Gleichheit um jeden Preis

Freitag, 27. November 2009

Schon als diese Person die Bäckerei betrat, fiel sie mir auf. Eine Dame im besten Alter, pelzbemantelt, ordentlich geschminktes, üppig gespachteltes Antlitz. Sie wand sich durch die Schülermassen, die hier jeden Morgen ihr Pausenbrot einkaufen, dabei genervt dreinblickend, leise vor sich hinschimpfend. Man erkannte sofort, dass sie es nicht gewohnt ist, sich einen Platz in der Welt zu erkämpfen, auch keinen Platz in einer Warteschlange - es war offensichtlich: Personen wie jene im Pelz, erhalten ihren Platz mit freundlichem Wort und devoter Verneigung zugeteilt. Einen Platz an der wärmenden Sonne, versteht sich. Und weil keiner zugeteilt hat, weil ich Stoffel die Hände in die Jackentasche gekeilt hatte, die Verbeugung unterlassen habe, nahm sie sich gleich ein Sonnenplätzchen an vorderster Front, direkt am Schaukasten, gleich beim Zuckerwerk also, unter Beschlag. Schnell wühlt sie sich noch ihre Geldbörse aus dem Täschchen und dann hieß es mit sturem Blick gen Verkäuferin, das wartende Volk rundherum ignorieren.

Jetzt hätten Sie sich fast vorgedrängelt!, fiel ich per Wort und Ausfallschritt in die Szenerie. Ich starrte sie dabei sicher nicht sonderlich verliebt an. Entrüstung stand ihr plötzlich ins doch schon faltenreiche Gesicht gemeißelt. Sie wollte was entgegnen, japste sich zur Antwort. Unverfroren sei das, sie wollte sich nicht vordrängeln, Frechheit und so! Dass sie so säuberlich nach der Schrift sprach, vielmehr wie ein Buch Sprache gebrauchte, nicht wie ein lebendes Menschenwesen, machte sie mir nicht gerade sympathischer. Regen Sie sich doch nicht so künstlich auf, beschloss ich das Tête-à-tête. Ihren Blick fing ich nicht mehr auf, schon lächelte mich das junge Mädchen hinter dem Tresen an, nahm meine Bestellung entgegen. Aus dem Augenwinkel vernahm ich noch, dass der faltige Pelz gleich nach mir an die Reihe kam, etliche Schüler wurden also übergangen. Normalerweise, so dachte ich noch bei mir, müßte man so einen Drachen am Kragen packen und ans Ende der Schlange bugsieren. Und da bleibst' stehen!

So geschieht es täglich in diesem Lande. Drängeln ins keine Domäne des Pelzes, auch andere Gesellschaftsschichten drängeln oft und passioniert. Aber doch hat sich mir etwas verdeutlicht: Wäre die Drängelnde keine ausstaffierte Dame gewesen, kein geschminktes, großspuriges, prahlerisches Gesicht, sondern vielleicht ein ärmlich dreinblickendes Muttchen, eine heruntergerissene ältere Frau, ausgestattet mit Häkelmützchen und fleckigem Mantel, ich hätte meinen Mund gehalten, ich hätte ihr den Vortritt gelassen, hätte ihren Lapsus ignoriert und mich dabei nicht übergangen gefühlt. Mir wurde gegenwärtig, dass ich nicht im Sinne der "Gerechtigkeit", sei es auch nur eine unwesentliche Form derselben, gehandelt hatte, sondern im Sinne mir entgegengeschleuderter Arroganz, ja gegen eine bestimmte Gesellschaftsschicht agierte. Dabei ist belanglos, ob der Pelz echt war oder nicht, ob sie nur eine Dame aus einer bestimmten Schicht mimte oder wirklich dazugehörte - sie spiegelte jemanden wider, der mir immer widerlicher wird; sie spielte oder war der ignorante und egoistische Snob aus höheren Kreisen - das konnte ich nicht einfach verdrängen.

Und nur gegen den übervorteilten Snob richtete sich mein bescheidenes Einschreiten. Ich war vergleichsweise freundlich, kein böses Wort, keine arrogante Gestik. Aber ich wäre gerne grobschlächtiger gewesen. Nur mein noch müdes Gemüt, meine friedliche Gestimmtheit des Augenblicks hat böses Blut verhindert. In mir brodelte es aber dennoch - der Geist wäre stark gewesen, wenn das Fleisch nicht so schwächlich in sich geruht hätte. Wie gesagt, mir wurde meine Einseitigkeit augenfällig, mir wurde deutlich, dass ich kein ärmliches Mütterlein auch nur damit konfrontiert hätte, ich hätte sie vorrücken lassen, hätte womöglich einem Entrüsteten, der der Frau an den schmuddeligen Mantel wollte, auch noch erklärt, ich hätte sie selbst vorkomplementiert. Natürlich ist das einseitig, natürlich scheint es nicht richtig, das Pelzbiest anzufeinden, während die wandelnde Ärmlichkeit wortlos davonkommt - der Gleichheitsgedanke birgt, dass man entweder immer schweigt oder immer interveniert. Jedoch fällt mir das in dieser Gesellschaft immer schwieriger. Wann immer sich die Möglichkeit herauskristallisiert, die Gesellschaftsschicht der Pelze anzugreifen, nutze ich die Gelegenheit - ich nutze sie, weil es mir als Gebot der Gegenwart erscheint, der übervorteilten Bürgergesellschaft Einhalt zu gebieten, zumindest so weit mir das möglich ist. Aber den anderen, die ganz offensichtlich im Nachteil sind, will ich kein Oberlehrer sein - sie haben es sowieso schon schwer genug. Leider erleben wir in diesem Gesellschaftsentwurf aber viel häufiger, dass kümmerliche Mütterchen gescholten werden, während Mütter von Pelzen davonkommen.

Deshalb ist es auch nicht machbar, beispielsweise ein Alkoholproblem in der Unterschicht, das dort sicherlich genauso heimisch ist, wie in den Ober-, Mittel-, Links- und Rechtsschichten, zu thematisieren. Man darf nicht bereit sein, auf Kosten der übervorteilten Gesellschaftsschichten, die Problematiken der Benachteiligten zu instrumentalisieren. Nein, man muß das Vordrängeln der Pelze angreifen, beim selben Benehmen auf der schwachen Seite aber, auch mal Fünfe gerade sein lassen. Ein bescheidener Ausgleich der Benachteiligung, aber meines Erachtens die einzige Art, der herrschenden Ungleichheit ausbalancierend zu begegnen. Es ist eben nicht dasselbe, ob ein Millionär stiehlt oder ob ein Obdachloser zur Entwendung schreitet. Sind wir zu gleichheitsergeben, gleichen wir wie jenem Gesetz, dass den Reichen wie den Armen verbietet, unter den Brücken zu schlafen (Anatole France). Gleichheit um jeden Preis bedeutet in einer ungleichen Gesellschaft nicht Ausgleich, sie bedeutet die Verschärfung der Ungleichheit.

11 Kommentare:

thom 27. November 2009 um 11:46  

Ich denke, es geht nicht um Gleichheit, jeder der dies behauptet, hat noch nie darüber nachgedacht. Es geht immer um Gleichberechtigung. Wenn linke Ideologien mit Gleichmacherei gleichgesetzt werden, so passiert hier nichts anderes, als Gleichheit zu unterstellen.

Um sich mal auf den Pelz zu beziehen, den gleichsam hinten anzustellen und im gleichem Zug die alte (nicht wohlhabende) Frau vorne anzustellen, das bedeutet menschlich Gleichberechtigung. Denn die Pelztante hat schon bekommen, die anderen nicht, somit sind die jetzt dran. Meine Wenigkeit hätte Ihr wahrscheinlich erklärt, daß Sie fremde Federn trägt.

Anonym 27. November 2009 um 13:25  

Lieber Roberto J. de Lapuente,

eine Überlegung von mir dazu:

Ist es in der Gesellschaft nicht eher wie bei den Hühnern - eine Hackordnung, die eben von ganz oben nach ganz unten alle teilt? Ich wollte eigentlich Treppe schreiben, aber ich denke Hackordnung trifft es wohl genaus?
Eine kleine Anektode aus meinem Lebensumfeld. Ein Nachbar von mir, mit dessen Vater schon mein Vater eine Familienfehde hatte - die von seinem Vater - einem Flüchtling aus Ostpreußen, der einmal gesagt haben soll "in dieser Straße räume ich auf", und eben an meinem Vater gescheitert ist, während andere Einheimische vor dem gekuscht haben, leidet am Alkoholproblem, und den selben Befindlichkeiten wie sein Vater, aber dies ist ein anderes Thema. Eigentlich wollte ich darauf hinaus, ich ignoriere den, da er auch noch - wie sein Vater an der Grundstücksgrenze rumprovoziert - Man glaubt es kaum, aber er pfeifft sogar des nächtens wenn ich in unserem Hof, der an sein Haus grenzt etwas arbeite - Ich lass mich aber darauf nicht ein, da ich eben weiß, der Mann hat ein psychisches und ein Alkoholproblem. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn er nicht schon bei mir, im Vollsuff, um eine Flasche Wein gebettelt hätte. Sorry, ich schweife ab, denn mir ging es um etwas anderes: Mein verstorbener Vater betrieb auch - mit Schankerlaubnis - eine Weinschenke, und dort kam immer jemand, der über andere - vor allen Dingen seine Nachbarn, "reiche Sozialhilfeempfänger", und eben diesen meinen Nachbarn mit Alkoholproblem und offensichtlich seltsamen Anwandlungen in die Richtung meiner Familie (Mutter, Geschwister und mir), sein Maul zerriß. Um des lieben Familienfriedens halte ich das Maul, da meine Mutter herzkrank ist, denn ich würde diesen Mann eigentlich sagen: Und? Bist du besser? Du hängst hier Tage nach der Beerdigung meines Vaters herum, und belästigst Trauernde nur weil du deine offensichtliche Alkoholsucht bewältigen willst? Was du trinkst nicht? Liegst niemandem auf der Tasche? Seltsam nur: Wieso sehe ich dein Fahrrad überall bei dorfbekannten Wein- und Alkoholtrinkern rumstehen? Sitzt du da nur rum - Oder trinkst du gleich mit? Und zerreißt du dir auch das Maul über mich und meine Familie? Was meinst du warum ich nicht drauf eingehe, dass ich einen offensichtlich alkoholkranken Nachbarn habe? Du erzählst doch gleich jedem im Dorf, dass ich mein Maul über diesen zerrissen habe. Fazit: Du bist auch nicht besser als der, und deine "reichen Sozialhilfenachbarn", auf welchen du frei nach dem Motto "Nach oben katzbuckeln, und nach unten treten" rumtrampelst.

Solche Bekannte der Familie haben sicher auch andere, und ich finde es wirklich beschämend, dass gerade die in Deutschland beweisen, dass die Mittel- und Unterschichten sich lieber gegenseitig zerfleischen als einmal den Pelzträgern auf den Schlips zu treten.

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

maguscarolus 27. November 2009 um 14:06  

Gehackt wird stets auf Augenhöhe. Obdachlose zoffen meist unter einander und der Eigenheim-Mittelstand zofft sich mit dem Eigenheim-Mittelstand, nicht mit Ackermann & Konsorten. Die letzteren zoffen gar nicht öffentlich, denn es sind ja "feine Leute". Eliten zoffen sich hinter verschlossenen Türen, und das Zoffergebnis heißt nachher "Stellungnahme, Communiqué" oder so ähnlich.
Gleichheit, Gleichberechtigung, Chancengleichheit:
Diese Begriffe beschreiben alle einen Wunschzustand, von dem sich diese Gesellschaft mit jeder "Reform" immer weiter und weiter entfernt.

Amelia 27. November 2009 um 15:15  

Grenzwertig wird diese Haltung erst dann, wenn man unschuldige Mitglieder einer Gruppe mitbestraft. Sorry, dass ich wieder auf meine Kindheit zurückkomme, aber die Mitschüler, die mich zehn Jahre lang gehänselt und gemobbt haben, waren (oberflächlich zumindest) nett zu den wenigen Ausländerkindern in der Schule, da darauf zur damaligen Zeit zum Glück relativ viel Wert gelegt wurde. Ich dagegen war auch deswegen "zum Abschuss freigegeben", weil meine Mutter als arrogant und selbstgerecht galt (obwohl sie eigentlich extrem unsicher war), etwas mehr Geld hatte als die anderen Eltern und diese Tatsache auch gerne mal raushängen ließ - und weil ich immer nur Einsen mit nach Hause brachte. Deswegen waren die anderen Eltern der Meinung, dass es in mir wohl nicht die Falsche traf, wenn ihre Sprößlinge mich ständig schlugen und verspotteten... Dabei konnte ich nichts dafür, wie meine Eltern waren, und von ihrem Geld hatte ich auch so gut wie nichts (und habe ich bis heute nicht, weil ich mit ihnen gebrochen habe). Als ich erwachsen wurde, hat mich nichts mehr abgestoßen als diese Haltung meiner Eltern. Aber die seelischen Wunden durch die Quälerei in der Schule, die sind, 20 Jahre später, noch immer da (und dass es zwischen mir und meinen Eltern so kommen musste, belastet mich auch immer noch, man hat ja Gefühle für sie, auch wenn es Leute sind, die man sich nie freiwillig ausgesucht hätte). Also, wenn man heute wieder meint, die Kinder dafür mitbestrafen zu dürfen, wie ihre Eltern sind, dann legt man nur den Grundstein für neuen Hass, fürchte ich.

maguscarolus 27. November 2009 um 17:23  

@Amelia

. . . Quälerei in der Schule . . .

Sorry, aber mobbing in der Schule – das ist eine völlig andere Ebene.

Ansonsten denke ich aber, dass jeder Mensch gut beraten ist, sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen weniger von den eigenen Emotionen oder von der Mitmenschen Kleidung, Physiognomie und anderen Äußerlichkeiten abhängig zu machen, sondern von deren Auftreten, erhobenen Ansprüchen und menschlichem Verhalten.

Pelz hin, Baumwollkittel her. Was zählt, ist der Mensch darunter.

Anonym 27. November 2009 um 17:58  

Wie passend. Mir ist Heute etwas ähnliches beim Besuch der Arge geschehen. Alle (oder besser fast alle) ziehen ihre Nummer und warten. Aber immer kommt dann jemand der meint keine Nummer zíehen zu müssen und geht zur Anmeldung um sich dort gleich bedienen zu lassen. Wenn dann die Anwesenden die schon warten eine Kritik wagen, kommt "ich will ja nur eben ....", aber das wollen wir doch alle. Wie kann man von einer "Dame" auch erwarten das sie sich mit einer gezogenen Nummer zum Pöbel zu setzen und zu warten. Da sie an der Anmeldung aufgefordert wurde sich eine Nummer zu ziehen und zu warten, verschwand diese "Dame" hochnäsig auf uns dort sitzende herabzuschauen und verlies das Gebäude.

Kommentar eines Nebenmannes: "manche lernen es nie". Er hat ja so Recht, leider.

antiferengi 27. November 2009 um 21:06  

Hmmm. Einfache Einschätzung der Situation, Reaktion aus dem Affekt, mit einem Gefühl für Benachteiligte, und gegen Bevorteilte.
Muss man nicht so kompliziert sehen.
Und sachlich schon mal gar nicht.
Gut das es noch Menschen gibt, - die auch wie welche handeln,- wenns drauf ankommt.
Aber schöne Beschreibung der Situation.

Amelia 27. November 2009 um 23:30  

@maguscarolus : Ich weiß nicht, ob Mobbing in der Schule so großartig anders ist, und ich hasse es auch heute noch, wenn Erwachsene in solchen Fällen sagen: "Das sind ja schließlich nur Kinder, die müssen das unter sich ausmachen". Die Haltung vieler Lehrer und anderer Eltern nach dem Motto "na ja, das Mädel wird schon irgendwie selbst schuld an seinem Schicksal sein" erinnert mich sehr stark an die Haltung vieler Leute gegenüber Arbeitslosen und anderen Ausgeschlossenen. Es ist diese Haltung, die unsere ganze Gesellschaft beherrscht: "Man kann alles schaffen, wenn man nur will und sich richtig anstrengt. Wer verliert, ist selber schuld". Deswegen richten alle ihren Hass ja nur nach unten, auf diejenigen, die sich angeblich "noch weniger anstrengen" als sie selber. Eine sehr mächtige Illusion, scheint mir - und vermutlich genauso nützlich für unsere "Siegertypen" wie die einstige Behauptung, dass jegliche Herrschaft gottgegeben sei.

Anonym 28. November 2009 um 14:08  

@Amelia

Jetzt verstehe ich deine Motivation.

Ja, es stimmt schon, gerade bei Kindern fängt die ideologische Disziplinierung an - Das weiß jede totalitäre Ideologie - vom NS-Faschismus, über den Kommunismus bis hin zum Marktradikalismus heutiger CDU/CSU/FDP-Regierungszeiten.

Und ich geb dir recht, diese Logik gehört entlarvt, und dann durchbrochen....

Interessant ist ja, dass gerade bei Kindergarten-Kindern heute - so nachzulesen bei Julia Friedrichs über die "Elite" in Deutschland, die ideologische Beeinflussung der Gehirne anfängt.

Kinder können sich am Wenigsten wehren, dies weiß nicht nur die Ideologie, sondern auch jede Religion - insofern hat Merkel von der katholischen/evangelischen Kirche gelernt.

Auch die indoktrinieren Kinder schon von Kindergarten-Beinen an....

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

Charlie 30. November 2009 um 05:35  

Roberto: Ein schöner Text, aber es geht gar nicht um Gleichheit, sondern um Gerechtigkeit und soziales Denken. Ein offenkundig sozial benachteiligter Mensch verdient stets unser aller Anteilnahme. - Auch wenn es vielleicht aus der Mode gekommen ist, so ist es für mich nach wie vor selbstverständlich, in der S-Bahn dann aufzustehen, wenn ich bemerke, dass ein älterer oder kranker Mensch den Zug betritt und keinen freien Sitzplatz findet.

Um den Vergleich fortzuführen: Ich würde auch für eine ältere Frau im Pelzmantel aufstehen (wenn sich eine solche Person denn jemals in die S-Bahn verirren würde) - aber wenn diese Dame den Anspruch auf den Sitzplatz auch einfordern würde, käme ich in Bedrängnis.

Hinzu kommt die Erfahrung aus meiner eigenen Familie: Da gibt es solche älteren Damen mit Pelzmänteln nämlich wirklich - allerdings sind das Relikte aus der "guten alten Zeit" - denn keine von denen ist heute noch vermögend. Der einstige Status der "Bessergestellten" aus der wohlhabenden Mittelschicht ist verspielt und sie müssen mit einer kärglichen Rente leben, die nur knapp über dem Hartz-IV-Niveau liegt.

Wie immer muss man also differenzieren - ich fürchte nur, dass wir die WIRKLICHEN Profiteure des neoliberalen Umbaus niemals zu Gesicht bekommen: Nicht beim Bäcker und nicht in der S-Bahn. Die bleiben unsichtbar für uns und wir bekämpfen uns somit nur selbst. Das spricht die ehemalige Gutsituierte, die nun verarmt ist, sich daran aber nicht gewöhnen mag, nicht frei. Aber es zeigt einmal mehr, dass die Menschen, gegen die unsere Wut sich richten sollte, in unserer Lebenswirklichkeit gar nicht mehr vorkommen. Die "Elite" hat sich längst aus unseren Bäckereien, S-Bahnen, Supermärkten und Kneipen verabschiedet.

Kann man den älteren Damen und Herren, die aus der wohlhabenden Mittelschicht abgestürzt sind, wirklich so schlimme Vorwürfe machen? Ich denke, es wäre konstruktiver, wenn wir sie zu verstehen versuchen. Sie sind jetzt Teil des Prekariats - auch wenn sie es selber vielleicht nicht wahrhaben wollen. Das war politisch gewollt - und genau da müssen wir ansetzen. So verschieden wir auch alle sind - bekämpft werden wir alle von derselben Seite. Das müssen wir aber erst erkennen.

Anonym 30. November 2009 um 15:27  

@Charlie

Ich vermute einmal, dass du stark richtig liegst.

Ein paar Anmerkungen noch dazu:

In meiner Familie gibt es auch jemand, der sich mit Niedriglohn über Wasser hält, reiche Freunde hat, und immer wieder - mir, als Ex-Arbeitslosem mit unsicherem Billigjob (derzeit noch) - Vorwürfe macht.

Fazit:

Es gibt auch in der Unterschicht welche, die statt zu akzeptieren, dass man mit Leistung eben nicht mehr vorwärts kommt in dieser "Bananenrepublik Deutschland", auf gleichwertigen und Arbeitslosen rumprügeln.

Man könnte auch sagen, wie ein Onkel, heutiger Rentner und damaliger Bausparkassen-Boss, vor Jahren schon meinte "Man muß eben mit den Wölfen heulen"....

So wird dies übrigens nie etwas mit dem Widerstand, wenn die neoliberale Verseuchung schon so weit geht, dass Menschen, wie oben erwähnte Schwester, hirnlos alles nachpredigen was Merkel, Westerwelle & Co. so vertreten, und dabei nicht einmal merken, dass die sich selbst verarschen, wenn die denen nachrennen....

Übrigens, bei dem anderen von dir gebe ich dir recht, aber man sollte die Sache auch so sehen, wie oben erwähnt.

Der Riß geht manchmal durch ganze Familien, und ich glaube, dass ich kein Einzelfall mehr bin - Insofern wundert es mich tatsächlich, dass es (noch) so ruhig ist in Deutschland, denn die Saat für einen Bürgerkrieg aller gegen alle ist längst gelegt.

Bei unverhofften Notlagen übrigens, wie mir seit 2006 und dem Rest meiner Familie durch Todesfall in der Familie geschah, wird einem erst bewußt wie durchseucht unsere Gesellschaft mittlerweile auch vom Konkurrenzdenken ist - Statt Zusammenhalt, und Kooperation, erlebe ich sehr oft nur eines: Gegenseitiges Zerfleischen bis auf's Blut.

Eben Neoliberalismus bzw. Marktradikalismus bis in den ganz privaten, und Unpolitischen, Lebensalltag hinein.

Gruß
Nachdenkseiten-Leser

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