Europa geht schwanger

Montag, 30. November 2009

Berlusconi in Italien, der Kärcherisierer der vom Thron Frankreichs in die Banlieues herabwinkt, wachsende Abscheu gegen Homosexuelle im Baltikum, Schießbefehle an der spanischen Grenze in Afrika, Internierungslager im Namen der EU, zudem eine Riege posierender Intelligenzler in Deutschland, die gegen Arm und Fremd stürmt. Und dann auch noch die Schweiz, kein eidgenössischer Radikaler, nein: das eidgenössische Volk selbst, das sich emporschwingt, gegen Minarette marschiert - als würden Minarette die autochthone Lebensqualität beeinträchtigen.

Es läßt sich immer weniger leugnen, Europas Schoß ist feucht noch - oder wieder. Dieser Kontinent geht schwanger mit Engstirnigkeit, Spießbürgertum, Kleinkariertheit, mit der Diktatur des Kleinbürgers. Dabei sind es nicht nur intellektuelle Jammergestalten, die ihren sozialrassistischen Senf in jede Furche schmieren, nicht nur Machtmenschen, die als demokratisch legitimierte Tyrannen ihr Bluthandwerk betreiben, es sind die europäischen Völker selbst, die per Volksentscheide oder Umfragen dem braunen Abendland ihre Hochachtung aussprechen. Man darf annehmen, auch in Frankreich oder gerade hier in Deutschland, nachdem Hetzer in den letzten Monaten immer öfter ein öffentliches Forum erhalten haben, wäre die Frage nach den Minaretten nicht wesentlich anders ausgefallen. Religions- und Glaubensfreiheit hin oder her: für Europa gelten solche Grundrechte mittlerweile als gutmenschlerische Auswüchse, als Entwicklungen, die man schnellstens wieder zurückschrauben sollte. Gutmenschentum nennt man solche Grundrechte inzwischen, die mehr kosten als einbringen, die solchen zugute kommen, die lediglich Rechte einfordern, ansonsten aber nichts als Gegenleistung aufbringen können.

Hier weiterlesen...

Sit venia verbo

Sonntag, 29. November 2009

„Süß war das, sich über die einfachen Menschen aufzuregen, und was war die Welt noch in Ordnung, als ich Schopenhauer las ... und er wie ich noch an die Lernfähigkeit glaubte. Schopenhauer in seinem gelinden Größenwahn und ich, in meiner Unbedarftheit, liefen mit Büchern in der Hand durch die Straßen und beklagten die intellektuelle Mattheit der Bevölkerung. Das sind die, die man sieht. In Büros und Supermärkten, in Monteurskleidern und mit Fleischermützen. Heute weiß ich, viel schlimmer als die harmlosen Zerstreuungen der Menschen, die man sieht, ist die geistige Trägheit derer, die man nicht sieht. Weil sie den ganzen Tag arbeiten. Mit Dienstwagen in Tiefgaragen gleiten und diese in der Nacht wieder verlassen, um in ein Gym zum stratzen, um die überflüssige Arbeitskraft und die geistig nicht genutzte Kapazität zu regenerieren ... Wir werden vom Mittelmaß regiert. Eine Rotte Dummköpfe, die sich jeden Morgen im Spiegel ansieht, mit farblosen Augen in ein farbloses Antlitz, die Faust geballt und ruft: Ja, Welt, heute werde ich dich wieder ein bisschen dümmer machen ... sie lassen ihr Hirn auf Sparflamme laufen.“
- Sibylle Berg -

Mutter Courage und ihre Tochter

Samstag, 28. November 2009

Es wäre vermessen, in katastrophalen Zeiten von einem ministeriellen Drama zu sprechen, dabei mit dem Finger auf jene beiden Damen zeigend, die nun im Arbeits- und Familienministerium sitzen. Es macht den schwarz-gelben Schicksalsschlag nur etwas aussichtsloser, denn katastrophal war die Situation eh schon. Es darf getrost als die Ausreifung des Verderbens verstanden werden, dass eine hingebungsvolle Frau Mutter ins Arbeitsministerium eingezogen ist und eine plumpe Ausländerfeindin die Familienministerin vortäuscht.

Da steht auf der Schwelle zur Arbeitslosenbekämpfung eine rührende Frau Mama, eine Person, die als Familienministerin immer bemüht war, es besonders gut zu meinen. Selbst ihre halbgaren und dem Datenschutz feindlich gesinnten Methoden zur Bekämpfung der Kinderpornographie, meinte sie doch im Grunde ihres Herzens nur gut. Auf Kritik reagierte sie dann gar nicht mehr, denn wer es gut meint, der verweilt in sakrosankten Gefilden - wer kämpft für das Recht, der hat immer recht! Was da auf jene zukommt, die von offizieller Seite bekämpft werden, nämlich die Arbeitslosen, kann erahnt werden. Frau Ministerin meint es nur gut mit den Erwerbslosen, ganz anders als die Clements und Scholzens vor ihr, die ja keinen mütterlichen Touch hatten, obwohl sie es freilich auch gut meinten. Allerdings war deren Meinen nur mühsam erkennbar. Bei Frau Mutter ist es evident, man nimmt ihre Mission deutlich wahr, sie wird es zukünftig nur besonders gut meinen, wenn neue Gängelungsmechanismen entworfen oder die bereits bestehenden verteidigt werden. Mit Rehäuglein wird sie in die Kameras starren und kritikresistent jeden Kritiker einlullen. Man hüte sich vor solchen, die es besonders gut mit einem meinen...

Hier weiterlesen...

Gleichheit um jeden Preis

Freitag, 27. November 2009

Schon als diese Person die Bäckerei betrat, fiel sie mir auf. Eine Dame im besten Alter, pelzbemantelt, ordentlich geschminktes, üppig gespachteltes Antlitz. Sie wand sich durch die Schülermassen, die hier jeden Morgen ihr Pausenbrot einkaufen, dabei genervt dreinblickend, leise vor sich hinschimpfend. Man erkannte sofort, dass sie es nicht gewohnt ist, sich einen Platz in der Welt zu erkämpfen, auch keinen Platz in einer Warteschlange - es war offensichtlich: Personen wie jene im Pelz, erhalten ihren Platz mit freundlichem Wort und devoter Verneigung zugeteilt. Einen Platz an der wärmenden Sonne, versteht sich. Und weil keiner zugeteilt hat, weil ich Stoffel die Hände in die Jackentasche gekeilt hatte, die Verbeugung unterlassen habe, nahm sie sich gleich ein Sonnenplätzchen an vorderster Front, direkt am Schaukasten, gleich beim Zuckerwerk also, unter Beschlag. Schnell wühlt sie sich noch ihre Geldbörse aus dem Täschchen und dann hieß es mit sturem Blick gen Verkäuferin, das wartende Volk rundherum ignorieren.

Jetzt hätten Sie sich fast vorgedrängelt!, fiel ich per Wort und Ausfallschritt in die Szenerie. Ich starrte sie dabei sicher nicht sonderlich verliebt an. Entrüstung stand ihr plötzlich ins doch schon faltenreiche Gesicht gemeißelt. Sie wollte was entgegnen, japste sich zur Antwort. Unverfroren sei das, sie wollte sich nicht vordrängeln, Frechheit und so! Dass sie so säuberlich nach der Schrift sprach, vielmehr wie ein Buch Sprache gebrauchte, nicht wie ein lebendes Menschenwesen, machte sie mir nicht gerade sympathischer. Regen Sie sich doch nicht so künstlich auf, beschloss ich das Tête-à-tête. Ihren Blick fing ich nicht mehr auf, schon lächelte mich das junge Mädchen hinter dem Tresen an, nahm meine Bestellung entgegen. Aus dem Augenwinkel vernahm ich noch, dass der faltige Pelz gleich nach mir an die Reihe kam, etliche Schüler wurden also übergangen. Normalerweise, so dachte ich noch bei mir, müßte man so einen Drachen am Kragen packen und ans Ende der Schlange bugsieren. Und da bleibst' stehen!

Hier weiterlesen...

Facie prima

Mittwoch, 25. November 2009

Heute: Der Wahrheitsjünger im demokratischen Zwirn, der Sozialrassist


Bieder kommt er des Weges, wie ein ehrenwerter Herr und rechtschaffener Mitbürger. Lächelnd wird er abgebildet, vornehm dreinschauend, im feinen Zwirn predigt er die bürgerliche Mitte, trägt er seine Sozialrassismen gegen Unterschichten und Ausländer vor. Dabei weiterhin als schneidiger Demokrat auftretend, liebevoll mit dem Kameraobjektiv spielend, während des Arbeitsscheuen Faulheit und des Gastes Dreistigkeit thematisiert wird. Es handelt sich um jenen Schlag Blödmann, gedankenversunken und mitbürgerlich in Linsen glotzend, der durch Le Pen zur Weltberühmtheit gelangte - der beauf, der Spießer und Chauvinist, der Hetzer und Menschenfeind, mit der Physiognomie eines Zwerges aus dem Vorgarten. Ein Gartenzwerg, der gewöhnlich und trivial die Zipfelmütze über seine Ohren zieht, der aber explosiv aufmischt, der unter seinem Hemdchen voller Zündstoff steckt. Der beauf, der Gartenzwerg als neuer Trommler der Unmenschlichkeit!

Hier weiterlesen...

Kein Benehmen ist Lebensart

Dienstag, 24. November 2009

Deutschlands Unterschicht kennt kein Benehmen, besteht aus anstandslosen Dummköpfen und unflätigen Haudraufs. Heinz Buschkowsky klärt auf - wenigstens ein bisschen. Er hat sie besucht, die fehlende Kinderstube, war gleich um die Ecke bei Tante Montessori, dort wo die Eltern des kleinen Klaus-Rüdiger monatlich sechshundert Euro lassen und wo ein Koch den kleinen Rüpeln Hähnchen-Filets in Paprikarahm brutzelt oder Topfenpalatschinken bereitet. Schön wäre es, wenn Buschkowsky dort gewesen wäre - aber die geschliffene Manierlosigkeit dieser kleinen Egomanen, genetische Kleinkopien ihrer Erzeuger, meint er ausdrücklich nicht.

Nein, solche Selbstsüchtigen, die Jünger ungepflegter Ich-Kultur, die rücksichtslos durch die Welt stoffeln, die mit Genuss Grobian sind und mit Vorliebe ihr Rabaukentum ausleben, mögen vielleicht ebenso kein Benehmen kennen, aber deren sozialer Status, die Tatsache mittels hundertfacher Euroüberweisung Kindergarten und Schulbildung einkaufen zu können, enthebt sie des anstandslosen Makels. Wer zahlen kann, der darf auch rülpsen oder furzen und sich über das einstimmende Lob diesbezüglich freuen. Neinnein, Buschkowsky jammert über die soziale Unterschicht. Die ethische Unterschicht, die unabhängig von Arbeitsplatz und ökonomischen Stellenwert verkrüppelt durch die Lande rennt, die schwerbehindert ist im Bezug auf den Mitmenschen, die ist entschuldbar. Wo Transaktionen stattfinden, wo saftige Konten vorzufinden sind, wo man die eigenen siechen Umgangsformen mit Geld kaschieren kann, dort findet sich kein Freiherr von Knigge, da wird die abhandengekommene Etikette gekonnt ignoriert.

Hier weiterlesen...

Nach bestem Gewissen

Montag, 23. November 2009

"Was ist denn mit Ihnen los, Herr B.? Sie klingen krank, am Ende haben Sie die Schweinegrippe", empfing des Sachbearbeiters Stimme schroff und lieblos. "Sagen Sie schon, sind Sie krank?"
"Nein, bin ich nicht", platzt es keuchend, dem Husten nahe aus dem verschwollenen Gesicht hervor. "Ich habe kein Attest, geschätzter Herr Sachbearbeiter, daher bin ich nicht krank. Sie haben mich ja gelehrt, wie man guten Willen zeigt."
"B., seien Sie kein Narr! Sie husten, sind verschleimt, das merkt man doch. Sie sind krank, gehören ins Bett."
B. sackte kraftlos auf seinem Stuhl zusammen, klotzte irrwitzig durch den Raum, schwieg aber, ließ seine fiebrige Verfassung wortlos auf die Szenerie wirken. Bemerkte nach einer Weile, dass der Blick des Gegenübers ihn fixierte, stierte seinerseits zurück, kramte Taschentücher hervor und spuckte mehrmals in deren Herzen grünlich marmorierte Schleimklumpen.
"Herr B., ich weise Sie darauf hin, dass Sie ansteckend sein könnten. Mann, Sie kommen hierher und gefährden meine Gesundheit. Gehen Sie bitte umgehend zum Arzt", sorgte sich der staatliche Erfüllungsgehilfe mit angsterfüllter Miene.
"Sehen Sie, es kann sein, dass mich die Schweinegrippe quält, das schließe ich gar nicht aus. Aber wo kein Befund, da keine Krankheit. Daher zeige ich guten Willen, so wie man es von mir erwartet, lasse mir keinen Befund ausstellen, damit ich nicht in den Ruch der Krankheit gerate."

Hier weiterlesen...

Ridendo dicere verum

„Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mit im Leben zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.“
- Heinrich Heine -

Henkels Waschsalon

Sonntag, 22. November 2009

Eigentlich müßte sich Hans-Olaf Henkel in seine eigene Vision hineinstellen, müßte Bestandteil jener Hall of Shame werden, die er als Disziplinierungswerkzeug zu Markte trägt. Noch recht bei Sinnen, müßte er sich eigentlich dafür schämen, in der Berufung Schäubles zum Finanzminister "Merkels beste Entscheidung" zu wittern. Ebenso beschämend, dass der feine Herr vom Neosozialismus spricht, wobei er sicherlich weniger die Staatshilfen für Unternehmen und Banken meint, als das angestiegene Kindergeld. Gleichwohl begreift er seine Rolle als unabhängiger Denker zu unterstreichen, indem er erläutert, dass seine Verweildauer in einem Kabinett nur einige Wochen stattfände, immerhin könne ein Mann seines Formats keine faulen Kompromisse eingehen. Henkel, der Unbeugsame! Dass der Weg durch die Darmfloren dieser Republik aber sein tägliches Geschäft darstellt, so wie man sich in diesen Schichten generell ständig durch die Rosetten ins Miteinander schlüpft, muß ja nicht gesondert erwähnt werden.

Hier weiterlesen...

Im Wandel der Zeit

Freitag, 20. November 2009

"Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen."
- Kurt Tucholsky -
Ohne zu mäkeln wird die fürsorgliche Ehefrau die Bitte ihres Mannes umsetzen und ihm einen Broccoliauflauf servieren. Broccoli, welches er einst als billiges, fast erbärmliches Gemüse des kleinen Mannes ansah, als Unterschichten-Grünzeug! Nun soll es Einzug in die heimische Küche finden. Ein köstliches Gericht: das proletarische Kreuzblütengewächs mit einem braungebackenen, gutbürgerlichen Käse überzogen. Obwohl es mundete und man sich schnell zum baldigen Wiederzubereiten entschloss, war man sich im familiären Kreise schnell darüber einig geworden, dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
So nahmen also die Kartoffeln - die man reichlich dazugab - einen Großteil von Broccolis Platz ein, trotz des Umstandes, dass dies grüne Gewächs der Namensgeber war und auch blieb. Kartoffel-Mehrheit hin oder her, im Familienkreise sprach man fortan vom Broccoliauflauf.

Hier weiterlesen...

In eigener Sache

Montag, 16. November 2009

oder: Diekmanns fruchtloser Kampf für ad sinistram.

Auf den Wogen des schweinegrippalen Elends läßt es sich nicht besonders entspannt treiben. Sicherlich, des Paarhufers Grippe gestaltet sich etwas milder, man kotzt und scheißt nicht synchron, lebt daher nicht stetig im Zustand des Nahtods - doch der ganze Zirkus zieht sich in üppige Längen, ist ein Gerotze und Gekeuche in Überlängenformat. Jedenfalls mußte ich mich nicht übergeben, was mich eine gewisse demütige Dankbarkeit dem Virus gegenüber verspüren läßt. Dieses schweinische Elend ist ein fürsorglicher Henker, der nicht unnötig quält, sondern genussvoll den letzten Saft aus den Krafttanks saugt. Ein einsichtiger Verurteilter erkennt und honoriert das, es hätte auch schlimmer, immer noch schlimmer kommen können.

Hier weiterlesen...

Sit venia verbo

Sonntag, 15. November 2009

"Depression, so argumentieren einige Sozialpsychologen, ist die Folge einer tiefen Ernüchterung, eines besonders klaren Blicks auf das Getriebe der Welt um uns herum. Depressive Verzagtheit entsteht durch die Erkenntnis, dass die Welt unverbesserlich und auch durch noch so große Anstrengung nicht zum Guten zu verändern ist. Depressive sind im Grunde Hyperrealisten, sie sind nicht mehr fähig zu jenen lebensnotwendigen positiven Illusionen, die uns – entgegen der Wahrscheinlichkeit – immer wieder neu beginnen und auch das unmöglich Erscheinende versuchen lassen. Depressive haben die rosarote Brille abgelegt, sie sind „sadder but wiser“ – aber ihre Klugheit macht sie krank. In der Depression liegt die Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit: Es hat doch alles keinen Zweck! Positive Illusionen, das zeigt die psychologische Forschung, sind die permanenten und systematischen Selbstüberschätzungen, die wir brauchen, um morgens überhaupt aufzustehen. Nur wenn wir uns mehr zutrauen, als es unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht, fassen wir Lebensmut und riskieren etwas. Zum gesunden Menschsein gehört offenbar ein Mindestmaß an Verkennung von Realitäten und fast mutwilliger Unterschätzung der Schwierigkeiten. Die Passivität, die mit einer Depression häufig einhergeht, ist nach den Erkenntnissen der neueren Forschung in erster Linie ein Selbstschutzmechanismus der überforderten Psyche. Das erschöpfte Selbst zieht sich in eine Schonhaltung zurück."
- Heiko Ernst, "Wie uns der Teufel reitet" -

Menschliches, Allzuäffisches

Samstag, 14. November 2009

Es ist keineswegs so, dass das, was man als das Faschistische oder Totalitäre bezeichnet, nur eine Spielart menschlicher Niedertracht ist, an denen eine kleinere, vielleicht auch etwas größere Gruppe chronisch erkrankt ist. Beide für sich und beide gemeinsam sind nicht Auswurf einer genetischen Mutation, nicht mal Resultat einer mangelhaften Bildung und Moralerziehung. Das Denken in faschistischen und totalitären Niederungen ist nicht nur der Sport einer Handvoll Radikalisierter am sogenannten rechten Rand des politischen Spektrums. Es ist auch kein Wettbewerb biederer Bürgersgestalten, die aus der politischen Mitte heraus, in zurückhaltender Lammfrömmigkeit natürlich, in den faschistischen Gedankenkadaver pieksen. Nein, betroffen sind wir alle davon!

Alle Menschen leiden darunter; der Faschismus und die totalitäre Verfahrensweise schlummern in uns, werden beizeiten geweckt und sind dann schwer an der Leine zu halten. Auch in aufgeklärten Kreisen grassiert das plumpfaschistische Unterbewusstsein, jede noch so souveräne Denkweise kann unerwartet davon angefallen und zerfleischt werden. Aufgeklärte Kreise! Damit ist nicht die bürgerliche Mitte gemeint, denn die steht mit dem Machterhalt auf Du und Du, nicht mit der Aufklärung und der Mündigmachung aller Menschen. Generell ist das, was wir heute aus Mangel an Begrifflichkeit Faschismus nennen, keine pervertierte Erscheinungsform des rechten Spektrums, des linken freilich noch weniger - der Faschismus, so angelegt von Mussolini, später von den anderen bestiefelten Reiterhosenfetischisten übernommen, war eine Lehre der Mitte, ein Vermittler zwischen linkem Populismus und rechtem Konservatismus. Aus der Mitte entsprang der Stuß! Klassenkampf ade, denn der Sozialismus der Faschisten war die Einheitsfront, das Anpacken des Stricks von derselben Seite, kein Gegeneinanderziehen mehr. Nein, die bürgerliche Mitte, das Gewinsel darum, dass eine Partei alle Volksschichten befrieden sollte, der Volksparteigedanke eben, ist letztlich die humanistisch angepinselte Version des niedersten Braun-Instinkts. In der Mitte reift der Faschismus; aus der Mitte keimte er; sie war das Obdach um Linkes wie Rechtes zu kanalisieren und zusammenzuführen. Alles was da am rechten Rand herumblödelt, ist damit die Erweiterung der bürgerlichen Mitte, eine kleinbürgerliche Variante, die den Stammtisch völkisch bevölkert. Es ist der Rand der rechten Mitte, Tummelplatz des Stehkragen- und Springerstiefelproletariats.

Hier weiterlesen...

Ein einziges Trauerspiel

Donnerstag, 12. November 2009

Die Pietät gebietet es, an dieser Stelle keine Namen zu nennen. Selbst das ungenannte Abhandeln, das Erläutern im Inkognito könnte allerdings als pietätlose Verirrung begriffen werden. Einerlei, diesem Risiko will offensiv begegnet sein.

Immer dann, wenn jemand mediengerecht verstirbt, flutet eine Welle des Tourismus über den Ort des Unglücks. Horden von Event-Trauernden laufen auf, moderne Klageweiber, die ihre Trauer oder das, was sie dafür halten, in die Objektive streuen. Sie drapieren Kerzchen ins Rampenlicht, staffieren die Lücken innerhalb des Flammenteiches mit gut leserlich bereitgestellten Briefchen aus, liegen sich für RTL und ARD sachgerecht heulend in den Armen. Wir werden ewig an dich denken! und Wir werden dich nie vergessen! sind die hochtrabenden Inhalte jener handgeschmierten Zettel. Dem Verstorbenen völlig unbekannte Zeitgenossen lallen mit verheulter Front in die Kamera, rotzen in der Öffentlichkeit ordentlich ab. Jeder ist dabei, jeder muß dabei sein, wenn er im Trend des Augenblicks mitmischen will, muß seinen Senf draufschmieren, damit er in zehn Jahren seinen Kindern erzählen kann, was für ein abenteuerreiches Leben er schon hinter sich gebracht hat.

Hier weiterlesen...

De dicto

Mittwoch, 11. November 2009

"Diesen Doktor haben wir nicht mehr in Deutschland. Den Doktor unseres Vertrauens. Der eine Doktor sagt Ja, der andere Nein.
Dies ist das Chaos. Es ist auch die Zerstörung des Mythos des Doktors. Der Doktor weiß nicht, was das Beste für mich ist – und ich als Patient weiß es schon gar nicht."
- BILD-Zeitung, Franz Josef Wagner am 11. November 2009 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wagner mal wieder. Mal wieder theatralisch, melodramatisch. Aber nicht ohne Einblicke in seine Welt zu erlauben. In die Welt des Gutgläubigkeitsbürgers, der jede fadenscheinige Disziplin, die sich in Schlips und Kragen hüllt, als Wissenschaft Einzug in den öffentlichen Diskurs gehalten hat, für unabänderliche Wahrheit hält. Damit sei nicht erklärt, dass Mediziner Scharlatane wären, nur die weißen Götter, für das sich manches dieser Exemplare selbst halten mag, für die Wagner diesen Berufstand zu halten scheint, sind sie wirklich nicht.

Hier weiterlesen...

Frei von Befreiung

Dienstag, 10. November 2009

Endlich frei!, hallte es einst durch Berlins Straßen. Endlich hat man sich der Ketten und der Mauer und der Stacheldrahtverhaue entledigt! Endlich ist die Freiheit eingezogen. Was für ein Geschenk! Was für eine Freude! Freiheit als Belohnung. Free at last! free at last! thank God Almighty, we are free at last! Gepriesen sei die Freiheit!
Meine Freiheit? Deine Freiheit? - Ihre Freiheit! Unsre Freiheit muß noch lang' nicht ihre Freiheit sein!

Zwanzig Jahre Mauerfall und der Beginn des Niedergangs des Ostblocks. Es ist zwar nicht der Beginn des Sozialabbaus, zumindest aber der Anfang der Verschärfung jener Demontage. Derweil es einen zweiten Gesellschaftsentwurf gab, nämlich den sozialistischen, hatte der westliche Kapitalismus reges Interesse daran, sich als gerechteres, leistungsfähigeres, hochherzigeres System feiern zu lassen. Gerade am Leib des Wolfs Deutschland, von dem es ja zwei Ausgaben auf der Landkarte gab, dessen kapitalistischerer Teil direkt an der Grenze zum Sozialismus gesiedelt hatte, war das Schafsfell Überlebensgarantie. Rückblickend heißt es, diese Überlebensstrategie wäre nicht nötig gewesen, weil der Sozialismus seit Jahrzehnten abgewirtschaftet hatte, doch das heutige Wissen darüber war damals bestenfalls Spekulation. Als der Kapitalismus den Sieg einfuhr, ein Sieg, den die offizielle Geschichtsschreibung gerne hervorstreicht (man ist nicht übriggeblieben, man hat gewonnen!), war der Moment gekommen, die humanistische Maske fallenzulassen.

Hier weiterlesen...

... nach meiner Kenntnis... sofort, unverzüglich...

Montag, 9. November 2009

Lieber Schabowski, ich will ehrlich sein: ich weiß wenig über Sie. Dass Sie aber offenbar lesen können, wenngleich scheinbar nicht sinnerfassend, das habe ich mittlerweile durch den Beschuss der letzten Tage erfahren, wieder in Erinnerung geschmettert bekommen. Ihr Name geistert durch die Lande, die abgetragene Mauer trägt ihn. Immer dann, wenn der Mauerfall zum Thema wird, sieht man Sie. Sie, diesen Greis noch jüngerer Altersklasse, wie er wirr in seinen Blätterstrauß wühlt. ... nach meiner Kenntnis, sagt er. Sofort, unverzüglich, schiebt er nach. Danach wechseln die Szenen. Weg vom bebrillten Funktionär, rein in den Trubel an den Grenzen. Schabowski, so entsteht der Eindruck, hat die Nacht zum Tage gemacht. Sein Irrtum hat den beschissenen Entwurf eines deutschen Staates weggefegt, hat diese politische Unerfreulichkeit zertrümmert, damit neue Beschissenheiten und Unerfreulichkeiten ihr Werk antreten dürfen. Dann allerdings im Namen der Freiheit.

Nein, lieber Schabowski, es tut mir leid, ich weiß wenig über Sie. Waren Sie ein liebenswerter Genosse? Stalinist? Hatten Sie ein Herz für Mauerschützen? Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht besonders. Viel zu oft mußte ich Sie ertragen, wie Sie da im Sessel gammelten, diesen altmodischen Strick von Schlips über die Bauchwülste wallend, sofort, unverzüglich brabbelnd. Und immer folgten Ihrer Ratlosigkeit feiernde Massen. Mauerspechte klopfen ihr Klackklack und man hatte und hat manchmal den Eindruck, sie morsen dabei mythisch Ihren Namen, Scha-bow-ski. Stets läuft es so, erst Schabowski, dann der Specht; erst sofort, unverzüglich, dann Jaaa, ick werd' wahnsinniiich! aus seligen Gesichtern geschleudert. Kürzlich ließ sich der Journalismus sogar dazu hinreißen, in Ihrem Irrtum den wahrhaften Grund des Mauerfalls zu wittern. Und auch deswegen will ich nichts von Ihnen wissen, nehmen Sie es mir bitte nicht persönlich; Sie nerven nicht nur, mit Ihrem geschichtsträchtigen Satz, der wie die Quintessenz jener Tage wiedergekäut wird. Nein, Sie haben es doch gar nicht verdient, zum Mauerfallshelden gekürt zu werden, nicht mal zum Fünkchen der Zündung oder zum Tröpfchen des Überlaufens. Dieser jungenhafte Greis an jenem Abend, er hat soviel Ehre letztlich nicht verdient.

Hier weiterlesen...

In bester Absicht

Samstag, 7. November 2009

Freiheitsbarde H., so meldeten es die Gazetten, die die Welt nicht braucht, sei bei der Preisverleihung eines internationalen Musiksenders erschienen. Er torkelte sichtlich angesoffen auf die Bühne, lallte einen einstudierten, die Deutschen schmeichelnden Text - der ganze Rabatz fand in Berlin statt - und galt als der Liebling des Abends. Die Veranstalter waren mehr als zufrieden. In einem kurzen Statement hieß es, man sei mehr als glücklich, H. engagiert zu haben. Er sei jedes Fitzelchen seines Gutscheins wert. Man sei sogar so zufrieden, dass man H.'s Lebensmittelrationen noch einmal heraufgesetzt habe. Leistung müsse sich doch lohnen!

Indes sprach H.'s Manager von einer beispiellosen Diskriminierung. Man dürfe Suchterkranke nicht in dieser Weise brandmarken. Die Veranstalter entkräfteten die Kritik, so sei es eben mal in Deutschland, da könne man leider nichts machen. Außerdem sei man sich sicher, dass es zu keiner Diskriminierung käme, wenn man mit Gutschrift im Supermarkt aufkreuzen würde. Im Gegenteil, die Gutschrift animiert Verkäufer und anwesende Kunden zur Rücksicht, zu mildtätigem Bedauern, würde Mitleid erzeugen. Zu Schmähungen würde es indes nicht kommen, bis dato habe es in Deutschland noch kein derartiges Skandalon gegeben, wie auch das Propagandaministerium energisch hervorheben würde.

Hier weiterlesen...

Ridendo dicere verum

"Die brave Hausfrau liest im Blättchen
von Lastern selten dustrer Art,
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen,
vom Lustgreis auch mit Fußsackbart.

Mein Gott, denkt sich die junge Gattin,
mein Gott! welch ein Spektakulum!
"Das schlanke Frauenzimmer hat ihn ... "
Ja was? Sie bringt sich reinweg um.

O Frau! Die Phantasie hat Grenzen,
sie ist so eng - es gibt nicht viel.
Nach wenigen Touren, wenigen Tänzen
ists stets das alte, gleiche Spiel.

Der liebt die Knaben. Dieser Ziegen.
Die will die Männer laut und fett.
Die mag bei Seeoffizieren liegen.
Und der geht nur mit sich ins Bett.

Hausbacken schminkt sich selbst das Laster.
Sieh hin - und Illusionen fliehn.
Es gründen noch die Päderaster
"Verein für Unzucht, Sitz Berlin".

Was kann der Mensch denn mit sich machen!
Wie er sich anstellt und verrenkt:
Was Neues kann er nicht entfachen.
Es sind doch stets dieselben Sachen ...
Geschenkt! Geschenkt!"
- Kurt Tucholsky, "Wider die Liebe" -

In der Hoffnungslosigkeit gefangen

Freitag, 6. November 2009

Um abermals auf Michel Houellebecq zu sprechen zu kommen. Natürlich ist mir klar, dass er in Frankreich als Konservativer verrufen ist, teilweise zum Faschisten vereidigt wurde, zum Rassisten ohnehin, zu jemanden, der - in aller Kürze erklärt - die Menschen nicht liebt. Dabei greift die Sortierung nach Kraut und Rüben-Art zu knapp. Houellebecq liebt den Mensch, weil er sich selbst liebt, er ist der Ansicht, dass es praktizierte Menschenliebe ist, wenn das menschliche Ich sich selbst liebt. Er ist bekennender Egoist, wie er in rar gesäten Gesprächen durchschimmern läßt, wie es sein Privatleben, das Verhältnis zu seinen Eltern, deutlich macht. Und selbstverständlich vereint das oft unmenschlich wirkende Wesen Houellebecq konservative Aspekte in sich, beispielsweise jene, dass der Mensch eine straffe Obrigkeit benötigt, die alles, bloß nicht zimperlich sein darf, um der Ordnung zu ihrem Recht zu verhelfen. Andererseits sind seine Ansichten zur Genetik weder traditionell konservativ noch sind sie fortschrittlich, sondern eher provokativ, kurzsichtig und besorgniserregend naiv. Hier schlägt die infantile Tendenz Houellebecqs durch, der zeit seines Lebens Anhänger mittelmäßiger Science-Fiction-Romane blieb. Ausgestattet mit argloser Treuherzigkeit verwechselt er wirkliche Gefahren der Genetik mit den haarsträubenden Spekulationen jenes trivialen Genres. Die Genetik thematisiert er ja fleißig in seinen Werken, zeichnet letztlich aber traurige Zukunftsbilder, besetzt daher den hoffnungslosen Standpunkt, der Menschheit Berufung sei das naive Hineingehen in die Düsternis, in eine Zukunft, in der der Gencode des Menschen restlos entschlüsselt ist, womit er nurmehr zum ersetzbaren biologischen Mechanismus abgestempelt sein wird.

Houellebecq ist wahrlich keine Person zum Gernhaben, er ist - so scheint es jedenfalls - eine jener Personen, die unsere Zeit erst so unendlich schwermütig machen, ist Person zwischen geniehaften Streichen und gemeingefährlichen Affekten, wie seine Islamophobie beizeiten bewiesen hat. Dass er dem Christentum denselben Fanatismus attestiert hat, damals als das Christentum noch bedeutungsvoll sein durfte, darf freilich nicht einfach von der Hand gewiesen werden. Ebensowenig, dass er andeutungsweise dem Islam eine ordnende Hand zubilligt, die in den islamischen Gesellschaften für Disziplin sorge. Disziplin, die im abendländischen Gesellschaftsentwurf nach dem Verschwinden christlicher Omnipräsenz verschwunden ist. Trotz allem, trotz dieser Traurigkeit an seiner Person, ist er ein lesenswerter Schriftsteller. Keiner zeichnet die Tristesse des modernen Alltags, verbunden mit der Naivität und Gleichgültigkeit im Bezug auf die Zukunft der Menschheit, in so grauen Farben, um gleichzeitig eine Topf bunter Vielfalt anzurühren. Vermutlich sind es diese Schattenseiten, die sein Werk erst so eindringlich, die seine Schriften erst zu Deutungsschriften unserer Gegenwart machen. Keiner vermag es so hieb- und stichfest die Vereinzelung des Individuums hervorzuheben, wie es Houellebecq beherrscht. Dazu dient ihm bevorzugt die Sexualität. Mittels ihr gelingt es ihm, die Isolation und die Pauperisierung des Einzelnen zu Papier zu bekommen; sie stellen, nach dem Titel seines ersten Romans, die Ausweitung der Kampfzone dar.

Hier weiterlesen...

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP