Lieber Leser, du Nazi!

Freitag, 5. August 2016

Mike Godwin war mal ein Gesetzgeber. Sein Godwin's law besagte, »as an online discussion grows longer, the probability of a comparison involving Nazis or Hitler approaches one.« Etwas deutscher gesagt, je länger eine Online-Diskussion andauert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit Hitler und den Nationalsozialisten um die Ecke biegt. Das war mal, wie gesagt. Heute müssen Diskussionen gar nicht mehr anwachsen, um Godwin zu seinem Recht kommen zu lassen. Manchmal gehen Gesprächsfäden schon damit an. Eigentlich sogar immer öfter. Gesetzgeber müssen auch mit der Zeit gehen und die Gesetze neu modellieren und dem Zeitgeist eingliedern, kann man da nur sagen.

Mit Hitler geht es dieser Tage zu häufig los. Einer sagt was, der nächste antwortet in die Runde, das sei ja wie bei den Nazis. Was heißt er antwortet? Er ruft in die Runde! Dialog ist da meist eh nicht mehr, wir führen Parallelmonologe. Beispiel zur Güte: Zuletzt eröffneten die Rufer ihre Analysen zum türkischen Putsch mit Hitler. Ich meine, es ist ja tatsächlich berechtigt, wenn man gewisse Entwicklungen im Verlauf einer Analyse auch mal auf historische Parallelen abklopft und festhält, dass es zwischen 1933 und 1945 vielleicht Ähnlichkeiten gab. Wenn aber Analysen nur noch aus Hitler-Vergleichen bestehen, aus Hakenkreuzen und Hitlerbärtchen, die die Ähnlichkeit optisch zur Schau stellen, wenn man als Statement nur #Reichtstagsbrand oder #Röhmputsch schreibt, dann hat Godwin's law sich überholt. Man braucht gar keine Diskussion andauern lassen, um die Wahrscheinlichkeit eines Nazi-Vergleichs zu steigern. Dieses Gesetz ist keines in einer Reihe von mehreren mehr, in einem paragraphierten Katalog quasi. Godwin's law ist die Präambel geworden. Oder schlimmer noch der totalitäre Mindestanspruch an jede Diskussion.

Freilich kann man im Verlauf eines Gesprächs Rückschlüsse ziehen und festhalten, dass es seinerzeit ja auch ähnliche Entwicklungen gab. Menschen vergleichen nun mal gerne; der Vergleich ist ja letztlich ein Gradmesser, unvergleichbar ist nichts auf dieser Welt. Der menschliche Verstand benötigt solche Vermessungen. Um bilanzieren zu können. Wenn man Geschehnisse schon gleich mit einem solchen Vergleich eröffnet, dann trübt man den Blick für die aktuelle Situation. Ja, genauer gesagt, ist das kein Vergleich mehr, sondern eine Gleichsetzung, der jeglicher differenzierter Wesenskern abgeht. Natürlich führt sich Herr Erdoğan diktatorisch auf. Er brütete eine megalomane Störung aus, davon kann man auch als jemand ohne medizinische Fachlichkeit ausgehen. Aber daraus abzuleiten, er sei exakt wie Hitler und jede Gesprächsrunde gleich mit dieser Erkenntnis auszustaffieren, bringt die Sache doch nicht auf den Punkt. Geschichte wiederholt sich nicht. Auch nicht, wenn sich manches ähnelt. Es gibt stets Faktoren, die Ereignisse sich nicht gleichen lassen.

Der inflationäre Gebrauch solcher Vergleiche ist ein Totschlagargument. Es ist eine moralische Wertung, aus der es keinen Ausweg gibt. Natürlich kann und muss man die türkischen Ereignisse moralisch betrachten, aber das vorgezogene Gesetz Godwins ist kein normaler moralischer Wertungsansatz. Es ist die höchste Herabsetzung, wer erstmal Hitler war und wie die Nazis wütete, den kann man ja gar keine graduelle Abweichung von seinem Höllenkurs mehr gewähren, jede Facette des tatsächlichen Geschehens wird unter dem Label einer solchen Gleichsetzung im Grunde zum Tand, denn diese Vergleichspraxis macht a priori dingfest, welcher Geisteshaltung jede Entscheidung, Umsetzung oder Konzeption aus dem Kanon des Gleichgesetzten entspringt.

Wie gesagt, Godwin glaubte, dass ein Gespräch via Internet nur lange genug in die Tasten gekloppt werden muss, irgendwann kommt Hitler als Anklang. Das Anschwellen der sozialen Netzwerke hat Godwin als Gesetz kassiert. Hitler ist der Grundtenor, jede Debatte wird von Anfang an auf mögliche hitleristische Kompatibilitäten abgeklopft. Je länger eine Diskussion heute anhält, desto eher kommt man von Hitler als Erklärung weg, scheint es manchmal. Denn wer heute noch diese Aneinandereihung vieler Monologe in den Kommentarspalten durchhält, der muss ja Motivation haben, doch noch zu einem Gesprächsgewinn zu geraten.

Godwins Entdeckung war mit großer Sicherheit das Produkt einer Gesprächskultur, die den Hitler als letzten Hammer hervorholte, auch um leidige Diskussionen abzuwürgen, um sie endgültig einstellen zu können. Insofern ist es nicht so verwunderlich, dass Godwin's law zu einem
Godwin's preamble wurde. Wer will denn heute noch diskutieren? Soziale Netzwerke heißen nicht so, weil man als soziales Wesen unter anderen agiert. Man profiliert vor allem sein Image. Haut hier und da Wort- oder Satzfetzen heraus. Gespräche führen? Wenn es nicht zu anspruchsvoll wird, dann bitte gerne. Falls doch, dann hauen wir den Hitler raus, dann ist gleich Ruhe im Karton.

Als Godwin sein Gesetz formulierte, da barg das Netz noch die schöne Illusion, dass die Menschen unkompliziert kommunizieren könnten, das Netz Wissen vermittelt und so weiter. Godwin war ein Optimist. Heute würde er das Gesetz anders austüfteln müssen. Das siehst du anders, lieber Leser? Ehrlich? Du, ich habe keinen Bock mit dir zu diskutieren. Ich sag mal so, die Nazis sahen auch immer alles anders. Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht ...

2 Kommentare:

Mordred 5. August 2016 um 12:35  

interessanter ansatz.

ein anderer:
weil es immer mehr vergleichbare thematiken zu hitler und co. gibt, wird hitler immer mehr gebracht.
das hat nix mit social media ansich zu tun.
terroristische anschläge, türkei, massenüberwachung, gleichschaltung, unterdrückung usw. usf. sind alles themenkomplexe, die man schon alleine qua schulbildung im themenkomplex drittes reich kennengelernt hat.

He-Ka-Te 6. August 2016 um 10:03  

Dem füge ich - zum Bedenken - hinzu, dass ein differenzierter Blick in der Schule bei diesen Themen auch nicht gewünscht war und ist.

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