Lieber Schabowski, ich will ehrlich sein: ich weiß wenig über Sie. Dass Sie aber offenbar lesen können, wenngleich scheinbar nicht sinnerfassend, das habe ich mittlerweile durch den Beschuss der letzten Tage erfahren, wieder in Erinnerung geschmettert bekommen. Ihr Name geistert durch die Lande, die abgetragene Mauer trägt ihn. Immer dann, wenn der Mauerfall zum Thema wird, sieht man Sie. Sie, diesen Greis noch jüngerer Altersklasse, wie er wirr in seinen Blätterstrauß wühlt. ... nach meiner Kenntnis, sagt er. Sofort, unverzüglich, schiebt er nach. Danach wechseln die Szenen. Weg vom bebrillten Funktionär, rein in den Trubel an den Grenzen. Schabowski, so entsteht der Eindruck, hat die Nacht zum Tage gemacht. Sein Irrtum hat den beschissenen Entwurf eines deutschen Staates weggefegt, hat diese politische Unerfreulichkeit zertrümmert, damit neue Beschissenheiten und Unerfreulichkeiten ihr Werk antreten dürfen. Dann allerdings im Namen der Freiheit.
Nein, lieber Schabowski, es tut mir leid, ich weiß wenig über Sie. Waren Sie ein liebenswerter Genosse? Stalinist? Hatten Sie ein Herz für Mauerschützen? Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht besonders. Viel zu oft mußte ich Sie ertragen, wie Sie da im Sessel gammelten, diesen altmodischen Strick von Schlips über die Bauchwülste wallend, sofort, unverzüglich brabbelnd. Und immer folgten Ihrer Ratlosigkeit feiernde Massen. Mauerspechte klopfen ihr Klackklack und man hatte und hat manchmal den Eindruck, sie morsen dabei mythisch Ihren Namen, Scha-bow-ski. Stets läuft es so, erst Schabowski, dann der Specht; erst sofort, unverzüglich, dann Jaaa, ick werd' wahnsinniiich! aus seligen Gesichtern geschleudert. Kürzlich ließ sich der Journalismus sogar dazu hinreißen, in Ihrem Irrtum den wahrhaften Grund des Mauerfalls zu wittern. Und auch deswegen will ich nichts von Ihnen wissen, nehmen Sie es mir bitte nicht persönlich; Sie nerven nicht nur, mit Ihrem geschichtsträchtigen Satz, der wie die Quintessenz jener Tage wiedergekäut wird. Nein, Sie haben es doch gar nicht verdient, zum Mauerfallshelden gekürt zu werden, nicht mal zum Fünkchen der Zündung oder zum Tröpfchen des Überlaufens. Dieser jungenhafte Greis an jenem Abend, er hat soviel Ehre letztlich nicht verdient.
Wenn wir überhaupt von Ehre sprechen müßten, Schabowski, wem glauben Sie, würde sie zuteil? In den Jahren nach der Wende war man sich darüber ziemlich einig. Man ehrte jene Menschen, die in friedlicher Art die Straßen völlten, die schließt euch uns an! plärrten, wir sind das Volk! brüllten. Danach wurde aus dem Volk ein Volk, Asylheime brannten, der Wahn des vereinten Deutschlands speiste die Großmannssucht auch des kleinen Mannes. Deutschland, Deutschland über alles! In den Wirren dieser gewaltreichen Tage verliert sich der demonstrierende Mensch, dieser Held des Alltags, der friedlich auf die Straße trat, der Rechte forderte, der nicht wich, auch wenn die Staatsmacht mit verrosteten Keulen rasselte. Später analysierte man geistreich, dass das Aufbegehren kein mutiger Akt gewesen sei, weil die Staatsmacht am Stock ging, nur mit rostigen Säbeln focht. Dass auch rostzerfressene Klingen tödliche Schäden verursachen können, wurde in der Arroganz der Rückblickenden ausgeblendet. Irgendwie scheint es, dass der Mensch, dieser Du und Ich, in jenen Tagen verlorenging. Viele Gründe wurden ersonnen für den Mauerfall, Sie, lieber Schabowski, sind nur das Ende dieser Litanei an Gründen und Motiven. Ihr Irrtum ist eines der erbärmlicheren Erklärungsmuster, die jenes Ereignis seiner wirklichen Grundlage entziehen sollen.
Es ist die Ironie der neueren Geschichte, dass nun Sie als Heilsbringer herhalten dürfen oder müssen, lieber Schabowski. Man spricht dieser Tage nicht mehr gerne vom Mann wie Du und Ich oder von der Frau wie Du und Ich, wenn es um die Ereignisse von 1989 geht. Folgt man der offiziellen Berichterstattung, reduziert sich die Wendezeit auf jenen neunten November, was Wochen und Monate, ja Jahre zuvor schon rumorte, in Protesten ausbrach, findet heute nur wenig Beachtung. Es scheint, als sei der neunte November, damit Ihr nebensächlicher Irrtum am Abend jenes Tages, die Essenz der erstürmten Mauer. Was davor Zersetzungserscheinungen vorantrieb, nämlich der eiserne Wille und die Beharrlichkeit der Demonstranten, das Besetzen der Straßen und Plätze, die Courage der Freiheitsliebe, wird durch Ihren Auftritt erdrückt und zur Seite gewischt.
Man will dieser Tage einfach nicht zu innig zurückdenken, will vergessen, dass von der Straße aus der Staat zu Fall gebracht wurde. Genau hier kommen Sie dankbarerweise ins Spiel, lieber Schabowski. Sie ersetzen die Straße, Sie machen den Mauerfall zum Vernunftakt jenes Regimes, dem Sie damals angehörten. Es ist, als würde man gegenwärtig dazu übergehen wollen, den Mauerfall zur Folge eines falsch aufgefassten Satzes zu erniedrigen. Als ob die Mauer nie gefallen wäre, wenn Sie seinerzeit nicht so begriffsstutzig in die Kameras geblinzelt hätten. Weil Sie sich geirrt haben, haben Sie den Menschen das selbstbestimmte Niederreißen der Mauer erspart. Denn irgendwann wäre dies ja geschehen, gar keine Frage. Dafür dankt man Ihnen heute im Stillen. Nichts graust den Eliten heute mehr, als Volksmassen, die eigenverantwortlich ihr Recht erstürmen. Gerade in Zeiten sozialer Kälte und Ungerechtigkeit schleicht sich die Furcht ins elitäre Gewissen(-lose). Wenn da nur jemand gewesen wäre, der den Erfolg der Massen retuschieren könnte, jemand, der durch Vernunftentscheidung den Sturm auf die Bastille angeordnet hat. Aber zu vernünftig dürfte er natürlich auch nicht sein, denn damit hätte man sich ja dummerweise eingestanden, dass innerhalb des verdörrenden Korpus des sozialistischen Deutschland auch Vernunft heimisch war, und das auch noch direkt im Herzen der Einheitspartei. Ein durch Zufall zu Vernunft gelangter Zeitgenosse müßte es sein, der zum Brecher der Bürgerbewegung gedeutet wird. Schabowksi, da kommen Sie ins Spiel. Ihr Auftritt war letztlich nur eine Randnotiz, denn gefallen wäre die Mauer ohnehin. Möglicherweise nicht am neunten November, aber was bedeuten am Ende Wochen, wenn man Jahre hinter Mauern verbringen mußte?
Natürlich hat es Berechtigung, Ihren Auftritt in eine geschichtliche Zusammenfassung aufzunehmen. Sie schrieben Geschichte, heute sind Sie Geschichte. Wie sollte es denn auch anders sein? Man reduziert Sie doch eh nur auf Ihre knappen Sätze, die als Dauerwiederholung rauf- und runterdudeln. Und als solches Gedudel fungieren Sie zweckdienlich. Sie sind das Mauerblümchen aus der Partei biederer Maurergesellen, das die Mauer eingerissen hat. Ein Hoch auf Schabowski, würden die Maurermeister unserer Zeit ausrufen, wenn Sie nicht der politischen Korrektheit Treue geschworen hätten. Ein Hoch auf Schabowski, der uns erspart hat, dass von den Straßen her die Mauer niedergerannt wurde. Ihr Irrtum wird dieser Tage historisch aufgebläht, während wesentlichere Aspekte des Niedergangs unerwähnt bleiben. Schabowski ist der tapsige Trottel, der die Volksmassen bändigte. Halten Sie sich fit, lieber Schabowski, womöglich braucht auch diese Republik noch einmal einen Dompteur, der in Bahnen lenkt, was das demonstrierende Volk aus der Bahn zu schmeißen probiert. Denn eines darf niemals geschehen in diesem Lande, niemals darf das Volk Wind davon bekommen, dass es selbst den Schlüssel zur Veränderung in der Hand hat. Und wenn es diesen Schlüssel doch versehentlich einmal verwendet hat, wird alles dafür getan, ihnen einen Schließer vor die Volksnasen zu setzen, dem dann der erzielte Wandel in die Schuhe gekippt wird.
Sie können einem leidtun, Schabowski, denn Sie sind nichts weiter als ein organisches Stück Geschichtsklitterung. Nach meiner Kenntnis, sind Sie zu dem, relativ sofort, unverzüglich gemacht worden.
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