenn es Arbeitsscheue, dieses Unglück der Gesellschaft, gar nicht gäbe, wenn diese triste Wahrheit also unwahr würde. Selbst wenn es sich barbarisch liest, was folgt: es muß doch erlaubt sein, sich eines solchen Gegenstandes nicht durch die Blume zu nähern.

Nicht in Verzückung hat man sich der Müßiggänger anzunehmen, weil es notwendig ist, weil er den gesellschaftlichen Werdegang hemmt, ist es geboten, endlich einmal couragiert aufzustehen. Es muß gestattet sein, die verheerenden Kosten, die uns die Beköstigung von untätigen Gesindel auferlegt, auch aussprechen zu dürfen, um sich alsdann Gedanken darüber machen zu können, wie man es ermöglicht, diese Kosten zu senken. Und man muß sich darüber unterhalten, wie man diese Feinde der Volksgemeinschaft, diese gesellschaftsfeindlich gesinnten Subjekte, die obzwar von unsereinem Wohlstand beziehen, uns aber nicht sonderlich schätzen - man muß darüber beraten, wie man diese selbstgerechte Gattung dressieren kann. Obwohl dieses Land etliche Probleme kennt, das Überhandnehmen fremder Elemente beispielsweise, so erscheint mir, verehrtes Tagebuch, die Asozialen-Problematik derzeit gravierender. Ein Weiter so! kann es nicht geben, wenn wir nicht wollen, dass diese Gesellschaft untergeht.

Diese freigebige, tolerante Überheblichkeit, dieses liberale Zurschaustellen ach so demokratischer Qualitäten! Dieses unbekömmliche Benehmen der letzten Jahre, es hat versucht, arbeitsscheues Pack in Schutz zu nehmen, es zu angeblichen Opfern zu machen, die eigentliche Täterschaft zu verbergen. Ein solch gutmenschlerisches Gewimmer kann sich diese Gesellschaft nicht mehr erlauben. Es sind nicht nur diejenigen, die parasitär von des Deutschen Schweiß und Blut zehren, die uns schaden, auch der altruistische Mensch zersetzt die Gemeinschaft, schadet dem ganzen Volk in seinem blinden Eifer.
Sobald man den Asozialen in eine Opferrolle drängt, bewilligt man ihm das luxuriöse Gejammer, genehmigt man ihm das anmaßende Geschimpfe über die Regierung und ihre Vertreter. Ihre selbstverschuldete Randexistenz wird entschuldigt und es wird ihnen eingeflüstert, sie hätten selbst wenig oder keinen Einfluss auf ihr Schicksal. Verantwortungslos ist sowas! Wie kann man Taugenichtse nur rechtfertigen wollen? Man sollte ihnen zu erkennen geben, mit drastischen Methoden wenn nötig, dass sie ihr Schicksal selbst ergreifen können - ach, was schreib' ich: selbst ergreifen müssen! Wer arbeiten will - das weiß ich aus eigener Erfahrung ebenso, wie aus dem engeren Bekanntenkreis -, wer arbeiten will, der wird auch eine Stelle finden. Sich selbst am Riemen zu reißen: davon hängt nicht nur die persönliche Reputation ab, es beflügelt die Schicksalsgemeinschaft innerhalb unserer Grenzen, es wirkt der Wegelagerei entgegen, die heute in Arbeitsämtern betrieben wird, wo Steuergelder in Unsummen als Wegzoll zurückgelassen werden.

Ich halte es daher für dringend notwendig, dass sich eine Gesellschaft rigorose und strikte Sozialprogramme entwirft, um der bockigen Verweigerungshaltung solcher Kreaturen den Garaus zu machen. Keine falsche Mitmenschlichkeit mehr - gebieterische und entmenschte Winkelzüge wären nun sinnvoll. Ein Ende der heuchlerischen Freundlichkeit! Der Mensch braucht von Natur aus Überlebensdruck. Besinnliche Gespräche über Lebenssituationen oder Wünsche, um diesen Schädlingen falsche Hoffnungen auf weitere Bummelstunden zu machen, sind da falsche, rückständige, dem menschlichen Wesen fremde Maßnahmen. Neinnein, solche Elemente brauchen staatliche Härte, brauchen Druck und Zwang. Sanktionen für die materielle Läuterung, bestenfalls Streichung der gesamten Bezüge für ein, zwei oder drei Monate - und Zwangsarbeit für die seelische und körperliche Katharsis. Wer dann auch noch die Frechheit besitzt, wegen gesperrter Zahlungen zu stehlen, der wird umgehend eingesperrt! Mit eisernen Besen Ordnung schaffen - bei mir gäbe es keine Flaneure. Bei mir würde den Drückebergern durch Knute und Fron wieder Struktur in ihren verbummelten Alltag einfahren. Mittags schlafen, nachts tanzen - das hätte sich endgültig erledigt.

Natürlich, das war zu erwarten, verehrtes Tagebuch, deine nicht mehr besonders schneeweißen Seiten starren mich entsetzt an. Woher sollst du auch wissen, dass sich die Zeiten jüngst gewandelt haben? Lange durfte man der Wahrheit nicht so ungeniert frönen, wie man es heute kann. Natürlich war es vormals nicht unbedingt verboten, radikale Kuren zu fordern, viele haben sowas ja auch immer wieder lauthals ausposaunt. Nur wurde man dann scheel angeguckt, als Geisteskranker klassifiziert. Du weißt ja, man darf alles kundtun - nur die Wahrheit nicht. Davon sind wir in jüngerer Vergangenheit abgekommen. Alles was ich dir heute auf diese Seiten niederlege, entspricht dem neuen, dem ehrlichen, dem befreienden Zeitgeist.
Ein Zeitgeist, der uns bilderreich vorführt, dass radikale Maßnahmen in dieser Frage, nicht nur des Staates Recht sind - nein, sie sind seine Pflicht! Der Staat und seine Regierung haben dem Volk zu dienen, müssen dafür Sorge tragen, dass aller Schaden vom Volk abgewendet wird. Sollte das bedeuten, Herumtreiber und Schmarotzer mit Rohrstock und Gerte zu erziehen, ihnen Frondienst aufzudrängen, Geldmittel zu verweigern: dann soll es eben so sein! Vereitelt man damit Schaden an den aufrechten und fleißigen Bürgern, dann kann uns diese Radikalität doch nur recht sein. Denn dann ist uns, die wir unseren Mann stehen, unserer Pflicht nachkommen, gleichwohl geholfen, wie denen, die Pflichten bei Wasser und Brot erlernen müßten.

Erwartungsgemäß brodelt es gelegentlich, geben sich selbst fleißige und geachtete Bürgerexemplare aufmüpfig ob solcher Forderungen, hängen sich viel zu verliebt an christliche oder philosophische Ideale, schwadronieren um eine fehlgeleitete Ethik, die dem Menschen nicht gerecht werden kann, weil sie an das nicht vorhandene Gute in ihm appelliert, nicht jedoch den alles dominierenden Überlebenstrieb stimuliert. Ewiggestrige Sichtweisen, lange überholt, heute nicht mehr haltbar, so zeitgemäß wie eine Droschke!
Wir haben uns auch vor denen zu schützen, die dieserart rückwärtsgewandt, als Droschkenkutscher menschenfremder Ethik quasi, die Beschädigung der Gesellschaft in Kauf nehmen, die dem aufrechten Volk in den Rücken fallen, bewaffnet mit ihrem moralischen Dolch. Auch hier ist die Wucht des Staates gefordert. Der Schmarotzer und seine altruistischen Hofschranzen können heutzutage nicht mehr geduldet werden, sie zersetzen die Arbeitsmoral des Volkes, lassen es gären und rumoren im Volkskörper. Der Gutmensch muß endlich zur Besinnung gebracht werden, muß lernen, sich wieder auf wesentliche Tatsachen zu konzentrieren. Diese Konzentrationsarbeit kann die Presse nicht alleine, schon gar nicht aus freien Stücken leisten; sie kann zwar unentwegt propagieren und in Richtungen lancieren - aber das reicht nicht aus. Sie braucht Hilfe, einen Wegweiser, Pressesammelstellen, in denen von staatlicher Warte aus vorgegeben wird, was berichtenswert ist, was erbaut, was belehrt.

Es ist schon richtig, du hast sicherlich recht, verehrtes Tagebuch, es wird auch dann Unbelehrbare geben, Menschen die zwar arbeitsfreudig und tüchtig sind, sogar eine Arbeitstelle innehaben, die aber ihre bürgerlichen Pflichten hintanstellen, weil sie nicht auf der Welle unserer modernen Zeit mitschwimmen, immer noch rückständigen und daher falschen Propheterien nacheifern. Wer nicht hören will, sollte fühlen! Die Regierung sollte sich als Anwalt des Zeitgeistes verstehen, im Zweifelsfall streng durchgreifen und falsche Mitmenschlichkeit gnadenlos, und im Namen des Naturgesetzes aburteilen. Diese Leute müssen endlich kapieren, dass sich der moderne Staat keinen Ballast mehr leisten kann. Kapieren, dass man entweder den Menschenballast zu annehmbaren Bürgern erzieht oder sich von ihm trennen, ihn aus der Gesellschaft aussperren muß. Wir haben uns an Leistung zu messen, an dem, was wir uns leisten können und wollen. Bummelanten können wir uns nicht leisten; straffällig gewordene Flaneure wollen wir uns nicht leisten. Eine moderne Gesellschaft sollte ohne falsche Gnade aufräumen mit den parasitären Belastungselementen. Und nein, das ist keine Böswilligkeit - es ist die Inklusion der Vernunft.

Unsere Zeit erfordert nun mal Opfer. Wenn wir als Gesellschaft überleben wollen, müssen wir nun bereit sein, die Probleme schonungslos offenzulegen, um sie zur endgültigen Lösung, zur Endlösung sozusagen, zu bringen. Die Bummelei hat sich endgültig auszubummeln. Heute heißt es ganz berechtigt, nützlich zu sein, dienlich und tauglich. Nur ein gewinnbringendes, ein ertragreiches Leben ist ein sinnvolles Leben, ein Leben mit Zukunft, ein Leben für ein zukünftiges Volk. Da ist es doch nur human, wenn der Staat auftritt, um jeden Menschen zum Nützlichsein zu treiben, ihn dafür zu rüsten, zu kräftigen, damit er für unsere Zeit lebenswert wird. Liberale Weltanschauungen haben das nie verstanden; sie haben die vorhandene elende Arbeitscheue verständnisvoll bemuttert, statt sie mit Stumpf und Stiel auszumerzen. Ich bin zuversichtlich, mein liebes Diarium, dass die neue Regierung kein liebevolles Muttchen für diejenigen sein wird, die nur an Brustwarzen melken, um den Milchfluss zu beschleunigen. Sie wird nicht die teure und kostbare Muttermilch nuckelnden Schmarotzer liebkosen, sondern dem arbeitenden Volk, dieser Grundlage aller Gesellschaft, beistehen. Den Parasiten wird sie verschwinden lassen, denn das ist der Einstieg in die Rettung unserer Existenz. Hoffentlich nicht zu spät.

Verehrtes Tagebuch, ich habe dir für deine Geduld zu danken. Und sei dir dessen sicher: ich bin kein Unmensch, auch wenn es sich mit etwas Phantasie sicherlich so herauslesen ließe. Es ist doch so, dass wir in Zeiten stehen, in denen der Wahrheit genüge getan werden muß. Wahrheit klingt wahrscheinlich immer unmenschlich.
Bis bald, dann wieder so unpolitisch wie eh und je, so unpolitisch, wie es eigentlich meinem Charakter entspricht.

München, Anfang Februar 1933

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Sit venia verbo

Freitag, 12. Februar 2010

"Ich nannte sie die Amerikaner im Exil - alles ganz unterschiedliche Leute. Sie hatten nur eines gemeinsam: Sie wollten alle keine Amerikaner sein und versteckten ihre wahre Identität. Der eine arbeitete als Rausschmeißer in einer proletarischen Berliner Kneipe und erzählte jedem, der ihn nach seinem Akzent fragte, er sei aus Nordkanada abgehauen und wäre der jüngste Sohn einer Holzfällerdynastie. Solche Geschichten kommen bei den hiesigen Eingeborenen immer gut an: Sie verherrlichen alle die körperliche Arbeit, je länger sie arbeitslos sind, desto mehr."
- Wladimir Kaminer, "Die Reise nach Trulala" -

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Soziale Unruhen ausgeschlossen!

Donnerstag, 11. Februar 2010

Familienpolitische Leistungen komplett auf den Prüfstand!, sonorte es Stunden nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus Radios und Fernsehapparaten. Schon vor einigen Tagen verlautbarte das Familienministerium, dass vom Ehegattensplitting bis zum Kindergeld überprüft werden soll, "was sich bewährt [habe] und was nicht". Nun hätte auch die Arbeitsministerin verkündet, so Radio und TV, dass familienpolitische Leistungen, von Ehegattensplitting bis hin zum Kindergeld, inspiziert werden sollen, um etwaige höhere Kosten bei Sozialgeld und Arbeitslosengeld II auszugleichen.

Es war kaum wenige Stunden her, dass das Urteil zur Welt kam, da setzte sich bereits eine untergründige, verschmitzte Stimmungsmache in Bewegung. Bevor die Sturmgeschütze des bürgerlichen Anstandsmenschen, der durch Arbeitsplatz, Fleiß, Unterwürfigkeit und naiven Untertanengeist für sexy erklärt wird, bevor die üblichen Verdächtigen mit ihrer plumpen, klobigen Eigenart zur Attacke auf die schmarotzende, unersättliche, immer dürstende Unterschicht bläst, machte sich eine feinsinnige, eine sensitive Wühlarbeit im Fundus der Ressentiments ans Werk. Noch ehe die aufzuwiegelnde Menge intravenös an den Tropf genommen wird, greift man auf subkutane, ja fast schon fintenreich intrakutane Mittelchen.

Kindergeld auf dem Prüfstand! Wieviele wurden hier hellhörig? Am Ende raubt der Faulpelz, allezeit Ansprüche stellend, raffend und mit versoffen-verschlagenen Blick äugend, auch noch das Kindergeld derer, die nicht stinkfaul auf der Couch strolchen, die arbeiten und schaffen, Werte herstellen und Leistung erbringen. Es ist ein Kalkül mit lächelnder Ministerinnen-Fassade, das hier zartbesaitet und feinfühlig aufstachelt, eine Neiddebatte inszeniert, die zwischen Fleiß und Faulheit, Arbeitsplatz und Arbeitslosigkeit ausgetragen werden soll. Vermeintlich seriös breitet man eventuelles Sparpotenzial aus, läßt durchscheinen, dass womöglich das Kindergeld (teilweise) eingespart werden könnte und weckt damit Antipathie und Abscheu, macht Erwerbslose zum Hassobjekt, zum Unglück aller Arbeitenden.

Waren die gelegentlichen Kampagnen gegen das träge Gesindel schon in jüngster Vergangenheit oft schmerzhaft, haben zum Erbrechen stimuliert, zweifeln lassen an der ethischen Fundamentierung dieser Gesellschaft, so ist in der nahen Zukunft mit einer Verschärfung der Pogrombereitschaft zu rechnen. Mit Sturm ist jedoch nicht zu rechnen, soziale Unruhen sind beinahe auszuschließen. Die betroffenen, diffamierten und verspotteten Zeitgenossen werden sich nicht dagegen auflehnen, sich stattdessen immer mehr in die Isolation begeben, sich einigeln und sich stufenweise selbst einreden, ein Stück fleischgewordenes Unglück für die gesamte Gesellschaft zu sein. Eine einzige große Kampagne gegen den anspruchsvollen und teuren Faulpelz, die Bekämpfung des Arbeitslosen nicht der Arbeitslosigkeit, hier mal leise und bedächtig auf Sparflamme, dort polternd und zerschlagend im Trommelfeuer - diese einzige enorme Kampagne wird dieses Land in den nächsten Monaten, vielleicht auch Jahren, in ein einziges verwüstetes Schlachtfeld verwandeln.

Ein Schlachtfeld, auf dem die Feinde nicht kampfesfroh sein werden, weil man alles dafür tut, den Widerstandwillen zu zersetzen. Man wird ihnen das Selbstvertrauen genauso rauben, wie vormals die gesellschaftliche Teilhabe und die Menschenwürde. Und es wird kein Krieg sein, der von oben verordnet und geführt wird; er wird den aufgewiegelten Massen in Fleisch und Blut übergehen, er wird im Namen der Profite und der Profiteure, von einer wildgewordenen Volksarmee geführt. Sich ausgebeutet wähnende, sich zu kurz gekommen fühlende Milizen, stürmen immer noch am leidenschaftlichsten, sind immer noch die effektivsten Leidschaffenden - gerade dann, wenn der Feind unbewaffnet und ohne Verteidigungswillen zittert.

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Armut abgeschafft - ein Leben in Luxus droht

Mittwoch, 10. Februar 2010

Es ist zunächst einmal einerlei, ob die zukünftigen Regelsätze aufgebessert werden oder eher nicht. Einige Stunden nachdem das Bundesverfassungsgericht gesprochen hat, zählen noch nicht die Rechenkünste künftiger Mathematiker, die dann vermutlich gläserner mit Zahlen, Warenkörben und Bedarfskosten balancieren werden, alleinig um letztlich nicht weitherziger zu bemessen. Diese schwarze Arithmetik erfolgt später. In diesen Stunden, kurz nachdem das Gericht über die Regelsätze und die Verfassungsmäßigkeit derselbigen gebrütet hat, saß man auch über die Arroganz derer zu Gericht, die Hartz IV und die daraus ringsherum resultierenden Perversionen, fanatisch befürwortet haben, die lobten und im Stakkato von der Bedeutsamkeit und dem hohen Stellenwert dieser wichtigsten und größten Reform der bundesrepublikanischen Geschichte sprachen.

Die wichtigste Reform aller Zeiten! Es bezeugt die gesamte Misere, die ganze Kümmernis dieser Republik, wenn die angebliche Mutter aller Sozialreformen, dieser Wegweiser deutscher Sozialpolitik, nun in nicht unbeträchtlichen Teilen als verfassungswidrig anerkannt wurde. Was man nach einem solchen Urteil herauslesen kann, ist nicht nur die Verfassungswidrigkeit - man liest auch die Mittelmäßigkeit derer heraus, die Gesetze ohne jede soziale Verantwortung vorantreiben und erlassen. Man liest Ignoranz und Desinteresse heraus, ebenso Einfältigkeit und Dünkel. Ja, die vollständige Arroganz der Machthabenden schlägt durch. Nach geheuchelter Einsicht in den letzten Wochen und Selbstbeweihräucherung zum fünfjährigen Wiegenfest, bekommen die Parteigänger der Reform - Parteigänger aus beinahe allen politischen Lagern - von hoher Stelle anerkannt, jahrelang außerhalb der Verfassung gutgeheißen, befürwortet, gerühmt zu haben. In verfassungswidriger Überheblichkeit haben sie erklärt, dass die Reform vielleicht hie und da ein wenig überarbeitet gehört, nicht aber wesentlich falsch sei. Solche Demokraten sind wahrlich in einer traurigen Verfassung, wenn für sie Verfassungswidrigkeit nicht bindend falsch ist. Und das verfassungswidrige Einfordern, die jetzt verfassungswidrig erklärten Regelsätze pauschal um zwanzig, dreißig, vierzig Prozent zu stutzen (je höher die Forderung nach Kürzung, desto angesehener und umschwärmter der "Experte"), offenbart die gesamte Mentalität elitären Standesdünkels.

Es ist zunächst unerheblich, ob eine neue Bemessungspraxis zu höheren Regelleistungen führen oder das derzeitige Niveau beibehalten wird. Die berechnenden Gaunereien und zerrechnenden Tricksereien werden im Laufe dieses Jahres folgen, umsäumt von der öffentlichen Berichterstattung, die nichts unversucht lassen wird, um deutlich zu machen, dass die Schmarotzer dieses Landes tiefstes Unglück sind. Eine verschärftere Stimmungsmache muß befürchtet werden, die horrenden Unkosten werden aus Arbeitslosen noch mehr denn je Ballastexistenzen machen. Was so kurz nach Urteilsverkündung ins Auge sticht, diesmal richterlich unterstrichen und nicht lediglich subjektiv betrachtet, ist die eindrucksvolle Arroganz der politischen Zunft und ihrer Herren aus der Wirtschaft. Allesamt Jünger der Hartz IV-Gesetze, Jünger, die herablassend gegen das uferlose Anspruchsdenken von Minderleistern polterten, die selbstgefällig die soziale Komponente ihrer Reform betonten, hochnäsig die Nöte und Sorgen von Millionen von Menschen missachteten. Dabei kannten sie keine Parteien mehr - diese unermessliche Arroganz wurde parteiübergreifend betrieben. Merkel und von der Leyen, Westerwelle mitsamt taliberalen Kamarilla, Oppositionsführer Steinmeier und grüne Realo-Snobs - alle im selben impertinenten Boot.

Fünf Jahre Verfassungswidrigkeit. Mehr als fünf Jahre, denn schon vormals, als Hartz IV noch ein Zukunftsmodell war, rumorte es wuchtig. Damals schon liefen Wohlfahrtsverbände und andere Kritiker Sturm. Romantiker nannte man jene bereits seinerzeit, und während jener fünf Jahre der Verfassungswidrigkeit mußten Kritiker sowieso mancherlei Verspottungen ertragen. Sozialverkitschte Existenzen seien sie, die nicht wüssten, wie moderner Sozialstaat gestemmt werden muß. Natürlich hat das Gericht nicht explizit erklärt, dass die Regelsätze zu niedrig seien, die Verfassung gibt ja keine konkreten Geldwerte vor. Aber schon alleine, dass diese Selbstgefälligkeit einen Dämpfer erhielt, dass die Selbstverständlichkeit einer fast willkürlich gesetzten Leistungshöhe eben nicht mehr selbstverständlich ist, ist schon ein Sieg. Wenngleich ein temporärer Sieg, im Gedenken an Pyrrhus. Denn dass höhere Sätze errechnet werden, ist in Anbetracht der kriminellen Energien dieser Eliten und ihrer politischen Marionetten, nicht zu erwarten. Man rettet ja keine Banken oder solche, die viel Geld auf Banken tragen könnten. Es geht bloß um Grundsicherung, um das Brot kleiner Leute. Und eine höhere Grundsicherung muß zwangsläufig auch den Arbeitsmarkt erreichen, könnte den Niedriglohnsektor in Bedrängnis bringen, einen ungeliebten Mindestlohn beschwören, um der dann größer ausfallenden, ausufernden Aufstockerei, diesem privaten Produzieren und Dienstleisten auf Staatskosten, doch noch Herr zu werden. Man wird Bemessungsgrundlagen schaffen, die nicht spielend zu kippen sind - wesentliche finanzielle Erleichterung werden Hilfebedürftige aber wohl kaum erfahren.

Schwarzmalerei? Möglicherweise! Aber anhand der heute abgeurteilten Arroganz der oberen Zehntausend, sicherlich kein Pessimismus, der an den Haaren herbeigezogen wäre, sondern empirisches Weiterspinnen dessen, was man seit Jahren in diesem Land ertragen und erleben muß. Man wird Transparenz fordern und ins Leben rufen, keine besseren Lebensumstände - letzteres wäre fast ein Reuebekenntnis. Der Hochmut läßt solcherlei Bekenntnisse aber nicht zu. Und hernach stehen sie blütenweiß da, weil sie eine verfassungsrechtlich abgesegnete Armenverwaltung auf seichtesten Niveau installiert haben. Dann hilft auch kein Jammern mehr, denn dann deutet man nach Karlsruhe und erklärt, man habe alle Auflagen erfüllt, die Armut sei nun abgeschafft und die Regelsätze, die nur unwesentlich modifiziert wurden, seien ab jetzt mit der Menschenwürde vereinbar. Dann mag es weiterhin an allem mangeln - nur an der Würde nicht. Und wer Würde besitzt, der ist wahrlich reich. Würdevolle Armut ist ein unvorstellbarer Luxus! Und genau dieser Luxus droht - nicht höhere Regelsätze.

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Buchbesprechung: Unzugehörig

Dienstag, 9. Februar 2010

Eine Buchempfehlung von Stefan Sasse.

Es ist die schmerzhafte Surrealität solcher Szenen, die de Lapuente vor dem Leser ausbreitet und die diesen so in seinen Bann schlagen. Doch nicht nur der seelenlosen Bürokratie der Arbeitsämter als solcher widmet sich der Autor, sondern sein zurecht idealistischer Kreuzzug streitet auch engagiert wider das bürgerliche Vergessen, wider das, was ich hier als Auschwitz-Mentalität subsumiere. Die Leichtigkeit, mit der ihm es gelingt, die Selbstrechtfertigung eines ehemaligen Hartz-Beamten in einem postrevolutionären Deutschland genau nach der eines KZ-Wächters klingen zu lassen, der immer noch nicht zu erkennen vermag, warum „was damals Recht war, heute Unrecht sein kann“, ist beeindruckend und regt zu tiefem Nachdenken an. Der Übergang von diesem Topos zur Frage des allgegenwärtigen deutschen Ausländerhasses ist fließend.
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Kein Dazwischen

Wechselweise ist er behäbig, vermodert auf speckigen Sofas, oder er ist rastlos, rackert im Untergrund für sein pompöses Zuhause. Mal ist er nachlässig, eine kariöse Schlampe, dann ist er wieder dank unerschöpflicher Geheimschätze in überteuerten Markenzwirn gewandet und überdies mit Steuerzahlers Absolution kostenfrei von Zahnruinen befreit. Heute zu den Verblödeten gezählt, zur bildungsfernen Schicht - wie man das modern nennt -, so ist er dennoch tagsdrauf in der Lage, das komplizierte Sozialgesetzbuch auf Grauzonen und Schlupflöcher und Schleichwege zu überprüfen, an denen er seine Raffgier abzureagieren, in die er seine Hängematte hineinzuhängen gedenkt.

Wir müssen uns den Erwerbslosen als zerrissenen Unmenschen vorstellen, zwischen verwerflicher Faulheit und verwerflichem Fleiß, stinkender Ungepflegtheit und zum Himmel stinkender Eleganz, geächteter Dummheit und geächteter Bauernschläue. Gleich wie er es auch anstellt, unbescholtene Persönlichkeit besitzt er keine. Er ist Unmensch - er hat ein Unmensch zu sein. Entweder gammelt er faul auf dem Sofa, dann ist er nicht fleißig am Schwarzmarkt - oder er ist fleißig in der Schleichwirtschaft, doch dann liegt er nicht arbeitsscheu auf dem Sofa. Gleichviel! Die Endstation dieser Pogromstimmung lautet so oder so: Der Arbeitslose ist unser Unglück! Der Weg zu diesem Erkenntnisgewinn führt über viele Straßen. Einerlei wie, am Ende zählt nur, dass den berieselten und beackerten Menschen faßbar wird, wer für das allgemeine Unglück verantwortlich ist, wer zur Rechenschaft gezogen werden muß. Das Gähnen aus Faulheit ist gleichviel Verderben, wie die Abgespanntheit ausgetobten Schwarzarbeiterfleißes gesellschaftlicher Untergang ist. Missetat hie - Untat da. Dazwischen beeindruckende Leere, dort gibt es überhaupt nichts. Hat es nichts zu geben!

Dazwischen Ödnis! Oder anders gesagt: Die Wirklichkeit, das was für Erwerbslose Realität ist, gibt es gar nicht. Darf es nicht geben! Nichts zwischen Faulenzer und Preller darf sein. Die Betrachter der Armut, die vor dem Käfig promenieren, zuweilen gedankenverloren stehenbleiben, dabei stier hinter die Ginter gaffend, müssen dem Eindruck zugeführt werden, es mit einer besonders tückischen und hinterfotzigen Primatenart zu tun zu haben. Nicht nur die Gaffer sollen staunen und stutzen, auch die Insassen höchstselbst sollen zwischen Faulheit und fehlgeleiteten Fleiß, zwischen Sofaräkeleien und unter der Hand vergüteten Freundschaftsdiensten, dort wo das wirkliche Leben der Habenichtse wirklich stattfände, nicht frei aufatmen können. Wankend zwischen Trägheit und ungeliebter Schaffensfreude, wankend zwischen Kommen Sie in die Gänge! und Sie waren zu eifrig, man hat Sie gesehen! Wankend zwischen Vermögensbegutachtung, Kontoprüfung, Schrank- und Badezimmerinspektion um Klarheit über schwarze Nebenverdienste zu erspitzeln und Aktivierungsprogrammen, Eingliederungsmaßnahmen, Zeit-tot-schlag-Verwaltungsakten zur Bändigung der anheimelnden Gemütlichkeit.

Und wer sich dazwischen eine kümmerliche Existenz aufbaut, der ist sowieso verdächtig. Gerade so einer ist verdächtig! Denn wer offenbar willens ist zu arbeiten, nicht schwarz, sondern in der weißen Wirtschaft, der ist dubios. Wie kann nur jemand, in der Betrüger- und Täterschicht, ein betrugsfreies, täterloses Leben führen wollen? Da stimmt doch was nicht! Da muß was faul sein! Entweder kann er seinen Müßiggang brilliant als Eifer verkaufen, oder er versteht es blendend, seine fehlgeleitete Rührigkeit hinter gespielter Trägheit zu verbergen. Die Wirklichkeit, die irgendwo zwischen Faulheit und Fleiß, zwischen Ungepflegtheit und Eleganz, zwischen Dummheit und Schläue liegt, wird zum massenhaften Ausnahmefall, zum hunderttausendfachen Einzelfall. Zur unzählbar häufigen Rarität, weil die Pluralität der öffentlichen Meinungen, nur zwei jeweilige Szenarien kennt. Zwei Szenarien mit demselben vulgären Ende!

Singulare Pluralität! Szenario eins macht den Habenichts zum Scheißkerl, weil er auf Rechnung Dritter träge, stinkend und blöde ist. Szenario zwei erklärt den Gammler zum Dreckschwein, weil er auf fremde Kosten zu fleißig, zu gepflegt und zu altklug wirkt. Wie er es auch dreht und wendet, er liegt immer falsch. Es gibt keinen Ausweg aus seiner Misere. Selbst im Tod hält man ihm noch vor, für seine Beerdigung aufkommen zu müssen. Man müsse für ihn finanziell geradestehen, obwohl er wahlweise entweder a) arbeitsfähig jedoch faul war, oder b) eigentlich ausreichend schwarz hinzuverdient hätte, um sein Ableben selbst finanzieren zu können.

So oder so, der Habenichts gilt als Stück Ballast, als störender Ramsch, der außerdem noch die Frechheit besitzt, seine behindernde Existenz nicht still und mit tadellosem Benehmen zu fristen. Wenn er auch nur den Mund aufmacht, sprudeln die niederen Beweggründe von alleine hervor. Wer bezahlt schafft an, heißt es vulgär - wer bezahlt, der schafft auch ab. Die Bezahler, die Steuerbezahler, schaffen den überflüssigen Menschen ab, erklären jede seiner vollbrachten oder unterlassenen Taten zur Niederträchtigkeit und sind dabei auf dem Wege, das Dasein der Überflüssigen als Beleidigung an den Notwendigen, den noch Notwendiggebliebenen, einzuordnen.

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Erdrückende Beweislast

Montag, 8. Februar 2010

"Dann wollen wir mal", nuschelte der Vermittler dem verkrampften und bangen Kunden zu, "setzen Sie sich! Ich habe hier eine Beschwerde vorliegen. Sie sind, so heißt es hier, am Achten dieses Monats, also vor etwas mehr als zwei Wochen, nicht im Schulungszentrum erschienen. Dies, obwohl Sie angeschrieben wurden, dort bitteschön am erwähnten Tag zu erscheinen. Möchten Sie sich dazu äußern?"
Der Verhörte griente blöde, lächelte dann versöhnlich, als wolle er mit seinem Befrager zur Brüderschaft schreiten, fragte nach erfolgloser Fraternisierung, ob es sich um jenen Achten des Monats handle, an dem das Schulungszentrum, dieser vermoderte und morsche Kasten, unter seinem Eigengewicht eingestürzt sei, unter sich mehrere hundert Menschen begrabend.
"Das steht hier gar nicht zur Diskussion!", schallte die Antwort unwirsch durch den ärmlichen Raum. Natürlich könne es sich um diesen unheilvollen Tag für diese, für unsere Stadt handeln. Es sei aber nicht wesentlich. "Wir betrauern hier heute nicht die Toten, wir kümmern uns heute nur um Ihre Angelegenheit. Sie waren also abwesend. Man hat die Anwesenheitsliste zwischen Schutt und Holztrümmern gefunden, gleich seitlich eines Torsos, vermutlich der des Bewerbungscoaches. Alle Namen waren eingetragen, Ihr Name aber fehlt. Wollen Sie sich erklären?"
Was, so die rhetorische Gegenfrage, wenn er auf Übersinnliches plädiere. Würde man einer solchen Erklärung Glauben schenken. Er schäme sich gehörig für die folgende Antwort, erklärte der Verhörte, man würde ja schnell zum Spinner abgestempelt. Aber dennoch, in Anbetracht der Umstände, müßte er ehrlich sein. In der Nacht vom Siebten auf den Achten, da plagte ihn ein langer, schweißdurchtränkender Alptraum. Im Wust aus Beton und Holz sah er sich, Arme und Beine zerschmettert, letzte Atemzüge tätigend. Vorahnung sei es gewesen, worauf er sicherheitshalber fernblieb. Als er dann gegen zehn Uhr aus dem Radio vernahm, dass das Zentrum seit einigen Minuten nicht mehr war, da fühlte er sich ausreichend bestätigt und glaubte, sich ob seines Fernbleibens gar nicht mehr rechtfertigen zu müssen.
"In der Rechtsfolgebelehrung", legte der Vermittler unbeeindruckt dar, "in der Rechtsfolgebelehrung, heißt es ausdrücklich, dass bei Fernbleiben ein wichtiger Grund angegeben werden muß. Vorahnung, glaube ich, zählt nicht dazu. Sie wissen, dass Sie dafür belangt werden können, nehme ich an. Sanktion und anteilige Kostenerstattung des versäumten Kurses wird veranlasst. Ein Bescheid wird Ihnen diesbezüglich zugehen."
Wäre er dort erschienen, führte der gestellte Täter aus, hätte er heute hier nicht erscheinen können. Oder doch, er hätte auch dann erscheinen können - als Geist nämlich. Ob man das schon berücksichtigt hätte. Man würde ihn hier bestrafen, weil er noch lebe. Wäre er nun verschüttet, so wie die Damen und Herren, die heute, nach mehr als zwei Wochen, immer noch unter Tage lägen, gärend und verwesend, so dürfte er reinen Gewissens sein. Rechtschaffen hätte er sich lediglich benommen, wenn er sich hätte verschütten lassen. Indem er aber noch lebe, habe er seinen Verstoß begründet.
"Wie erläutert, darum geht es heute gar nicht. Wir wünschen Ihnen nicht den Tod. Aber das ist hier nicht das Thema." Dieses sei nämlich eindeutig, fuhr er fort. Der Hilfebedürftige nach Sozialgesetzbuch soundso, sei einem Bescheid nebst Rechtsfolgebelehrung nicht nachgekommen und habe damit gegen Paragraphen werweißwie verstoßen. "Als Mensch bin ich erleichtert, dass Sie damals dort nicht erschienen sind - als Angestellter der Kommune, das sehen Sie doch sicherlich ein, darf ich nicht erleichtert sein. Es hat mir von Berufswegen gleichgültig zu sein, ob sie überlebt haben oder nicht. Was zählt ist der Tatbestand, der rein dienstlich betrachtet, erdrückend ist."
Stumm blickte der überlebende Rechtsbrecher hinüber, starrte seinem Vermittler, seinem Herrn über Leben und Tod, ins Gesicht. Nicht kess, nicht unbefangen, eher fassungslos, an der Schwelle zur Fassungslosigkeit. Seine Lippen setzten an, wollten Worte formen, wollten sich entrüsten, schelten, nach dem Grad der Hirnerweichung fragen. Zu spät, schon setzte der andere seine Ausführungen fort.
"Trösten Sie sich. Ob nun hellseherische Vorahnung oder irgendein irdisches Motiv, Sie hätten sich kaum herausreden können. Sie waren, ich formuliere das mal so frei, so ungezwungen, Sie waren von Anbeginn Ihres Erscheinens verurteilt. Ja, wenn Sie damals dort erschienen wären, wenn Sie der Aufforderung Folge geleistet hätten, dann sähe die Sache heute hier anders aus. Dann wären Sie gar nicht hier..."
Genau!, er wäre gar nicht mehr hier, fiel er dem Monolog ins Konzept. Er läge einige hundert Meter von hier, unter Brocken, das Gehirn aus dem Schädel baumelnd, womöglich, mit zerbröselten Armen und Beinen. Zwar könne er verstehen, wenn man ihm nun nachsage, er sei pflichtvergessen gewesen. Nur sollte man doch menschlich, auf dem Boden der Nächstenliebe bleiben, diesen Verstoß unter den Teppich kehren, weil er sich letztlich als erfreulicher Verstoß herausgestellt habe.
"Wichtiger Grund!", schrie der Inquisitor bereits übellauniger, "wichtiger Grund! Solche gibt es einige, solche sind festgelegt, auch wenn es zugegeben einen Handlungsspielraum gibt. Nachweisbare Krankheit beispielsweise. Oder ein Wegeunfall, sofern dokumentiert und belegbar. Vom eigenen Überleben, basierend auf Alpträumen, als wichtigen Grund, ist nirgends die Rede. Sie leben, das ist erfreulich - es ist aber nicht erfreulich, dass Sie Ihren Pflichten nicht nachgekommen sind. Natürlich muß man davon ausgehen, dass Sie heute nicht mehr unter den Lebenden wären, wenn Sie Ihre Pflicht nicht verschwitzt hätten, so wie es ja eigentlich sein sollte. Aber das ist und das darf kein Maßstab für die verwaltungstechnische Abwicklung gesellschaftlicher Fragen sein."
Zwar wisse er, erwiderte der Vorgeführte, dass hier kein Basar sei, nicht verhandelt werden könne, aber er möchte doch wenigstens bitten, dass ihm nur die Sanktion auferlegt, von den Schadensersatzansprüchen jedoch Abstand genommen wird. Immerhin, so argumentierte er, hätte der ganze Kurs nach knapp zwei Stunden ein jähes Ende gefunden, selbst wenn er damals erschienen wäre. Der Kurs wäre ja so oder so nicht beendet worden.
Er verstünde, worauf er hinauswolle, gab der Gegenüber zur Antwort, er könne dem Dargelegten folgen. "Sehen Sie, es ist auch festgelegt, wann Schadensersatz einzufordern ist und wann nicht. Prophezeiungen gehören eindeutig nicht auf die entlastende Seite. Für uns zählt auch hier nicht das Resultat, für uns zählen die einzelnen Fakten, die zur Sanktion führen. Ein erteilter Verwaltungsakt fragt nicht danach, ob sein Inhalt, sein Begehr positive Folgen zeitigen wird oder nicht, ob also Ihr Fernbleiben in diesem Falle, für Sie ein gutes Ende genommen hat oder eben nicht. Wir haben bezüglich Schadensersatz stramm am Gesetz zu entscheiden. Sie sollten das auch mal andersherum sehen, mit dem Augenpaar des Pflichtbewussten gewissermaßen. Träumte es mir, mir würde mein Büro über den Kopf zusammenkrachen, würde ich daraufhin aufwachen und todsicher wissen, dass mein Traum Wirklichkeit würde - ich würde dennoch am nächsten Morgen erscheinen und meinem Dienst nachgehen. Ohne Fakten, schwarz auf weiß, sind Entscheidungen nicht zu treffen." Folgen seien unerheblich - es zähle einzig, die Dinge zu tun, die von einem verlangt werden, schloss er. Außerdem solle er sich glücklich schätzen, weil ihm nicht noch größerer Ärger ereile.
Was damit wohl schon wieder gemeint sei, raunte der Überlebende. Verständnislos blickte er zum Pflichtenfreund. Fragend stierten seine Augen ins feiste Antlitz des Dienstbeflissenen. Er verstehe nicht, haspelte er; er wolle bittesehr Auskunft, forderte er.
"Sie sind damals nicht erschienen, obwohl Sie hätten erscheinen sollen. Das haben wir ja nun ausführlich besprochen. Jetzt passen Sie auf! Wenn unsere Behörde das der Staatsanwaltschaft weiterreicht, wird sie sich für Ihren Fall sehr zu interessieren haben. Warum? Ganz einfach. Weil Sie eigentlich tot sein müßten. Ganz offenbar leben Sie aber, wie ich sehen, hören und riechen kann. Die Staansanwaltschaft könnte Ihnen nun unterstellen, dass Sie sich Sozialleistungen erschleichen, die eigentlich einem Toten zugestanden hätten. Das heißt: Sie beziehen Leistungen, die eigentlich nicht mehr geleistet werden müßten, wenn Sie damals ins Schulungszentrum gegangen wären. Anders gesagt, sie betreiben Sozialmißbrauch, weil Sie sich Leistungen erschleichen, die bereits seit etwas mehr als zwei Wochen eingestellt sein könnten - ja sogar müßten. Seien Sie doch froh, dass wir davon absehen, die Staatsanwaltschaft nicht unnötig belasten wollen. Sie wären vorbestraft, wenn es so käme. Sich Sozialleistungen zu erschleichen ist kein Kavaliersdelikt. Sehen Sie, mein Lieber, auch ich bin ab und an pflichtvergessen. Es wäre nämlich meine Pflicht, dem Sozialmißbrauch nachzuschnüffeln und zur Meldung zu bringen. Aber ich bin doch kein Unmensch! Denn wenn Sie schon am Leben bleiben, dann müssen Sie ja auch von was leben."
Benommen von der Bosheit seines Verbrechens, der Schäbigkeit seiner lebenserhaltenden Vision, taumelte der Verbrecher von seinem Stuhl. Er wollte nur sein Leben retten, weiteratmen, nur sein dürfen und blieb daher dem Schulungszentrum fern. Weil er überlebte, hat er der Gesellschaft geschadet, sich gegen gesetztes Recht aufgelehnt - erst jetzt wurde ihm die ganze Bandbreite seines Verbrechens gewahr. Und er blickte zum vermittelnden Ermittler, glotzte ihn erst geistesabwesend an, wurde sich saumselig dessen Großzügigkeit bewusst, lächelte ihm dankerfüllt zu, trat hinter dessen Schreibtisch und küsste ihm die Wangen, die Stirn, den Kopf. Danke, immer wieder Danke, flüsterte er erleichtert. Wie schlimm stünde es um mich, stammelte er, wenn Sie Ihrem Diensteifer voll erlegen wären. Ein Mensch sei er trotz allem geblieben, lobte er seinen Widersacher. Ein guter Mensch, ein hilfsbereiter, verständnisvoller Mensch. Er warf die Bürotüre leise ins Schloss, zuvor noch einen Blick auf seinen Retter werfend, sich verabschiedend und nochmals dankend, trat auf den Flur und wähnte sich erleichtert. Gerade nochmal glimpflich verlaufen - es hätte schlimmer kommen können!

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