In der Hoffnungslosigkeit gefangen

Freitag, 6. November 2009

Um abermals auf Michel Houellebecq zu sprechen zu kommen. Natürlich ist mir klar, dass er in Frankreich als Konservativer verrufen ist, teilweise zum Faschisten vereidigt wurde, zum Rassisten ohnehin, zu jemanden, der - in aller Kürze erklärt - die Menschen nicht liebt. Dabei greift die Sortierung nach Kraut und Rüben-Art zu knapp. Houellebecq liebt den Mensch, weil er sich selbst liebt, er ist der Ansicht, dass es praktizierte Menschenliebe ist, wenn das menschliche Ich sich selbst liebt. Er ist bekennender Egoist, wie er in rar gesäten Gesprächen durchschimmern läßt, wie es sein Privatleben, das Verhältnis zu seinen Eltern, deutlich macht. Und selbstverständlich vereint das oft unmenschlich wirkende Wesen Houellebecq konservative Aspekte in sich, beispielsweise jene, dass der Mensch eine straffe Obrigkeit benötigt, die alles, bloß nicht zimperlich sein darf, um der Ordnung zu ihrem Recht zu verhelfen. Andererseits sind seine Ansichten zur Genetik weder traditionell konservativ noch sind sie fortschrittlich, sondern eher provokativ, kurzsichtig und besorgniserregend naiv. Hier schlägt die infantile Tendenz Houellebecqs durch, der zeit seines Lebens Anhänger mittelmäßiger Science-Fiction-Romane blieb. Ausgestattet mit argloser Treuherzigkeit verwechselt er wirkliche Gefahren der Genetik mit den haarsträubenden Spekulationen jenes trivialen Genres. Die Genetik thematisiert er ja fleißig in seinen Werken, zeichnet letztlich aber traurige Zukunftsbilder, besetzt daher den hoffnungslosen Standpunkt, der Menschheit Berufung sei das naive Hineingehen in die Düsternis, in eine Zukunft, in der der Gencode des Menschen restlos entschlüsselt ist, womit er nurmehr zum ersetzbaren biologischen Mechanismus abgestempelt sein wird.

Houellebecq ist wahrlich keine Person zum Gernhaben, er ist - so scheint es jedenfalls - eine jener Personen, die unsere Zeit erst so unendlich schwermütig machen, ist Person zwischen geniehaften Streichen und gemeingefährlichen Affekten, wie seine Islamophobie beizeiten bewiesen hat. Dass er dem Christentum denselben Fanatismus attestiert hat, damals als das Christentum noch bedeutungsvoll sein durfte, darf freilich nicht einfach von der Hand gewiesen werden. Ebensowenig, dass er andeutungsweise dem Islam eine ordnende Hand zubilligt, die in den islamischen Gesellschaften für Disziplin sorge. Disziplin, die im abendländischen Gesellschaftsentwurf nach dem Verschwinden christlicher Omnipräsenz verschwunden ist. Trotz allem, trotz dieser Traurigkeit an seiner Person, ist er ein lesenswerter Schriftsteller. Keiner zeichnet die Tristesse des modernen Alltags, verbunden mit der Naivität und Gleichgültigkeit im Bezug auf die Zukunft der Menschheit, in so grauen Farben, um gleichzeitig eine Topf bunter Vielfalt anzurühren. Vermutlich sind es diese Schattenseiten, die sein Werk erst so eindringlich, die seine Schriften erst zu Deutungsschriften unserer Gegenwart machen. Keiner vermag es so hieb- und stichfest die Vereinzelung des Individuums hervorzuheben, wie es Houellebecq beherrscht. Dazu dient ihm bevorzugt die Sexualität. Mittels ihr gelingt es ihm, die Isolation und die Pauperisierung des Einzelnen zu Papier zu bekommen; sie stellen, nach dem Titel seines ersten Romans, die Ausweitung der Kampfzone dar.

Kein Schriftsteller unserer Zeit ist in einem solchen Ausmaße streitbar. Seine Romane sind Gratwanderungen zwischen psychologischen Studien, hemmungsloser Pornographie, soziologischer Aufarbeitung und Science-Fiction. Houellebecq liefert keine Unterhaltung, auch wenn er als Romancier sicherlich viel Wert darauf legen würde, in erster Linie seinem Publikum Kurzweil bieten zu wollen. Doch Zerstreuung findet man keine. Langsam wühlt er seine Leserschaft auf, lädt nicht zu Berg- und Talfahrten, denn seine Protagonisten sind immer ganz unten. Nicht ganz unten was soziale Stufen betrifft, sie sind seelisch am Boden, geradezu seelenlos oftmals. Es schwindelt einem, wenn man den Hauptprotagonisten folgt, ihnen zwischen Impotenz und Sexsucht, zwischen Karrieregeilheit und vollendeter Agonie nachspürt. Seine gelegentlichen Ausblicke in die Zukunft - ein Handlungsstrang von Die Möglichkeit einer Insel spielt in ferner Zukunft - erschüttern zutiefst. Die Vereinzelung und seelische Verstümmelung der Individuen ist gediehen, was wir heute an Egozentrik und Ignoranz erleben dürfen, so erklärt uns Houellebecq süffisant, ist nur die Vorstufe dessen, was in fernen Zeitebenen unserer harrt. Die Zukunft ist bei Houellebecq kein Topos, in dessen Vorlauf sich die Menschen doch noch mal zusammengerissen hätten, um das Leben auf Erden lebenswerter und erträglicher zu gestalten. Sie ist die Tummelwiese derer, die heute noch dem Ego-Kult frönen, damit sie morgen in isolierender Einsamkeit impotent oder sexversessen, jenachdem, vor sich dahinvegetieren. Seine beschriebene Zukunft ist das ausgereifte Produkt egomanischer Lebensart. In ihr wird vegetiert, dies unter der vollständigen Versorgung und Aufrechterhaltung aller Körperfunktionen, versteht sich. Der Verfall grassiert nur geistig, nur im Miteinander, nur im Verhältnis vom Ich zum Du, auf seelischer Basis. Materiell allerdings scheint für einen Großteil der Menschen eitel Sonnenschein zu herrschen, zumindest bei den wenigen Individuen, die noch auf Erden leben, deren Vorfahren sich materiell schadlos halten konnten.

Eines herrscht bei Houellebecq ganz sicher nicht, und es ist daran noch nicht bewiesen, dass er ein wirklicher Menschenfeind wäre. Was fehlt ist die Hoffnung. Michel Houellebecq kennt sie in seinen Büchern nicht, für sie verschwendet er kaum Tinte. Viele nehmen ihm das übel, immerhin ist das Lesen für viele Menschen auch eine Form von Trostpflaster. Sie greifen zum Buch, um aus der wirklichen Welt zu desertieren. Wer diesem Motiv anhängt, der soll Houellebecq lieber nicht bemühen, man wird mit ihm nicht glücklich werden. Ob er Pessimist ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden, denn immerhin erwehrt er sich der real existierenden Genetik nicht; nein, er ist ja Anhänger dieser Wissenschaft und kann die ethischen Diskussionen diesbezüglich überhaupt nicht begreifen. Wenn der Mensch die Stufe erreicht hat, seine eigene Evolution zu beeinflussen, so glaubt er, dann muß er das tun. Immerhin sei der Mensch, so klingt es aus seinem Munde existenzialistisch, jenes Wesen, das sein kann, was immer es will. Diese Ansicht ist nicht pessimistisch, möglicherweise auch nicht optimistisch, pragmatisch aber allemal - und, wie oben erwähnt, mit einer großen Portion Naivität versalzen.

Um also neuerlich auf Houellebecq zu sprechen zu kommen. Dies jedenfalls soll keine plumpe Belehrung zum Autor der Stunde, zum Autor dieses Zeitalters sein. Die Zustände lassen es jedoch lohnenswert erscheinen, ihn heranzuziehen. Die ihm zur Markenzeichen gewordene Hoffnungslosigkeit liebkost die Wirklichkeit, sie zeichnet das Empfinden dieser Tage leidenschaftslos, nüchtern und wirklichkeitsnah nach. Was er dokumentiert gleicht dem Eingang in die vollendete Entsolidarisierung, dem Portal in die Vereinzelung. Eine Hoffnungslosigkeit, die man an jeder Ecke wittert, nicht nur zwischen den Seiten des houellebecqschen Kosmos, sondern in unser aller alltäglichen Leben. Rücksichtnahme ist ein Fremdwort, ganze Generationen kennen diesen Ausdruck überhaupt nicht mehr. Das Ich ist der große Imperator unserer Tage. Die Entsolidarisierung wird politisch voran-, Randgruppen in die Enge getrieben, aber niemand fühlt sich angestachelt, dem unterdrückten Nächsten die Hand zu reichen. Jeder für sich, jeder für seine eigene Sache! Kümmern Sie sich um Ihren Scheiß!, ist der Schlachtruf dieser Zeit. Liegt ein Körper wimmernd auf der Straße, berührt es nur einige hilfsbereite Exoten, die Mehrheit blickt hinab und geht vorüber. Wir sind Organismen, die isoliert von anderen Organismen vor sich hinwursteln. Der Einzelne wird zum Alleingänger, Gruppen zu Alleinkämpfern, ganze Völkerscharen zu Alleingelassenen. Gemeinschaft ist ein Unwort aus romantischeren Zeitaltern.

Die Hoffnung ist uns freilich allen vertraut, sie verreckt bekanntlich zuletzt. Aber es gibt im Grunde kaum Hoffnung für die Hoffnung; sie ist ein irrationales Überbleibsel, bedeutungslos und verlorene Liebesmüh. Machen wir uns doch nichts mehr vor, wir, die wir jeden Tag darauf hoffen, dass der große Zusammenschluss der Unterdrückten und Benachteiligten stattfindet. Er wird nicht stattfinden, er wartet in dieser Zukunft nicht auf uns, die Ellenbogenapologeten haben ganze Arbeit geleistet, sie haben dafür gesorgt, dass kein Gemeinschaftsgefühl aus Spontanität heraus entstehen kann. Sie haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, sodass wir jeden Ansatz von Fraternisierung wie einen Angriff auf unser Ego bewerten. Houellebecq hat das erkannt, er kritisiert dies zwar nicht ausdrücklich, man darf sogar vermuten, dass er es befürwortet, aber er spricht deutlich wie sonst niemand aus, dass es keine Hoffnung gibt.

Nochmals, machen wir uns nichts vor. Die Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen auf Erden, sie könnte seit Jahrzehnten auf der politischen Agenda Platz gefunden haben, könnte eigentlich als erreicht abgehakt und damit schon wieder von der Agenda entfernt worden sein. Die Welt sättigte alle Menschen, wenn nur alle Menschen wollten, dass jedem Sattheit zuteil würde. Geschehen ist kaum etwas, in Afrika wird weiterhin gehungert, in Asien und Südamerika genauso, in den Industrienationen wird der Hunger ebenfalls wieder für Unterschichten salonfähig. Die materielle Grundlage allen Seins, könnte als Frage der Weltpolitik verschwunden sein. Ist sie aber nicht, wird sie auch nicht! Seit Jahrzehnten wartet man auf Verbrüderung, seit Jahrzehnten passiert außer ein Paar Gewissensbesänftigungen in Form von mickrigen Almosen nichts. Nein, machen wir uns nichts vor, die Hoffnung ist ein trostloses Geschäft, sie zerschlägt sich in dieser Welt fortlaufend; erfüllte Hoffnung ist rarer wie Goldvorkommen. Damit ringt die Menschheit ohnehin seit Jahrtausenden, immer hoffend, der Kampf ums Dasein könnte, wenn schon nicht beseitigt, so doch gelindert werden. Erst sei kurzer Zeit wäre diese Hoffnung zu befriedigen, man könnte den Wunsch restlos erfüllen, wenn es denn ein Wunsch aller Menschen wäre - erfüllt hat sich jedoch nichts.

Houellebecq spendet keine Hoffnung, weil es keine Hoffnung gibt. Nicht mehr gibt, nicht mehr in objektiver Form jedenfalls. Und weil es sie nicht mehr gibt, weil alle in einem Zustand der Hoffnungslosigkeit harren, enden seine Romane in einer tristen Nachwelt, einem mutterseelenalleinen Morgen. Das bedeutet nicht, dass die Utopie aussterben soll, auf seine Weise ist auch Houellebecq Utopist, wenn er sich für ein Arrangement der Menschen mit der Genetik ausspricht. Dieser Utopie muß man allerdings nicht folgen, auch wenn zu befürchten steht, dass die Menschheit in ihrer Hoffnungslosigkeit genau zu diesem stillen Absegnen genetischer Zukunftspläne gelangen wird, genauso kommentar- und kritiklos, wie sie noch jede Schlachtbank bestiegen hat. Gerade weil die Hoffnung das enttäuschte Kind unserer Zeit ist, ist Utopie notwendig. Sie ist ein Halt, in Vorstellungen gegossener Silberstreif. Nicht Hoffnung direkt, denn Utopisten wissen von der Hoffnungslosigkeit ihres Strebens. Dass die Menschen utopistische Ideen heute ablehnen, spottend sagen, dies oder jenes sei ja utopisch, zeigt auf, wie wenig Hoffnung verblieben ist. Was denjenigen, der noch utopistische Vorstellungen hat, und seien die auch nur zart und wenig ausgereift, von denjenigen unterscheidet, die glauben, die Epochen der Utopie seien vorüber, worauf sie sich pragmatisch in die Schafsherde einreihen, ist dieses kleine Flämmchen an Hoffnung auf Hoffnung, dieser winzige Silberstreif. Derjenige, der kopfschüttelnd danebensteht, wenn Houellebecq zur Zukunft lädt, hofft in gewisser Weise noch dezent, hofft still schreiend, hofft, dass nicht alles so dramatisch kommt, wie es uns dieser Autor weismachen will.

Der größte Teil der Leserschaft allerdings, wird anerkennend nicken, seine Stilistik loben, die aufregende Visionskraft analysieren, aber nie und nimmer ungläubig mit dem Kopf schütteln. Dieser Umstand wiederum raubt einem jede Hoffnung. Man fühlt sich ins Fatalistische gezogen, ob man will oder nicht. Man merkt, dass das starre Korsett, das uns Politik und Wirtschaft, die Politik im Namen der Wirtschaft, angelegt hat, keine Luft mehr beläßt. Man erkennt, dass es mit jedem Schritt Richtung zentralisierter Wirtschaftsallmacht, Abbau von Rechten, Anbau von Pflichten, Zerstörung von Sicherheiten, der Hoffnung an den Kragen geht. Sie krepiert nicht zuletzt, sie geht ein, damit an ihrer Stelle etwas Neues entstehen kann, ein Surrogat, etwas, das so riecht wie Hoffnung. Irgendwann hofft der Mensch dann, für Unternehmen Sonstwie funktionell zu sein; hofft er, keinen zur Last zu fallen, weil er erkältet ist. Es ist die Hoffnung des Minderwertigkeitskomplexes. Hoffentlich falle ich nicht aus den Rahmen! Hoffentlich habe ich Wert! Hoffentlich erkennt man mir Existenzrecht an! Es ist die ersatzweise Hoffnung in einem schmalen vorgesteckten Rahmen, Hoffnung der Beengtheit, eine schüchterne Hoffnung, weil sie sich über die Mauern und Zäune nicht zu siedeln traut. Dieses Surrogat stirbt zuletzt, die Hoffnung selbst verendet aber lange vorher. Hoffnung nährt Freiheit, wenn eine Ersatzhoffnung keine freiheitlichen Denkmuster außerhalb des Rahmen zuläßt, kann sie auch keine Hoffnung sein.

10 Kommentare:

mo 6. November 2009 um 03:56  

hallo herr De Lapuente,

wennn Sie über houellebecq schreiben...

"Die Zustände lassen es jedoch lohnenswert erscheinen, ihn heranzuziehen. Die ihm zur Markenzeichen gewordene Hoffnungslosigkeit liebkost die Wirklichkeit, sie zeichnet das Empfinden dieser Tage leidenschaftslos, nüchtern und wirklichkeitsnah nach. Was er dokumentiert gleicht dem Eingang in die vollendete Entsolidarisierung, dem Portal in die Vereinzelung."

...so trifft das meiner meinung nach den thematischen kern bei diesem autor. ich habe gerade nach dem lesen der "kampfzone" einen sehr ähnlichen eindruck empfunden; und das hat mich dann später - nach dem sog. amok von emsdetten - dazu gebracht, gerade in dem genannten punkt der hoffnungslosigkeit in völliger realer isolation quasi eine (fiktionale) dokumentation einiger elementarer grundlagen des heutigen "amoks" zu sehen - vielleicht für Sie und die leserInnen hier interessant:

ausweitung der kampfzone - fragen und anmerkungen zum amok neuen typs

(...) "bei der frage danach, woher denn nun dieser deutlich ausgesprochene allgemeine "hass auf menschen" bei den amoktätern stammt, kam mir bei betrachtung des briefes von sebastian b. sehr schnell ein buch in den sinn, dem ich gleichfalls die bezeichnung "dystopie" geben würde - ausweitung der kampfzone von michel houellebecq war ende der 1990er und rund um die jahrhundertwende in mehreren europäischen ländern ein bestseller, was ich bei diesem buch nach wie vor bemerkenswert finde und mir als einleuchtendste erklärung scheint, dass der autor hier kollektive tiefenströmungen sehr unguter art angesprochen hat - und das ist etwas, was ich jetzt jenseits aller formalen literatur-, sprachkritik usw. näher unter die lupe nehmen möchte.

der roman enthält letztlich viele themen, die auch hier im blog dominant sind: es ist erstens - in seiner hoffnungslosigkeit, seinem zynismus und seiner beschreibung schwerer beziehungsstörungen - ein echtes stück fiktionale borderline-literatur; es ist zweitens - ohne es jemals auszusprechen - ein bericht über allgemein verbreitete autistische züge im sozialen leben; es ist drittens eine - wenngleich ungenaue und inkonsequente - kritik an orthodoxer psychiatrie und psychoanalyse (die hier aber auch v.a. deswegen abgelehnt werden, weil der namenlose ich-erzähler eigentlich nicht wirklich wissen will, was mit ihm passiert); es macht viertens eine aufschlußreiche, konsequente und konkretistische gleichsetzung von sex = liebe auf; enthält fünftens eine fast schon geniale beschreibung des objektivistischen modus´ in funktion - und legt, damit zum letzten punkt, mit der aufdeckung einer bedrohlichen und tödlichen allgegenwärtigen lieblosigkeit meiner meinung auch die eigentliche basis (nicht nur) für den amok unserer tage frei." (...)


da es houellebecq meiner meinung nach durchaus schafft, eine art vivisektion an der zusehends ge- und zerstörteren sozialen struktur des westlichen gesellschaften exemplarisch durchzuführen, ist er gerade wg. seiner - auch durchaus zynischen - hoffnungslosigkeit als angemessene literatur "zur zeit" zu empfehlen. in diesem sinne vielen dank für Ihren beitrag!

Peinhard 6. November 2009 um 10:04  

Was in unseren Gesellschaften als 'Individualismus' immer noch weitestgehend positiv besetzt ist, ist im Kern nichts anderes mehr als ein Massen-Solipsismus. Bei Günther Anders lässt sich einiges dazu finden, aber auch zum Gegenstück, der 'Antiquiertheitheit der Scham' beispielsweise.

Denn im Schutz einer gefühlten Anonymität entblösst sich der Mensch wiederum auf eine ebenfalls ungekannte Weise vor 'Wildfremden'. Wobei die Anonymität auf 'Empfängerseite' entscheidender zu sein scheint als die des 'Senders'. Und was da gesendet wird eigentlich immer nur das Bedürfnis nach 'Liebe' bzw 'Geliebt-Werden' ist, verbunden mit der Bitte um Absolution der eigenen Schwächen - 'Seht, diese Macken habe ich alle, aber ihr habt mich doch trotzdem lieb...?' - so rufen es nicht nur Prominente sondern gerade auch Otto und Lieschen Müller in die Welt.

Der Begriff 'Beichte' ist da sicher kein Fehlgriff - und eben deren Verlust als Institution wird einem ketzerischen Diktum zufolge ja auch als Grundlage für das Florieren einer ganzen 'Psycho-Industrie' genannt. Der 'Therapeut' springt ein wenn das anonyme Beichtwesen versagt, und beide zusammen ersetzen zunehmend das ursprünglich 'Zwischenmenschliche'.

Die 'Hoffnung' wiederum besteht darin, dass es diesen Impuls trotz allem immer noch gibt...

Michael 6. November 2009 um 12:01  

@Roberto

Lieber Roberto, Danke! Jedes weitere Wort zu Deinen Betrachtungen fände ich überflüßig.

„...dass das starre Korsett, das uns Politik und Wirtschaft, die Politik im Namen der Wirtschaft, angelegt hat, keine Luft mehr beläßt.“
Genau darin sehe ich eine große Gefahr. Im Kampf mit dem Erstickungstod könnte es nämlich eine letzte Phase der Agonie geben, in der, aller Anpassung und Gehirnwäsche zum Trotz, ein Todgeweihter nur noch aus Erhaltungstrieb handelnd und von wilden und unkontrollierbaren Konvulsionen geschüttelt, alles in seiner Reichweite befindliche, niederschlägt.
Mein "Surrogat" ist somit lediglich die Vorstellung, „das starre Korsett“ würde von Meisterhand angefertigt und ließe demzufolge hinreichend Luft zur Verfügung, auch bei unsachgemäßem Gebrauch. Allerdings finde ich keine Argumente, die den Begriff „Meisterhand“ rechtfertigen könnten und eine Antwort auf die Frage „Was wäre besser?“ finde ich ebenso wenig.
Positiv denkend, hätte ich Grund zur Freude: Ich bin kein Utopist...

Peinhard 6. November 2009 um 13:00  

"Mein "Surrogat" ist somit lediglich die Vorstellung, „das starre Korsett“ würde von Meisterhand angefertigt und ließe demzufolge hinreichend Luft zur Verfügung, auch bei unsachgemäßem Gebrauch. Allerdings finde ich keine Argumente, die den Begriff „Meisterhand“ rechtfertigen könnten und eine Antwort auf die Frage „Was wäre besser?“ finde ich ebenso wenig."

Keine 'Meisterhand' kann diesem Korsett noch Luft verschaffen, und die Antwort auf die aufgeworfene Frage ist somit eine, die wir finden müssen - wenn uns diese Luft nicht immer weiter ausgehen soll. Die stofflich-produktiven Voraussetzungen waren vermutlich selten besser - und die gesellschaftlichen selten schlechter.

Peinhard 6. November 2009 um 13:28  

Aktuell zum Thema Amok:

"US-Armeepsychiater läuft Amok vor Irak-Einsatz

Wenige Stunden vor dem Amoklauf wurde der Täter noch bei offenbar guter Laune in einem Supermarkt gefilmt: Ein US-Militärpsychiater hat auf dem Militärstützpunkt Fort Hood in Texas 13 Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Er selbst überlebte. Amerika steht unter Schock." Quelle

Die Ironie dabei - dass es sich gerade um einen Psychiater handelt - macht es nicht lustiger...

carlo 6. November 2009 um 18:00  

@Peinhard
...Die stofflich-produktiven Voraussetzungen waren vermutlich selten besser - und die gesellschaftlichen selten schlechter.(Zitat)

Genau auf den Punkt gebracht! Die klassenbewußte Elite verschanzt sich in exclusiven Trutzburgen, rechtfertigt sich im Zirkelschluß vor sich selbst mit göttlicher Vorbestimmung.
IMHO...die Einübung des Ungehorsams wird Pflicht!

persiana-451 7. November 2009 um 11:21  

Die Gesellschaft leidet außerdem unter einer Art kollektivem Stockholm-Syndrom: Wir werden unserer Freiheiten und unseres Wohlstands beraubt, und sind dann noch dankbar, dass wir überhaupt noch am Leben gelassen werden.

Wer sich, darüber aufregt, dass bei den "Tafeln" Lebensmitteln angeliefert werden, die aussehen, als seien sie zwei Wochen vorher schon verdorben gewesen, darf sich sagen lassen, dass man noch froh sein kann, und dass "in anderen Ländern" alles noch viel schlimmer wäre.

Da soll mal einer sagen, dass Leute die verhungern oder, in ihren Wohnungen oder auf Müllhalden erfrieren, oder auch auf einer Hochzeitsfeier zur Hölle gebombt werden, nicht doch noch zu irgendwas gut wären: dienen sie doch hierzulande als erhobener Zeigefinger, und willig und demütig beugen wir unser Haupt, und fühlen uns auch noch recht edelmütig, weil wir ja so dankbar sind dafür, dass unser Land derzeit in ein Armenhaus verwandelt wird, anstatt darüber nachzudenken, wo die Ursache für diese Misstände liegen.

landbewohner 7. November 2009 um 13:47  

zu persiana
treffend erkannt - und mich verwundert immer wieder, wie oft die argumente mit den schlimmeren zuständen andernorts auch von "linken" kommen.

flavo 8. November 2009 um 19:53  

Er ist ein Autor, der manches Implizite herausgräbt und die manigfaltigen Perversionen des Lebens jedem zur Erleichterung des Gewissens zugänglich macht. Der Biedere weiß nun, dass nicht nur er am liebsten vor dem PC wichst, insgeheim in martialischen Phantasien schwelgt und es gern sieht, wenn souveräne Gleichgültigkeit und Aggression im Öffentlichen zum Vollzug kommt.
Der franz. Autor ist ein Besänftiger, der die Menschen beruhigt. Er ist der Experte unter den Literaten, der die Zeitdiagnose erstellt und zur gläubigen Anverwandlung unterbreitet. Es ist nunmehr eh, wie es ist. Und noch nicht ganz so arg.
Der Franz. Autor gibt nur was vor, damit die sinnlose Existenz etwas viszerale Erregung vollziehen kann an der Steigerung des allgemeinen Gewalt- und brutalitätsniveaus.
Aber was erreicht der Lesende? Das verblendete Exempel kommt zur interpassiven Befriedigung, zur vermassten Ersatzbefriedigung. Ein billiger Abklatsch von Authentizität spült ihm die Hirnwindungen warm und den Speichel über die Lippen. Die Figuren der Bücher vollziehen die Befriedigung anstatt der Lesenden. Und letztere merken es nicht. Können gar nichts mehr merken, sind authentisch tot, sind an Geredeteile gekoppelte Erregungsbündel. Weil die Eigenunterdrückung immer irgendwo Aggression erzeugt, die schwelend west, gießt der franz. Autor mit seinen Buchstaben Benzin auf glühende Kohlen. Die kurze Feuersbrunst des seelischen Selbstspürens versperrt die Sicht auf das Urteil über eine makabre Ergötzung an der Perversion, an der Gewalt und dem Zorn.

Anonym 12. November 2009 um 21:46  

bester roberto,

ich mag ihnen ja in vielem zustimmen, doch ihre behauptung das houellebecq einem die hoffnung nimmt, nicht ganz.

zugegeben, seine romane enden meist tragisch, seine protagonisten befinden sich entweder in der gleichen wie wir, oder in einer logisch weitergesponnenen, und das ist nicht grade eine die hoffnung weckt.

nach "plattform" kam "die möglichkeit einer insel", eine vernichtendes statement für jeden humanisten.

dennoch beschreibt houellebecq grade in "plattform" das leben eines abgeklärten menschen, der zu sich selber und somit zu seinen mitmenschen "zurückfindet", oder anders ausgedrückt, er zeigt auf was aus seiner sich das leben lebenswert machen kann.
da all dies am ende ausgelöscht wird, kann ich verstehen das diese wendung "hoffnung" zerstört.

mir ging es zwar ähnlich, doch kritisiert er meiner meinung nach speziell all diejenigen und all die tabu's die menschen unglücklich machen können.
vor allem zeigt er, das menschen sogar unter den bedingungen ein gewisses glück erlangen können, unter den wir leben.

für mich ist houellebecq eher ein romantiker, der jedoch zu abgeklärt ist, und halte seine romane für extrem lesenswert, speziell da er nicht davon ablässt den leser mit der "realität" zu konfrontieren die bitteschön zu ändern ist, denn ansonsten landen einige wenige vielleicht bei so was wie seinem letzten roman oder ähnlichem.

lg,
e

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