Europa geht schwanger

Montag, 30. November 2009

Berlusconi in Italien, der Kärcherisierer der vom Thron Frankreichs in die Banlieues herabwinkt, wachsende Abscheu gegen Homosexuelle im Baltikum, Schießbefehle an der spanischen Grenze in Afrika, Internierungslager im Namen der EU, zudem eine Riege posierender Intelligenzler in Deutschland, die gegen Arm und Fremd stürmt. Und dann auch noch die Schweiz, kein eidgenössischer Radikaler, nein: das eidgenössische Volk selbst, das sich emporschwingt, gegen Minarette marschiert - als würden Minarette die autochthone Lebensqualität beeinträchtigen.

Es läßt sich immer weniger leugnen, Europas Schoß ist feucht noch - oder wieder. Dieser Kontinent geht schwanger mit Engstirnigkeit, Spießbürgertum, Kleinkariertheit, mit der Diktatur des Kleinbürgers. Dabei sind es nicht nur intellektuelle Jammergestalten, die ihren sozialrassistischen Senf in jede Furche schmieren, nicht nur Machtmenschen, die als demokratisch legitimierte Tyrannen ihr Bluthandwerk betreiben, es sind die europäischen Völker selbst, die per Volksentscheide oder Umfragen dem braunen Abendland ihre Hochachtung aussprechen. Man darf annehmen, auch in Frankreich oder gerade hier in Deutschland, nachdem Hetzer in den letzten Monaten immer öfter ein öffentliches Forum erhalten haben, wäre die Frage nach den Minaretten nicht wesentlich anders ausgefallen. Religions- und Glaubensfreiheit hin oder her: für Europa gelten solche Grundrechte mittlerweile als gutmenschlerische Auswüchse, als Entwicklungen, die man schnellstens wieder zurückschrauben sollte. Gutmenschentum nennt man solche Grundrechte inzwischen, die mehr kosten als einbringen, die solchen zugute kommen, die lediglich Rechte einfordern, ansonsten aber nichts als Gegenleistung aufbringen können.

Das alles spielt sich im Rahmen eines Vertragswerkes ab, das Europa in den Militarismus zwingt, Handel nur mit solchen erlaubt, die keine Schutzzollpolitik betreiben. Dass man damit viele Staaten der Dritten Welt mit der Nase noch tiefer in den Kothaufen des Elends drückt, interessiert die Verfechter des Vertragswerkes dabei wenig. Ein strafferes Europa steht auf der Agenda, Notstandsgesetzgebung nebst Todesstrafe inklusive. Ein Europa der strammen Zügel, freihändlerisch bis zur Militärintervention, zentralistisch und bürokratisch, ausgestattet mit einem Parlament, das plaudern darf, ohne Kompetenz und Einflussnahme auf sich zu vereinigen. Demokratische Strukturen hemmen, hindern, machen den Wirtschaftsgranden das Leben sauer. Das Lissaboner Europa gaukelt auch weiterhin Demokratie vor - es gilt den Schein zu wahren, so zu tun als ob. Parlamentarische Plauderbuden eignen sich dazu hervorragend.

Und das Aufbegehren der Europäer? Der Widerstand Europas standhafter Demokraten? Fehlanzeige! Es mag einzelne Europäer ärgern, wie das Vertragswerk über die Köpfe hinweg aufgepflanzt wurde, aber rege Gegenwehr war nicht feststellbar. Selbst dort, wo man per Referendum mitgestalten durfte, flaute das laue Lüftchen des Widerstands unspektakulär ab. Kein Wunder, denn all das geschieht in einer Zeit, in der Europa mit Vorstellungen schwanger geht, die eigentlich schon längst mehr oder minder abgetrieben schienen. Man suggerierte den Massen, dass die Trächtigkeit lediglich noch eine Fehlentwicklung am Rande sei, eine Erscheinung in Reihen einiger Radikaler und Ewiggestriger. Das war nicht nur ein Irrtum, das war ein famoses Ablenkungsmanöver. Während auf die faschistischen Splitterparteien gedeutet wurde - und weiterhin gedeutet wird -, treibt das Faschistische, mindestens aber die Hitler-Formel (Amery), wie ein Splitter ins europäische Fleisch.

Lissaboner Europa und die sich heranpirschende Engstirnigkeit, kruder Nationalismus, überheblicher Okzidentismus gehen verliebt Hand in Hand, passen vortrefflich zueinander. Da werden unnütze Esser verhetzt, Senioren zum Unkostenfaktor, Andersdenkende drangsaliert und ausgeschlossen, Homosexuelle zu Krankhaften, Sinti und Roma zu Sündenböcken, Moslems zu Gewaltverbrechern - alles schleichend, in schöner europäischer Gemütlichkeit, mit langsam verschärfender Dosierung. Wie soll in einem Europa, das keinen klassischen Liberalismus mehr kennt, Toleranz mehr und mehr verliert, das immer tiefer in den (sozial-)rassistischen Sumpf gerät, wie soll in einem solchen spießigen und kurzsichtigen Europa, in dem die Einfältigkeit täglich heimischer wird, Auflehnung gegen Sozialabbau, Demokratiedefizit und Lissaboner Vertrag stattfinden? Es entspricht zuletzt dem Zeitgeist, all das hinzunehmen, auch wenn es wehtut, wenn es einem selbst Schaden zufügt; es dient doch letztlich nur der guten Sache, dient dazu, unnütze Esser und sonstiges Gesocks in die Schranken zu weisen.

Dieses Europa nimmt alles hin, nimmt selbst die Unmenschlichkeit hin, um sich selbst im Wohlstand zu halten. Aufwiegler aller europäischen Nationalitäten predigen, dass die Abgrenzung gegen alles, was nicht "mit uns" ist, notwendig geworden ist in einer Welt, die sich zunehmend inhuman gestaltet. Dass sie mit ihrem Predigten mitwirken an der Inhumanität wollen sie nicht begreifen. In diesem Europa ist ein neues Szenario in gewichsten Stiefeln nicht mehr nur denkbar, es ist beinahe gewiss. Uns droht kein Auschwitz, man wiederholt unpopuläre Schweinereien nicht - man produziert neue. Was droht ist ein Europa, in dem sozial Minderwertige in Ghettos gepfercht werden, sosehr, dass die heutigen Banlieues wie kleine Idylle wirken. Was am Horizont schimmert ist ein Europa der Moslemfeindlichkeit, wo Moslems vielleicht noch wohnen dürfen, jedoch nicht frei und gleich, sondern unter den Argusaugen der abendländischen Hüter, mit Einreisevertrag und dem Damoklesschwert der stets möglichen Ausweisung über den Köpfen. Es schimmert uns ein Europa entgegen, in dem junge Menschen ohne Aufgabe zwangsrekrutiert, interniert, zur Disziplin verpflichtet werden - auch das stand schon auf dem Plan eines europäischen Landes. Es erwartet uns ein Europa der straffen Zügel, in dem die Völker auf Linie getrimmt werden, kleiner Spielraum links und rechts der Linie anerkennend, in dem gedacht wird, was gedacht werden soll. Kurz und schlecht: Ein Europa der Unmenschlichkeit, wo Menschenrechte zwar existieren, nicht aber allzu ernst genommen werden. Es droht ein kleinkariertes Europa, inklusive Hatz auf Kopftücher und bärtige Männer, übler Nachrede an Arbeitslosen als gesellschaftlicher Standard und massenkonformer Sport, ebenso wie es zunehmend sportlicher wird, häufig Kranken und anderen unkalkulierbaren Humanrisiken mit Schmähung zu begegnen. Es winkt uns eine Art verbales Blutbad entgegen, ein Schlachtfest an allem, was dem kleinbürgerlichen und krämerischen Europa im Wege steht, an jenen, die mehr Geld kosten, als sie monatlich erwirtschaften können und freilich an denen, die selbst in dritter oder vierter Generation als unliebsame Gäste begutachtet werden.

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Sit venia verbo

Sonntag, 29. November 2009

„Süß war das, sich über die einfachen Menschen aufzuregen, und was war die Welt noch in Ordnung, als ich Schopenhauer las ... und er wie ich noch an die Lernfähigkeit glaubte. Schopenhauer in seinem gelinden Größenwahn und ich, in meiner Unbedarftheit, liefen mit Büchern in der Hand durch die Straßen und beklagten die intellektuelle Mattheit der Bevölkerung. Das sind die, die man sieht. In Büros und Supermärkten, in Monteurskleidern und mit Fleischermützen. Heute weiß ich, viel schlimmer als die harmlosen Zerstreuungen der Menschen, die man sieht, ist die geistige Trägheit derer, die man nicht sieht. Weil sie den ganzen Tag arbeiten. Mit Dienstwagen in Tiefgaragen gleiten und diese in der Nacht wieder verlassen, um in ein Gym zum stratzen, um die überflüssige Arbeitskraft und die geistig nicht genutzte Kapazität zu regenerieren ... Wir werden vom Mittelmaß regiert. Eine Rotte Dummköpfe, die sich jeden Morgen im Spiegel ansieht, mit farblosen Augen in ein farbloses Antlitz, die Faust geballt und ruft: Ja, Welt, heute werde ich dich wieder ein bisschen dümmer machen ... sie lassen ihr Hirn auf Sparflamme laufen.“
- Sibylle Berg -

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Mutter Courage und ihre Tochter

Samstag, 28. November 2009

Es wäre vermessen, in katastrophalen Zeiten von einem ministeriellen Drama zu sprechen, dabei mit dem Finger auf jene beiden Damen zeigend, die nun im Arbeits- und Familienministerium sitzen. Es macht den schwarz-gelben Schicksalsschlag nur etwas aussichtsloser, denn katastrophal war die Situation eh schon. Es darf getrost als die Ausreifung des Verderbens verstanden werden, dass eine hingebungsvolle Frau Mutter ins Arbeitsministerium eingezogen ist und eine plumpe Ausländerfeindin die Familienministerin vortäuscht.

Da steht auf der Schwelle zur Arbeitslosenbekämpfung eine rührende Frau Mama, eine Person, die als Familienministerin immer bemüht war, es besonders gut zu meinen. Selbst ihre halbgaren und dem Datenschutz feindlich gesinnten Methoden zur Bekämpfung der Kinderpornographie, meinte sie doch im Grunde ihres Herzens nur gut. Auf Kritik reagierte sie dann gar nicht mehr, denn wer es gut meint, der verweilt in sakrosankten Gefilden - wer kämpft für das Recht, der hat immer recht! Was da auf jene zukommt, die von offizieller Seite bekämpft werden, nämlich die Arbeitslosen, kann erahnt werden. Frau Ministerin meint es nur gut mit den Erwerbslosen, ganz anders als die Clements und Scholzens vor ihr, die ja keinen mütterlichen Touch hatten, obwohl sie es freilich auch gut meinten. Allerdings war deren Meinen nur mühsam erkennbar. Bei Frau Mutter ist es evident, man nimmt ihre Mission deutlich wahr, sie wird es zukünftig nur besonders gut meinen, wenn neue Gängelungsmechanismen entworfen oder die bereits bestehenden verteidigt werden. Mit Rehäuglein wird sie in die Kameras starren und kritikresistent jeden Kritiker einlullen. Man hüte sich vor solchen, die es besonders gut mit einem meinen...

Dem Muttertier folgt ein Mädchen, eine kinderlose Irgendwer, die bis dato vorallem dadurch auffiel, Fachpolitikerin für Islam, Integration und Extremismus zu sein. Qualitäten, die sie freilich dazu nutzte, um die extremistische Gefahr immer wieder aufs Tablett zu hieven, wie damals, als sie wider besseren Wissens von deutschenfeindlicher Gewalt predigte, dabei nicht einmal Hilfe vom unionsnahen Kriminaler Pfeiffer erhielt, der von einem Missbrauch seiner Thesen sprach. Der schneidige Backfisch ließ sich aber nicht entmutigen, flankierte Fußfessel-Fetischist Christean Wagner und bemühte sich darum, dass man endlich von antifaschistischen Strategien wegkommt. Wenn man Migrantengewalt nicht thematisiere, so warf sie ins seichte Gewässer solcher Diskussionen, füttere man nur den Rechtsextremismus. Ihre gesamte Qualifikation beruht auf flachem Wissen zum Islam, auf repressive Integrationstaktiken, darauf, in jedem Moslem den Extremisten zu wittern, ja jeden Ausländer als potenziellen Gefahrenherd zu entlarven. Und dieses Mägdlein ihrer Herrn sitzt nun als Familienministerin auf weichen Polstern. Es muß als Ausreifung der schwarz-gelben Katastrophe angesehen werden, dass eine solche Person dieses Amt übernimmt. Es besteht die berechtigte Furcht, dass aus dem Familienministerium eine Art verkappte Integrationsbehörde entsteht, so wie sie kürzlich noch in der Diskussion war. Für die Ministerin in Lauerstellung mag es das höchste der Gefühle sein, Familienpolitik mit Integrationserpressungen zu verbandeln, aus der Politik für Familien, eine Politik gegen ausländische Familien zu destillieren. Für Müllers und Meiers freiwillige Betreuungsangebote und Betreuungsgeld aufs Konto, für die Günes' und Özdemirs Zwangsbetreuung ihrer Kinder und Rabatte im Gutscheinmodus! Mit so einer fanatisierten Person auf dem Sessel der fiskalischen Familienplanungskomission, ist es nicht mehr ausgeschlossen, dass auch dort die Ausländerfeindlichkeit in jede Ecke kriecht.

Die beiden Damen, die innerhalb der Medienlandschaft viel Lob ernten, bilden die Zuspitzung der Zuspitzung ab. Mit solchen Furien wird die Lage keinen Deut besser. Sie spiegeln das eiskalte Klima nicht nur treffend wider, sie ziehen noch eine Eisschicht darüber. Mutter Courage und ihre Tochter verschärfen die bundesrepublikanische Kälte, ob sie wollen oder nicht. Sie können sicherlich nicht aus ihrer Haut, zu immanent ist ihnen die Menschenverachtung. Solange man es gut meint, darf man eben auch gegen Ausländer zu Felde ziehen.

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Gleichheit um jeden Preis

Freitag, 27. November 2009

Schon als diese Person die Bäckerei betrat, fiel sie mir auf. Eine Dame im besten Alter, pelzbemantelt, ordentlich geschminktes, üppig gespachteltes Antlitz. Sie wand sich durch die Schülermassen, die hier jeden Morgen ihr Pausenbrot einkaufen, dabei genervt dreinblickend, leise vor sich hinschimpfend. Man erkannte sofort, dass sie es nicht gewohnt ist, sich einen Platz in der Welt zu erkämpfen, auch keinen Platz in einer Warteschlange - es war offensichtlich: Personen wie jene im Pelz, erhalten ihren Platz mit freundlichem Wort und devoter Verneigung zugeteilt. Einen Platz an der wärmenden Sonne, versteht sich. Und weil keiner zugeteilt hat, weil ich Stoffel die Hände in die Jackentasche gekeilt hatte, die Verbeugung unterlassen habe, nahm sie sich gleich ein Sonnenplätzchen an vorderster Front, direkt am Schaukasten, gleich beim Zuckerwerk also, unter Beschlag. Schnell wühlt sie sich noch ihre Geldbörse aus dem Täschchen und dann hieß es mit sturem Blick gen Verkäuferin, das wartende Volk rundherum ignorieren.

Jetzt hätten Sie sich fast vorgedrängelt!, fiel ich per Wort und Ausfallschritt in die Szenerie. Ich starrte sie dabei sicher nicht sonderlich verliebt an. Entrüstung stand ihr plötzlich ins doch schon faltenreiche Gesicht gemeißelt. Sie wollte was entgegnen, japste sich zur Antwort. Unverfroren sei das, sie wollte sich nicht vordrängeln, Frechheit und so! Dass sie so säuberlich nach der Schrift sprach, vielmehr wie ein Buch Sprache gebrauchte, nicht wie ein lebendes Menschenwesen, machte sie mir nicht gerade sympathischer. Regen Sie sich doch nicht so künstlich auf, beschloss ich das Tête-à-tête. Ihren Blick fing ich nicht mehr auf, schon lächelte mich das junge Mädchen hinter dem Tresen an, nahm meine Bestellung entgegen. Aus dem Augenwinkel vernahm ich noch, dass der faltige Pelz gleich nach mir an die Reihe kam, etliche Schüler wurden also übergangen. Normalerweise, so dachte ich noch bei mir, müßte man so einen Drachen am Kragen packen und ans Ende der Schlange bugsieren. Und da bleibst' stehen!

So geschieht es täglich in diesem Lande. Drängeln ins keine Domäne des Pelzes, auch andere Gesellschaftsschichten drängeln oft und passioniert. Aber doch hat sich mir etwas verdeutlicht: Wäre die Drängelnde keine ausstaffierte Dame gewesen, kein geschminktes, großspuriges, prahlerisches Gesicht, sondern vielleicht ein ärmlich dreinblickendes Muttchen, eine heruntergerissene ältere Frau, ausgestattet mit Häkelmützchen und fleckigem Mantel, ich hätte meinen Mund gehalten, ich hätte ihr den Vortritt gelassen, hätte ihren Lapsus ignoriert und mich dabei nicht übergangen gefühlt. Mir wurde gegenwärtig, dass ich nicht im Sinne der "Gerechtigkeit", sei es auch nur eine unwesentliche Form derselben, gehandelt hatte, sondern im Sinne mir entgegengeschleuderter Arroganz, ja gegen eine bestimmte Gesellschaftsschicht agierte. Dabei ist belanglos, ob der Pelz echt war oder nicht, ob sie nur eine Dame aus einer bestimmten Schicht mimte oder wirklich dazugehörte - sie spiegelte jemanden wider, der mir immer widerlicher wird; sie spielte oder war der ignorante und egoistische Snob aus höheren Kreisen - das konnte ich nicht einfach verdrängen.

Und nur gegen den übervorteilten Snob richtete sich mein bescheidenes Einschreiten. Ich war vergleichsweise freundlich, kein böses Wort, keine arrogante Gestik. Aber ich wäre gerne grobschlächtiger gewesen. Nur mein noch müdes Gemüt, meine friedliche Gestimmtheit des Augenblicks hat böses Blut verhindert. In mir brodelte es aber dennoch - der Geist wäre stark gewesen, wenn das Fleisch nicht so schwächlich in sich geruht hätte. Wie gesagt, mir wurde meine Einseitigkeit augenfällig, mir wurde deutlich, dass ich kein ärmliches Mütterlein auch nur damit konfrontiert hätte, ich hätte sie vorrücken lassen, hätte womöglich einem Entrüsteten, der der Frau an den schmuddeligen Mantel wollte, auch noch erklärt, ich hätte sie selbst vorkomplementiert. Natürlich ist das einseitig, natürlich scheint es nicht richtig, das Pelzbiest anzufeinden, während die wandelnde Ärmlichkeit wortlos davonkommt - der Gleichheitsgedanke birgt, dass man entweder immer schweigt oder immer interveniert. Jedoch fällt mir das in dieser Gesellschaft immer schwieriger. Wann immer sich die Möglichkeit herauskristallisiert, die Gesellschaftsschicht der Pelze anzugreifen, nutze ich die Gelegenheit - ich nutze sie, weil es mir als Gebot der Gegenwart erscheint, der übervorteilten Bürgergesellschaft Einhalt zu gebieten, zumindest so weit mir das möglich ist. Aber den anderen, die ganz offensichtlich im Nachteil sind, will ich kein Oberlehrer sein - sie haben es sowieso schon schwer genug. Leider erleben wir in diesem Gesellschaftsentwurf aber viel häufiger, dass kümmerliche Mütterchen gescholten werden, während Mütter von Pelzen davonkommen.

Deshalb ist es auch nicht machbar, beispielsweise ein Alkoholproblem in der Unterschicht, das dort sicherlich genauso heimisch ist, wie in den Ober-, Mittel-, Links- und Rechtsschichten, zu thematisieren. Man darf nicht bereit sein, auf Kosten der übervorteilten Gesellschaftsschichten, die Problematiken der Benachteiligten zu instrumentalisieren. Nein, man muß das Vordrängeln der Pelze angreifen, beim selben Benehmen auf der schwachen Seite aber, auch mal Fünfe gerade sein lassen. Ein bescheidener Ausgleich der Benachteiligung, aber meines Erachtens die einzige Art, der herrschenden Ungleichheit ausbalancierend zu begegnen. Es ist eben nicht dasselbe, ob ein Millionär stiehlt oder ob ein Obdachloser zur Entwendung schreitet. Sind wir zu gleichheitsergeben, gleichen wir wie jenem Gesetz, dass den Reichen wie den Armen verbietet, unter den Brücken zu schlafen (Anatole France). Gleichheit um jeden Preis bedeutet in einer ungleichen Gesellschaft nicht Ausgleich, sie bedeutet die Verschärfung der Ungleichheit.

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Facie prima

Mittwoch, 25. November 2009

Heute: Der Wahrheitsjünger im demokratischen Zwirn, der Sozialrassist


Bieder kommt er des Weges, wie ein ehrenwerter Herr und rechtschaffener Mitbürger. Lächelnd wird er abgebildet, vornehm dreinschauend, im feinen Zwirn predigt er die bürgerliche Mitte, trägt er seine Sozialrassismen gegen Unterschichten und Ausländer vor. Dabei weiterhin als schneidiger Demokrat auftretend, liebevoll mit dem Kameraobjektiv spielend, während des Arbeitsscheuen Faulheit und des Gastes Dreistigkeit thematisiert wird. Es handelt sich um jenen Schlag Blödmann, gedankenversunken und mitbürgerlich in Linsen glotzend, der durch Le Pen zur Weltberühmtheit gelangte - der beauf, der Spießer und Chauvinist, der Hetzer und Menschenfeind, mit der Physiognomie eines Zwerges aus dem Vorgarten. Ein Gartenzwerg, der gewöhnlich und trivial die Zipfelmütze über seine Ohren zieht, der aber explosiv aufmischt, der unter seinem Hemdchen voller Zündstoff steckt. Der beauf, der Gartenzwerg als neuer Trommler der Unmenschlichkeit!

Dabei tut ihm seine offenbare Ungepflegtheit keinen Abbruch. Trägt ein Protagonist jener Gesellschaftsschichten, die der beauf normalerweise verächtlich macht, einen ungepflegten, strähnigen, strukturlosen Schnurbart, so unterstellt man ihm Schlampigkeit und fehlende Wasch- und Pflegemoral, so wie es jener arbeitsscheuen und integrationsunwilligen Schicht eben immer zustand. Trägt der demokratische Denker Zottelbart, wartet mit speckigem Haar auf, dann blinzelt man daran vorbei. Der Wahrheitsjünger im demokratischen Zwirn ist so beschäftigt mit seinen Denkarbeiten, mit dem Formulieren und Ausfeilen seiner stammtischigen Wahrheit, dass man an hygienischen Nichtig- und Kleinigkeiten vorbeisieht. Der zottelige Fransenbart, das verstrubbelte Haar sind kein Ausdruck von Ungepflegtheit - sie stellen die Betonung der Wichtigkeit dar. Wer rege denkt, hat kaum Zeit zur Pflege. Der Denker ist des materiellen Daseins entflohen, er kann speckig durch die Medienlandschaft huschen, was die Opfer seiner Hetze nicht können, nicht dürfen, ohne mit Häme überschüttet zu werden.

Der besorgte Mitbürger ist einer aus "unserer Mitte", ein Geselle, dessen "Herz am rechten Fleck" liegt, der an einer "freien Schnauze" kranke. Er gilt als marktschreierischer Rüpel, der oft zu ungeschlacht ist, der aber bei hellem Lichte besehen, ein feiner Kerl sei, der halt manchmal an "flinker Zunge" leide. Er meine es nicht so, er sei vielmehr einfach nur zu ehrlich, spreche nur aus, was alle anderen sowieso schon denken. "Einer von uns" eben - einer der das ausspricht, "was unter uns" eh schon gedacht wird. Einen solchen Mann aus dem Volk tut kein doofer Blick, keine ungleichmäßig geschnippelte Lippenbürste Abbruch. Jemand wie er kann sich alles erlauben, "einen von uns" kritisiert man nicht - man lobt ihn, streicht seine Zivilcourage heraus, sein demokratisches Engagement, seine Menschenliebe, die ihm Antrieb wurde. Dass der Sozialrassist, der braune Wahn als biedere und hässliche Bürgersfratze in unsere Stuben zurückkehrt, in der Maske der Demokraten, um Adorno zu bemühen, oder um es grob zu sagen: dass der braune Irrsinn als hässlicher Mann zurückkehrt, scheint in den letzten Wochen und Monaten kaum mehr wahrgenommen zu werden. Nicht Uniform und Armbinde harren des Wahnsinns: wackerer Schnäuzer und schlecht sitzender Anzug begrüßen die neue Zeit, paradieren dem neuen doch alten Übermenschentum.

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Kein Benehmen ist Lebensart

Dienstag, 24. November 2009

Deutschlands Unterschicht kennt kein Benehmen, besteht aus anstandslosen Dummköpfen und unflätigen Haudraufs. Heinz Buschkowsky klärt auf - wenigstens ein bisschen. Er hat sie besucht, die fehlende Kinderstube, war gleich um die Ecke bei Tante Montessori, dort wo die Eltern des kleinen Klaus-Rüdiger monatlich sechshundert Euro lassen und wo ein Koch den kleinen Rüpeln Hähnchen-Filets in Paprikarahm brutzelt oder Topfenpalatschinken bereitet. Schön wäre es, wenn Buschkowsky dort gewesen wäre - aber die geschliffene Manierlosigkeit dieser kleinen Egomanen, genetische Kleinkopien ihrer Erzeuger, meint er ausdrücklich nicht.

Nein, solche Selbstsüchtigen, die Jünger ungepflegter Ich-Kultur, die rücksichtslos durch die Welt stoffeln, die mit Genuss Grobian sind und mit Vorliebe ihr Rabaukentum ausleben, mögen vielleicht ebenso kein Benehmen kennen, aber deren sozialer Status, die Tatsache mittels hundertfacher Euroüberweisung Kindergarten und Schulbildung einkaufen zu können, enthebt sie des anstandslosen Makels. Wer zahlen kann, der darf auch rülpsen oder furzen und sich über das einstimmende Lob diesbezüglich freuen. Neinnein, Buschkowsky jammert über die soziale Unterschicht. Die ethische Unterschicht, die unabhängig von Arbeitsplatz und ökonomischen Stellenwert verkrüppelt durch die Lande rennt, die schwerbehindert ist im Bezug auf den Mitmenschen, die ist entschuldbar. Wo Transaktionen stattfinden, wo saftige Konten vorzufinden sind, wo man die eigenen siechen Umgangsformen mit Geld kaschieren kann, dort findet sich kein Freiherr von Knigge, da wird die abhandengekommene Etikette gekonnt ignoriert.

Dabei wäre es für diejenigen, die Gecken wie jenen Menschenfreund aus Berlin täglich ertragen müssen, gar keine Sünde, wenn sie ohne Benehmen durch die Gegend liefen. Es wäre doch nur verständlich, wenn man die Worte eines Buschkowsky als die gequirlte Scheiße eines schweißdampfenden Fettsacks benennen würde, wenn man diesen Maulhelden nicht per Handschlag, sondern per ausgespucktem Geifer begrüßte, statt einem guten Tag ein Halt's Maul! an den Jammerschädel würfe. Warum auch nicht? Für Typen wie Buschkowsky ist das fehlende Benehmen sowieso schon Tatsache - warum nicht gleich mit Angriff in die Verteidigung? Verwunderlich wäre es jedenfalls nicht, wenn man sich gar keiner geschliffenen Sprache mehr bedienen möchte, weil die Damen und Herren der geschliffenen Ausdrucksart täglich dabei sind, die oft tragischen und gescheiterten Lebensentwürfe der Unterschichtler auszubeuten, um ihrer unmenschlichen Politik Raum zu brechen. Wenn man von feinen Demokraten, gehüllt in feinem Zwirn und noch feineren Duktus, täglich zum Spielball gemacht wird, zum Gegenstand diverser Stammtischparolen, dann wird das unflätige Wort, die ungewichste Ausdrucksart, die verbale Gosse zum neuen Sprechmuster, zum geschliffenen Wort der Ungeschliffenen. Dann macht die Unterschicht aus diesen Schaumschlägern und Wichtigtuern eben, was sie aus deren Sicht sind: Arschlöcher und Dreckschweine! Und daran ist dann nicht einmal mehr etwas auszusetzen.

Das mag sicher kein Benehmen sein, wie es hohe Damen und Herren, die selbsterklärten Finanziers der Gesellschaft, gerne sehen würden. Aber man kann sich seine Unterschichten genausowenig aussuchen, wie seine fettgefüllten Eliten. Unbenehmen indes ist keine Problematik aus Unterschichten, es ist das Lebensgefühl dieser egomanischen Tage. Buschkowsky sollte einmal Verkäuferinnen fragen, denen Freundlichkeit in jeder Verkaufssituation abverlangt wird, die aber von der Kundschaft behandelt werden wie Ansage- und Informationsapparaturen aus Fleisch und Blut. Er sollte nachfragen, wer besonders rücksichtslos ist: der ALG II-Bezieher oder der krawattierte Großkotz. Aber letzterer würde die Unmenschen unserer Tage, diese Hetzer gegen Unten und Anders, nicht als Arschlöcher bezeichnen. Der Großkotz sieht solche ja als seine Herrn im Geiste, fütternde Hände, die man nicht in die Flucht beißen sollte. Deswegen ist der Großkotz Freund der Buschkowskys. Unter Freunden hält man zusammen: der Großkotz liebkost seinen Standartenführer und der Standartenführer linst gönnerhaft zur Seite, wenn sich der Großkotz wieder mal aufführt wie ein wildgewordener Vollidiot. So herrscht Unbenehmen nur dort, wo es politisch gewollt ist...

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Nach bestem Gewissen

Montag, 23. November 2009

"Was ist denn mit Ihnen los, Herr B.? Sie klingen krank, am Ende haben Sie die Schweinegrippe", empfing des Sachbearbeiters Stimme schroff und lieblos. "Sagen Sie schon, sind Sie krank?"
"Nein, bin ich nicht", platzt es keuchend, dem Husten nahe aus dem verschwollenen Gesicht hervor. "Ich habe kein Attest, geschätzter Herr Sachbearbeiter, daher bin ich nicht krank. Sie haben mich ja gelehrt, wie man guten Willen zeigt."
"B., seien Sie kein Narr! Sie husten, sind verschleimt, das merkt man doch. Sie sind krank, gehören ins Bett."
B. sackte kraftlos auf seinem Stuhl zusammen, klotzte irrwitzig durch den Raum, schwieg aber, ließ seine fiebrige Verfassung wortlos auf die Szenerie wirken. Bemerkte nach einer Weile, dass der Blick des Gegenübers ihn fixierte, stierte seinerseits zurück, kramte Taschentücher hervor und spuckte mehrmals in deren Herzen grünlich marmorierte Schleimklumpen.
"Herr B., ich weise Sie darauf hin, dass Sie ansteckend sein könnten. Mann, Sie kommen hierher und gefährden meine Gesundheit. Gehen Sie bitte umgehend zum Arzt", sorgte sich der staatliche Erfüllungsgehilfe mit angsterfüllter Miene.
"Sehen Sie, es kann sein, dass mich die Schweinegrippe quält, das schließe ich gar nicht aus. Aber wo kein Befund, da keine Krankheit. Daher zeige ich guten Willen, so wie man es von mir erwartet, lasse mir keinen Befund ausstellen, damit ich nicht in den Ruch der Krankheit gerate."
"Aber mit dieser kindischen Sturheit gefährden Sie Ihre Mitmenschen, gefährden Sie mich! Ich möchte niemanden empfangen müssen, der so rotzt und schnieft, wie Sie es momentan tun", entrüstete es sich vom anderen Ufer des Schreibtisches.
"Ja, jetzt ist Ihnen die vage Krankheit, diese Krankkeit, die keine ist, sondern nur eine sein könnte, wenn sie auf offiziellem Papier stünde, eine Herzensangelegenheit. Jetzt, da Sie fürchten, dass meine mögliche Krankheit auch bei Ihnen Krankheit möglich macht, da wollen Sie keinen zu guten Willen am Werk sehen, da soll sich der Krankheitsträger Ihnen zuliebe seiner Krankheit bekennen. Aber ich verhalte mich ganz korrekt, ich bin Ihrer Einladung gefolgt, hier erschienen, habe mich nicht per Attest entschuldigen lassen, verlange nun von Ihnen, dass Sie sich meiner annehmen."
Der Sachbearbeiter starrt stumpft zu B., nestelte sich verträumt am Kragen, kratzt sich dreimal an derselben kahlen Stelle des Kopfes, gab kurz gesagt seinem Unwohlsein Gestalt. "Herr B., Ihr guter Wille ehrt Sie ja, aber Sie nehmen in Kauf, dass Menschen zu Schaden kommen. Guter Wille! Aber wo bleibt da das gute Gewissen?"
"Wo war Ihr gutes Gewissen? Wo war es, als Sie mir klarmachten, dass ich zwei Beine habe, solange es keinen Befund zur Einbeinigkeit gäbe? Da wußten Sie nichts vom Gewissen, nur von meinem guten Willen wollten Sie damals sprechen, den Sie indes für gefährdet ansahen. Jetzt eifere ich Ihnen nur nach, bin brav und willig, krank wahrscheinlich auch, denn subjektiv betrachtet muß ich ja feststellen, dass meine Gelenke und Glieder müde sind, der Kopf brummt, der Rotz bis unterm Anschlag steht, der Hals kratzt, außerdem glühe ich wie wild. Aber das ist subjektiv, einen objektiven Blick lasse ich nicht darauf werfen, denn ich befinde: meine Befindlichkeit braucht keinen Befund", sprach B. und schloss die Ausführungen mit einem Orchester aus Hustenmeer und Schnäuzstössen.
Der Sachbearbeiter glotzte dümmlich, fühlte sich die Stirn, als würde das Fieber augenblicklich von ihm Besitz ergriffen haben, kümmerte sich kaum mehr um den frechen Racheengel, der sein steriles Kämmerlein zu einer Bastion aus Schleim und Tröpfchen verwandelt hat. "Das ist Ihre Rache, Herr B., oder? Sie rächen sich an mir."
"Wissen Sie, Herr Sachbearbeiter, Rache ist ein so böses und unpassendes Wort. Sie sollten nicht so negativ eingestellt sein. Ich räche mich nicht, aber wenn man mich schon fragt: Rache ist ein Menü, welches man am besten rotzig serviert, angereichert mit Bakterien, aushustend. Trotz allem, es ist keine Rache, ich vermute ja nur eine Krankheit, letzte Gewissheit könnte mir nur ein Arzt schenken. Und da wir beide keine Ärzte sind, müssen wir von meiner Gesundheit ausgehen. Das verlangt der gute Wille - meiner ebenso wie Ihrer."
Mit gefrorenem Gesicht verharrte der Sachbearbeiter auf seinem Sessel, überzeugt davon, dem ganzen Hopuspokus am effektivsten schweigend zu begegnen.
"Ich wäre selbst mit schwarzen Flecken in der Achselgegend heute erschienen. Das bin ich Ihnen schuldig, nicht mal die Pest könnte mich davon abhalten. Ohne Befund, das wissen Sie ja bestens, wäre selbst das modrige Bukett aufgebrochener Pestbeulen nichtig. Es ist wie mit dem Sprühregen erlesener Bakterien, den ich gleich durch Ihre Räumlichkeiten versprenge. Er ist zwar da, man nimmt die sprühende Feuchtigkeit an Armen, Wangen, Lippen wahr. Aber solange kein Befund erklärt, dass es sich dabei um schweinegrippalen Sprühregen handelt, sprechen wir von nichts anderem als von feuchter Aussprache. Rache oder dergleichen! Wie denn, wenn ich nicht mal sicher weiß, ob ich auch wirklich krank bin? Sie, lieber Herr Sachbearbeiter, müssen daher davon ausgehen, dass ich nach bestem Gewissen handle..."

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Ridendo dicere verum

„Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Türe einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mit im Leben zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.“
- Heinrich Heine -

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Henkels Waschsalon

Sonntag, 22. November 2009

Eigentlich müßte sich Hans-Olaf Henkel in seine eigene Vision hineinstellen, müßte Bestandteil jener Hall of Shame werden, die er als Disziplinierungswerkzeug zu Markte trägt. Noch recht bei Sinnen, müßte er sich eigentlich dafür schämen, in der Berufung Schäubles zum Finanzminister "Merkels beste Entscheidung" zu wittern. Ebenso beschämend, dass der feine Herr vom Neosozialismus spricht, wobei er sicherlich weniger die Staatshilfen für Unternehmen und Banken meint, als das angestiegene Kindergeld. Gleichwohl begreift er seine Rolle als unabhängiger Denker zu unterstreichen, indem er erläutert, dass seine Verweildauer in einem Kabinett nur einige Wochen stattfände, immerhin könne ein Mann seines Formats keine faulen Kompromisse eingehen. Henkel, der Unbeugsame! Dass der Weg durch die Darmfloren dieser Republik aber sein tägliches Geschäft darstellt, so wie man sich in diesen Schichten generell ständig durch die Rosetten ins Miteinander schlüpft, muß ja nicht gesondert erwähnt werden.

Schon dafür prangerte Henkel in seiner umworbenen Schamhalle, in die alle hineingeworfen gehören, die sich bei Schweinereien erwischen ließen. Gauner, Steuerhinterzieher und Schmiergeldzahler sollten dort einen standesgemäßen Repräsentationsraum erhalten - ein Pranger für Seinesgleichen! Ein Kuriositätenkabinett zum Erhalt der weißen Weste, allerlei verschlagen dreinschauende Gestalten, mit lächelnder Fratze daherkommende Figuren, die einen ein Häuflein Kot als neueste technologische Entwicklung verkaufen wollen. Wenn Henkels Verweildauer im Kabinett auch kurz wäre, in diesem Kuriositätenkabinett wäre er heimisch genug, um auch guten Gewissens länger verweilen zu können. Und wenn dann Schulklassen durch die Niederungen der Verschlagenheit gelotst wurden, wenn ein Paar buckelige Staturen ihre Rolle als raffendes Kapital gemimt haben, um den Kinderchen weiszumachen, es gäbe da noch eine bessere Variante von Kapital, schaffendes Kapital, gutes Kapital mit integeren Damen und Herren an der Spitze, dann hat die Schameshalle ihren Dienst trefflich getan.

Im Sinne kapitalistischer Logik haben sich die verschlagenen Habgierigen aus den diesigen Räumlichkeiten der Hall of Shame nämlich nur folgender Sache schuldig gemacht: sie haben sich erwischen lassen. Und das ist es auch, was Leute wie Henkel ihren Mitkreaturen anlasten. Was sie getan haben ist bedenklich, aber nicht, weil es unmoralisch ist, sondern weil es unmoralisch wirkt, wenn es das Tageslicht erblickt. Solange diese Machenschaften Kinder der Nacht bleiben, existieren sie auch nicht, muß man sich keiner lästigen Fragen erwehren. Aber wenn der Morgen graut, während die Machenschaften noch auf den Tisch liegen, dann droht Ungemach. Ungemach sei die Sünde derer, die am Pranger gestellt sein sollen! Denn um wirklich krude Gestalten aus der Dunkelheit seiner Branche geht es Henkel sicher nicht. In der Hall of Shame ist kein Platz für Führungskräfte, die florierende Unternehmen führen, horrende Gewinne einfahren, aber gleichzeitig Personal abbauen und Löhne der verbliebenen Arbeitnehmer gleich mal präventiv senken. Das ist ja auch nicht beschämend. Wer so handelt, der zeigt lediglich Verantwortungsgefühl, für den ist die Hall of Fame zugedacht.

In Henkels Schameshalle sollen einige Geisterbahnfabrikate aufgestellt werden, die den Kapitalisten in feinen Zwirn unterstützen. Der gute Kapitalismus selektiert selbst, reiht die Schweine der Zunft selbst aus, damit die ehrenwerten Damen und Herren zurückbleiben. Ehrenwert ist aber nur, wer sich bei Schmiergeldzahlungen und Erpressungen, bei Gaunereien und Steuereinsparungen nicht erwischen läßt. Das alles liegt ja in der Wesensart des Menschen, hat Henkel kürzlich selbst noch erklärt - daher sollte man nicht zu schroff urteilen. Die Fingerfertigkeit liegt darin, sich bei der ungezügelten Wesensart nicht erwischen zu lassen. Denn in den Kreisen, in denen Henkel stolziert, gilt als eisernes Gesetz, dass der Widerstand gegen die Steuerzahlung ein Menschenrecht sei. Warum also Leute in die Schamhalle sperren, die Steuern hinterzogen haben? Ethisch betrachtet gibt es dafür doch gar keinen Grund, pragmatisch betrachtet jedoch schon - man rüffelt den Unhelden, stellt ihn als Kuriosität aus, und unterstreicht damit die Vorzüge anderer feiner Herren, die noch nicht erwischt wurden. Henkels Hall of Shame, ein moralindurchtränkter Waschsalon...

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Im Wandel der Zeit

Freitag, 20. November 2009

"Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen."
- Kurt Tucholsky -
Ohne zu mäkeln wird die fürsorgliche Ehefrau die Bitte ihres Mannes umsetzen und ihm einen Broccoliauflauf servieren. Broccoli, welches er einst als billiges, fast erbärmliches Gemüse des kleinen Mannes ansah, als Unterschichten-Grünzeug! Nun soll es Einzug in die heimische Küche finden. Ein köstliches Gericht: das proletarische Kreuzblütengewächs mit einem braungebackenen, gutbürgerlichen Käse überzogen. Obwohl es mundete und man sich schnell zum baldigen Wiederzubereiten entschloss, war man sich im familiären Kreise schnell darüber einig geworden, dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
So nahmen also die Kartoffeln - die man reichlich dazugab - einen Großteil von Broccolis Platz ein, trotz des Umstandes, dass dies grüne Gewächs der Namensgeber war und auch blieb. Kartoffel-Mehrheit hin oder her, im Familienkreise sprach man fortan vom Broccoliauflauf.

Sellerie und Karotten waren die nächsten Zutaten, die dem Broccoli Gesellschaft leisten sollten. Freilich reduzierte sich das Grün im Gesamtbild erneut. Kam die Familie aber überein, man wolle gratiniertes Gemüse, so schrie sie weiterhin: Broccoliauflauf!
Erneut Grünverlust: Paprika, Zucchini und Aubergine fanden Zugang unter die Käsekruste. Andere Zutaten, vornehmlich Hülsenfrüchte, wurden nach einmaliger Verwendung sofort wieder ausgeladen - doch dies Zurücknehmen mehrte den Zuspruch des Broccolis nicht. Und schon bevor man sich entschloss, dem Vegetarischen zu entkommen, indem man Speckscheiben vor dem Käsestreuen auflegte, war der Namensgeber Minderheit geworden und an den Rand gedrängt. Der bewährte Name aber blieb, ja, viel schlimmer noch: Kam das Gericht als Gemüsegratin auf den Tisch, so rätselte man, was dies wohl sein möge. Niemand wußte mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen, bis das erlösende Broccoliauflauf fiel.

Es kam, wie es kommen mußte: Erneut stand der familiäre Kollektivwunsch nach dem proletarischen, wenn nun auch verfeinerten Gericht. Dumm nur, dass ausgerechnet heute der Broccoli nicht zur Hand war. So also geschah das Unglaubliche: Ganz ohne grüne Kreuzblüten wurde geschmaust. Die Abwesenheit wurde nicht einmal bemerkt. Warum aber etwas Bewährtes, etwas dass jeder versteht, anders benennen?

Nun könnte man vom Lauf der Zeit sinnieren, der einstige Helden stürzt oder vergangene Werte und Genüsse verteufelt. Tut man dies, so muß aber auch das Neue – der Platzhalter, das Surrogat - mit in die Überlegungen eingeschlossen werden, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert: Ein blasser Blumenkohl soll diese Rolle spielen: Broccoli war aus dem Haushalt verbannt. Keiner wußte so recht, warum dies so war, aber der Lauf der Zeit kann nicht immer erklärt werden. Er waltet seines Amtes, ohne Fragen zu beantworten und viel zu oft erkennt man Veränderungen gar nicht aus dem Alltagsblick heraus. So nahm der farblose Doppelgänger fortan die Rolle ein, die anfangs dem einstigen Namensgeber zuteil wurde.

Das jüngste Familienmitglied, um dies trostlose Stück zu einem baldigen Ende zu führen, kannte dies Mahl nur als Broccoliauflauf, so wie Eltern es lehrten und Geschwister dies nachäfften. Während sich aber letztere zumindest an etwas Grünes erinnern und mit viel Geistesanstrengung dem Grünen sogar den passenden Namen zuteilen können, bleibt dem Jüngsten dieses Wissen versperrt: Sein Broccoli ist Blumenkohl und sieht er ihn am Verkaufstische, so meint er zu wissen: Das ist Broccoli, das tragende Ingrediens und Fundament des Gerichts.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist so eine vergangene Broccolinatur. Das proletarische Grüngewächs, der politische Auswuchs des Arbeiters: All das wurde Stück für Stück entfernt und durch andere Werte und Ideale ersetzt. Diese neuen Zutaten verfälschten den Geschmack der Sozialdemokratie, raubten des Broccolis Eigenheit. Ganz verschwand das einstige Wesen des Sozialen nicht, und mit einiger – wenngleich weniger – Berechtigung, durfte man weiter von einer sozialen und demokratischen Partei sprechen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Broccoli ausging, bis das geschmackstragende, aber schon lange sterbende Gemüse weggelassen wurde.

Aber selbst als die Sozialdemokratie ihr Wesen vollends verlor, konnte man sie als Alternative ansehen, die zwar nicht ernstzunehmen war, aber immerhin keiner politischen Klamaukshow gleichkam. Dann aber entdeckten die führenden Köpfe den Blumenkohl, experimentierten damit und befanden ihn würdig der neuen Ideologie der Partei. Um niemanden zu verwirren, um die jüngeren Genossen scheinbar in eine Ahnengalerie zu hieven, der schon den Urgroßvater angehört hatte, blieb man dabei, weiterhin alles Broccoli zu nennen, so wie es überliefert wurde. Keiner merkt mehr, dass man nun Blumenkohl als Broccoli getarnt untermengt, dass man knallharte Arbeitgeberpolitik unter dem Namen einer ehemaligen Arbeiterpartei vertritt. Und vertritt einer der Köche nicht bis ins kleinste Detail die Ansichten des Blumenkohlismus, so stempelt man ihn zum unverbesserlichen Broccolianer, der auf ewig im Gestern lebt.

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In eigener Sache

Montag, 16. November 2009

oder: Diekmanns fruchtloser Kampf für ad sinistram.

Auf den Wogen des schweinegrippalen Elends läßt es sich nicht besonders entspannt treiben. Sicherlich, des Paarhufers Grippe gestaltet sich etwas milder, man kotzt und scheißt nicht synchron, lebt daher nicht stetig im Zustand des Nahtods - doch der ganze Zirkus zieht sich in üppige Längen, ist ein Gerotze und Gekeuche in Überlängenformat. Jedenfalls mußte ich mich nicht übergeben, was mich eine gewisse demütige Dankbarkeit dem Virus gegenüber verspüren läßt. Dieses schweinische Elend ist ein fürsorglicher Henker, der nicht unnötig quält, sondern genussvoll den letzten Saft aus den Krafttanks saugt. Ein einsichtiger Verurteilter erkennt und honoriert das, es hätte auch schlimmer, immer noch schlimmer kommen können.

So sei es also, es hat mich erwischt, die Rüsselschnauze hat mich abgeschmatzt. Hätte ich nur auf Diekmann und seine Impflinge gehört! Aber nein, so einer wie ich, weiß es ja immer besser. Dabei meinte es BILD doch nur gut mit den Menschen, war Diekmann ausschließlich von Selbstlosigkeit getrieben. Ich habe das nicht erkannt, nicht erkennen wollen, weil ich jenem Herrn wie immer dunkelste Absichten unterstellte. Dabei liebt er doch alle Menschen. Und damit auch mich! Sein Einsatz für die Volksgesundheit war ein Einsatz für ad sinistram. Hätte ich auf seine Impfkampagne gehört, wäre ich nun entweder tot oder weiterhin gesund, müßte folglich in keinem Falle leiden. Ach, hätte ich meine Skepsis nur einmal gedrosselt, hätte ich nur einmal über meinen Tellerrand geblickt...

So aber ist es geschehen. Möglich, aber nicht sicher, dass in den nächsten Tagen ad sinistram auf Sparflamme gehalten wird. Mich interessieren die Machenschaften in dieser Welt derzeit nicht ausreichend genug. Wie irrig es doch jahrhundertelang war, Körper und Seele zu spalten. Was ist man schon mit einem schleimbefüllten Körper? In den Aufblähungen schleimiger Sekrete, als ich erledigt vor dem Fernseher lümmelte - und das Fernsehen macht solche Krankheitsbilder noch trister, wenn man noch nicht gekotzt hat, kotzt man spätestens dann -, hatte ich sogar die utopische Phantasie, die SPD würde zurückfinden auf statthaftere Pfade. Der Schleim vermag ein Menschenhirn zu umspülen. Kurzum, man verzeihe mir, wenn hier in den nächsten Tagen etwas Ruhe einkehrt. Sollten sich Genesungswünsche einfinden, so nicht bitte ohne Schelte. Man wasche mir gehörig den Kopf, weil ich Diekmanns Fürsorglichkeit nicht erkannt habe, nicht erkennen wollte. Diekmann, der unser aller Gesundheit, der durch meine Gesundheit ad sinistrams Gesundheit erhalten wollte.

Soeben habe ich mich geschnäuzt, anderthalb Pfund Schleim haben das Licht der Welt erblickt. Von da ab blieben mir etwa zehn Minuten, bis sich die leertrompeteten Hohlräume durch nachfließende Lava wieder füllen. Diesen kurzen Zeitraum nutzte ich, die obigen Absätze zu überlesen. Meine Güte, wie Schleim doch verblödet! Diekmann als Retter! Ich sollte alles wieder löschen oder wenigstens Passagen schwärzen, damit ich mich nicht auch noch lächerlich mache. Doch zu spät, jetzt bin ich wieder übervoll! Nun gefallen mir die Zeilen wieder. Man braucht nur genügend Schleim um die Gehirnwindungen, um auch in Diekmann einen Messias erblicken zu können.

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Sit venia verbo

Sonntag, 15. November 2009

"Depression, so argumentieren einige Sozialpsychologen, ist die Folge einer tiefen Ernüchterung, eines besonders klaren Blicks auf das Getriebe der Welt um uns herum. Depressive Verzagtheit entsteht durch die Erkenntnis, dass die Welt unverbesserlich und auch durch noch so große Anstrengung nicht zum Guten zu verändern ist. Depressive sind im Grunde Hyperrealisten, sie sind nicht mehr fähig zu jenen lebensnotwendigen positiven Illusionen, die uns – entgegen der Wahrscheinlichkeit – immer wieder neu beginnen und auch das unmöglich Erscheinende versuchen lassen. Depressive haben die rosarote Brille abgelegt, sie sind „sadder but wiser“ – aber ihre Klugheit macht sie krank. In der Depression liegt die Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit: Es hat doch alles keinen Zweck! Positive Illusionen, das zeigt die psychologische Forschung, sind die permanenten und systematischen Selbstüberschätzungen, die wir brauchen, um morgens überhaupt aufzustehen. Nur wenn wir uns mehr zutrauen, als es unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht, fassen wir Lebensmut und riskieren etwas. Zum gesunden Menschsein gehört offenbar ein Mindestmaß an Verkennung von Realitäten und fast mutwilliger Unterschätzung der Schwierigkeiten. Die Passivität, die mit einer Depression häufig einhergeht, ist nach den Erkenntnissen der neueren Forschung in erster Linie ein Selbstschutzmechanismus der überforderten Psyche. Das erschöpfte Selbst zieht sich in eine Schonhaltung zurück."
- Heiko Ernst, "Wie uns der Teufel reitet" -

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Menschliches, Allzuäffisches

Samstag, 14. November 2009

Es ist keineswegs so, dass das, was man als das Faschistische oder Totalitäre bezeichnet, nur eine Spielart menschlicher Niedertracht ist, an denen eine kleinere, vielleicht auch etwas größere Gruppe chronisch erkrankt ist. Beide für sich und beide gemeinsam sind nicht Auswurf einer genetischen Mutation, nicht mal Resultat einer mangelhaften Bildung und Moralerziehung. Das Denken in faschistischen und totalitären Niederungen ist nicht nur der Sport einer Handvoll Radikalisierter am sogenannten rechten Rand des politischen Spektrums. Es ist auch kein Wettbewerb biederer Bürgersgestalten, die aus der politischen Mitte heraus, in zurückhaltender Lammfrömmigkeit natürlich, in den faschistischen Gedankenkadaver pieksen. Nein, betroffen sind wir alle davon!

Alle Menschen leiden darunter; der Faschismus und die totalitäre Verfahrensweise schlummern in uns, werden beizeiten geweckt und sind dann schwer an der Leine zu halten. Auch in aufgeklärten Kreisen grassiert das plumpfaschistische Unterbewusstsein, jede noch so souveräne Denkweise kann unerwartet davon angefallen und zerfleischt werden. Aufgeklärte Kreise! Damit ist nicht die bürgerliche Mitte gemeint, denn die steht mit dem Machterhalt auf Du und Du, nicht mit der Aufklärung und der Mündigmachung aller Menschen. Generell ist das, was wir heute aus Mangel an Begrifflichkeit Faschismus nennen, keine pervertierte Erscheinungsform des rechten Spektrums, des linken freilich noch weniger - der Faschismus, so angelegt von Mussolini, später von den anderen bestiefelten Reiterhosenfetischisten übernommen, war eine Lehre der Mitte, ein Vermittler zwischen linkem Populismus und rechtem Konservatismus. Aus der Mitte entsprang der Stuß! Klassenkampf ade, denn der Sozialismus der Faschisten war die Einheitsfront, das Anpacken des Stricks von derselben Seite, kein Gegeneinanderziehen mehr. Nein, die bürgerliche Mitte, das Gewinsel darum, dass eine Partei alle Volksschichten befrieden sollte, der Volksparteigedanke eben, ist letztlich die humanistisch angepinselte Version des niedersten Braun-Instinkts. In der Mitte reift der Faschismus; aus der Mitte keimte er; sie war das Obdach um Linkes wie Rechtes zu kanalisieren und zusammenzuführen. Alles was da am rechten Rand herumblödelt, ist damit die Erweiterung der bürgerlichen Mitte, eine kleinbürgerliche Variante, die den Stammtisch völkisch bevölkert. Es ist der Rand der rechten Mitte, Tummelplatz des Stehkragen- und Springerstiefelproletariats.

Dennoch ist niemand jenseits solcher Mitten davor gefeit, sich ins Faschistische und Totalitäre zu verirren. Dazu muß man nicht Anhänger der Mittigkeit sein, auch nicht deren Fechser in zugeknöpftem Polohemd mitsamt elegantem Hosenträger und wohlpoliertem Eierkopf. Jeden kann es treffen, selbst den, der in bester Absicht durchs Leben wandelt. Schnell wird aus dem Wandeln Stechschritt und aus dem aufrechten Gang Marschtritt. Das geht schon los, wenn wir dazu übergehen, dem faschistoiden Bürgertum die Pest, eine Terrorbande oder eine Wand zur letzten Ansicht an den Kragen zu wünschen. Blitzartig springt der Faschist hinter den Windungen unserer Gedankenwelt hervor. Wir ersinnen uns eine bessere Welt, in der wir uns von denen, die einst in der Mitte Einheitsfronten vorbeteten, schützen müssen. Das ist die Geburtsstunde von Staatssicherheiten, die Geburtsstunde des Totalitarismus in bester Absicht und mit gutem Willen. Das Faschistische ist kein Fremdling, kein Parasit im Körper des Gerechten, es ist die braune Seite des Menschlichen, Allzumenschlichen - eine Seite des Menschen, man möchte annehmen: jedes Menschen. Der Faschismus in uns ist das weitergesponnene Vorurteil, die unausgereifte Ausreifung des Ressentiments. Wer ertappt sich nicht dabei, im Anderen, wenn er so ganz anders scheint, erstmal einen Sonderling, Idioten, Böswilligen, Feind gar zu sehen?

Sich dabei zu ertappen, erschüttert zuzeiten, darf uns aber nicht entmutigen. Es ist des Menschen Eigenart, in sich das Vorurteil zu tragen. Was er letztlich daraus macht, wie er damit umgeht, mit welchen Erkenntnissen er dieser faschistischen und totalitären Keimzelle begegnet, unterscheidet ihn von solchen, die sich dem Vorurteil bedingungslos ausliefern. Und man ertappt sich nicht selten im Braunen. Was?, einen Mörder vor Gericht verteidigen! Der gehört anstandslos eingebuchtet! Oder: Fahr doch zu, Tattergreis! Mach schon! Man sollte jedem siechen Klappergestell ab Siebzig aufwärts den Schein entziehen! Oder: Der Vater dieses Kerls war ein hakenbekreuzter Menschenschlächter! Der Sohn, ja diese ganze Sippe der Vonundzus, das sind doch alle die gleichen Bestien! - Pars pro toto lebt es sich sonniger - nicht nur für den Freund unkomplizierter Lösungen. Zuweilen reizt auch den Auf- und Abgeklärten die Einfachheit der Dinge. Um sorgenlos ins Grüne hinauszufahren, eignet sich manchmal vorzüglich das Braune. In der Bräune der Sichtweisen ruhen jene Zeitreserven, die die Spazierfahrt ins Grüne erst verlängern.

Die Kunst ist es, sich davon nicht leiten, verführen, reizen zu lassen. Den Protagonisten der bürgerlichen Mitte sieht man die Zerrissenheit an, ihre Gratwanderung, einerseits dem Faschistischen nicht erliegen zu wollen, andererseits aber immer wieder das runzelige Fleisch der niedersten Triebe belebend und beatmend. Um am Rande, dort wo der kleinbürgerliche Steckling am Stammtisch prostet, wo Kahlköpfe aneinandergereiht stehen wie eine endlose Kette von Hoden, unterdrückt man das triste Allzumenschliche gar nicht erst. Dort ist man ganz ungestüm Mensch, so sehr, dass man wiehert, grunzt, kläfft. Doch das Vorurteil, der skeptische Blick auf den Anderen, dieses Metafaschistische, es ruht in allen, auch fern der Mitte, auch dort, wo der Volksmund das politisch Linke verächtlich macht.

Die Kunst des Aufgeklärten liegt darin, sein eigener Dompteur zu sein, sich und seine törichten Impulse im Griff zu behalten, sie zu überdenken und nur als Vorstufe zur Erkenntnisgewinnung zu bewerten. Seinen Faschismen Herr zu sein, seinen Totalitarismen Einhalt zu gebieten, noch bevor sie stofflich werden, und sei es nur stofflich in Form einer Schallwelle: wenn Aufklärung überhaupt etwas bedeutet, dann das Ideal, seine kleinkarierten Ressentiments, seinen Hass, seine Vergeltungssucht, seine Rachegelüste nicht über sich siegen zu lassen. Kurz gesagt, sich dagegenzustemmen, den Faschismus in sich zu kennen und zu dressieren zu verstehen, kann als hohe Kulturleistung anerkannt werden. Wo Kultur wegbricht, wird Platz frei für Gewalt. (August Everding) Wo der Allzumenschliche äffisch in den Dschungel brüllt, da frönt im Gegenlicht der Aufgeklärte jener Kultur der gebändigten dunkelbraunen Seite.

Der Mensch als jenes Wesen, das sich selbst sein kann, was es will. Man könne nichts für seine Triebe, entschuldigt man sich heuchlerisch an den Stammtischen. Auch aus der Mitte erklingt Verständnis für solche, die ihre Niedertracht nicht unter Kontrolle haben. Sie sind, was sie sind, aber nicht was sie sein wollen. Insofern ist ihr Allzumenschliches ein Sammelsurium aus Affekten und voreiligen Schlüssen, unfreier Wille, Auswurf elektronischer Impulse. Dem wahren Wesen des Menschen, kommen sie damit nicht nahe. Sie sind im Grunde noch immer dieselben alten Affen.

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Ein einziges Trauerspiel

Donnerstag, 12. November 2009

Die Pietät gebietet es, an dieser Stelle keine Namen zu nennen. Selbst das ungenannte Abhandeln, das Erläutern im Inkognito könnte allerdings als pietätlose Verirrung begriffen werden. Einerlei, diesem Risiko will offensiv begegnet sein.

Immer dann, wenn jemand mediengerecht verstirbt, flutet eine Welle des Tourismus über den Ort des Unglücks. Horden von Event-Trauernden laufen auf, moderne Klageweiber, die ihre Trauer oder das, was sie dafür halten, in die Objektive streuen. Sie drapieren Kerzchen ins Rampenlicht, staffieren die Lücken innerhalb des Flammenteiches mit gut leserlich bereitgestellten Briefchen aus, liegen sich für RTL und ARD sachgerecht heulend in den Armen. Wir werden ewig an dich denken! und Wir werden dich nie vergessen! sind die hochtrabenden Inhalte jener handgeschmierten Zettel. Dem Verstorbenen völlig unbekannte Zeitgenossen lallen mit verheulter Front in die Kamera, rotzen in der Öffentlichkeit ordentlich ab. Jeder ist dabei, jeder muß dabei sein, wenn er im Trend des Augenblicks mitmischen will, muß seinen Senf draufschmieren, damit er in zehn Jahren seinen Kindern erzählen kann, was für ein abenteuerreiches Leben er schon hinter sich gebracht hat.

Die westliche Gesellschaft hat in den letzten Jahren eine Trauerkultur entwickelt, die diesen Namen nicht verdient. Weder ist sie kulturbeflissen, noch befriedigt sie das klassische Trauerrepertoire. Der Tod prominenter Menschen, auch der Tod von unbekannten Menschen, die im öffentlichen Interesse, medienwirksam verstorben sind, verendet im Event, wird zum Antrieb der Trauer- und Betroffenheitsindustrie. Schniefende Jammergestalten betreten die Bühne, Reporter analysieren, was meist nicht zu anaylsieren ist, fragen gedankenschwanger nach dem Warum? und Wieso?, nur um zur Erkenntnis zu gelangen, dass man darauf wohl keine Antwort finden werde. Obligatorische Pressekonferenzen treten die Traurigkeit des Moments noch einmal breit, nochmals Warum?, wieder Wieso?, dazu noch eine Portion Es war so sinnlos!, freilich weiterhin keine Antwort, denn die Antwortfindung braucht in solchen Momenten viel Zeit und noch viel mehr Besinnlichkeit. Das Versprechen aus vielen Mündern, den Verstorbenen nie zu vergessen, wird Gebot der Stunde. Lippenbekenntnisse, denn es ist nur menschlich, nach Jahren sogar den eigenen toten Vater zu vergessen; er entschwindet einem, man denkt nicht mehr täglich an ihn. Unsere Gedanken sind bei den Hinterbliebenen! An jeder Ecke derselbe Satz, der eigentlich nur selbstverständlich wäre für jene, die des Verstorbenen Familie nahestehen. Trauermarsch hier, Event-Trauern dort, Rotz und Wasser wildfremder Trauertouristen überall, die Ereignisse um den Tod Sonstwens machen uns betroffen! in jedes Mikrofon gesäuselt.

Was als Trauerkultur den öffentlichen Äther füllt, ist unbeschreibliche Respektlosigkeit gegenüber dem Verstorbenen. Der Moment der Trauer wird mit Spektakel erfüllt, das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr wird lauthals übertüncht. Statt sich zurückzunehmen, den wirklichen Trauernden, denjenigen, die dem Verstorbenen persönlich nahestanden, die notwendige Stille zu gewähren, bricht die kollektive Selbstdarstellung aus. Ob Reporter oder Funktionär, ob Privatperson vor Ort oder in weiten Fernen, jeder hat eine Meinung, ein übriges Tränchen, einen Trostspruch wie Du bist unvergesslich!, ein schmalen Moment in eingefurchter Grabesmiene. Es wirkt, als würden in kühlen Zeiten, in denen normalerweise der Mensch wenig bis gar nichts zählt, genau solche Momente dazu auserkoren, sich in Mitmenschlichkeit oder dem, was man dafür halten könnte, wenn man nicht genau hinblickt, zu suhlen. Scheinbar kurzfristig aufkeimendes Zusammenstehen, diese Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Open Air-Trauer, des Event-Jammerns, des Spektakel-Heulens, Pressekonferenzen bei denen der Trauertourist von der Straße mit dem hohen Vieh hinter dem Mikrofon auf einer Augenhöhe dasselbe Interesse aufweist - es wirkt wie eine breite Front gegen die Vergänglichkeit. Die kollektive Trauerunkultur vereint die Trauergesellschaft, erzeugt ein Gefühl von sozialer Wärme, kompensiert für einen klitzekleinen Moment die gesellschaftliche Eiszeit.

Es ist dieser einfältige Brei, diese Bombardierung mit immer denselben Floskeln, mit denselben Trauervisagen, die von werweißwoher heranpilgern, um dem Verstorbenen ihre Zettelchen mit notierten Kalenderweisheiten zur letzten Ruhe zu reichen, die das Ableben zum peinlichen letzten Akt des irdischen Daseins werden lassen. Es ist immer wieder dasselbe lächerliche Szenario, gestreut um eine Tragödie, instinktloses und unangebrachtes Mitwirkenwollen, Selbstdarstellung in Reinkultur, Dabeiseinwollen zum Erzählenkönnen. Der Tod als Massenspektakel, eigentlich unbeteiligte Menschen als blamable und unangebrachte Kummervolle, die das Fremdschämen zum Dogma trister Stunden krönen. Mit Trauerkultur hat das jedenfalls alles nichts zu tun.

Man könnte annehmen, eine Gesellschaft, in der rege Anteilnahme an öffentlichen Unglücksfällen stattfindet, sei eine liebevolle Gesellschaft. Tatsächlich scheint aber das Gegenteil richtig zu sein. Dort wo Wildfremde scheintrauern, so als ob sie Teil der unmittelbaren Hinterbliebenengemeinde seien, scheint sich die soziale Kälte, das eigentliche und alltägliche Gesellschaftsprogramm, vage zu kompensieren. Da findet man sein Plätzchen unter im Augenblick Gleichgesinnten. Endlich eine Heimstatt, endlich ein wenig zwischenmenschliche Wärme. Es wird sich lasziv gewärmt, wird leidenschaftlich getrauert, ein heimeliges Trauergerassel inszeniert, die Sehnsucht nach verbrüderten Menschen am Leben gehalten. Trauer inbrünstig, Trauer all inclusive! Morgen oder übermorgen geht es der industrialisierten Trauer, der künstlich hochkochenden Betroffenheit an den Kragen, dann schwappt man zurück in die Kühle des Alltags, dann vergisst man stückchenweise denjenigen, den man versprochen hat, man werde ihn niemals vergessen. Nach der Trauer ist vor der Trauer...

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De dicto

Mittwoch, 11. November 2009

"Diesen Doktor haben wir nicht mehr in Deutschland. Den Doktor unseres Vertrauens. Der eine Doktor sagt Ja, der andere Nein.
Dies ist das Chaos. Es ist auch die Zerstörung des Mythos des Doktors. Der Doktor weiß nicht, was das Beste für mich ist – und ich als Patient weiß es schon gar nicht."
- BILD-Zeitung, Franz Josef Wagner am 11. November 2009 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wagner mal wieder. Mal wieder theatralisch, melodramatisch. Aber nicht ohne Einblicke in seine Welt zu erlauben. In die Welt des Gutgläubigkeitsbürgers, der jede fadenscheinige Disziplin, die sich in Schlips und Kragen hüllt, als Wissenschaft Einzug in den öffentlichen Diskurs gehalten hat, für unabänderliche Wahrheit hält. Damit sei nicht erklärt, dass Mediziner Scharlatane wären, nur die weißen Götter, für das sich manches dieser Exemplare selbst halten mag, für die Wagner diesen Berufstand zu halten scheint, sind sie wirklich nicht.

Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Sie gleicht oftmals eher einem Abwägen und Jonglieren mit Zahlenwerten. Die Diagnose eines Arztes ist keine Tatsache, die deckungsgleich mit den Leiden des Patienten geht. Der Arzt wägt zwischen Beschreibungen des Erkrankten und dem ärztlichen Erfahrungsschatz ab. Meistens trifft die Diagnose dann auch zu, generationenübergreifende Erfahrungswerte haben sich bewährt. Aber unumstößlich ist die Diagnose nie, sie ist ja eher Vermittlung zwischen dem subjektiven Ist des Patienten und dem objektiven Kann oder Könnte des angehäuften Erfahrungsschatzes. Deckungsgleich sind diese Positionen nie, weil auch Mensch und Mensch nicht deckungsgleich, weil wir alle unterschiedlich gestaltet und konditioniert sind. Bevor sich der Arzttitel durchsetzte (vom griech. arch-iatros, Herrenmediziner), war das Wort lachi gebräuchlich. Lachi stand für den Besprecher. Das Verhältnis zwischen Erkrankten und Heiler hatte mehr zur Grundlage als das Reichen von Medikamenten und Kräutern, es war ein Besprechungsverhältnis, der Heiler besprach sich mit seinen temporär Schutzbefohlenen, man stand sprechend auf einer Augenhöhe. Gesundheitsreformen der letzten Jahre sind gerade dabei, die letzten Reste dieses Unterredungsverhältnisses zu untergraben. Medizinische Behandlung wird zum Minutentakt, zur entfremdeten Beziehung zwischen anonymen und austauschbaren Mediziner und erkrankter Nummer.

Doch daran stößt sich Wagner nicht, was ihn irritiert ist, dass der Weißgötze seine Bedeutung verliert, dass er zum Geschöpf einer ungenauen Wissenschaft wird, damit zum Abbild der medizinischen Realität. Es heißt oft salopp, die Wissenschaft habe die Religion abgelöst, damit das Wissen den Glauben abgesetzt. Gerade die Medizin ist der Präzedenzfall dieser Behauptung. Denn der Mensch sehnt sich danach glauben zu dürfen, auch wenn er seinen Glauben als vermeintliches Wissen bemäntelt. Wo Gott verstorben ist, da nimmt der Mediziner seine Rolle ein. Wer ihn vom Altar stürzt, respektive, wo er selbst herabsteigt vom Sockel, da raubt man dem (Gut-)Gläubigen die bequeme Illusion. Wagner steht beispielhaft für diese Gesellschaftserscheinung. Nur wenige Menschen sorgen sich darum, dass dem Arzt immer weniger Zeit für das Arzt-Patienten-Verhältnis gestattet wird, dass er seine beratende und besprechende Stellung vernachlässigen muß. In ihrer bedingungslosen Gläubigkeit wollen sie den Messias, den allmächtigen Götzen im Weißkittel, der Heilung zum Schnellverfahren macht. Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele (und mein Körper) gesund! Er soll ausbaden, was der geflohene Herrgott stehen und liegen ließ.

Nicht zuletzt ist diese Arztergebenheit dienlich. Sie reduziert den Arzt auf den Allwissenden, der schnell zu heilen imstande sein sollte - eben weil er allwissend ist. Langwierige Erholung und das Auskurieren von Krankheiten, das langsame Zurückführen in Gesundheit, dem Patienten Zeit zu lassen, um wieder zur vollen Kraft zu gelangen, verschwinden damit aus dem Blickfeld. Der Arzt als Mechaniker auf Akkordbasis, als Fast Food-Mediziner, der die schnelle Einsatzfähigkeit gewährleisten soll. Ein Gott hebt nur dem Arm oder blinzelt oder brummt nur so sei es!, und es ist vollbracht. Der weiße Gott, so wird gerne impliziert, könne dies ebenso, wenngleich mit anderen Handgriffen. Der Glaube nährt den Untertanengeist, egal wie die Glaubensinhalte lauten.

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Frei von Befreiung

Dienstag, 10. November 2009

Endlich frei!, hallte es einst durch Berlins Straßen. Endlich hat man sich der Ketten und der Mauer und der Stacheldrahtverhaue entledigt! Endlich ist die Freiheit eingezogen. Was für ein Geschenk! Was für eine Freude! Freiheit als Belohnung. Free at last! free at last! thank God Almighty, we are free at last! Gepriesen sei die Freiheit!
Meine Freiheit? Deine Freiheit? - Ihre Freiheit! Unsre Freiheit muß noch lang' nicht ihre Freiheit sein!

Zwanzig Jahre Mauerfall und der Beginn des Niedergangs des Ostblocks. Es ist zwar nicht der Beginn des Sozialabbaus, zumindest aber der Anfang der Verschärfung jener Demontage. Derweil es einen zweiten Gesellschaftsentwurf gab, nämlich den sozialistischen, hatte der westliche Kapitalismus reges Interesse daran, sich als gerechteres, leistungsfähigeres, hochherzigeres System feiern zu lassen. Gerade am Leib des Wolfs Deutschland, von dem es ja zwei Ausgaben auf der Landkarte gab, dessen kapitalistischerer Teil direkt an der Grenze zum Sozialismus gesiedelt hatte, war das Schafsfell Überlebensgarantie. Rückblickend heißt es, diese Überlebensstrategie wäre nicht nötig gewesen, weil der Sozialismus seit Jahrzehnten abgewirtschaftet hatte, doch das heutige Wissen darüber war damals bestenfalls Spekulation. Als der Kapitalismus den Sieg einfuhr, ein Sieg, den die offizielle Geschichtsschreibung gerne hervorstreicht (man ist nicht übriggeblieben, man hat gewonnen!), war der Moment gekommen, die humanistische Maske fallenzulassen.

Nach und nach wurden soziale Errungenschaften abgebaut, letzte Bastionen von sozialer Sicherung standen immer wieder zur Diskussion, werden mit Sicherheit in Zukunft erneut erfolgreicher angegangen. Schritt für Schritt wurde die Freiheit genährt. Der Mauerfall ist ein Akt der Befreiung, weil er die Kapitalisten dieses Landes langsam aber sicher von wohlfahrtsstaatlichen Verantwortungen entbunden hat und weiter entbinden wird. Endlich frei!, singen sie im Chor. Endlich! Aber gleichzeitig mahnen sie, dass die Befreiung eiliger vollzogen werden muß.

Es ist jene egoistische Freiheit, ihre Freiheit, die Freiheit des Marktes, die Freiheit des Konsums, die Befreiung vom Sozialstaat, die gefeiert wird. Die Freiheit des Kapitalisten, der sich bestätigt fühlt, weil einst Massen von Menschen als ihre Freiheit aufwerteten, sich am kapitalistischen Konsum zu laben - verständlicherweise nach Jahren in der Mangelgesellschaft. Die Freiheit, ostdeutsche Betriebe auszuschlachten, Betriebe für ein Butterbrot zu erwerben, die Freiheit nicht mehr schönreden zu müssen, weil niemand mehr gen Osten zeigen kann, um zu erklären, dass selbst in der unfreien Gesellschaft, jenseits des stacheligen Vorhangs, gerechtere Zustände im Sozialwesen herrschen. Viel wurde in den letzten Tagen von Freiheit gesprochen, die Unfreiheit dieser Tage, die dort beginnt, Erwerbslose zu stigmatisieren, ihnen Residenzpflicht aufzuerlegen, Randgruppen öffentlich zu bedrängen, davon wurde in diesen freiheitsliebenden Tagen nicht gesprochen.

Wieso auch? Um diese Art Freiheit handelte es sich nicht. Es feierten sich jene in freiheitliche Himmel, die sich damals auch wirklich befreit haben. Free at last! Am Ende stand doch noch ihre hemmungslose, ihre mauerlose Freiheit. Die hochgelobte Freiheit derer, die einst nicht reisen durften und heute nicht reisen können, ist nur Makulatur. Sie ist gelebte Chancengerechtigkeit, denn Chancengleichheit gedeiht in dieser Sparte nicht. Free at last? Erwerbslos frei? Frei in Residenzpflicht? Die Freiheit, auf Behörden die Unterhosen wenden zu müssen, um den Offenbarungseid abzuleisten? Man frage mal jene an solchen Festtagen, die ihre Unfreiheit von damals, gegen die "Freiheit" von heute eingetauscht haben. Aber um die geht es ja auch nicht! Wichtig ist nur, dass die Richtigen befreit wurden, jene, die uns unterbezahlte Arbeitsplätze in prekärer Form zur Verfügung stellen und von ihren Profiten kaum Abgaben leisten wollen und auch immer weniger müssen. Die Freiheit der Egomanen! Natürlich angereichert mit nationalem Firlefanz. Unfreiheit braucht immer nationalen Anstrich, und freilich unumstößliche, nicht zu hinterfragende Prämissen wie jene, es sei unbedingt nötig, dass alle Deutschen in einem Staat leben müssen. Dieses ganze krankhafte Getue des Nationalismus, einer Ideologie, die aus einer anderen Zeit stammt, aus einer Zeit gesellschaftsdarwinistischer Dumpflehre.

Und mit denen, die ihre Freiheit in Ritualen und Events zelebrieren, marschieren solche, die meine und deine Freiheit verloren haben. Zu guter Letzt sind auch solche Mitmarschierer frei - frei von Einsicht, frei von autonomen Denkmustern, frei von Befreiung.

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... nach meiner Kenntnis... sofort, unverzüglich...

Montag, 9. November 2009

Lieber Schabowski, ich will ehrlich sein: ich weiß wenig über Sie. Dass Sie aber offenbar lesen können, wenngleich scheinbar nicht sinnerfassend, das habe ich mittlerweile durch den Beschuss der letzten Tage erfahren, wieder in Erinnerung geschmettert bekommen. Ihr Name geistert durch die Lande, die abgetragene Mauer trägt ihn. Immer dann, wenn der Mauerfall zum Thema wird, sieht man Sie. Sie, diesen Greis noch jüngerer Altersklasse, wie er wirr in seinen Blätterstrauß wühlt. ... nach meiner Kenntnis, sagt er. Sofort, unverzüglich, schiebt er nach. Danach wechseln die Szenen. Weg vom bebrillten Funktionär, rein in den Trubel an den Grenzen. Schabowski, so entsteht der Eindruck, hat die Nacht zum Tage gemacht. Sein Irrtum hat den beschissenen Entwurf eines deutschen Staates weggefegt, hat diese politische Unerfreulichkeit zertrümmert, damit neue Beschissenheiten und Unerfreulichkeiten ihr Werk antreten dürfen. Dann allerdings im Namen der Freiheit.

Nein, lieber Schabowski, es tut mir leid, ich weiß wenig über Sie. Waren Sie ein liebenswerter Genosse? Stalinist? Hatten Sie ein Herz für Mauerschützen? Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht besonders. Viel zu oft mußte ich Sie ertragen, wie Sie da im Sessel gammelten, diesen altmodischen Strick von Schlips über die Bauchwülste wallend, sofort, unverzüglich brabbelnd. Und immer folgten Ihrer Ratlosigkeit feiernde Massen. Mauerspechte klopfen ihr Klackklack und man hatte und hat manchmal den Eindruck, sie morsen dabei mythisch Ihren Namen, Scha-bow-ski. Stets läuft es so, erst Schabowski, dann der Specht; erst sofort, unverzüglich, dann Jaaa, ick werd' wahnsinniiich! aus seligen Gesichtern geschleudert. Kürzlich ließ sich der Journalismus sogar dazu hinreißen, in Ihrem Irrtum den wahrhaften Grund des Mauerfalls zu wittern. Und auch deswegen will ich nichts von Ihnen wissen, nehmen Sie es mir bitte nicht persönlich; Sie nerven nicht nur, mit Ihrem geschichtsträchtigen Satz, der wie die Quintessenz jener Tage wiedergekäut wird. Nein, Sie haben es doch gar nicht verdient, zum Mauerfallshelden gekürt zu werden, nicht mal zum Fünkchen der Zündung oder zum Tröpfchen des Überlaufens. Dieser jungenhafte Greis an jenem Abend, er hat soviel Ehre letztlich nicht verdient.

Wenn wir überhaupt von Ehre sprechen müßten, Schabowski, wem glauben Sie, würde sie zuteil? In den Jahren nach der Wende war man sich darüber ziemlich einig. Man ehrte jene Menschen, die in friedlicher Art die Straßen völlten, die schließt euch uns an! plärrten, wir sind das Volk! brüllten. Danach wurde aus dem Volk ein Volk, Asylheime brannten, der Wahn des vereinten Deutschlands speiste die Großmannssucht auch des kleinen Mannes. Deutschland, Deutschland über alles! In den Wirren dieser gewaltreichen Tage verliert sich der demonstrierende Mensch, dieser Held des Alltags, der friedlich auf die Straße trat, der Rechte forderte, der nicht wich, auch wenn die Staatsmacht mit verrosteten Keulen rasselte. Später analysierte man geistreich, dass das Aufbegehren kein mutiger Akt gewesen sei, weil die Staatsmacht am Stock ging, nur mit rostigen Säbeln focht. Dass auch rostzerfressene Klingen tödliche Schäden verursachen können, wurde in der Arroganz der Rückblickenden ausgeblendet. Irgendwie scheint es, dass der Mensch, dieser Du und Ich, in jenen Tagen verlorenging. Viele Gründe wurden ersonnen für den Mauerfall, Sie, lieber Schabowski, sind nur das Ende dieser Litanei an Gründen und Motiven. Ihr Irrtum ist eines der erbärmlicheren Erklärungsmuster, die jenes Ereignis seiner wirklichen Grundlage entziehen sollen.

Es ist die Ironie der neueren Geschichte, dass nun Sie als Heilsbringer herhalten dürfen oder müssen, lieber Schabowski. Man spricht dieser Tage nicht mehr gerne vom Mann wie Du und Ich oder von der Frau wie Du und Ich, wenn es um die Ereignisse von 1989 geht. Folgt man der offiziellen Berichterstattung, reduziert sich die Wendezeit auf jenen neunten November, was Wochen und Monate, ja Jahre zuvor schon rumorte, in Protesten ausbrach, findet heute nur wenig Beachtung. Es scheint, als sei der neunte November, damit Ihr nebensächlicher Irrtum am Abend jenes Tages, die Essenz der erstürmten Mauer. Was davor Zersetzungserscheinungen vorantrieb, nämlich der eiserne Wille und die Beharrlichkeit der Demonstranten, das Besetzen der Straßen und Plätze, die Courage der Freiheitsliebe, wird durch Ihren Auftritt erdrückt und zur Seite gewischt.

Man will dieser Tage einfach nicht zu innig zurückdenken, will vergessen, dass von der Straße aus der Staat zu Fall gebracht wurde. Genau hier kommen Sie dankbarerweise ins Spiel, lieber Schabowski. Sie ersetzen die Straße, Sie machen den Mauerfall zum Vernunftakt jenes Regimes, dem Sie damals angehörten. Es ist, als würde man gegenwärtig dazu übergehen wollen, den Mauerfall zur Folge eines falsch aufgefassten Satzes zu erniedrigen. Als ob die Mauer nie gefallen wäre, wenn Sie seinerzeit nicht so begriffsstutzig in die Kameras geblinzelt hätten. Weil Sie sich geirrt haben, haben Sie den Menschen das selbstbestimmte Niederreißen der Mauer erspart. Denn irgendwann wäre dies ja geschehen, gar keine Frage. Dafür dankt man Ihnen heute im Stillen. Nichts graust den Eliten heute mehr, als Volksmassen, die eigenverantwortlich ihr Recht erstürmen. Gerade in Zeiten sozialer Kälte und Ungerechtigkeit schleicht sich die Furcht ins elitäre Gewissen(-lose). Wenn da nur jemand gewesen wäre, der den Erfolg der Massen retuschieren könnte, jemand, der durch Vernunftentscheidung den Sturm auf die Bastille angeordnet hat. Aber zu vernünftig dürfte er natürlich auch nicht sein, denn damit hätte man sich ja dummerweise eingestanden, dass innerhalb des verdörrenden Korpus des sozialistischen Deutschland auch Vernunft heimisch war, und das auch noch direkt im Herzen der Einheitspartei. Ein durch Zufall zu Vernunft gelangter Zeitgenosse müßte es sein, der zum Brecher der Bürgerbewegung gedeutet wird. Schabowksi, da kommen Sie ins Spiel. Ihr Auftritt war letztlich nur eine Randnotiz, denn gefallen wäre die Mauer ohnehin. Möglicherweise nicht am neunten November, aber was bedeuten am Ende Wochen, wenn man Jahre hinter Mauern verbringen mußte?

Natürlich hat es Berechtigung, Ihren Auftritt in eine geschichtliche Zusammenfassung aufzunehmen. Sie schrieben Geschichte, heute sind Sie Geschichte. Wie sollte es denn auch anders sein? Man reduziert Sie doch eh nur auf Ihre knappen Sätze, die als Dauerwiederholung rauf- und runterdudeln. Und als solches Gedudel fungieren Sie zweckdienlich. Sie sind das Mauerblümchen aus der Partei biederer Maurergesellen, das die Mauer eingerissen hat. Ein Hoch auf Schabowski, würden die Maurermeister unserer Zeit ausrufen, wenn Sie nicht der politischen Korrektheit Treue geschworen hätten. Ein Hoch auf Schabowski, der uns erspart hat, dass von den Straßen her die Mauer niedergerannt wurde. Ihr Irrtum wird dieser Tage historisch aufgebläht, während wesentlichere Aspekte des Niedergangs unerwähnt bleiben. Schabowski ist der tapsige Trottel, der die Volksmassen bändigte. Halten Sie sich fit, lieber Schabowski, womöglich braucht auch diese Republik noch einmal einen Dompteur, der in Bahnen lenkt, was das demonstrierende Volk aus der Bahn zu schmeißen probiert. Denn eines darf niemals geschehen in diesem Lande, niemals darf das Volk Wind davon bekommen, dass es selbst den Schlüssel zur Veränderung in der Hand hat. Und wenn es diesen Schlüssel doch versehentlich einmal verwendet hat, wird alles dafür getan, ihnen einen Schließer vor die Volksnasen zu setzen, dem dann der erzielte Wandel in die Schuhe gekippt wird.

Sie können einem leidtun, Schabowski, denn Sie sind nichts weiter als ein organisches Stück Geschichtsklitterung. Nach meiner Kenntnis, sind Sie zu dem, relativ sofort, unverzüglich gemacht worden.

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In bester Absicht

Samstag, 7. November 2009

Freiheitsbarde H., so meldeten es die Gazetten, die die Welt nicht braucht, sei bei der Preisverleihung eines internationalen Musiksenders erschienen. Er torkelte sichtlich angesoffen auf die Bühne, lallte einen einstudierten, die Deutschen schmeichelnden Text - der ganze Rabatz fand in Berlin statt - und galt als der Liebling des Abends. Die Veranstalter waren mehr als zufrieden. In einem kurzen Statement hieß es, man sei mehr als glücklich, H. engagiert zu haben. Er sei jedes Fitzelchen seines Gutscheins wert. Man sei sogar so zufrieden, dass man H.'s Lebensmittelrationen noch einmal heraufgesetzt habe. Leistung müsse sich doch lohnen!

Indes sprach H.'s Manager von einer beispiellosen Diskriminierung. Man dürfe Suchterkranke nicht in dieser Weise brandmarken. Die Veranstalter entkräfteten die Kritik, so sei es eben mal in Deutschland, da könne man leider nichts machen. Außerdem sei man sich sicher, dass es zu keiner Diskriminierung käme, wenn man mit Gutschrift im Supermarkt aufkreuzen würde. Im Gegenteil, die Gutschrift animiert Verkäufer und anwesende Kunden zur Rücksicht, zu mildtätigem Bedauern, würde Mitleid erzeugen. Zu Schmähungen würde es indes nicht kommen, bis dato habe es in Deutschland noch kein derartiges Skandalon gegeben, wie auch das Propagandaministerium energisch hervorheben würde.

Auf Nachfrage im Ministerium äußerte sich ein Sekretär durchweg positiv zur Suchtprävention. Die Ausweitung der Bons auf mehrere Bereiche des wirtschaftlichen Lebens, habe die Bevölkerung sensibilisiert. Zwar meldeten anonyme Alkoholiker immer wieder Übergriffe, berichten von Entwürdigungen und Beleidigungen beim täglichen Einkauf, auch von Ohrfeigen und Anspucken sei die Rede, aber das Ministerium nehme solche Berichte nicht ernst. Man gehe davon aus, dass es sich um Delirien etwaiger auf Entzug befindlicher Suchtkranker handelt. Das Ministerium empfiehlt überdies, solcherlei Berichte aus dem süffigen Munde nahestehender Personen, nicht für bare Münze zu nehmen. Stattdessen sollte man dieses offensichtliche Delirium der nächsten Polizeidienststelle melden. Diese hätten die Anordnung seitens des Propagandaministeriums, das hier mit dem Innenministerium eng zusammenarbeitet, den im Delirium Befindlichen sofort dingfest zu machen und ihn in Quarantäne zu stecken. Diese Haft geschähe zu seinem eigenen Schutz, versteht sich.

Bei einem ausgelassenen Sektempfang am Rande des Events, sprachen sich auch Damen und Herren der bundesdeutschen Politik noch einmal nachdrücklich für die Richtigkeit der Maßnahme aus. Sie geschähe in bester Absicht. Die Bundesvorsitzende der Grünen bekräftigte nochmals ihren Vorwurf, dass jeder, der diese Maßnahme auch nur im Ansatz kritisiere, sich zum Helfershelfer alkoholisierter Rotten mache. Daher sei es nun notwendig, auch über Gesetze nachzudenken, die jeden Zweifel an der Unfehlbarkeit der Maßnahme unter Strafe stellen. Bußgelder für Unbelehrbare und Ewiggestrige, so die Bundesvorsitzende, seien sicherlich ein probates Mittel. Erzürnt zeigte sie sich dagegen bei den Plakatsprüchen einiger marodierender Demonstranten. Diese mahnten den im Schweinsgalopp verwirklichten Faschismus an. Solche Vorwürfe seien bodenlos und unanständig, wetterte die Grüne. Man sei ein demokratischer Staat, halte das Grundgesetz so sehr in Ehren, dass man es beinahe jährlich überarbeitet und anpasst, so wie es moderne Staatsführung nun mal verlange. Solche Horden, so fuhr sie fort, die ahnungslos von Faschismus sprechen, können nur alkoholisiert sein. Man werde die Personalien dieser realitätsfernen Säufer aufnehmen und ihnen bald eine Sonderbehandlung zukommen lassen.

Später am Abend stieß ein sichtlich erheiterter H. zur politischen Runde. Man prostete ihm mit Sekt zu, speiste zusammen Poularde, prostete ihm nochmals mit einem Verdauungsschnaps entgegen. Der ramponierte Barde bemühte sich vergeblich darum, seine Gutscheine gegen einen Schluck Sekt einzutauschen. Man spottete, belächelte ihn, fand seinen erfolglosen Kampf niedlich, erklärte ihm, er solle Männchen machen, dann lasse man ihn nippen, nur um am Ende ordentlich über seine Naivität ins Gelächter zu verfallen. Als er den Wunsch abschlug, einen seiner alten Ohrwürmer zu singen, sang die politische Runde selbst. I've been lookin' for freedom! ... lookin' so long! Ja, sie haben sie gesucht, ihre Freiheit - und in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefunden.

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Ridendo dicere verum

"Die brave Hausfrau liest im Blättchen
von Lastern selten dustrer Art,
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen,
vom Lustgreis auch mit Fußsackbart.

Mein Gott, denkt sich die junge Gattin,
mein Gott! welch ein Spektakulum!
"Das schlanke Frauenzimmer hat ihn ... "
Ja was? Sie bringt sich reinweg um.

O Frau! Die Phantasie hat Grenzen,
sie ist so eng - es gibt nicht viel.
Nach wenigen Touren, wenigen Tänzen
ists stets das alte, gleiche Spiel.

Der liebt die Knaben. Dieser Ziegen.
Die will die Männer laut und fett.
Die mag bei Seeoffizieren liegen.
Und der geht nur mit sich ins Bett.

Hausbacken schminkt sich selbst das Laster.
Sieh hin - und Illusionen fliehn.
Es gründen noch die Päderaster
"Verein für Unzucht, Sitz Berlin".

Was kann der Mensch denn mit sich machen!
Wie er sich anstellt und verrenkt:
Was Neues kann er nicht entfachen.
Es sind doch stets dieselben Sachen ...
Geschenkt! Geschenkt!"
- Kurt Tucholsky, "Wider die Liebe" -

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In der Hoffnungslosigkeit gefangen

Freitag, 6. November 2009

Um abermals auf Michel Houellebecq zu sprechen zu kommen. Natürlich ist mir klar, dass er in Frankreich als Konservativer verrufen ist, teilweise zum Faschisten vereidigt wurde, zum Rassisten ohnehin, zu jemanden, der - in aller Kürze erklärt - die Menschen nicht liebt. Dabei greift die Sortierung nach Kraut und Rüben-Art zu knapp. Houellebecq liebt den Mensch, weil er sich selbst liebt, er ist der Ansicht, dass es praktizierte Menschenliebe ist, wenn das menschliche Ich sich selbst liebt. Er ist bekennender Egoist, wie er in rar gesäten Gesprächen durchschimmern läßt, wie es sein Privatleben, das Verhältnis zu seinen Eltern, deutlich macht. Und selbstverständlich vereint das oft unmenschlich wirkende Wesen Houellebecq konservative Aspekte in sich, beispielsweise jene, dass der Mensch eine straffe Obrigkeit benötigt, die alles, bloß nicht zimperlich sein darf, um der Ordnung zu ihrem Recht zu verhelfen. Andererseits sind seine Ansichten zur Genetik weder traditionell konservativ noch sind sie fortschrittlich, sondern eher provokativ, kurzsichtig und besorgniserregend naiv. Hier schlägt die infantile Tendenz Houellebecqs durch, der zeit seines Lebens Anhänger mittelmäßiger Science-Fiction-Romane blieb. Ausgestattet mit argloser Treuherzigkeit verwechselt er wirkliche Gefahren der Genetik mit den haarsträubenden Spekulationen jenes trivialen Genres. Die Genetik thematisiert er ja fleißig in seinen Werken, zeichnet letztlich aber traurige Zukunftsbilder, besetzt daher den hoffnungslosen Standpunkt, der Menschheit Berufung sei das naive Hineingehen in die Düsternis, in eine Zukunft, in der der Gencode des Menschen restlos entschlüsselt ist, womit er nurmehr zum ersetzbaren biologischen Mechanismus abgestempelt sein wird.

Houellebecq ist wahrlich keine Person zum Gernhaben, er ist - so scheint es jedenfalls - eine jener Personen, die unsere Zeit erst so unendlich schwermütig machen, ist Person zwischen geniehaften Streichen und gemeingefährlichen Affekten, wie seine Islamophobie beizeiten bewiesen hat. Dass er dem Christentum denselben Fanatismus attestiert hat, damals als das Christentum noch bedeutungsvoll sein durfte, darf freilich nicht einfach von der Hand gewiesen werden. Ebensowenig, dass er andeutungsweise dem Islam eine ordnende Hand zubilligt, die in den islamischen Gesellschaften für Disziplin sorge. Disziplin, die im abendländischen Gesellschaftsentwurf nach dem Verschwinden christlicher Omnipräsenz verschwunden ist. Trotz allem, trotz dieser Traurigkeit an seiner Person, ist er ein lesenswerter Schriftsteller. Keiner zeichnet die Tristesse des modernen Alltags, verbunden mit der Naivität und Gleichgültigkeit im Bezug auf die Zukunft der Menschheit, in so grauen Farben, um gleichzeitig eine Topf bunter Vielfalt anzurühren. Vermutlich sind es diese Schattenseiten, die sein Werk erst so eindringlich, die seine Schriften erst zu Deutungsschriften unserer Gegenwart machen. Keiner vermag es so hieb- und stichfest die Vereinzelung des Individuums hervorzuheben, wie es Houellebecq beherrscht. Dazu dient ihm bevorzugt die Sexualität. Mittels ihr gelingt es ihm, die Isolation und die Pauperisierung des Einzelnen zu Papier zu bekommen; sie stellen, nach dem Titel seines ersten Romans, die Ausweitung der Kampfzone dar.

Kein Schriftsteller unserer Zeit ist in einem solchen Ausmaße streitbar. Seine Romane sind Gratwanderungen zwischen psychologischen Studien, hemmungsloser Pornographie, soziologischer Aufarbeitung und Science-Fiction. Houellebecq liefert keine Unterhaltung, auch wenn er als Romancier sicherlich viel Wert darauf legen würde, in erster Linie seinem Publikum Kurzweil bieten zu wollen. Doch Zerstreuung findet man keine. Langsam wühlt er seine Leserschaft auf, lädt nicht zu Berg- und Talfahrten, denn seine Protagonisten sind immer ganz unten. Nicht ganz unten was soziale Stufen betrifft, sie sind seelisch am Boden, geradezu seelenlos oftmals. Es schwindelt einem, wenn man den Hauptprotagonisten folgt, ihnen zwischen Impotenz und Sexsucht, zwischen Karrieregeilheit und vollendeter Agonie nachspürt. Seine gelegentlichen Ausblicke in die Zukunft - ein Handlungsstrang von Die Möglichkeit einer Insel spielt in ferner Zukunft - erschüttern zutiefst. Die Vereinzelung und seelische Verstümmelung der Individuen ist gediehen, was wir heute an Egozentrik und Ignoranz erleben dürfen, so erklärt uns Houellebecq süffisant, ist nur die Vorstufe dessen, was in fernen Zeitebenen unserer harrt. Die Zukunft ist bei Houellebecq kein Topos, in dessen Vorlauf sich die Menschen doch noch mal zusammengerissen hätten, um das Leben auf Erden lebenswerter und erträglicher zu gestalten. Sie ist die Tummelwiese derer, die heute noch dem Ego-Kult frönen, damit sie morgen in isolierender Einsamkeit impotent oder sexversessen, jenachdem, vor sich dahinvegetieren. Seine beschriebene Zukunft ist das ausgereifte Produkt egomanischer Lebensart. In ihr wird vegetiert, dies unter der vollständigen Versorgung und Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen, versteht sich. Der Verfall grassiert nur geistig, nur im Miteinander, nur im Verhältnis vom Ich zum Du, auf seelischer Basis. Materiell allerdings scheint für einen Großteil der Menschen eitel Sonnenschein zu herrschen, zumindest bei den wenigen Individuen, die noch auf Erden leben, deren Vorfahren sich materiell schadlos halten konnten.

Eines herrscht bei Houellebecq ganz sicher nicht, und es ist daran noch nicht bewiesen, dass er ein wirklicher Menschenfeind wäre. Was fehlt ist die Hoffnung. Michel Houellebecq kennt sie in seinen Büchern nicht, für sie verschwendet er kaum Tinte. Viele nehmen ihm das übel, immerhin ist das Lesen für viele Menschen auch eine Form von Trostpflaster. Sie greifen zum Buch, um aus der wirklichen Welt zu desertieren. Wer diesem Motiv anhängt, der soll Houellebecq lieber nicht bemühen, man wird mit ihm nicht glücklich werden. Ob er Pessimist ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden, denn immerhin erwehrt er sich der real existierenden Genetik nicht; nein, er ist ja Anhänger dieser Wissenschaft und kann die ethischen Diskussionen diesbezüglich überhaupt nicht begreifen. Wenn der Mensch die Stufe erreicht hat, seine eigene Evolution zu beeinflussen, so glaubt er, dann muß er das tun. Immerhin sei der Mensch, so klingt es aus seinem Munde existenzialistisch, jenes Wesen, das sein kann, was immer es will. Diese Ansicht ist nicht pessimistisch, möglicherweise auch nicht optimistisch, pragmatisch aber allemal - und, wie oben erwähnt, mit einer großen Portion Naivität versalzen.

Um also neuerlich auf Houellebecq zu sprechen zu kommen. Dies jedenfalls soll keine plumpe Belehrung zum Autor der Stunde, zum Autor dieses Zeitalters sein. Die Zustände lassen es jedoch lohnenswert erscheinen, ihn heranzuziehen. Die ihm zur Markenzeichen gewordene Hoffnungslosigkeit liebkost die Wirklichkeit, sie zeichnet das Empfinden dieser Tage leidenschaftslos, nüchtern und wirklichkeitsnah nach. Was er dokumentiert gleicht dem Eingang in die vollendete Entsolidarisierung, dem Portal in die Vereinzelung. Eine Hoffnungslosigkeit, die man an jeder Ecke wittert, nicht nur zwischen den Seiten des houellebecqschen Kosmos, sondern in unser aller alltäglichen Leben. Rücksichtnahme ist ein Fremdwort, ganze Generationen kennen diesen Ausdruck überhaupt nicht mehr. Das Ich ist der große Imperator unserer Tage. Die Entsolidarisierung wird politisch voran-, Randgruppen in die Enge getrieben, aber niemand fühlt sich angestachelt, dem unterdrückten Nächsten die Hand zu reichen. Jeder für sich, jeder für seine eigene Sache! Kümmern Sie sich um Ihren Scheiß!, ist der Schlachtruf dieser Zeit. Liegt ein Körper wimmernd auf der Straße, berührt es nur einige hilfsbereite Exoten, die Mehrheit blickt hinab und geht vorüber. Wir sind Organismen, die isoliert von anderen Organismen vor sich hinwursteln. Der Einzelne wird zum Alleingänger, Gruppen zu Alleinkämpfern, ganze Völkerscharen zu Alleingelassenen. Gemeinschaft ist ein Unwort aus romantischeren Zeitaltern.

Die Hoffnung ist uns freilich allen vertraut, sie verreckt bekanntlich zuletzt. Aber es gibt im Grunde kaum Hoffnung für die Hoffnung; sie ist ein irrationales Überbleibsel, bedeutungslos und verlorene Liebesmüh. Machen wir uns doch nichts mehr vor, wir, die wir jeden Tag darauf hoffen, dass der große Zusammenschluss der Unterdrückten und Benachteiligten stattfindet. Er wird nicht stattfinden, er wartet in dieser Zukunft nicht auf uns, die Ellenbogenapologeten haben ganze Arbeit geleistet, sie haben dafür gesorgt, dass kein Gemeinschaftsgefühl aus Spontanität heraus entstehen kann. Sie haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, sodass wir jeden Ansatz von Fraternisierung wie einen Angriff auf unser Ego bewerten. Houellebecq hat das erkannt, er kritisiert dies zwar nicht ausdrücklich, man darf sogar vermuten, dass er es befürwortet, aber er spricht deutlich wie sonst niemand aus, dass es keine Hoffnung gibt.

Nochmals, machen wir uns nichts vor. Die Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen auf Erden, sie könnte seit Jahrzehnten auf der politischen Agenda Platz gefunden haben, könnte eigentlich als erreicht abgehakt und damit schon wieder von der Agenda entfernt worden sein. Die Welt sättigte alle Menschen, wenn nur alle Menschen wollten, dass jedem Sattheit zuteil würde. Geschehen ist kaum etwas, in Afrika wird weiterhin gehungert, in Asien und Südamerika genauso, in den Industrienationen wird der Hunger ebenfalls wieder für Unterschichten salonfähig. Die materielle Grundlage allen Seins, könnte als Frage der Weltpolitik verschwunden sein. Ist sie aber nicht, wird sie auch nicht! Seit Jahrzehnten wartet man auf Verbrüderung, seit Jahrzehnten passiert außer ein Paar Gewissensbesänftigungen in Form von mickrigen Almosen nichts. Nein, machen wir uns nichts vor, die Hoffnung ist ein trostloses Geschäft, sie zerschlägt sich in dieser Welt fortlaufend; erfüllte Hoffnung ist rarer wie Goldvorkommen. Damit ringt die Menschheit ohnehin seit Jahrtausenden, immer hoffend, der Kampf ums Dasein könnte, wenn schon nicht beseitigt, so doch gelindert werden. Erst sei kurzer Zeit wäre diese Hoffnung zu befriedigen, man könnte den Wunsch restlos erfüllen, wenn es denn ein Wunsch aller Menschen wäre - erfüllt hat sich jedoch nichts.

Houellebecq spendet keine Hoffnung, weil es keine Hoffnung gibt. Nicht mehr gibt, nicht mehr in objektiver Form jedenfalls. Und weil es sie nicht mehr gibt, weil alle in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit harren, enden seine Romane in einer tristen Nachwelt, einem mutterseelenalleinen Morgen. Das bedeutet nicht, dass die Utopie aussterben soll, auf seine Weise ist auch Houellebecq Utopist, wenn er sich für ein Arrangement der Menschen mit der Genetik ausspricht. Dieser Utopie muß man allerdings nicht folgen, auch wenn zu befürchten steht, dass die Menschheit in ihrer Hoffnungslosigkeit genau zu diesem stillen Absegnen genetischer Zukunftspläne gelangen wird, genauso kommentar- und kritiklos, wie sie noch jede Schlachtbank bestiegen hat. Gerade weil die Hoffnung das enttäuschte Kind unserer Zeit ist, ist Utopie notwendig. Sie ist ein Halt, in Vorstellungen gegossener Silberstreif. Nicht Hoffnung direkt, denn Utopisten wissen von der Hoffnungslosigkeit ihres Strebens. Dass die Menschen utopistische Ideen heute ablehnen, spottend sagen, dies oder jenes sei ja utopisch, zeigt auf, wie wenig Hoffnung verblieben ist. Was denjenigen, der noch utopistische Vorstellungen hat, und seien die auch nur zart und wenig ausgereift, von denjenigen unterscheidet, die glauben, die Epochen der Utopie seien vorüber, worauf sie sich pragmatisch in die Schafsherde einreihen, ist dieses kleine Flämmchen an Hoffnung auf Hoffnung, dieser winzige Silberstreif. Derjenige, der kopfschüttelnd danebensteht, wenn Houellebecq zur Zukunft lädt, hofft in gewisser Weise noch dezent, hofft still schreiend, hofft, dass nicht alles so dramatisch kommt, wie es uns dieser Autor weismachen will.

Der größte Teil der Leserschaft allerdings, wird anerkennend nicken, seine Stilistik loben, die aufregende Visionskraft analysieren, aber nie und nimmer ungläubig mit dem Kopf schütteln. Dieser Umstand wiederum raubt einem jede Hoffnung. Man fühlt sich ins Fatalistische gezogen, ob man will oder nicht. Man merkt, dass das starre Korsett, das uns Politik und Wirtschaft, die Politik im Namen der Wirtschaft, angelegt hat, keine Luft mehr beläßt. Man erkennt, dass es mit jedem Schritt Richtung zentralisierter Wirtschaftsallmacht, Abbau von Rechten, Anbau von Pflichten, Zerstörung von Sicherheiten, der Hoffnung an den Kragen geht. Sie krepiert nicht zuletzt, sie geht ein, damit an ihrer Stelle etwas Neues entstehen kann, ein Surrogat, etwas, das so riecht wie Hoffnung. Irgendwann hofft der Mensch dann, für Unternehmen Sonstwie funktionell zu sein; hofft er, keinen zur Last zu fallen, weil er erkältet ist. Es ist die Hoffnung des Minderwertigkeitskomplexes. Hoffentlich falle ich nicht aus den Rahmen! Hoffentlich habe ich Wert! Hoffentlich erkennt man mir Existenzrecht an! Es ist die ersatzweise Hoffnung in einem schmalen vorgesteckten Rahmen, Hoffnung der Beengtheit, eine schüchterne Hoffnung, weil sie sich über die Mauern und Zäune nicht zu siedeln traut. Dieses Surrogat stirbt zuletzt, die Hoffnung selbst verendet aber lange vorher. Hoffnung nährt Freiheit, wenn eine Ersatzhoffnung keine freiheitlichen Denkmuster außerhalb des Rahmen zuläßt, kann sie auch keine Hoffnung sein.

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