Auf krummen Rücken

Dienstag, 2. Juli 2013

Noch vor zwei Monaten haben die offiziellen Kanäle des Zeitgeistes Entwarnung gegeben: Aufstocker seien selten - und es würden auch immer weniger. Aufschwung und so. Arbeitsmarkt intakt et cetera. "Nur" sagenhafte 1,3 Millionen Menschen stockten demnach auf. Man dürfe sich keine Legionen von Niedriglöhnern vorstellen, gab man sich selbstbewusst.

Dieselben Kanäle berichten nun zähneknirschend, dass es in Deutschland etwa 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen gibt, die eigentlich eine Berechtigung auf Arbeitslosengeld II hätten, die aber ihrem Anspruch nicht nachgingen. Unwissenheit, Scham und eine möglicherweise nur geringe Aufstockungssumme seien die Gründe, meint das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Wahrscheinlich kommt noch hinzu, dass sich manche Hungerlöhner die miesen Touren seitens der Jobcenter nicht antun wollen.

So ist das im Deutschland der Kanzlerin. Alles was nicht statistisch erfasst ist, existiert nicht. Potenzielle Aufstocker zählen wir nicht nur nicht, wir erklären sie gleich noch zum Anzeichen einer gesunden Prosperität. Denn wer nichts einfordert, dem geht es offenbar ganz gut. Eingeschüchterte Menschen, die von der Arbeit, die sie tun, nicht leben können, werden so auch noch zum Aushängeschild einer Arbeitsmarktpolitik, der man im Abschwung der Menschenwürde unsinnigerweise einen Aufschwung attestiert.

Diese wirtschaftlich gesunden Zeiten bauen auf den krummen Rücken von Niedriglöhnern und prekarisierten Arbeitskräften auf. Dieser Selbstbetrug namens Aufschwung, der jenem Teil der Mittelschicht das Gehirn vernebelt, der noch an die Segnungen dieses Finanzkapitalismus glaubt, der die Verwettbewerbung des Gemeinwesens für vernünftig erachtet und die betriebswirtschaftliche Auslegung der Gesellschaft befürwortet ... diese Mittelschicht ist massiv abhängig von der großen Masse der Unterbezahlten und Überarbeiteten. Weil es sie gibt, glauben sie an einen gesunden Arbeitsmarkt. Schließlich begegnen sie Niedriglöhnern im Lokal, in Pflegeheimen und bei Kurier- und Lieferservices - und das läßt sie schlussfolgern: Es gibt genug Arbeit, man muss nur wollen!

Aber natürlich hat auch weiterhin alles in Ordnung zu sein. Wo kein Kläger, da kein Richter und wo kein Leistungsberechtigter, da kein Niedriglohnsektor auf Massenbasis. Die Wirtschaft brummt ordentlich und die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Mit Scheuklappen durch den völligen Realitätsverlust. Und das nennt man dann Erfolgsbilanz und serviert es den europäischen Nachbarn als Patentrezept. Jetzt heißt es aussitzen bis zu den nächsten geschönten Arbeitslosenzahlen. Dann ist die Hiobsbotschaft schnell vergessen. Wenn die tönende Wochenschau mit Fanfaren verkündet, dass wir auf Kurs sind, suhlt man sich in Selbstzufriedenheit. Auf Kurs wohin? Egal, Hauptsache on a road.


5 Kommentare:

Sledgehammer 2. Juli 2013 um 09:12  

Unsere "Wahrheitsministerien" geben inzwischen traditionell, von Beratern und Lobbyisten aufbereitete Kommunikees heraus, in denen Umwidmungen bzw. -deutungen von Begriffen, Fakten und Zusammenhängen orwellsche Dimensionen erreicht haben oder darüberhinausgehen.

Unsere Gazetten und Sendanstalten, deren Nachrichten/Botschaften oftmals eine "Gazeta" nicht wert sind, übernehmen fast unisono diese offiziell "gepimpten" Regierungsverlautbarungen, da diese in der Regel die Auffassungen der "Upper Class", der Verleger und Anzeigen- bzw. Werbekunden widerspiegeln.

Die "Allianz der Satten", gezielt instruiert, konditioniert und instrumentalisiert - verdrängt, wiegelt ab, oder führt eine "Gerechtigkeitsdebatte" die den "Lohnslaven" und "Hartzern" kaltlächelnd und selbstgerecht die letzten Ränge in der Gesellschaft zuweist.

"Ich habe hunderttausend Züge,
von denen jeder Euch gefällt;
ich bin die Propagandalüge,
die wahre Herrin dieser Welt"...
(unbekannter Verfasser)

Anonym 2. Juli 2013 um 15:08  

Wie immer toll auf den Punkt gebracht, lieber Roberto J. de Lapuente.

Ich selbst muss mich wohl auch zu den von den Medien erwähnten "HartzIV-Verweigerern" zählen, denn ich ahnte schon damals, als Schröder diese asoziale Gesetzgebung einführte wohin die Reise geht - Ich war damals auf Arbeitslosenhilfe angewiesen, und langzeitarbeitslos.

Mein Vater meinte, dass er seinem Sohn eine "Chance" geben würde in sein Unternehmen, ein kleines Tourismus-Unternehmen, als Hiwi mit einzusteigen, um ihn evtl. einmal zu beerben.

Tja, der Traum zerstob als er - vor nunmehr bald 7 Jahren - nach langem Koma an Krebs starb ohne irgend etwas testamentarisch geregelt zu haben.

Seither hänge ich hier, bei seiner Witwe, fest, und weis nicht wie es weiter gehen soll - in meinem Leben. Meine Geschwister gönnen mir dies nämlich nicht so - eben "Erbengemeinschaft", und ich selbst bin, im mittlerweile verhaßten Unternehmen, auch nur deswegen weil ich kein Hartz IV will.

Anyway, ich hielt mich für einen Einzelfall, aber bald darauf lernte ich eine selbständige Photographin kennen, beim Bewerbungsphotos machen, die ihrer Tochter...statt Hartz IV....na ja ihr ahnt es.....

Vor kurzem kam im SWR ein Bericht über ein kleines Hotel, dass Leiharbeiter beherbergt, dass vom Vater und seinen beiden Töchtern, incl. Mutter, geleitet wird - Eine Tochter meinte, dass die eigentlich Friseurin gelernt habe, aber nie eine Anstellung im erlernten Beruf erhalten hätte (ähnlich wie ich, nur wäre es bei mir der Kommunalbereich einer Gde), und nun im Hotel mitarbeiten würde, als Hilfskraft (wie ich hier im ehemals väterlichen Betrieb)....

Die wurde aber nicht weiter erwähnt, weil es im Bericht ja nicht um "HartzIV-Verweigerer" ging, sondern um Leiharbeiter, und deren Nöte beim Arbeiten queerbeet durch Deutschland, wobei diese eben oft auf Hotels, Ferienwohnungen, Pensionen, oder sogar auf Campingplätze angewiesen sind, da man ja mit einer derartigen "Expansion von Leiharbeit" nicht rechnen konnte....

Na ja, auch egal, ich wollte nur mal darauf hinweisen, dass auch die obigen Bereiche zu den "HartzIV-Verweigerern" gehören....

Übrigens, ich kennen jemand, der selbständig als Leiharbeiter arbeitet, und im Sommer mal für ein halbes Jahr in einer hiesigen Schlosserei arbeitet, um im Winter dann in Frankfurt, oder sonstwo in Deutschland eine Leiharbeitsanstellung zu finden - er verkauft sich selbst als Leiharbeitssklave im Schlossereibereich - eben als "HartzIV-Verweigerer".....

Deutschland, im 21. Jahrhundert ist doch im Sauseschritt zurück ins 19., wenn nicht sogar ins 18. Jahrhundert.....und der Niedriglohnsektor umfaßt weit mehr Bereiche als die IAB wahr haben will, zählt man obige Beispiele mit dazu....

Trauriger Gruß
Bernie

ninjaturkey 3. Juli 2013 um 10:14  

Ein guter Freund wohnt mit seiner Frau bei seinen Eltern. Er ist Leiharbeiter, sie geht putzen. Sie könnten wohl aufstocken und die Eltern könnten ihnen u.U. sogar eine kleine Miete erheben wenn man Hartz IV beantragen würde. Die Frau meines Freundes wehrt sich jedoch energisch gegen die "Schande" ein Hartzie zu werden.
ich bin sicher, dass die meisten von uns solche "Einzelfälle" kennen.

Lisa 3. Juli 2013 um 13:49  

Ich war vor zwei Jahren in der Zeitarbeit tätig und hätte das Recht zum Aufstocken gehabt. Hab ich nicht. Warum?

1. Ich werde mich nicht in das Hartzsystem begeben, solange es möglich ist, anders zu überleben, denn damit landet man in einer Überwachungs- und Erfassungsbehörde, die totalitären Systemen gleicht. Ich sage immer Hartz IV sei wie DDR, nur diesmal mit Bananen.

2. Selbst wenn ich gewollt hätte, aufstockende Leistungen zu batragen, und auch keine Bedenken hätte (siehe Punkt 1) wäre der Aufwand, diese Leistungen zu beantragen völlig überdimensioniert zu den Vorteilen. Ich müsste im Monat mehrere Tage dafür aufwenden, die Leistung zu beantragen, die Leistung nachzurechnen, die Fehler in der Berechnung mit den Sachbarbeitern zu besprechen, ein Zeitaufwand, der von einer Voll-Beruftstätigen nur schwer zu leisten ist.

Gruß Lisa

Anonym 4. Juli 2013 um 00:42  

@Roberto J. De Lapuente

Ich fand ihren Artikel sehr gut, aber ein Satz störte mich dennoch ein wenig:

„Alles was nicht statistisch erfasst ist, existiert nicht.„

Ich bin nun wirklich kein statistikgläubiger Mensch, aber wenn irgendjemand etwas behauptet, dass meinem Weltbild widerspricht verlange ich nach Beweisen.
Wenn jemand ihnen gegenüber z.B. behauptet Ausländer wären so und soviel mal krimineller als Inländer, würden sie dann nicht nach Statistiken verlangen, die das belegen?
Ja... zugegeben, das mit den Aufstockern und denen die nicht aufstocken wollen ist mit als Unterschichtenlinker völlig klar, habe es mehrfach erlebt, aber wenn ich ehrlich bin verstehe ich auch, wenn Oberschichtenrechte, die das nie selbst erleben mussten, dass alles erst einmal reflexhaft abstreiten und nach irgendeiner Form von Beweisen verlangen.

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