Verehrtes Tagebuch,
nunmehr seit Tagen betrauere ich die Gemütsverfassung dieses Landes. Es sei zugegeben, dass es mich fuchst, wohin wir blindlings steuern. Ob wir jetzt noch, nachdem das Fuhrwerk so tief im Schlamm steckt, zu retten sind, erkühne ich mich zu bezweifeln. Mindestens sollte man es aber noch versuchen, ehe es vollends zu spät ist.
Es hat mir noch immer wohl getan, auf deine Seiten zu kritzeln, mir meine Gedanken vom Hirn zu schreiben. Meist waren es bedeutungslose Dinge, die ich dir ins Innenleben notiert habe, kleine Ereignisse meines schlichten Daseins zumeist; Ereignisse, die einem Diarium blendend zu Titelblatte stehen. Schließlich war man ja unpolitisch, denn damit fuhr man stets am gesündesten. Jetzt muten mir diese unpolitischen Tage für vergangen an, endgültig versunken, wettgemacht durch die Erfordernis politischer Haltung. Ja, man muß überdies das Großeganze ins Auge fassen - unsere Zeit erfordert es. Eine Zeit, in der ich mich ebenso bedroht wie verärgert fühle, in der ich Ohnmacht und Wut verspüre, ja, in der ich überhaupt das Gefühl habe, dass vielen meiner Zeitgenossen gar nicht klar ist, wie gefährlich und hinterlistig unsere Lebenslage geworden ist.
Aber zunächst habe ich mich zu erklären, verehrtes Tagebuch, denn das hier Niedergelegte könnte die Vermutung aufkommen lassen, hier schriebe ein Menschenfresser. Aber man ist ja doch kein Unmensch, nur weil man unbequeme Sachverhalte aufreiht. Immerhin ist man ja doch nicht mit Begeisterung geradeheraus. Doch manchmal tut die Wahrheit eben weh, reißt Wunden auf, die davor nie hätten heilen dürfen. Aber sie bleibt wahr, selbst wenn sie Qualen beschert. Es scheint mir dieser Tage die heilige Pflicht jedes beherzten Bürgers, Wahrheit auch dann zu verbreiten, wenn sie verletzt. Man muß sich ja nicht in Vergnüglichkeit suhlen, wenn man sich zur überhandnehmenden Arbeitsscheue äußert.
Das solltest du wissen, verehrtes Tagebuch, denn auch ich erfreue mich nicht, einem solchen Umstand zur Wahrheit zu verhelfen, selbst wenn die folgenden Zeilen das vermuten lassen könnten. Nein, ich bin Fragment der zivilisierten Welt. Mir geht es um die vernünftige Lösung von Problematiken, nicht um Freude am asozialen Kuriositätenkabinett. Ich wäre geradezu glücklich, wenn ich diese bittere Wahrheit nicht zur Sprache bringen, sie mir von der Seele schreiben müßte - ich wäre erleichtert, wenn es Arbeitsscheue, dieses Unglück der Gesellschaft, gar nicht gäbe, wenn diese triste Wahrheit also unwahr würde. Selbst wenn es sich barbarisch liest, was folgt: es muß doch erlaubt sein, sich eines solchen Gegenstandes nicht durch die Blume zu nähern.
Nicht in Verzückung hat man sich der Müßiggänger anzunehmen, weil es notwendig ist, weil er den gesellschaftlichen Werdegang hemmt, ist es geboten, endlich einmal couragiert aufzustehen. Es muß gestattet sein, die verheerenden Kosten, die uns die Beköstigung von untätigen Gesindel auferlegt, auch aussprechen zu dürfen, um sich alsdann Gedanken darüber machen zu können, wie man es ermöglicht, diese Kosten zu senken. Und man muß sich darüber unterhalten, wie man diese Feinde der Volksgemeinschaft, diese gesellschaftsfeindlich gesinnten Subjekte, die obzwar von unsereinem Wohlstand beziehen, uns aber nicht sonderlich schätzen - man muß darüber beraten, wie man diese selbstgerechte Gattung dressieren kann. Obwohl dieses Land etliche Probleme kennt, das Überhandnehmen fremder Elemente beispielsweise, so erscheint mir, verehrtes Tagebuch, die Asozialen-Problematik derzeit gravierender. Ein Weiter so! kann es nicht geben, wenn wir nicht wollen, dass diese Gesellschaft untergeht.
Diese freigebige, tolerante Überheblichkeit, dieses liberale Zurschaustellen ach so demokratischer Qualitäten! Dieses unbekömmliche Benehmen der letzten Jahre, es hat versucht, arbeitsscheues Pack in Schutz zu nehmen, es zu angeblichen Opfern zu machen, die eigentliche Täterschaft zu verbergen. Ein solch gutmenschlerisches Gewimmer kann sich diese Gesellschaft nicht mehr erlauben. Es sind nicht nur diejenigen, die parasitär von des Deutschen Schweiß und Blut zehren, die uns schaden, auch der altruistische Mensch zersetzt die Gemeinschaft, schadet dem ganzen Volk in seinem blinden Eifer.
Sobald man den Asozialen in eine Opferrolle drängt, bewilligt man ihm das luxuriöse Gejammer, genehmigt man ihm das anmaßende Geschimpfe über die Regierung und ihre Vertreter. Ihre selbstverschuldete Randexistenz wird entschuldigt und es wird ihnen eingeflüstert, sie hätten selbst wenig oder keinen Einfluss auf ihr Schicksal. Verantwortungslos ist sowas! Wie kann man Taugenichtse nur rechtfertigen wollen? Man sollte ihnen zu erkennen geben, mit drastischen Methoden wenn nötig, dass sie ihr Schicksal selbst ergreifen können - ach, was schreib' ich: selbst ergreifen müssen! Wer arbeiten will - das weiß ich aus eigener Erfahrung ebenso, wie aus dem engeren Bekanntenkreis -, wer arbeiten will, der wird auch eine Stelle finden. Sich selbst am Riemen zu reißen: davon hängt nicht nur die persönliche Reputation ab, es beflügelt die Schicksalsgemeinschaft innerhalb unserer Grenzen, es wirkt der Wegelagerei entgegen, die heute in Arbeitsämtern betrieben wird, wo Steuergelder in Unsummen als Wegzoll zurückgelassen werden.
Ich halte es daher für dringend notwendig, dass sich eine Gesellschaft rigorose und strikte Sozialprogramme entwirft, um der bockigen Verweigerungshaltung solcher Kreaturen den Garaus zu machen. Keine falsche Mitmenschlichkeit mehr - gebieterische und entmenschte Winkelzüge wären nun sinnvoll. Ein Ende der heuchlerischen Freundlichkeit! Der Mensch braucht von Natur aus Überlebensdruck. Besinnliche Gespräche über Lebenssituationen oder Wünsche, um diesen Schädlingen falsche Hoffnungen auf weitere Bummelstunden zu machen, sind da falsche, rückständige, dem menschlichen Wesen fremde Maßnahmen. Neinnein, solche Elemente brauchen staatliche Härte, brauchen Druck und Zwang. Sanktionen für die materielle Läuterung, bestenfalls Streichung der gesamten Bezüge für ein, zwei oder drei Monate - und Zwangsarbeit für die seelische und körperliche Katharsis. Wer dann auch noch die Frechheit besitzt, wegen gesperrter Zahlungen zu stehlen, der wird umgehend eingesperrt! Mit eisernen Besen Ordnung schaffen - bei mir gäbe es keine Flaneure. Bei mir würde den Drückebergern durch Knute und Fron wieder Struktur in ihren verbummelten Alltag einfahren. Mittags schlafen, nachts tanzen - das hätte sich endgültig erledigt.
Natürlich, das war zu erwarten, verehrtes Tagebuch, deine nicht mehr besonders schneeweißen Seiten starren mich entsetzt an. Woher sollst du auch wissen, dass sich die Zeiten jüngst gewandelt haben? Lange durfte man der Wahrheit nicht so ungeniert frönen, wie man es heute kann. Natürlich war es vormals nicht unbedingt verboten, radikale Kuren zu fordern, viele haben sowas ja auch immer wieder lauthals ausposaunt. Nur wurde man dann scheel angeguckt, als Geisteskranker klassifiziert. Du weißt ja, man darf alles kundtun - nur die Wahrheit nicht. Davon sind wir in jüngerer Vergangenheit abgekommen. Alles was ich dir heute auf diese Seiten niederlege, entspricht dem neuen, dem ehrlichen, dem befreienden Zeitgeist.
Ein Zeitgeist, der uns bilderreich vorführt, dass radikale Maßnahmen in dieser Frage, nicht nur des Staates Recht sind - nein, sie sind seine Pflicht! Der Staat und seine Regierung haben dem Volk zu dienen, müssen dafür Sorge tragen, dass aller Schaden vom Volk abgewendet wird. Sollte das bedeuten, Herumtreiber und Schmarotzer mit Rohrstock und Gerte zu erziehen, ihnen Frondienst aufzudrängen, Geldmittel zu verweigern: dann soll es eben so sein! Vereitelt man damit Schaden an den aufrechten und fleißigen Bürgern, dann kann uns diese Radikalität doch nur recht sein. Denn dann ist uns, die wir unseren Mann stehen, unserer Pflicht nachkommen, gleichwohl geholfen, wie denen, die Pflichten bei Wasser und Brot erlernen müßten.
Erwartungsgemäß brodelt es gelegentlich, geben sich selbst fleißige und geachtete Bürgerexemplare aufmüpfig ob solcher Forderungen, hängen sich viel zu verliebt an christliche oder philosophische Ideale, schwadronieren um eine fehlgeleitete Ethik, die dem Menschen nicht gerecht werden kann, weil sie an das nicht vorhandene Gute in ihm appelliert, nicht jedoch den alles dominierenden Überlebenstrieb stimuliert. Ewiggestrige Sichtweisen, lange überholt, heute nicht mehr haltbar, so zeitgemäß wie eine Droschke!
Wir haben uns auch vor denen zu schützen, die dieserart rückwärtsgewandt, als Droschkenkutscher menschenfremder Ethik quasi, die Beschädigung der Gesellschaft in Kauf nehmen, die dem aufrechten Volk in den Rücken fallen, bewaffnet mit ihrem moralischen Dolch. Auch hier ist die Wucht des Staates gefordert. Der Schmarotzer und seine altruistischen Hofschranzen können heutzutage nicht mehr geduldet werden, sie zersetzen die Arbeitsmoral des Volkes, lassen es gären und rumoren im Volkskörper. Der Gutmensch muß endlich zur Besinnung gebracht werden, muß lernen, sich wieder auf wesentliche Tatsachen zu konzentrieren. Diese Konzentrationsarbeit kann die Presse nicht alleine, schon gar nicht aus freien Stücken leisten; sie kann zwar unentwegt propagieren und in Richtungen lancieren - aber das reicht nicht aus. Sie braucht Hilfe, einen Wegweiser, Pressesammelstellen, in denen von staatlicher Warte aus vorgegeben wird, was berichtenswert ist, was erbaut, was belehrt.
Es ist schon richtig, du hast sicherlich recht, verehrtes Tagebuch, es wird auch dann Unbelehrbare geben, Menschen die zwar arbeitsfreudig und tüchtig sind, sogar eine Arbeitstelle innehaben, die aber ihre bürgerlichen Pflichten hintanstellen, weil sie nicht auf der Welle unserer modernen Zeit mitschwimmen, immer noch rückständigen und daher falschen Propheterien nacheifern. Wer nicht hören will, sollte fühlen! Die Regierung sollte sich als Anwalt des Zeitgeistes verstehen, im Zweifelsfall streng durchgreifen und falsche Mitmenschlichkeit gnadenlos, und im Namen des Naturgesetzes aburteilen. Diese Leute müssen endlich kapieren, dass sich der moderne Staat keinen Ballast mehr leisten kann. Kapieren, dass man entweder den Menschenballast zu annehmbaren Bürgern erzieht oder sich von ihm trennen, ihn aus der Gesellschaft aussperren muß. Wir haben uns an Leistung zu messen, an dem, was wir uns leisten können und wollen. Bummelanten können wir uns nicht leisten; straffällig gewordene Flaneure wollen wir uns nicht leisten. Eine moderne Gesellschaft sollte ohne falsche Gnade aufräumen mit den parasitären Belastungselementen. Und nein, das ist keine Böswilligkeit - es ist die Inklusion der Vernunft.
Unsere Zeit erfordert nun mal Opfer. Wenn wir als Gesellschaft überleben wollen, müssen wir nun bereit sein, die Probleme schonungslos offenzulegen, um sie zur endgültigen Lösung, zur Endlösung sozusagen, zu bringen. Die Bummelei hat sich endgültig auszubummeln. Heute heißt es ganz berechtigt, nützlich zu sein, dienlich und tauglich. Nur ein gewinnbringendes, ein ertragreiches Leben ist ein sinnvolles Leben, ein Leben mit Zukunft, ein Leben für ein zukünftiges Volk. Da ist es doch nur human, wenn der Staat auftritt, um jeden Menschen zum Nützlichsein zu treiben, ihn dafür zu rüsten, zu kräftigen, damit er für unsere Zeit lebenswert wird. Liberale Weltanschauungen haben das nie verstanden; sie haben die vorhandene elende Arbeitscheue verständnisvoll bemuttert, statt sie mit Stumpf und Stiel auszumerzen. Ich bin zuversichtlich, mein liebes Diarium, dass die neue Regierung kein liebevolles Muttchen für diejenigen sein wird, die nur an Brustwarzen melken, um den Milchfluss zu beschleunigen. Sie wird nicht die teure und kostbare Muttermilch nuckelnden Schmarotzer liebkosen, sondern dem arbeitenden Volk, dieser Grundlage aller Gesellschaft, beistehen. Den Parasiten wird sie verschwinden lassen, denn das ist der Einstieg in die Rettung unserer Existenz. Hoffentlich nicht zu spät.
Verehrtes Tagebuch, ich habe dir für deine Geduld zu danken. Und sei dir dessen sicher: ich bin kein Unmensch, auch wenn es sich mit etwas Phantasie sicherlich so herauslesen ließe. Es ist doch so, dass wir in Zeiten stehen, in denen der Wahrheit genüge getan werden muß. Wahrheit klingt wahrscheinlich immer unmenschlich.
Bis bald, dann wieder so unpolitisch wie eh und je, so unpolitisch, wie es eigentlich meinem Charakter entspricht.
München, Anfang Februar 1933
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