Kein unantastbares Vorbild
Samstag, 27. Februar 2010
oder: die Vermessenheit der Margot Käßmann.
Derjenige, der sich mit Moral, mit Ethik, mit Sittlichkeit befasst: er weiß von dieser eigenen Schwäche, den persönlichen Ansprüchen nicht ausreichend gerecht zu werden. Er ist darüber in Kenntnis gesetzt, selbst verfehlen zu können, eben deshalb, weil er Mensch ist, weil ihm deswegen nichts Menschliches fremd sein kann - um es mit der berühmten Sentenz des jüngeren Seneca zu sagen. Kein noch so ausgefeilter ethischer Kanon, kein moralisches Lehrbuch, kein sittlicher Ratgeber können den Fehltritt vereiteln - selbst derjenige, der täglich das moralische Flickzeug anwendet, Ethik philosophiert, von Kanzeln predigt, selbst wer also ausgewiesene Kapazität in Fragen der Moralität ist, ist vor Missetat und Fehler nicht gefeit. Der Schritt zum Fehltritt, er ist für jedermann ein ausgesprochen kleiner.
Tritt ein solcher Mensch, nennen wir ihn Moralisten, von seiner Bühne ab, nachdem ihm ein Fauxpas unterlaufen ist, so unterstreicht das nicht seine moralische Integrität, seine Autorität auf dem Gebiet der Moral - es hebt einen Anspruch hervor, der nicht übertrieben als Anmaßung, als Vermessenheit, als Arroganz gedeutet werden könnte. Denn der Moralist, er sollte sein Ideal nicht von sakrosankter Kanzel herabflehen, sich nicht unberührbar, unantastbar wähnen. Die eigene Unzulänglichkeit, der eigene Mangel sollten ihn stets aufs Podest begleiten. Er sollte nicht herabschauen auf seine Gemeinde, nicht den Zeigefinger erheben und Ihr Sünder! schreien - er ist dazu verpflichtet, für alle Menschen zu sprechen, sich eingeschlossen: Wir Sünder! Der Moralist ist kein unantastbares Vorbild, kein lustwandelnder Wertemaßstab. Er ist vielmehr deswegen Moralist, weil er von der Notwendigkeit moralischer Imperative, weil er von der schnellen, leichtsinnigen, unbedachten Übertretung weiß. Weil er erkannt hat, dass die Sünde, die Rücksichtslosigkeit, die Ignoranz, die Beleidigung etc., jede für sich so unvermeidbar ist, wie Speis und Trank, wie Darmentleerung.
Jener aber der herabschaut, der sich für unantastbar hält, für moralisch erhaben, der ist Klugscheißer, Besserwisser, Wichtigtuer - alles mögliche, nur kein Moralist. Tritt der Freund moralischer Lehren von Ämtern zurück, weil er gesündigt hat, so kehrt er hervor, dass er sich eigentlich für erlaucht genug hielt, niemals in so eine Bredouille zu geraten. Im Grunde warf er a priori, vor der Sünde, den ersten Stein, weil er glaubte, ohne Sünde sein zu können. Ein Stein, von dem er annimmt, er käme gleich einem Bumerang zurückgeflogen, wenn er voreilig und zu Unrecht geworfen wurde. Das Metier scheint verfehlt, wenn der moralistische Sünder flüchtet, sich nicht vor die Menge stellt und festhält, dass er als Mensch verfehlt hat - verfehlt hat, wie jeder Mensch irgendwann irrt, sündigt, fehlgeht. Gerade jetzt, da der Fehler ins Leben trat, hat er über Ethik zu sprechen, hat sich selbst anzuklagen, um glaubhaft zu bleiben, als Mensch unter Menschen zu gelten, nicht als abgehobener Prediger ohne Fundament, weil ihm die Sünde stets als Gebrechen der anderen galt. Jetzt, nach der Verfehlung, ist der Moralist erst wirkliche Koryphäe der Moralität geworden, eine empirische Autorität, jemand, der weiß, wovor er warnt.
Ein Rücktritt wirkt arrogant, wirkt wie eine Flucht, eines gestürzten Moralgottes. Es ist ein Bekenntnis, den eigenen Fehler als unbehebbares Manko einzustufen - als etwas, was nie wieder wettzumachen ist; als etwas, was nie hätte passieren dürfen. Dabei weiß der Moralist, dass jeder einmal in die Falle tappt. Selbst ertappt worden zu sein, darf nicht als Antrieb zum Rückzug herhalten, sondern hat die Bestätigung seiner Morallehre, seines predigenden Geschäfts zu sein. Tritt man in solchen Augenblicken ab, ist das freilich menschlich begreiflich, da die enttäuschte Erwartungshaltung der Betrachter Druck erzeugt. Doch letztlich ist es ein übereilter, ja logisch durchdacht, ein anmaßender Schritt. Der Rücktritt bestätigt eben nicht, dass man als moralische Größe versagt hat, nicht mehr glaubhaft wäre, integere Größe an den Tag legt - er legt nur dar, dass man sich selbst außerhalb des Sündhaften glaubte. Derweil wäre Aufgabe des Moralisten, jeden, auch sich selbst, darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Fehler bereut und fast jeder Fehler auf die eine oder anderen Weise revidiert werden kann. Das gilt auch für den Moralisten selbst - für den Moralisten, der in der sündigen Masse weilt, nicht darüber schwebt.
Zu seinen Schwächen zu stehen, sie zum Alltag menschlicher Existenz zu erklären, sie nicht zu verdammen, auszugrenzen, zu verleugnen - das ist Moral, das ist menschliche Ethik; das ist berechtigte und notwendige Moral; das ist die schlummernde Zukunft der anmaßenden Spezies Mensch, wenn sie überleben möchte - wenn sie ihn lebenswerten Zuständen überleben möchte. Zu oft schließt diese Gesellschaft Schwächen und Schwache aus - es braucht ein Bekenntnis zur Schwäche, zur Unzulänglichkeit, zum Gebrechen, auch zur Vergänglichkeit. Was die Menschheit mehr denn je benötigt, ist ein Credo auf Nicht-funktionieren, Nicht-perfekt-sein, Nicht-wissen. Ein zurechtstutzendes Credo, das das unrealistische und überhobene Menschenbild, wie es uns heute begegnet, mit all seinen gottgleichen und götzenhaften Facetten, mit seiner Arroganz, das Universum lenken, darin schalten und walten zu können, wie es beliebt - ein Credo, das solche Auswüchse abwürgt, das Begrenztheit, Fehlerhaftigkeit blanklegt. Ein mutiges Credo, das nicht die Perfektion liebkost und mit Stärken und Starken Händchen hält, sondern im Mangel und im Makel, das wahre Wesen des Menschen erahnt, in der Nacktheit unserer Spezies, in der Anfälligkeit, sich auch mal irren, Fehler machen zu können. Ein unerschütterliches Credo zur Verständnis, zum Einfühlungsvermögen, zur Bereitschaft, die Fehlerhaftigkeit des Nächsten nicht zu schelten und zu bestrafen, sondern sie zu akzeptieren und sie als menschliche Eigenart zu erkennen.
Die kürzlich zurückgetretene Bischöfin, sie hat damit deutlich gemacht, dass auch sie die Schwäche, die Unzulänglichkeit als verdammungswürdigen Frevel am herrschenden Menschenbild betrachtet. Wäre sie zu sich und ihrem Fehler gestanden, hätte sie erklärt, dass sie als Mensch, als Frau, als Moralistin ebenso fehlerhaft ist, wie jeder einzelne Mensch auf Erden - sie wäre unantastbares Vorbild gewesen. Sie hat ihre Vorbildrolle aufgegeben, da sie offensichtlich meinte, unberührbares - weil von Fehlern erlöstes - Vorbild sein zu müssen, das nur in hoher Position verharren sollte, wenn es makellos bleibt. Es wirkt fast arrogant anzunehmen, als Vorbild müsse man unfehlbar, dem menschlichen Makel abhold sein. Fehler zu bejahen, sie zur Kenntnis zu nehmen, sie zu bereuen, sie wiedergutmachen: das ist des Vorbilds Unantastbarkeit. Alles andere ist unerschwinglich, ist der Anspruch Heiliger sein zu wollen; einem idealisierten Bild von Heiligen zu entsprechen, einem Idealbild, einem Wunschbild, dem wirklich Heiliggesprochene sicherlich nie entsprachen - denn auch sie waren nur Menschen und hätten seinerzeit, sofern möglich, alkoholisiert einen Wagen gesteuert...
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Derjenige, der sich mit Moral, mit Ethik, mit Sittlichkeit befasst: er weiß von dieser eigenen Schwäche, den persönlichen Ansprüchen nicht ausreichend gerecht zu werden. Er ist darüber in Kenntnis gesetzt, selbst verfehlen zu können, eben deshalb, weil er Mensch ist, weil ihm deswegen nichts Menschliches fremd sein kann - um es mit der berühmten Sentenz des jüngeren Seneca zu sagen. Kein noch so ausgefeilter ethischer Kanon, kein moralisches Lehrbuch, kein sittlicher Ratgeber können den Fehltritt vereiteln - selbst derjenige, der täglich das moralische Flickzeug anwendet, Ethik philosophiert, von Kanzeln predigt, selbst wer also ausgewiesene Kapazität in Fragen der Moralität ist, ist vor Missetat und Fehler nicht gefeit. Der Schritt zum Fehltritt, er ist für jedermann ein ausgesprochen kleiner.
Tritt ein solcher Mensch, nennen wir ihn Moralisten, von seiner Bühne ab, nachdem ihm ein Fauxpas unterlaufen ist, so unterstreicht das nicht seine moralische Integrität, seine Autorität auf dem Gebiet der Moral - es hebt einen Anspruch hervor, der nicht übertrieben als Anmaßung, als Vermessenheit, als Arroganz gedeutet werden könnte. Denn der Moralist, er sollte sein Ideal nicht von sakrosankter Kanzel herabflehen, sich nicht unberührbar, unantastbar wähnen. Die eigene Unzulänglichkeit, der eigene Mangel sollten ihn stets aufs Podest begleiten. Er sollte nicht herabschauen auf seine Gemeinde, nicht den Zeigefinger erheben und Ihr Sünder! schreien - er ist dazu verpflichtet, für alle Menschen zu sprechen, sich eingeschlossen: Wir Sünder! Der Moralist ist kein unantastbares Vorbild, kein lustwandelnder Wertemaßstab. Er ist vielmehr deswegen Moralist, weil er von der Notwendigkeit moralischer Imperative, weil er von der schnellen, leichtsinnigen, unbedachten Übertretung weiß. Weil er erkannt hat, dass die Sünde, die Rücksichtslosigkeit, die Ignoranz, die Beleidigung etc., jede für sich so unvermeidbar ist, wie Speis und Trank, wie Darmentleerung.
Jener aber der herabschaut, der sich für unantastbar hält, für moralisch erhaben, der ist Klugscheißer, Besserwisser, Wichtigtuer - alles mögliche, nur kein Moralist. Tritt der Freund moralischer Lehren von Ämtern zurück, weil er gesündigt hat, so kehrt er hervor, dass er sich eigentlich für erlaucht genug hielt, niemals in so eine Bredouille zu geraten. Im Grunde warf er a priori, vor der Sünde, den ersten Stein, weil er glaubte, ohne Sünde sein zu können. Ein Stein, von dem er annimmt, er käme gleich einem Bumerang zurückgeflogen, wenn er voreilig und zu Unrecht geworfen wurde. Das Metier scheint verfehlt, wenn der moralistische Sünder flüchtet, sich nicht vor die Menge stellt und festhält, dass er als Mensch verfehlt hat - verfehlt hat, wie jeder Mensch irgendwann irrt, sündigt, fehlgeht. Gerade jetzt, da der Fehler ins Leben trat, hat er über Ethik zu sprechen, hat sich selbst anzuklagen, um glaubhaft zu bleiben, als Mensch unter Menschen zu gelten, nicht als abgehobener Prediger ohne Fundament, weil ihm die Sünde stets als Gebrechen der anderen galt. Jetzt, nach der Verfehlung, ist der Moralist erst wirkliche Koryphäe der Moralität geworden, eine empirische Autorität, jemand, der weiß, wovor er warnt.
Ein Rücktritt wirkt arrogant, wirkt wie eine Flucht, eines gestürzten Moralgottes. Es ist ein Bekenntnis, den eigenen Fehler als unbehebbares Manko einzustufen - als etwas, was nie wieder wettzumachen ist; als etwas, was nie hätte passieren dürfen. Dabei weiß der Moralist, dass jeder einmal in die Falle tappt. Selbst ertappt worden zu sein, darf nicht als Antrieb zum Rückzug herhalten, sondern hat die Bestätigung seiner Morallehre, seines predigenden Geschäfts zu sein. Tritt man in solchen Augenblicken ab, ist das freilich menschlich begreiflich, da die enttäuschte Erwartungshaltung der Betrachter Druck erzeugt. Doch letztlich ist es ein übereilter, ja logisch durchdacht, ein anmaßender Schritt. Der Rücktritt bestätigt eben nicht, dass man als moralische Größe versagt hat, nicht mehr glaubhaft wäre, integere Größe an den Tag legt - er legt nur dar, dass man sich selbst außerhalb des Sündhaften glaubte. Derweil wäre Aufgabe des Moralisten, jeden, auch sich selbst, darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Fehler bereut und fast jeder Fehler auf die eine oder anderen Weise revidiert werden kann. Das gilt auch für den Moralisten selbst - für den Moralisten, der in der sündigen Masse weilt, nicht darüber schwebt.
Zu seinen Schwächen zu stehen, sie zum Alltag menschlicher Existenz zu erklären, sie nicht zu verdammen, auszugrenzen, zu verleugnen - das ist Moral, das ist menschliche Ethik; das ist berechtigte und notwendige Moral; das ist die schlummernde Zukunft der anmaßenden Spezies Mensch, wenn sie überleben möchte - wenn sie ihn lebenswerten Zuständen überleben möchte. Zu oft schließt diese Gesellschaft Schwächen und Schwache aus - es braucht ein Bekenntnis zur Schwäche, zur Unzulänglichkeit, zum Gebrechen, auch zur Vergänglichkeit. Was die Menschheit mehr denn je benötigt, ist ein Credo auf Nicht-funktionieren, Nicht-perfekt-sein, Nicht-wissen. Ein zurechtstutzendes Credo, das das unrealistische und überhobene Menschenbild, wie es uns heute begegnet, mit all seinen gottgleichen und götzenhaften Facetten, mit seiner Arroganz, das Universum lenken, darin schalten und walten zu können, wie es beliebt - ein Credo, das solche Auswüchse abwürgt, das Begrenztheit, Fehlerhaftigkeit blanklegt. Ein mutiges Credo, das nicht die Perfektion liebkost und mit Stärken und Starken Händchen hält, sondern im Mangel und im Makel, das wahre Wesen des Menschen erahnt, in der Nacktheit unserer Spezies, in der Anfälligkeit, sich auch mal irren, Fehler machen zu können. Ein unerschütterliches Credo zur Verständnis, zum Einfühlungsvermögen, zur Bereitschaft, die Fehlerhaftigkeit des Nächsten nicht zu schelten und zu bestrafen, sondern sie zu akzeptieren und sie als menschliche Eigenart zu erkennen.
Die kürzlich zurückgetretene Bischöfin, sie hat damit deutlich gemacht, dass auch sie die Schwäche, die Unzulänglichkeit als verdammungswürdigen Frevel am herrschenden Menschenbild betrachtet. Wäre sie zu sich und ihrem Fehler gestanden, hätte sie erklärt, dass sie als Mensch, als Frau, als Moralistin ebenso fehlerhaft ist, wie jeder einzelne Mensch auf Erden - sie wäre unantastbares Vorbild gewesen. Sie hat ihre Vorbildrolle aufgegeben, da sie offensichtlich meinte, unberührbares - weil von Fehlern erlöstes - Vorbild sein zu müssen, das nur in hoher Position verharren sollte, wenn es makellos bleibt. Es wirkt fast arrogant anzunehmen, als Vorbild müsse man unfehlbar, dem menschlichen Makel abhold sein. Fehler zu bejahen, sie zur Kenntnis zu nehmen, sie zu bereuen, sie wiedergutmachen: das ist des Vorbilds Unantastbarkeit. Alles andere ist unerschwinglich, ist der Anspruch Heiliger sein zu wollen; einem idealisierten Bild von Heiligen zu entsprechen, einem Idealbild, einem Wunschbild, dem wirklich Heiliggesprochene sicherlich nie entsprachen - denn auch sie waren nur Menschen und hätten seinerzeit, sofern möglich, alkoholisiert einen Wagen gesteuert...