Wer ohne Schuld ist ...

Montag, 15. Juli 2013

Ein kurzer Abriss zur alten, aber immer noch beliebten Partnerschaft zwischen Krankheit und Schuld.

Die Mainzer Universität befragt im Rahmen einer Studie Bürger, wie diese zum Thema "Selbstverschuldet erkrankt - Behandlung aus eigener Tasche bezahlen?" stehen. Dieses Verfahren findet Kritik. Mancher vermutet dahinter den Versuch einer weiteren Verschärfung der Entsolidarisierung im Gesundheitswesen. Mittlerweile scheint selbst der Rückgriff auf mittelalterliche Vorstellungswelten als Mittel zum Zweck recht zu sein.

Schon in "Auf die faule Haut" weise ich darauf hin, dass sich das etwas antiquierte Wort für Qual oder Leid, das Wörtchen "Pein" (englisch pain, spanisch pena, französisch peine) vom lateinischen poena, "der Schuld" ableitet. Ein Gepeinigter ist demnach der Wortherkunft nach jemand, der eine Schuld auf sich geladen hat.

Die Flagellanten wollten sich durch
Selbstgeißelung von der Sünde reinigen
und so die Pest ausrotten.
Knüpft man Krankheit an etwaige Schuldfragen, so zapft man direkt die Vorstellungswelt jener Chronisten an, die zum Beispiel den Pesterkrankten für einen Bestraften aufgrund schlechten Lebenswandels ansahen. Bis weit in die Neuzeit hielt sich diese Ansicht, wonach Krankheit immer auch die Strafe für ein Fehlverhalten im Leben war. Die Sünde und die Krankheit waren seit alters miteinander verbunden. Wer sich versündigte, den strafte die Schwindsucht. Was im Mittelalter noch Unwissenheit war, war später einfach nur der ignorante Sport einer calvinistisch abgerichteten und letztlich selbstgerechten Bourgeoisie.

In der Esoterik entblödet man sich bis heute nicht, dieses überholte Weltbild offensiv zu verfechten. Da spricht man ganz ungeniert von negativen Energien, die man im Laufe seines Lebens auf sich gezogen habe und die nun in den Krebs mündeten. Die Heilerin Catherine Ponder schreibt in einem ihrer Bücher: "Krankheit ist selbst verursacht! Krankheit wird durch falsche Gedanken, Einstellungen und Glaubenssätze ausgelöst, die den Körper tangieren und durchdringen und dabei die Lebenskraft drosseln. Neid, Hass und Angst - wenn solche Gefühle zur Gewohnheit werden, können sie organische Veränderungen und letztlich Krankheit auslösen."

Natürlich ist die Universität Mainz kein esoterischer Klub - und dass Krankheit nicht von der Sünde kommt, dürfte sie auch wissen. Gleichwohl bringt sie Schuld und Krankheit wieder zueinander, wenn auch auf etwas andere Weise als unsere Vorfahren. Die Medizin, die im Laufe vieler Jahrhunderte immer tiefer ins Wesen der Krankheit vordrang, hat sich irgendwann von dieser spröden Ethik gelöst, die meinte, sie müsse den moralischen Aspekt von Erregern oder unkontrollierbaren Zellveränderungen aufs Tapet bringen. Mit der Anhäufung und Dokumentation von Wissen war für diese Ethik der Schuldzuweisung kein Platz mehr.

Zu den historischen Errungenschaften der Medizin gehört primär die Heilung und Ausrottung vieler Krankheiten, die einst als unheilbar galten - sekundär ist es ihr Verdienst, dass sie die moralische Begutachtung von Kranken als wenig zielführenden Humbug enttarnte. Die ärztliche Verpflichtung, jeden helfen zu sollen, der medizinische Hilfe benötigt, dokumentiert nachhaltig diese Errungenschaft und unterstreicht, dass sich die Medizin als ein Betätigungsfeld falscher Moralvorstellungen historisch überholt hat. Medizin hat sich als ein mehr oder weniger ethisch neutraler Raum manifestiert. (Mit all seinen Nachteilen, als man ganz neutral dem Biologismus bestimmter politischer Gruppen attestierte.) Die Universität Mainz weicht mit ihrer Fragestellung diese Neutralität auf und baut dabei wie die mittelalterlichen "Moralisten der Krankheit" auf fadenscheinige Anschauungen.

Nur ein kurzer Einwurf: Über die Auswirkungen der Einschränkung der Kassenleistungen nach Maßgabe von Schuldaspekten, will ich hier so gut wie gar nicht spekulieren. Nur soviel: Ein französisches Sprichtwort sagt, dass die meisten Menschen an ihren Ärzten sterben, nicht an ihren Krankheiten. Dieser Spruch kann nur in einem Gesundheitswesen entstanden sein, das intakt war - wo die Schuld als Bestandteil der Anamnese auftaucht, da sterben Menschen wieder "ganz natürlich" an ihren Krankheiten, weil sie sich einen Arzt nicht mehr leisten können.

Die Uni Mainz weiß zwar, dass man wegen des Schielens auf die Frau des Nachbarn keine Krätze bekommt, meint aber mit "selbstverschuldet erkrankt" Patienten, die womöglich Risikosportler sind. Wie die Zeitgenossen von 1347 fehlerhaft Erklärungen herleiteten, so scheinen die Verantwortlichen der Studie ebenfalls falschen Herleitungen durch bloßen Augenschein aufgesessen zu sein. Denn tatsächlich ist es der Breitensport und nicht der Extremsport, der mehr medizinische Behandlungen nach sich zieht. Die Verantwortlichen der Umfrage kitzeln die üblichen Konnotationen der Bürger, suggerieren, es gehe um Fallschirmspringer oder Bergsteiger, um Randgruppen also. Sie ähneln dabei jenen, die einst im ungehörigen Leben vor Gott die Ursache von Krankheit vermuteten - das ungehörige Sporteln vor der Gesellschaft ist das zeitgemäße Pendant dazu.

Addiert man alle Patienten- und Risikogruppen all die Dicken und Raucher, die Herzpatienten, die trotzdem ein nervenaufreibendes Fußballspiel verfolgen, die Choleriker, die sich trotzdem aufregen, die Frauen, die trotzdem bei ihren gewalttätigen Männern bleiben, zusammen, so gibt es keine Kranken mehr, die unverschuldet krank wurden. Wer jetzt noch ohne Schuld ist, der werfe Steine. Die Uni Mainz schlägt die Etablierung der Schuld, die ethische Bewertung der Krankheit, als ein generelles Kriterium im Gesundheitswesen vor. Es geht nicht um Randgruppen, sondern führt direkt zu einer generellen Selbstbeteiligung bei allen Behandlungen.

Das was die Universität Mainz betreibt ist keine medizinische oder soziologische Studie, es ist unbewusste Mediävistik, ein Mittelalterjahrmarkt mit pseudoelitärer Attitude und einem Hauch calvinistischer Prädestinationslehre.


10 Kommentare:

zuvielnachdenker 15. Juli 2013 um 08:48  

Natürlich ist jeder selbst schuld.Im Mittelalter wars die brutralste Bande,der Klerus,die den Menschen Derartiges suggerierte.Heute läuft es über die Medien mittels "Studien" "Prognosen""Erhebungen" "Umfragen".Die Hetze ist doch etwas subtiler geworden.
Wie Du selbst weisst,Roberto,kann man mittels Sprache und Argumentation bzw. geschickter Verdrehungen eine klare Situation wunderbar ins Gegenteil verkehren.Der Täter ist dann ganz schnell Opfer,der Schuldige auf wundersame Weise plötzlich unschuldig,der Gesunde wird krank,der Dumme zum gefeierten Experten,der wirkliche Experte zum Idioten usw.
Seit Jahrhunderten erklärt man uns,wir wären für all unsere Probleme letztendlich selbst verantwortlich,wer die Macht hat,kann auch die
dementsprechenden Mittel einsetzen.
Schön zu lesender Beitrag zu einem interessanten Thema,danke.

Wolfgang Buck 15. Juli 2013 um 10:04  

Ein sehr schöner Artikel, der ein Thema anreißt, das mich schon seit Jahren fasziniert:
die eigentümliche Verquickung von "Freiheit", "Selbstverantwortung" und "calvinistischer Schuld und Sühne".
Das durchzieht unsere gesamte neoliberale Gesellschaft. Man denke nur an die "Hartzer-Hetze" oder an unseren Bundespräsidenten, der so unnachahmlich formuliert hat, dass: "Freiheit Sieger und Verlierer produziert. Und wer keine Verlierer will der wolle auch keine Freiheit".

Überhaupt finde ich es interessant, das sowohl Gauk wie auch Merkel im "aufgeklärten Sozialismus" aufgewachsene "Protestanten" sind. Zufall?

Anonym 15. Juli 2013 um 10:35  

...gesunde Menschen gibtz es nicht...es gibt nur welche, die noch nicht untersucht wurden...

Hartmut B. 15. Juli 2013 um 10:38  

Ein wunderbarer Artikel...... der mich zum Nachdenken veranlasst.....

später mehr...

Anonym 15. Juli 2013 um 10:46  

Ich würde allerdings auch ein Gegenbeispiel nennen: Ärzte ohne Grenzen leisten schon erstaunliches.

Sledgehammer 15. Juli 2013 um 11:56  

Nenne mir jemand Bereiche unserer (Solidar)gemeinschaft, die in "neolibertären" Zeiten nicht mit Sprengsätzen versehen werden, um tradierte Vorstellungen und Rechte, die sich vornehmlich im letzen Jahrhundert entwickelt haben bzw. erkämpft wurden , in Schutt und Asche zu legen?

Hier schleift man die Festung Familie, dort entsolidarisiert man Arbeitswelt, Gesundheitswesen oder Steuersystem durch hanebüchene Argumentation und pseudowissenschaftliche Unterfütterung.

Auf der anderen Seite fordern Politik, Kapital und Medien, bar jeder Scham, die Solidarität der Massen ein, die man denen gleichzeitig zunehmend auszureden
sucht und verwehrt.

Die tragende Idee: Die gnadenlose Härte des Raubtierkapitalismus für die Armen und die Segnungen des Sozialismus für das reiche Klientel.

Darüberhinaus lassen sich entsolidarisierte, lose Verbände bedeutend leichter instrumentalisieren und dirigieren.






Anonym 16. Juli 2013 um 08:28  

Hallo Roberto,
ich teile die Kritik an dem Fragebogen und finde gut, dass dies auch öffentlich geschieht. Eine Krankheit als selbstverschuldet zu bezeichnen ist äußerst problematisch.
Überhaupt werden in dem Bogen für mein Empfinden reichlich Plattitüden aneinandergereiht. Wissenschaft auf BILD-Niveau? Auch darüber mag sich jeder sein Urteil bilden.
Die Verbindung zu mittelalterlichem christlichem Denken finde ich interessant, aber trotzdem nicht überzeugend. Wenn die Entsolidarisierung der heutigen Zeit wirklich darin seine Wurzel hätte, würde ich erwarten, dass die christlich geprägten Milieus stärker als Treiber dieser Entwicklung auftreten würde. Das sehe ich aber so nicht. (Die FDP kann man z.B. getrost als Atheistenclub bezeichnen.)
Die christlichen Milieus treten hier m.E. eher als willige Helfer (bzw. nützliche Idioten) auf, so wie es auch in anderen historischen Zusammenhängen schon zu beobachten war.
Lobenswerte Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel.
MfG Thomas S.

Thomas S. 16. Juli 2013 um 08:32  

Hallo Roberto,
ich teile die Kritik an dem Fragebogen und finde gut, dass dies auch öffentlich geschieht. Eine Krankheit als selbstverschuldet zu bezeichnen ist äußerst problematisch.
Überhaupt werden in dem Bogen für mein Empfinden reichlich Plattitüden aneinandergereiht. Wissenschaft auf BILD-Niveau? Auch darüber mag sich jeder sein Urteil bilden.
Die Verbindung zu mittelalterlichem christlichem Denken finde ich interessant, aber trotzdem nicht überzeugend. Wenn die Entsolidarisierung der heutigen Zeit wirklich darin seine Wurzel hätte, würde ich erwarten, dass die christlich geprägten Milieus stärker als Treiber dieser Entwicklung auftreten würde. Das sehe ich aber so nicht. (Die FDP kann man z.B. getrost als Atheistenclub bezeichnen.)
Die christlichen Milieus treten hier m.E. eher als willige Helfer (bzw. nützliche Idioten) auf, so wie es auch in anderen historischen Zusammenhängen schon zu beobachten war.
Lobenswerte Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel.

flavo 16. Juli 2013 um 09:20  

Welche Hautfarbe hast du? fragt der Rassismus.
Nehmen wir diese Frage und fragen danach, welche Frage unserem Diskriminierungssystem entspricht.
Wie fähig bist du?
Der Neoliberalismus hat selbst mitgeholfen, Diskrimierungen abzubauen, die sich auf äußere Köpermerkmale bezogen haben, wie z.B. die Hautfarbe und das Geschlecht. Rassismus und Sexismus können wir mit dem Neoliberalismus bekämpfen.
Wie fähig bist du aber? ist die Frage, die wir im vermeintlich sich einstellenden Behagen im Markt gestellt bekommen. Wie fähig bist du!? Hier lebt noch eine Legitimität der Diskriminierung. Ist dieser fähiger als jener, so erscheint dies als legitimer Grund, den diesen zu diskriminieren: du bekommst es nicht! Du bekommst den Arbeitsplatz nicht, du bekommst diese oder jene Stelle nicht, du bekommst auch das Geld nicht. Jener ist fähiger! Er ist der Fähigste, du hingegen bist nicht so fähig! Diese Ideologie der Kompetenz, auch Capabilismus kann getrost als DAS Diskriminierungsregime unserer Zeit betrachtet werden. Zweifellos herrschen Sexismus, Rassismus weiter, und natürlich auch Klassismus, mehr denn je vermutlich in unserer klassenlosen Gesellschaft. Jedoch gab es schon Schritte der Aufklärung und Emanzipation, sodass es zumindest in der Theorie und im Recht als unhintergehbar betrachtet werden kann, jemand aufgrund seiner Hautfarbe zu benachteiligen. Nicht so jedoch aufgrund seiner Fähigkeiten. Ein Unternehmen vollzieht den Zeitgeist zu vollen Gänze, wenn es 100e diskriminiert, wenn es nur einen von ihnen wählt für eine Aufgabe. Wo soll denn der Unterschied liegen zwischen: du bist nicht weiß und du bist nicht fähig. Gemäß der Aktualwirkkraft einer jeden Ideologie erscheint uns freilich letztere Aussage als natürlicher. Haben wir es hier etwa mit der letzten großen Metaphysik zu tun? Eine Metaphysik der Fähigkeiten? Rassismus, Sexismus, Klassismus, alle als Hirngespinste entziffert, große Erzählungen, Ideologien, aber hier, im Capabilismus haben wir auf den Granit der Wahrheit gebissen. Lachenden Geistes nähren sich die capabilistischen Diskriminierungsakte aus einer Selbstverständlichkeit, an der die meisten Fragen abprallen. Natürlich gibt es ein Set an argumentativen Legitimierungsgehilfen: die knappen Ressourcen, die knappe Zeit, die unterschiedlichen Leistungen, der Hausverstand gar, die Sympathie, warum nicht, usw.
Auch die Krankheit reiht sich in das Regime des Capabilismus. Aber es ist auch kein Zauber: der Neoliberalismus will den Staat austrocknen, da jede Austrocknung eines Staatsastes als Abgabenverringerung betrachtet wird. So wird auch an der Front der Krankheiten gearbeitet und selektiert danach, welche man abschaffen kann und welche nicht bzw. wie trocken man den Sektor legen kann.
So gibt es dann legitime Capabilitätsminderungen durch Krankheit und solche, die dies nicht sind. Wer erkrankt an präventionsfähigen Erkrankungen kann offen diskriminiert werden in seinem durch die Erkrankung geprägten Fähigkeitenbündel. Die Ideologie der Kompetenz ist das Koordinatensystem der Diskriminierung.

Hartmut B. 16. Juli 2013 um 15:57  

nach über 30 Stunden komme ich auf meine Zusage zurück, etwas mehr zu berichten.

mein gesamtes Leben ist von vielen Krankheiten gezeichnet. Hier kann und will ich die im einzelnen nicht aufzählen (ich bitte um Verständnis)
Die Verbindung zwischen Krankheit und Schuld ist oft in mein Bewußtsein gedrungen. Noch heute leide ich häufig darunter.
Schon als Jugendlicher las ich Schriften von Alexaner Mitscherlich. In meinem späteren Leben bin ich vielen Ärzten begegnet - mit einigen war ich über Jahre befreundet. - Die Gespräche über Medizin hielten sich in Grenzen. Wesentlich waren in der Regel Gespräche über das Tagesgeschehen und die gegenwärtigen Sitten. Hoch im Kurs standen Essen und Trinken. - Das waren unsere Lieblingsthemen.

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