Zu viel DDR?

Freitag, 14. März 2008

Immer dann, wenn von staatlicher Bevormundung die Rede ist, ist man neuerdings schnell mit dem Schreckgespenst der DDR zur Hand. Allerdings, und diese Einschränkung ist bedeutsam, beschränkt sich die Kritik an der Bevormundung seitens des Staates auf den sozialen und wirtschaftlichen Bereich, auf jenen Sektor, der die Teilhabe aller am Gemeinwohl gewährleisten soll. Die Verkündigung einer vermeintlichen DDRisierung findet nur dort statt, wo von höherem Arbeitslosengeld, längeren Bezugsdauern, kürzeren Arbeitszeiten, höheren Löhnen und dergleichen mehr geschwärmt wird. Hier soll nicht abgehandelt werden, ob die DDR als leuchtendes Beispiel eines Bevormundungsstaates sinnvoll erscheint, wenn auch erwähnt werden muß, dass die Bevormundung im westlichen Teil Deutschlands sicher nicht geringer war, wenngleich sie eine andere Form, zuweilen ein liberaleres Deckmäntelchen präsentierte und weiterhin präsentiert. Eine andere Einsicht drängt sich in diesen Tagen auf: In jenen Bereichen des alltäglichen Lebens, in denen die Ökonomie vordergründig keine Rolle spielt - hintergründig spielt die Ökonomie in jedem Bereich die maßgebende Rolle -, ist es mit den Vorwürfen, wonach das Wesen der DDR über diesem Lande schwebe, vorbei. Schlimmer noch: Wo sich festgefahrene, traditionell zementierte, religiös motivierte, evolutionistisch eingespielte Sichtweisen auftun, da wird auch von Seiten der Liberalen nicht mehr die Freiheit von der staatlichen Bevormundung formuliert. Oder anders gesagt: Kann man denn ernsthaft glauben, dass die FDP-Liberalen das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Inzestverbot) kritisieren würde? Glaubt man denn, dass in diesem speziellem Falle Westerwelle auftritt und mit bedrückter Miene verkündet, dass "wir zu viel DDR" in diese Berliner Republik hinübergerettet haben?

So entschied sich also das Bundesverfassungsgericht für althergebrachte Moral, verneinte die sexuelle Selbstbestimmung und argumentierte sich um Kopf und Kragen. In der Begründung heißt es nämlich, dass solche Bindungen Familie und Gesellschaft schaden können, außerdem seien Kinder aus inzestuösen Verhältnissen besonders krankheitsgefährdet und da es zu "Rollenüberschneidungen" käme, würde dies das im Grundgesetz geschützte Bild der Familie zerstören. Grundsätzlich ist die Entscheidung also auf moralische Wertvorstellungen geschultert, auch wenn ein Hinweis auf mögliche Erbschäden mit in die Urteilsfindung hineinfloß. Aber sagt uns das Bundesverfassungsgesetz damit nicht auch, wenngleich indirekt, dass ein behindertes Dasein zu vermeiden wäre? Hat behindertes Leben unterbunden zu werden, ist damit weniger wertvoll? Wenn dem so ist, weshalb verbietet man dann Spätgebärenden nicht die Niederkunft bzw. warum sanktioniert man den Beischlag älterer Frauen nicht grundsätzlich? Weshalb dürfen dann behinderte oder mit Erbkrankheiten belastete Menschen Kinder zeugen und dieses angeprangerte Risiko tragen? Bei all der Diskussion muß auch erwähnt werden, dass diese klassische Theorie - wonach der Inzest die "Volksgesundheit" gefährde, weil er Erbschäden verursache - wissenschaftlich nicht verifiziert ist. Da mag mancher Wissenschaftler mit Ressentiments an die Sache herangegangen sein, um seine persönliche Aversion in ein wissenschaftliches Fundament zu gießen...

Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieses Gerichtsurteil auf "freiwilligen Inzest" bezieht. Also auf jene Form, die ohne Zwang und Bedrängen vollzogen wird; die beide Partner bejahen. Hier wurde nicht der Inzest abgehandelt, wie man ihn in einigen Familien findet, in denen der Vater ein erpreßtes, erzwungenes, mit Gewalt erwirktes sexuelles Verhältnis zu seiner eigenen Tochter unterhält. Auf eine traditionelle Moral, deren wohl ein evolutionistisches Motiv innewohnt, verbaut man mündigen Erwachsenen das sexuelle Begehren. Denn sanktioniert wird nicht, weil man die Frucht dieser Liebe als Beweis aufführen kann, sondern alleine der Beischlaf ist schon strafbar. Aber nur dieser. Schmusen, Oral- und Analverkehr und jede sexuelle Praktik, die nicht erfordert, dass das männliche Glied in die weibliche Scheide eingeführt wird, dürfen straffrei vollzogen werden. Ja, geschwisterliche Liebe dürfte sogar durch künstliche Befruchtung zu Kindern kommen, nur nicht durch den natürlichen Beischlaf. Dieser ist aber erlaubt, wenn es sich um Stiefgeschwister oder um gleichgeschlechtliche Geschwister handelt.
In einem konkreten Fall einer solchen Liebe ist der männliche Partner zwar sterilisiert, kann also keine Kinder mehr zeugen, wird aber dennoch bestraft, wenn er mit seiner Schwester schläft. Einige Gefängnisaufenthalte hat er bereits hinter sich, nur weil er liebt, weil er sexuell begehrt. Juristisch gesprochen: Am Tage seiner Haftentlassung macht er sich wahrscheinlich schon wieder strafbar - ein unbelehrbarer Wiederholungstäter.
Freilich mag das in den meisten Fällen nicht beweisbar sein. Aber aus der Ferne bleibt das Schlafzimmer ein suspekter Tatort, ein Ort der Sünde. Die Liebe der beiden Partner bleibt aus jeglichem gerichtlichen Sanktionieren ausgeschlossen. Es ist eine verbotene Liebe, die vor Gericht nicht mal angemahnt, sondern gleich arrogant ignoriert wird. Und die Kinder, die bei anderen Paaren als Maßstab der Liebe gelten, werden bei inzestuösen Liebesbeziehungen als Schande empfunden und zum corpus delicti ernannt.
Im europäischen Ausland ist Inzest mittlerweile straffrei. Selbst in der Türkei wird niemand mehr eingesperrt, weil er seine Schwester oder seinen Bruder sexuell begehrt. Während man in dieser Frage moralisch rückständig bleibt, fanden hierzulande andere Formen ihre sexuelle Emanzipation. Homosexualität, Ehebruch und "Unzucht mit Tieren" fallen nicht mehr in den Handlungsbereich von Gerichten, sondern sind zur privaten Angelegenheit geworden. In diesen Fällen ist das Schlafzimmer nicht mehr Ort öffentlichen Interesses.

Hier käme kaum ein Liberaler auf die Idee, diese unerträgliche Bevormundung anzumahnen. Die Liebe zwischen Geschwistern ist sicher keine nennenswerte Gesellschaftsgröße - ein Lebensentwurf für Massen wird eine inzestuöse Bindung wohl nie werden -, doch betrifft sie Menschen, die so ihr Glück verwirklichen wollten. Wer ist der Staat, dass er glaubt, solche Lebensformen sanktionieren zu müssen? Kein Argument ist geltend. Nicht die althergebrachte Moral, kein religiöses Dogma und ebensowenig die Erbschäden-Theorie. Denn selbst wenn letztere wahr ist, bleibt den mündigen Sexualpartnern die Freiheit, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden. Wenn man es überspitzt formulieren will, dann beinhaltet die menschliche Würde eben auch, dass man sich für einen steinigen Weg, für das "Unglück" entscheiden darf. Da wir in diesem Staate gerne so tun, als wäre jedes Leben gleichwertig, dürfte eine gerichtliche Begründung, die solche "Auswüchse" verhindern will, als hinfällig betrachtet werden.

Kurzum: In diesem Falle spricht niemand von einer DDR, die auf dem Vormarsch ist. Nicht weil in der DDR Inzest erlaubt gewesen wäre, sondern weil sich die "DDR" in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeschlichen hat, um als Metapher für einen Bevormundungsstaat zu stehen. Liberal zu sein bedeutet in diesem Lande, seinen Freiheitsdrang ausschließlich auf dem wirtschaftlichen Sektor auszuleben. Dort wo der Staat bequem ist, wo er traditionelle Werte vertritt, die den ganzen Apparat am Leben halten, wo Emanzipation unterdrückt wird, da wird der Liberale zum staatstreuen Büttel.

7 Kommentare:

Anonym 14. März 2008 um 12:51  

"Liberal zu sein bedeutet in diesem Lande, seinen Freiheitsdrang ausschließlich auf den wirtschaftlichen Sektor auszuleben. Dort wo der Staat bequem ist, wo er traditionelle Werte vertritt, die den ganzen Apparat am Leben halten, wo Emanzipation unterdrückt wird, da wird der Liberale zu staatstreuen Büttel."

Touché :-)
Auch das Proudhon-Zitat ist übrigens klasse!

Dominik Hennig 14. März 2008 um 13:06  

Wobei ich zur (teilweisen) Ehrenrettung manches Blaugelb-Bourgeoisen sagen muß, daß meine Freunde von den bayerischen JuLis (FDP-Mitglied bin ich, auch aus den von Dir beschriebenen Gründen, schon seit Jahr und Tag nicht mehr) sich für eine Aufhebung des Inzest-Verbotes starkmachen. Für Libertäre ist das ja eh ein klarer Fall von "victimless crime".

Aber es stimmt schon: Der Liberalismus hat hierzulande schon vor über 150 Jahren aufgehört, 1. radikal, 2. links, 3. staatsfeindlich und 4. pazifistisch zu sein. Ergo: er hat aufgehört liberal zu sein und degenerierte zu einer intellektuell schwachbrüstigen Schwundstufe von Konservatismus.

B. Rösch 14. März 2008 um 19:50  

Die FDP ist liberal, ordoliberal.
Als ein Vertreter dieser Richtung, bin ich trotzdem gegen den Inzest-Paragrafen, gegen Krieg, gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften, gegen Kirchen als Körperschaften u.a.

Auch wenn man es lieber noch etwas libertärer hätte, Dominik, muss man sich ja nicht gleich bei den Sozialisten anbiedern. Die sind nämlich nur so lange anarchistisch-pazifistisch-libertär, wie sie in der Opposition sind und drehen sich, einmal an der Macht, um 180°.

ad sinistram 14. März 2008 um 22:02  

So auf Benjamins Blog gefunden: "Ich hoffe, dass sein ArGe-Sachbearbeiter gerade auch Maischberger schaut und dann 1. jeden Cent, den dieser Typ als Honorar von der ARD bekommt, auf das ALG anrechnet und 2. ihm glaubt, was er da sagt und ihm die Leistungen wegen seiner Verweigerungshaltung kürzt oder am besten gleich ganz streicht."

Ich weiß nicht, wie der gemeine Sozialist ist. Ob er nun zur Repression neigt, wenn er das Ruder in der Hand hätte. Alleine daran stosse ich mich, wenn man von einem Kollektiv spricht, wenn man vom Sozialisten redet, wie er gemeinhin so ist. Sollte der Liberalismus nicht das Individuum begreifen? Ist er so nicht konzipiert? Wenn ja, frage ich mich, weshalb von "den Sozialisten" gesprochen wird, die ja scheinbar alle zur gleichen Radikalität neigen.

Aber pazifistisch und liberal ist am obigen Satz eigentlich nichts. Es ist das typische Auskotzen gegenüber denen, die in dieser Gesellschaft in der schwächeren Position sind. Diese Form des Liberalismus - des FDP-Liberalismus - ist eine offene, nicht mal verkappte Form des Konservatismus. Alleine aus diesem Grunde ist die FDP die ewige Hure der deutschen Politik, die sich mit jedem Freier, gleich ob rot oder schwarz, zu arrangieren weiß.

Anonym 15. März 2008 um 02:56  

@Proudhon

"Taxieren und versteuern" - da sind nationale Sozialisten wie Sie ja immer mit lautstarkem Gebrüll und Geifer an vorderster Front mit dabei.

B. Rösch 15. März 2008 um 11:41  

@Roberto: Ich hoffe Du hast ein Post auch zu Ende gelesen. Es geht nämlich so weiter:
"Neben den "Liechtensteinern" sind es diese Menschen, die Deutschland kaputt machen. Ich verurteile dabei übrigens nicht die direkt Arbeitsverweigerung, sondern dass er andere, die das Geld selbst gut gebrauchen könnten, für seinen Lebensunterhalt aufkommen läßt."

Ich möchte diesem Christo Großmann nichts wegnehmen. Ich möchte nur nicht, dass er für seine Haltung auch noch mit staatlichen Zuwendungen belohnt wird.

Dominik Hennig 22. März 2008 um 18:22  

Einmal an der Macht wird jeder Mensch zum Tyrannen. Außer vielleicht ich. ;-)

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