Frei von Befreiung

Dienstag, 10. November 2009

Endlich frei!, hallte es einst durch Berlins Straßen. Endlich hat man sich der Ketten und der Mauer und der Stacheldrahtverhaue entledigt! Endlich ist die Freiheit eingezogen. Was für ein Geschenk! Was für eine Freude! Freiheit als Belohnung. Free at last! free at last! thank God Almighty, we are free at last! Gepriesen sei die Freiheit!
Meine Freiheit? Deine Freiheit? - Ihre Freiheit! Unsre Freiheit muß noch lang' nicht ihre Freiheit sein!

Zwanzig Jahre Mauerfall und der Beginn des Niedergangs des Ostblocks. Es ist zwar nicht der Beginn des Sozialabbaus, zumindest aber der Anfang der Verschärfung jener Demontage. Derweil es einen zweiten Gesellschaftsentwurf gab, nämlich den sozialistischen, hatte der westliche Kapitalismus reges Interesse daran, sich als gerechteres, leistungsfähigeres, hochherzigeres System feiern zu lassen. Gerade am Leib des Wolfs Deutschland, von dem es ja zwei Ausgaben auf der Landkarte gab, dessen kapitalistischerer Teil direkt an der Grenze zum Sozialismus gesiedelt hatte, war das Schafsfell Überlebensgarantie. Rückblickend heißt es, diese Überlebensstrategie wäre nicht nötig gewesen, weil der Sozialismus seit Jahrzehnten abgewirtschaftet hatte, doch das heutige Wissen darüber war damals bestenfalls Spekulation. Als der Kapitalismus den Sieg einfuhr, ein Sieg, den die offizielle Geschichtsschreibung gerne hervorstreicht (man ist nicht übriggeblieben, man hat gewonnen!), war der Moment gekommen, die humanistische Maske fallenzulassen.

Nach und nach wurden soziale Errungenschaften abgebaut, letzte Bastionen von sozialer Sicherung standen immer wieder zur Diskussion, werden mit Sicherheit in Zukunft erneut erfolgreicher angegangen. Schritt für Schritt wurde die Freiheit genährt. Der Mauerfall ist ein Akt der Befreiung, weil er die Kapitalisten dieses Landes langsam aber sicher von wohlfahrtsstaatlichen Verantwortungen entbunden hat und weiter entbinden wird. Endlich frei!, singen sie im Chor. Endlich! Aber gleichzeitig mahnen sie, dass die Befreiung eiliger vollzogen werden muß.

Es ist jene egoistische Freiheit, ihre Freiheit, die Freiheit des Marktes, die Freiheit des Konsums, die Befreiung vom Sozialstaat, die gefeiert wird. Die Freiheit des Kapitalisten, der sich bestätigt fühlt, weil einst Massen von Menschen als ihre Freiheit aufwerteten, sich am kapitalistischen Konsum zu laben - verständlicherweise nach Jahren in der Mangelgesellschaft. Die Freiheit, ostdeutsche Betriebe auszuschlachten, Betriebe für ein Butterbrot zu erwerben, die Freiheit nicht mehr schönreden zu müssen, weil niemand mehr gen Osten zeigen kann, um zu erklären, dass selbst in der unfreien Gesellschaft, jenseits des stacheligen Vorhangs, gerechtere Zustände im Sozialwesen herrschen. Viel wurde in den letzten Tagen von Freiheit gesprochen, die Unfreiheit dieser Tage, die dort beginnt, Erwerbslose zu stigmatisieren, ihnen Residenzpflicht aufzuerlegen, Randgruppen öffentlich zu bedrängen, davon wurde in diesen freiheitsliebenden Tagen nicht gesprochen.

Wieso auch? Um diese Art Freiheit handelte es sich nicht. Es feierten sich jene in freiheitliche Himmel, die sich damals auch wirklich befreit haben. Free at last! Am Ende stand doch noch ihre hemmungslose, ihre mauerlose Freiheit. Die hochgelobte Freiheit derer, die einst nicht reisen durften und heute nicht reisen können, ist nur Makulatur. Sie ist gelebte Chancengerechtigkeit, denn Chancengleichheit gedeiht in dieser Sparte nicht. Free at last? Erwerbslos frei? Frei in Residenzpflicht? Die Freiheit, auf Behörden die Unterhosen wenden zu müssen, um den Offenbarungseid abzuleisten? Man frage mal jene an solchen Festtagen, die ihre Unfreiheit von damals, gegen die "Freiheit" von heute eingetauscht haben. Aber um die geht es ja auch nicht! Wichtig ist nur, dass die Richtigen befreit wurden, jene, die uns unterbezahlte Arbeitsplätze in prekärer Form zur Verfügung stellen und von ihren Profiten kaum Abgaben leisten wollen und auch immer weniger müssen. Die Freiheit der Egomanen! Natürlich angereichert mit nationalem Firlefanz. Unfreiheit braucht immer nationalen Anstrich, und freilich unumstößliche, nicht zu hinterfragende Prämissen wie jene, es sei unbedingt nötig, dass alle Deutschen in einem Staat leben müssen. Dieses ganze krankhafte Getue des Nationalismus, einer Ideologie, die aus einer anderen Zeit stammt, aus einer Zeit gesellschaftsdarwinistischer Dumpflehre.

Und mit denen, die ihre Freiheit in Ritualen und Events zelebrieren, marschieren solche, die meine und deine Freiheit verloren haben. Zu guter Letzt sind auch solche Mitmarschierer frei - frei von Einsicht, frei von autonomen Denkmustern, frei von Befreiung.

6 Kommentare:

Jutta Rydzewski 10. November 2009 um 12:12  

Günter Grass hat es vor einigen Jahren, wie ich meine, gut auf den Punkt gebracht. Es waren mal zwei Brüder, der eine hieß Sozialismus, der andere Kapitalismus. Die Beiden waren sich zwar feindlich gesinnt, aber es waren Brüder. Sie waren sich Korrektiv und Regulativ. Irgendwann war einer der Brüder nicht mehr da, und der übrig Gebliebene konnte von da an machen was er wollte ... und das tut er dann auch, bis heute.

mfg
Jutta Rydzewski

rauskucker 10. November 2009 um 13:34  

Sehr schön aufgeschrieben, meine Zustimmung. Danke.

Nur das Wort "bevor" hätte wohl "solange" heißen sollen.

potemkin 10. November 2009 um 16:00  

Ein alternatives System wäre dringend notwendig, selbst wenn es ein so mißratenes wie die DDR wäre. Denn das herrschende System wird nicht müde, sich - mit dem Verweis auf 89 - als alternativlos darzustellen. Das Nachkriegspostulat 'Wohlstand für alle' wird als Irrweg, als falsche Fußnote einer kurzen, unbedeutenden Epoche zitiert. Es müssen wohl noch etliche Blasen platzen, bis das neoliberale System weltweit diskreditiert ist. Wenn man die Rede der Kanzlerin hört, erinnert man sich unwillkürlich an Politbüros, die sich selbst feiern und die Realitäten vollkommen ausgeblendet haben.

Bernd Kudanek 10. November 2009 um 16:51  

Dein Resümee fand ich so ausgezeichnet, daß ich es gleich in mein Forum kopiert habe, selbstverständlich mit Quellenangabe und Deinem Namen als Autor.

Gruß
Bernd Kudanek

Tim 11. November 2009 um 01:26  

Francis Fukuyama, der seinerzeit das geflügelte Wort vom "Ende der Geschichte" prägte, ist heute übrigens auch ein "Gewendeter". Nein, kein Sozialist, aber gewiss auch kein Neoliberaler mehr.

http://www.the-american-interest.com/article.cfm?piece=647

Wolfgang Buck 11. November 2009 um 09:25  

Wiedermal ein wirklich gelungener Artikel. Ich habe mir ebenfalls Gedanken zur in den letzten Tagen allgegenwärtigen Beweiräucherung und Vereinnahmung der Freiheit gemacht. Zu lesen unter:

http://www.readers-edition.de/2009/11/10/freiheit-die-ich-meine/

Gruß
Wolfgang Buck

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