Je ne suis pas Burka

Mittwoch, 31. August 2016

Wenn man schon was verbieten will, sollte man auch wissen was. Meist meinten die Kommentatoren und ihre Gefällt-mir-Gemeinde gar nicht die Burka. Die gibt es in Deutschland ohnehin so gut wie gar nicht. Sie meinten den Niqab. Wenn ich Raubüberfälle verbieten möchte, kann man sich nicht hinstellen und sagen, dass die Entleihe aufhören muss. Nur bei so emotionalen Themen wie der Verschleierung, bei denen man erst spricht, dann eine lange, lange, wirklich lange Pause macht, bevor man denkt - falls überhaupt! -, kann man einfach mal was sagen und etwas anderes meinen. Mein Vater empfahl stets, dass man im Gespräch mit einem Bauern weniger seinen Worten lauschen sollte, als dem, was er damit gemeint haben könnte. Wahrscheinlich war das eine Haltung aus einem spanischen Sprichwort, ich bin mir da nicht sicher. Insofern muss man aber festhalten: In Deutschland sind viele Bauern unterwegs. Sie haben nur keine Äcker mehr.

Falls jetzt jemand aus diesem ersten Absatz herauslesen möchte, dass ich also für ein etwaiges Verbot bin, es sollte bitte nur richtig formuliert werden: Nein, falsch verstanden, du Bauer! Ich bin mitnichten für ein Burkaverbot. Verbote dieser Sorte sind sinnlos, sie widersprechen auch einem gesunden Liberalismus. Wer außerdem glaubt, man könnte mit einem Verbot von Stoffen, die keinen Halsausschnitt kennen, die Sicherheit der Bürger garantieren, der hat keinen blassen Schimmer davon, wie man schützt oder der will einfach nur die Sicherheitsdebatte billig halten. Denn solange wir über Kleidung sprechen, reden wir nicht über die mangelnde Finanzierung der Polizei, die sich in Stellenabbau und Personalmangel ausdrückt. Und wie schon oben gesagt, wo sind denn die Burkaträgerinnen in diesem Lande? Es sollte doch eine Zielgruppe geben, der man mit einem Verbot Einhalt gebietet, sonst hat es ja nicht mal Relevanz. Wenn sie demnächst jedoch Burkas bei C&A verkaufen und sie den jungen Mädels als neuesten Chic feilbieten, dann sollten wir uns vielleicht nochmal sprechen.

Doch eines will ich schon noch erwähnt haben: Einverstanden bin ich nicht mit der Burka. Selbst mit dem Niqab habe ich Probleme. Alles drunter macht mir nichts. Wenn ich mit jemanden von Angesicht zu Angesicht rede und ich sehe nichts oder eben nur die Augen, dann fühlt sich das für mich kalt und abweisend an - und ja es fühlt sich auch falsch an. Letztlich bin ich eben auch nur westlich sozialisiert, ich kann da nichts dafür. Zuletzt bin ich einer Frau im Niqab beruflich begegnet, das Zusammentreffen war also unausweichlich. Die Frau sprach besser Deutsch als ich - jedenfalls hatte sie keinen süddeutschen Einschlag, der alles versaut. Wahrscheinlich war sie sogar freundlich, aber der stoffgedämpfte Ton ihrer Stimme, die Augen, die sie hinter einer Sonnenbrille verbarg, die fehlende Mimik, die ihre behandschuhten Gesten nicht zu ersetzten vermochten: Nein, das war kein Zustand. Ich empfand es auch als Herabsetzung meiner Person - ob es sie herabsetzt, das muss sie entscheiden. So brachten wir das kurze Aufeinandertreffen hinter uns. Es fühlte sich nicht richtig an. Entspricht nicht den Standards, nach denen ich in dieser Gesellschaft erzogen wurde.

Was man alles im Zuge der Debatte zum Burkaverbot lesen musste, grenzte an Nötigung des Verstandes. Und ich meine damit ausdrücklich nicht nur diejenigen, die vor Wut schäumten und ihren inneren Reichsparteitag zum inneren totalen Krieg transformierten. Nein, auch die anderen, die wieder mal meinten, sie müssten ein Zeichen gegen diese zornigen weißen Leute setzen. Sie spielten es runter, die Burka sei halt auch nur ein Kleidungsstück, man müsse das nicht so eng sehen. Meine Güte, habt euch nicht so, wenn demnächst einer mit einer SA-Uniform vor euch in der Kasse steht. Der trägt doch auch nur ein Kleidungsstück. Achso, hierzulande muss man ja gleich immer dazusagen, dass ich damit nicht zum Ausdruck bringen wollte, dass die Burka faschistisch ist. Aus Solidarität werde ich aber keine tragen oder mein Profilbild hinter eine Burka pflanzen oder was auch immer. Je ne suis pas Burka! Wieso kann man sich heute denn nicht einfach ganz normal hinstellen und zugeben, dass man da eher ambivalent ist? Verdammt, warum ist die Ambivalenz so sehr aus der Mode? Immer heißt es Partei eingreifen, dafür oder dagegen sein. Wieso ist man nicht einfach mal gar nichts?

Ich bin gegen das Verbot der Burka. Aber ich bin gegen die Burka. Da erlaube ich mir Ambivalenz. Sollte man gemeinhin öfter wagen, nichts ist so eindeutig, als dass es sich lohnte, sich voll und ganz auf eine Seite zu stellen. Nun gut, fast nichts. Moralischer gesprochen: Ich muss die Burka ertragen. Aber ich finde, dass die Freunde des blickdichten Stoffes es auch ertragen müssen, dass es Leute gibt, die es gerne transparenter mögen. Und tatsächlich, jetzt merke ich es erst, ich habe in den letzten Sätzen auch wieder nur von der Burka gesprochen und doch auch den Niqab gemeint. Manchmal bin ich auch nur ein Bauer.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 30. August 2016

»So sehr wir auch mit Millescher Leidenschaft für die individuelle Redefreiheit und damit für das Recht der Presse auf freie Verbreitung individueller Ansichten und Meinungen eintreten mögen, so sehr bleibt die Meinungsfreiheit doch ein Recht, as Individuen zusteht, nicht Institutionen. Es gibt gute Gründe dafür, dass wir jedem Individuum as Recht zuerkennen, seine Meinung zu äußern, selbst wenn sie erdichtet, falsch, dumm, irrelevant oder offensichtlich hirnrissig ist, aber welchen Grund hätten wir, einer Institution, die über jede Menge Macht verfügt, dasselbe Recht einzuräumen? Und doch nähern wir uns gefährlich einem Zustand, in dem sich große Medienkonglomerate so verhalten, als verfügten sie über das uneingeschränkte Recht auf freie Meinungsäußerung und damit über die Lizenz, Meinungen, die sie nicht teilen, abzutun und zu verspotten, falsch wiederzugeben und zu unterdrücken. Würden wir ihnen dieses Recht tatsächlich einräumen, würde es dem einzelnen unmöglich, sich in der Frage, wem er vertrauen soll, ein eigenes Urteil zu bilden; es liefe mithin auf das Recht hinaus, die Demokratie zu untergraben.«

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Lupenreiner Postdemokrat

Montag, 29. August 2016

Quelle: ©9EkieraM1 / CC-BY-SA-3.0 / Link
Das ist ja witzig. Wolfgang Bosbach von der Union kandidiert nicht mehr für den Bundestag. Hat er selbst gesagt. Für den Bundestag! B-u-n-d-e-s-t-a-g! Der meint wohl echt, er kann uns für dumm verkaufen. Der Mann saß da doch gar nicht drin. Wann denn auch? Er hatte doch gar keine Zeit. An zwei Plätzen gleichzeitig sein, das kann nun wahrlich keiner. Wer hat dem Mann denn gesteckt, dass ein Studio das Plenum und Plasberg der Bundestagspräsident sind? Er hätte sagen sollen, dass er nicht mehr für das ZDF, für ARD und den WDR kandidiert. Ja, dann wäre aus der Sache ein Schuh geworden. Dann hätte man verstanden, dass er für die nächste Legislaturperiode im postdemokratischen Betrieb und der Simulation einer Debattenkultur via Fernsehen, nicht mehr zur Verfügung steht.

Nie und nimmer war dieser Mann im Bundestag heimisch. Gibt es überhaupt Bilddokumente die belegen könnten, dass er den Bundestag je betreten hat? Sein politisches Amt war viel mehr die Showbühne, die Couch hier, der Sessel da, Plausch bei Christiansen, bei Jauch, bei Will, immer hart aber herzlich bei Plasberg. Wenn man sich einen Politiker des mediokratischen Zeitgeistes vorstellen müsste, man bräuchte nur an Herrn Bosbach denken. Der hat die Inhaltsleere, die man in ein Studio verfrachtet, über Jahre hinweg kultiviert. Er hat ferner bewiesen, dass man in einer Postdemokratie kein ausgemachter Experte in bestimmten politischen Fragen sein muss. Es ist vollkommen ausreichend, wenn man Dauergast in Talkshows ist und dort zu jedem Thema eine Ansicht hegt und pflegt. Präsent sein, gesehen werden, so wird man zur geistigen Größe im Politbetrieb unserer Epoche. Dass man dabei politisch betrachtet nichts Nennenswertes hinterlässt, ist überhaupt nicht wichtig.

Im Bundestag, da debattiert man ja relativ wenig. Man winkt Gesetze und Regierungsvorhaben durch. Fraktions- und Koalitionszwang, weil es keine Alternative gibt und die Sachzwänge nichts anderes zulassen halt. Nun ja, auch weil GroKo ist. Man spricht dort wohl, man streitet nur nicht. Das hat man outgesourct. Ins ZDF, zu ARD und in die Dritten - Programme, nicht Zähne. Kraftvoll zubeißen, darum geht es ja nicht. Vor Jahren hat man den Bundesbürgern noch nachgesagt, sie wären so politikverdrossen, weil sich die Parteien immer nur zanken würden, Parteienhader nannte man das. Eigentlich Normalfall in einem System wie diesem. Aber man kriminalisierte das fast schon. Heute hört man diese Einschätzung eigentlich nicht mehr. Heute trifft man sich auf Sendung und sondert Sprechblasen ab, simuliert die schon oben genannte Debattenkultur. Die Bürger sollen den Eindruck vermittelt bekommen, dass man sich hier noch politisch fetzt, dass noch Demokratie herrscht, nicht das nachdemokratische Tittytainement. Erinnert sich noch jemand an die Tage, da Streit im Bundestag als ein eindeutiges Symptom für demokratische Haltung galt? Das Hohe Haus, es ist zu vornehm geworden; das Hohle Haus, es leert sich und lässt an anderer Stelle streiten.

Bosbach war insofern weniger Mitglied des Bundestages als Mitglied einer Epoche, die demokratische Zwiste als etwas abtat, was stört und was, wenn überhaupt, als müder Talk im Fernsehen zu einer Art Ersatz choreographiert werden sollte. Er kann als Vorreiter gelten, als einer der ersten Abgeordneten, der sich damit abgefunden hat, die Talkshow als eigentliches Plenum begriffen zu haben. Mit Bosbach tritt ein lupenreiner Postdemokrat ab. Oder eben nicht, die Kameras laufen ja noch.

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Stinkers Finger

Donnerstag, 25. August 2016

Gabriel zeigt den Stinkefinger. Wer das mache, der sei nicht tragbar für die Kanzlerschaft. So jedenfalls kommentierte man Steinbrücks Finger vor drei Jahren noch. Aber Gabriel will doch eh nicht Kanzler werden …

Dieses Land kann noch so große Sorgen und Baustellen haben. Zeigt einer den Mittelfinger, dann rückt alles andere in den Hintergrund und man diskutiert fast schon extremistisch über Extremitäten. So war es bei Effenberg, Varoufakis und beim damaligen Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten, bei Steinbrück. Die Schreiber, die sich eines solchen Fingers annehmen und die Angelegenheit wie einen Staatsakt behandeln, die sind Legion. Dann liest man zum Beispiel, dass der Stinkefinger die Nation spalte, er eine »Geste der Hilflosigkeit weißer alter Männer sei« oder aber, wie seinerzeit bei Steinbrück, dass man so nicht Kanzler werden sollte. Das gehöre sich für Erwachsenen nicht und für einen Kanzler noch weniger. Als ob die Steigerung von erwachsen Kanzler wäre. Dass Gabriel so kein Kandidat für eben diese Kanzlerschaft sei, schrieben sie dann auch letzte Woche. Er wird es wohl gewusst haben, denn nach der Pleite bei der Bundestagswahl war es Gabriel, der Steinbrücks Finger die Verantwortung übertrug. Wenn man aber einen Stinkefinger hat, ersetzt der jede Baustelle und radiert unsoziale Politik einfach aus.

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Handlungsfähig bleiben!

Ein Appell, sich unbequemer Themen zu widmen, um nicht archiviert zu werden.

Wir haben uns in letzter Zeit oft darüber unterhalten, ob man als Linker nicht auch die Ängste jener Menschen wahrnehmen muss, die in eben dieser Angst dazu neigen, rechten Reflexen zu erliegen. Oder um das hier anders einzuleiten: Darf man, wie Frau Wagenknecht vor einigen Wochen, vor den falschen Entwicklungen im Bezug auf »Wir schaffen das!« hinweisen, auf die Gefahr hin, dem linken Lebensgefühl unbequeme Ansichten zu vermitteln? Oder ist Weggucken und unterlassene Kritik als linkes Biedermeier angesagt? Wie halten wir es denn beispielsweise links mit Kinderehen, die ins Land kommen? Das Argument, es seien ja nur 1.000 Mädchen betroffen, das lasse ich nicht gelten. 1.000 Mädchen sind 1.000 Fälle für das Jugendamt nach in Deutschland gängiger Rechtsauffassung. Das kann man doch nicht, nur weil man nicht mit einem Rechten verwechselt werden will, einfach so verschweigen.

Zunächst muss man dieses Phänomen adäquat erfassen. Das heißt, die Situation begreifen, in der sich Eheleute dieser Art befinden, was wiederum bedeutet, wir müssen annehmen, dass der Erwachsene aus dieser Konstellation aus einem Kulturkreis stammt, in dem diese Lebensweise als normal angesehen wird. Nicht etwa deswegen, weil man da einen Hang zur Penetration von Mädchen entwickelt hätte, sondern weil es (kultur- bzw. sozial-)geschichtlich bedingt notwendig wurde, junge Mädchen a) der Fürsorge eines Ernährers zu überstellen und b) mit dem Nachwuchs (im Hinblick auf die teils niedrige Lebenserwartung in ruralen Gebieten der muslimischen Welt) relativ früh anzufangen. Das heißt aber wiederum auch nicht, dass es regulär so wäre, dass da ein 35-Jähriger mit einer Elfjährigen Beischlaf übt. Das ist nicht der Regelfall. Das Arrangement einer solchen Ehe wird oft zunächst als eine Form der Gattinnenreservierung ausgeübt. Dort, wo diese Menschen herkommen, hat sich dieses Modell nicht aus niederen Beweggründen durchgesetzt oder weil der Islam etwa ein anderer Begriff für Pädophilie wäre, sondern weil die Gegebenheiten eine solche Ausformung notwendig machten.

Die Ehe zu minderjährigen Partnern findet man ja auch in afrikanischen Ländern. Dort auch unter Mitgliedern christlicher Kirchen. Ebenfalls ist dort die Polygamie verbreitet - in Nigeria sind zum Beispiel auch christliche Männer mit mehreren Frauen verehelicht. Es ist also mitnichten ein islamischer Kontext, in dem dergleichen stattfindet. Es ist ein sozialer. Die Alphabetisierungsrate spielt eine gewichtige Rolle, genauso wie die klimatischen Verhältnisse oder die Infrastruktur. Auf einen Nenner gebracht: Es sind Symptome der Verteilungs- und Versorgungsfrage.

Nähert man sich von links der Problematik, die eine solche Ehe im europäischen Raum mit sich bringt, muss man diese Betrachtungsweisen heranziehen und diese Angelegenheit gewissermaßen phänomenologisch nachvollziehen können. Synchron dazu muss man aber festhalten: In unseren Gefilden sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, wir haben uns anders entwickelt und andere Standards angenommen. Wir sind keine rurale Gesellschaft, die an Mangel leidet und daher solche Praktiken benötigt. Das Konzept der Kindheit ist hierzulande zudem etwas völlig anderes als das, das man in jenen Gegenden pflegt, in dem solche Eheverhältnisse zuweilen entstehen. Wenn man denn dort, in der Kargheit solcher armen Weltgegenden überhaupt von Kindheit sprechen kann. Dass wir diese Standards aus Rücksicht auf die Herkunft zeitweise oder im Einzelfall aufgeben, wäre gesetzlich weder zulässig, noch im Sinne unserer westlichen Moralvorstellung akzeptabel.

Das so auszusprechen muss erlaubt sein. Nein, hier haben Männer keinen Anspruch auf eheliche Verbundenheit zu Kindern. Und ja, der Staat muss auch in diesem Sinne wehrhaft sein und dort versuchen, Lösungen herbeizuführen, die im Sinne des Kindeswohles sind. Denn auch minderjährige Ehefrauen haben hierzulande keine Pflicht an einem etwaigen Gatten, sondern einen Anspruch auf das Kindeswohl. Wie man das handhabt, so ehrlich muss man dann auch sein, ist eine komplexe Frage, die man vielleicht nicht befriedigend beantworten kann. Stellen wir uns doch mal als Fall vor, da kommt ein 35-Jähriger mit seiner elfjährigen Frau nach Deutschland. Nur diese beiden, sonst niemand, vereinfachen wir mal, um das Dilemma zu erfassen. Entreißt man das Mädchen den einzigen Menschen, den es hier kennt? Wie besänftigt man das böse Blut eines Mannes, der es ja anders nicht weiß als so und der es als Ungerechtigkeit empfinden muss, dass man ihm seine Frau raubt? Wie will man ferner überprüfen, in welchem Verhältnis diese Menschen zueinanderstehen? Selbst wenn sie ehrlich damit umgehen, mangelt es doch an Dolmetschern, um es den Behörden zu übersetzen.

Moralisch einwandfrei kommt man jedenfalls aus dieser Sache nie und nimmer heraus. Es wird Zeit, dass man das links des Mainstreams zu erkennen beginnt. Die moralische Keule ist eine theoretische Machete, nur sehr begrenzt einsetzbar im Praktischen. In Extremsituation - und das beschriebene Dilemma scheint eine solche zu sein - ist die Moral ohnehin kaum einzuhalten. Soll man daher eine linke Einschätzung der Realität unterlassen, wie das bei manchen dort draußen üblich ist? Einfach wegschauen und so tun, als gäbe es zum Beispiel keine Kinderehen?

 »Es sind keine Ehemänner, sondern oft Kinderschänder, die bestraft werden müssen.« Dieser Satz stammt vom Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft. Das hier Gesagte ist das glatte Gegenteil von linken Überlegungen zur Sache. Da will einer gar nichts nachvollziehen - er will verurteilen. Mit diesem Satz wird doch der Unterschied zwischen linker und rechter Argumentation deutlich. Wie konnte man da Wagenknecht in den letzten Monaten immer wieder mit von Storch gleichsetzen? Klar, beide thematisierten oft dieselben Probleme, denen wir ausgesetzt sind. Aber beide taten das doch auf völlig differente Art und Weise. Sie taten es aus anderen Motiven heraus, kamen mit anderen Vorschlägen heran, hatten andere Herangehensweisen an die Problematik. Oder will jetzt jemand ernstlich behaupten, dass dieser Text hier denselben Geist in sich trägt, wie dieser Satz des Polizeigewerkschafters?

Falls ja, dann hat die Linke echt ein massives Problem. Wir müssen doch die Probleme ansprechen. Wegducken geht nicht (mehr). Das heißt nicht, dass wir jetzt in den Abgesang einstimmen und so tun müssen, als sei eine multikulturelle Gesellschaft nicht machbar. Doch, das ist sie nach wie vor. Aber wir müssen uns doch darüber einig sein, was unter dem Dach einer solchen Gesellschaft akzeptabel ist und was nicht. Jede Gesellschaft braucht Konturen, jede Gesellschaft muss sich definieren. Und Konturen muss man einzeichnen. Wer das nicht tut, der hat keine Vorschläge zu unterbreiten, setzt sich einfach der Strömung aus und wartet ab, wohin er getrieben wird. Kurz und gut: Das ist fahrlässig.

Leider tun das viel zu viele Linke, ob in Partei oder nicht, viel zu oft immer noch. Sie übergeben den Rechten damit die Deutungshoheit und gefährden fahrlässig einen progressiven Fortlauf der Dinge. Sie werden handlungsunfähig. Noch handlungsunfähiger, wie sie es ohnehin in den letzten TINA-Jahren schon waren. Sie ersteinern zum Relikt aus Tagen, da man sich einredete, es gäbe noch Alternativen. Sie sortieren sich selbst aus, archivieren sich. Das kann sich die Gesellschaft nicht leisten. Wir brauchen linke Alternativen zum rechten Zeitgeist. Aber die klappen nur, wenn sie realistisch auftreten und nicht gleich eingeschnappt sind, wenn mal jemand aus dem eigenen Lager etwas sagt, was auf den ersten Blick nicht gut bekömmlich scheint.

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Die sparsame Ökonomie des Terrors

Mittwoch, 24. August 2016

Wer heute ins Geschäft kommen will, der braucht möglichst wenig Kostenfaktoren. Ein Büro reicht oft schon, Werkshallen, Verwaltungsangestellte und eine Kantine braucht man nicht. Ja, nicht mal zu verrichtende Arbeit ist zwingend notwendig. Jemand anders kann die Arbeit ja haben und erteilen. Und dann erteilt man seiner stillen Leiharbeiterreserve nur noch Marschbefehl. Alles ist outsourcbar, alles haben andere parat. Selbst muss man nichts mehr mitbringen. Nicht mal besonders Know-How, wenn man ehrlich ist. Man klingelt nur mal schnell durch, sagt man hat da jemand an der Hand und verdient spartanisch ausgestattet seinen Lebensunterhalt. So geht Ökonomie heute. Man spult sie billig und ohne hohen Einsatz ab, sie gibt sich effizient und bar von jeder Verantwortung. Feste Mitarbeiter braucht man keine. Man entleiht. Mehrwerte schaffen ohne etwas herzustellen. Das ist hochgradig arbeitsteilig. Ist die Hyperarbeitsteilung unserer Zeit. Keiner trägt mehr Verantwortung, die leidige Kosten verursacht. Alles ganz unverbindlich und kostenminimiert. Das ist modern. Das ist mondän.

Viviane Forrester nannte diese Entwicklung einst einen »Terror der Ökonomie«. Damit meine sie Sozialabbau, Untergrabung von Arbeitnehmerrechten, ja diese ganze effektive Sparzwangwirtschaft. Das hat sich nun gleich noch verkehrt, denn es gibt nun ganz offenbar auch eine »Ökonomie des Terrors«, die sich ganz nach den Leitlinien dieser schönen neuen Arbeitswelt ausrichtet. Terrorismus, das war ein aufreibendes Geschäft, wenn man das mal ohne Moralin in den Adern aufdröselt. Man musste rekrutieren und schmieren, musste Hinterbliebene bezahlen und Waffen besorgen, zudem der nervige Druck von Geheimdiensten entdeckt zu werden. Dann der dauernde Schwund, hier wurde mal ein Waffenarsenal ausgehoben, dort mal ein Camp von der Bildfläche bombardiert. Kurz und schlecht, das Geschäft war kostenintensiv, man brauchte Infrastruktur und Organisation, musste überall seinen Fuß in der Türe haben und brauchte ja sogar noch einen ideologischen Verwaltungsapparat, der Stellungnahmen schrieb, die man dann weitergeben konnte. Alles musste irgendwie verrichtet werden, brauchte Verantwortlichkeit.

Das war mal. Wir leben schließlich im neoliberalen 2016. Jetzt geht es effizient, nun optimieren sogar solche ihren Laden, die vorgeben, mit dieser Weltordnung gar nichts zu tun haben zu wollen. Die gegen diese Masters of the Universe in den geheiligten Krieg ziehen und den gleich durch Terror austauschen. Die brauchen gar keine Terroristen mehr, keine Pläne. Sie brauchen nur ein Fax, Zugang zu einem Nachrichtenportal und einen, der Bekenntnisse tippt. Man richtet sich ein subversives Büro ein und wartet, irgendeiner wird schon die Axt in die Hand nehmen und in eine Regionalbahn steigen. Oder sich eine Pistole aus dem Schrank seines Alten holen und seinen Zorn hinausplärren. Warum um Allahs Willen also sich so einen teuren Betrieb, so einen Wasserkopf leisten, um den Teufeln des Westens einzuheizen? Warten bis einer Amok läuft und dann zuschlagen mit einem Bekenntnis: Ja, der Islamische Staat hat wieder zugeschlagen, ihr seid nicht sicher, ihr Teufel. Es wird euch schlecht ergehen. Blablabla. So macht man heute effizienten Terror!


Das erleichtert den Zelotismus. Simplify your Hate. Fanatismus muss heute nicht mehr teuer sein, nicht mehr beschwerlich vorfinanziert werden. Abwarten und ein Bekenntnis raushauen. Wie die große Ökonomie einen Terror entfacht hat, so hat der Terror eine neue Ökonomie entfesselt. Den Spar-Terrorismus, eine Kombination aus dezentralisierten terroristischen Subunternehmern und dem Abgreifen von Amokläufern und einzelnen Gewaltausbrüchen ohne Bezug zur eigenen Sache, um sie terroristisch auszubeuten und diesen Mehrwert dann zur Angstmache unter die Leute zu streuen. Der Austeritätsterrorismus ist das brutale Modell des Zeitgeistes. Denn die Welt produziert doch Gewalt genug, man muss sie nur richtig verwerten, dann kann man sechzig Prozent Terroristenbelegschaft abbauen. Bekennerschreiber sind die großen Gewinner. Schreibtischtäter bekommen ihren Jahresvertrag verlängert. Fanatiker mit weißem Kragen. Da draußen ticken genug aus, die sich die Hände blutig machen. Diese Ressource muss man nutzen. Das haben die Terrorfürsten da draußen kapiert.

IS, das heißt »imaginierte Stellungnahme« - und das reicht schon, um den Ungläubigen Furcht einzuflössen. Diese Ökonomie des Terrors ist wie diese Portale, die durch Medialisierung entstanden sind und in denen man Lebensmittel, die bei einem so ungenutzt herumstanden und dem Verfallsdatum näherrückten, an Interessenten verteilt werden können. Foodsharing hieß der Spaß. Das Zeug war ja da, schade drum, es brachliegen zu lassen. Die Leute des IS haben sich das auch gedacht. Warum also verfallen lassen oder sich Mühe machen, wenn man die Gewalt der anderen sharen kann? Violencesharing. Klingt wie Violine. Wir ein Himmel voller Geigen. Ein Himmel voller Geigen für Arschgeigen. Sie geigen den Takt der Angst mit der Gewalt Unbeteiligter.

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Behaupten, behaupten, einfach nur behaupten

Dienstag, 23. August 2016

Neulich hat jemand die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) auf Facebook besucht und denen gesteckt, dass sie enttarnt seien. Die »NachDenkSeiten« hätten nämlich schon lange ausgerechnet, dass diese Initiative höchst unseriös sei. Wahrscheinlich weil sie mit falschen Berechnungen versuche, die Politik und die Medien zu beeinflussen. Nur einige Stunden später eine Stellungnahme seitens der INSM in Kommentarform: »Die NachDenkSeiten sind höchst unseriös.« Punkt. Das ist mal ein Argument. Handfest. Inhaltsvoll. Es ist hingegen keines, das irgendwie überrascht. Denn genau so ist das Muster, das diese Herrschaften immer schon angewandt haben. Insofern ist dieser unbedeutende Vorfall nicht weniger als eine Darstellung der eigenen gängigen Praxis in nuce.

Die »Argumentationen« der INSM beruhten immer nur auf Behauptungen. Auf unbegründete Aussagen, die man gefälligst hinzunehmen habe. Man setzte ein Gerücht in die Welt und wiederholte, wiederholte, wiederholte es. Argumentationslinien lieferte man eher nicht. Bestenfalls unzureichend. Man musste ja nichts mehr begründen, argumentativ darlegen. Durch die Wiederholung war die Lüge ja längst zur Wahrheit geworden, die die Gesellschaft auf allen Ebenen beeinflusste. Ob nun Renten- oder Demographiedebatte, die steilen Thesen dieser Denkfabrik waren dem Land in Fleisch und Blut übergegangen. Man musste da gar nichts mehr erklären, denn dass die Rente nicht sicher sei und die Deutschen aussterben würden, das wusste man bereits so sicher, wie dass ein Bleistift Richtung Boden fällt, wenn man einfach die Finger, zwischen denen er klemmte, auseinanderspreizt. Nach oben fällt er nicht. Diese Empirie aus Gewohnheit, so philosophierte Hume schon zu seiner Zeit, verfestige sich zu Gewissheit und erlaube uns Routine.

Die INSM hat die Empirie durch ihre Medienpräsenz ersetzt und die stetige Wiederholung als Ersatz geschaffen. Aus der Dauerschleife der Behauptungen schuf man Gewohnheit. So gewöhnte man die Menschen an Behauptungen ohne noch viel begründen zu müssen. Naturgesetze begründet man ja auch kaum. Man weiß, dass die Sonne wieder aufgeht und in dieser Gewissheit legt man sich zu Bett. Dieses bildliche Darstellung ist übrigens aus dem Repertoire Humes entnommen. Und zu so einer Routine, zu einem naturgesetzlich festgeschriebenen Wissen, verankerte die Denkfabrik allerlei Behauptungen ohne sich auch nur die Mühe zu machen, sie mit Argumenten und Erklärungen auszustatten. Die Leute hatten die Thesen schließlich nicht zu verstehen, sie hatten sie zu glauben.

Fester Glaube, das ist so ziemlich die Grundvoraussetzung, die man den Damen und Herren jener Initiative entgegenbringen muss, um sich auf sie einzulassen. Und in diesem kleinen Satz, mit dem man den »NachDenkSeiten« die Reputation klauen wollte, hat man diese Einstellung voll und ganz formuliert. So arbeitet die INSM. Sie ist eine Behauptungsmaschine, eine Apparatur der Arbeitgeber, einfach mal etwas ins Land hinauszuposaunen. Und wenn jemand sagt, dass diese Praxis jetzt enttarnt sei, dann hauen sie eben die nächste Sprechblase raus. Fakten, Fakten, Fakten? Nee, behaupten, behaupten, einfach nur behaupten! Und wenn der Leser nachfragt? Dann nochmals behaupten, b-e-h-a-u-p-t-e-n. Noch lauter. Noch dreister. Das beste Argument ist noch immer Lautstärke und viele Journalisten, die nachplappern.

Daher erfahren wir nicht, weshalb genau die »NachDenkSeiten« unseriös sind. Fragte man nach, sagten sie dasselbe einfach wieder. Nur noch lauter. Und daneben würde ein FAZ-Journalist stehen und es bestätigen. So argumentiert man in der Mediengesellschaft heute. So treibt man die Politik voran. Wer einfach nur behauptet, der behauptet - sich.

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... wenn man trotzdem lacht

Montag, 22. August 2016

»Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen.«

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Auf der Suche nach dem rechten Linken

Freitag, 19. August 2016

Die Wege der Revolution:
Unergründlich.
Kommen wir mal zu was Romantischem. Zu Herrn Stephan Erdmann. Er hat gut gesprochen vor zwei Wochen. Als er sich »auf die Suche nach einer Linken« begab. Dies ging zu Herzen, wenn man es denn nur am linken Fleck trägt. Es war aber nicht nur romantisch, sondern sehr erbauend. Das Wort »links«, es kam gefühlt in jedem Satz als Substantiv und Adjektiv vor. Wie ein Hallelujah. Da muss man nicht mehr nachdenken, es reicht die Repetitio. Romantisches und Erbauendes sind keine logischen Kategorien. Das Herz ist ein mieser Logiker, es rutscht in den Bauch und wird dann zu so einem Bauchgefühl. Leider hüpft es selten in den Kopf. Im Text des Genannten sind aber leider viele Ungereimtheiten drin, Ungereimtheiten, die man nur stehen lassen kann, wenn man das Ganze als literarische Übung betrachtet, als künstlerische Freiheit, die keiner genauen Prüfung standhalten muss. Phantasie kann ungeprüft gelesen werden, Kritik an der fehlenden Kritik allerdings, tja, da muss man einen prüfenden Blick anwenden.

Fangen wir mit Marx an, dessen »Kapital« laut Autor das Drehbuch dieser Phase der Geschichte sein soll. Das hat was Eschatologisches, wenn man so tut, als habe ein Mann des 19. Jahrhunderts das 21. Jahrhundert schon gekannt. Marx war progressiver Ökonom, er sah die Entwicklungen seiner Zeit und verstieg sich in eine Empirie, die nicht ergebnisoffen angewandt wurde, sondern im Hinblick auf ein Ziel, auf die sozialistische Revolution. Die jedoch blieb in der Form, wie er dachte, dass sie über uns komme, weitestgehend aus. Der Mann war ja kein Nostradamus, er konnte gewisse technische Fortschritte nicht erahnen, Amazon und Facebook, Medialisierung und Mikroprozessoren und vieles andere mehr, kann man bestimmt in einer marxistischen Exegese-Runde zwischen den Zeilen herausdeuten, wenn man nur will und verbissen genug danach stöbert. In der Heiligen Schrift kann man schließlich auch zu jedem Bereich des Lebens etwas finden. Kommt immer darauf an, in welche Richtung der Exeget einzuschlagen gedenkt. Man muss nur Stichworte suchen. Die Dynamiken, die Marx zu sehen glaubte, die haben sich massiv verändert. Und das nicht erst seit gestern. In dieser Beziehung, so scheint mir, kam er nie ganz über das hegelianische Geschichtsbewusstsein hinaus. Was untermauert: Der Mann war auch nur Kind seiner Zeit und eben keine Stimme des 21. Jahrhunderts.

Es ist allerdings richtig, »Das Kapital« ist und bleibt eine Leitlinie für die Kapitalismuskritik, das ist gar keine Frage. Aber ein Drehbuch ist es sicherlich nicht; kein Skript mit starren Dialogen und statischen Szenebildern. Wenn uns die Geschichte des Kapitalismus eines lehrt, dann das: Er ist flexibel, windet sich und jede Krise, in die er taumelt, fängt er - oft mehr schlecht als recht, meist auf Kosten der Wehrlosen - insofern ab, dass er aus dem Trümmern seiner selbst aufsteigt, um sich in Metamorphosen neu zu entfalten.

Wir saßen doch selbst vor einigen Jahren in unseren Sesseln und bloggten allesamt, dass nun, da die Krise manifest wurde, Menschen ihr Haus, ihren Job und ihre sozialen Bindungen verloren, während Banker schwer litten, weil sie ein Jahr auf Boni verzichten mussten ... wir saßen doch alle hier herum und warteten, dass jetzt vielleicht was Neues kommen könne. Das Ende des Kapitalismus, wir sahen es doch ganz deutlich. Wie Marx seinerzeit, der 1848 auch schon voller Tatendrang war, nur um zu sehen: Is nicht! Da beschloss er, die Zeit sei noch nicht reif, sie komme noch. So richtig ist sie nie gekommen, wenn wir ehrlich sind. Das heißt jetzt nicht, dass wir uns mit dem abfinden müssen, was uns dieses System aufhalst. An dieser Stelle, in der unzufriedenen Systemimmanenz, setzt meines Erachtens sinnvolle Kritik an, nicht außerhalb des Systemkomplexes.

Es ist leider auch einer der großen Schwächen des Textes von Erdmann, dass er damit beginnt, links mit progressiv gleichzusetzen - was im übrigen eine gute und richtige Definition ist -, aber einige Zeilen später findet er dann, dass Linke die Überwindung des Systems fordern müssen, wenn sie Linke sein wollen. Fortschritt durch Austritt? Oder praktischer gefragt: Wie genau schreitet man denn fort, wenn man sich aus dem Staub macht?

Wahrscheinlich müssten wir uns genau hier über das einig werden, was »die Linke« zu sein hat. Für die einen ist sie all das, was nicht rechts ist. Andere finden, dass alles, was irgendwie ein guter Ansatz sein könnte, automatisch in die Linke wandert. Emanzipatorische Geschichten zum Beispiel. Aber ich denke, wie ich schon vor Wochen erläutert habe, dass links vor allem eine ökonomische Haltung ist, somit eigentlich ein recht spärliches Betätigungsfeld. Ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die sich arg links geben und zu antirassistischen Demos laufen oder sich beim CSD engagieren, die aber überhaupt keinen Bezug zu Verteilungsfragen haben, die sich nicht zu Hartz IV äußern, nicht zu Freihandelsabkommen und die sogar glauben, dass die soziale Frage lange überwunden ist, womit jetzt andere Kämpfe, eben die oben genannten, geführt werden müssten. Das ist meines Erachtens allerdings nicht links, es ist ein Lebensgefühl, das sich links angemalt hat, in etwa wie der Che Guevara in einem Werbespot für einen Kleinwagen oder der rote Stern als Accessoire an der Wand einer schnieken Jungbänkerwohnung. Andere die ich kenne, die greifen die soziale Frage auf, kümmern sich aber wenig um die Homophobie im Lande, pflegen keine Meinung zum Feminismus und so weiter. Diese Leute sehe ich aber trotzdem als Linke an, weil sie das Materielle als Meta-Frage akzeptieren. (Das tue ich jedenfalls so lange, wie sie sich nicht abfällig gegenüber diesen Gesellschaftsgruppen äußern und sich ihnen gegenüber liberal geben.) Über die materielle Schiene regelt man viele andere Gesellschaftsfelder gleich mit. Es ist die Wurzel.

Und an dieser Stelle müsste ich erneut die alte Leier zupfen. Revolution und was kommt dann? Wie arrangiert man es, warum wird es dann besser, et cetera, et cetera. Hatten wir doch schon alles. Für mich ist es allerdings Vermessenheit, wenn jemand so tut, als könne man alles, was es schon gibt, einfach so überwinden, wie wenn es nie da gewesen wäre. Man fängt doch nie wirklich neu an, man tut nur so. Im Privaten ist es doch oft nicht so viel anders, wenn die Leute ihren Neuanfang feiern und dann nach einer Weile merken, dass sie aus ihrer Haut gar nicht rauskönnen und dort dann weitermachen, wie sie das Alte beendet haben. Hier hat man realistisch zu sein. Realpolitisch. Das Beste aus dem machen, was da ist. Daran arbeiten, es schleifen, es formen, es reformieren. Für Erdmann ist das schon rechts, aber dann larmoyant darauf hinweisen, dass man Menschen mit seinen Anschauungen als Extremisten und Fundamentalisten beschimpft.

Letzteres halte ich für eine Doppelmoral mit christlicher Vorprägung. Wir sind halt in diesen Gefilden alle christlich vorgestanzt, ob wir wollen oder nicht. Das ist zum Beispiel auch so eine Erkenntnis, die man annehmen muss, mit radikalem Sprech entkommt man seiner Sozialisierung auch nicht. Und so ein bisschen christlich kommt mir Herr Erdmann dann auch zuweilen vor. Er schreibt so viel davon, wie es sein sollte, wie Linke sein sollten und dann moralisiert er, weil sie so nicht sind. Das ist so theologisch, so lutherisch auch. Dazu dieser eschatologische Hang. Wohin soll das führen? Doch nur in eine inneres Konzil, in dem eine innere Stimme das Primat der Unfehlbarkeit predigt. Och bitte, das kommt uns alten Katholiken doch bekannt vor, das hatten wir doch schon. Wer so tickt, der kann einfach nur rechts sein ... War nur Spaß, so verkehrt bist du nicht. Du bist visionärer. Und das braucht man auch. Alles zu seiner Zeit. Achso - und komm doch mal zum Jackpod. Wir müssen reden ...

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Pazifische Inseln für Flüchtlinge

Donnerstag, 18. August 2016

Die »pazifische Lösung« soll Europa wieder zu einer Insel der Seeligen werden lassen. Ohne Flüchtlinge. So jedenfalls schwebt es den europäischen Konservativen vor. Menschenrechtsbeauftragte, wo ist dein Einspruch?

Sie wären jetzt gerne eine Insel. Und das im Herzen Europas. Ausgerechnet Österreich, abgeschnitten von allen Weltmeeren, schmückt sich mit einem Außenminister, der ein Asylmodell herbeisehnt, wie es sich die Kontinentalinsel Australien verwirklicht hat. Österreich ist zwar bei der Verteilung von Meer zu kurz gekommen, und Kurz heißt dann auch jener Außenminister, aber hier sieht man mal wieder, wie sehr die europäische Idee von Zusammenhalt fruchtet: Selbst dieses Dunkel-Österreich, das Europa ablehnt, greift als Unionsmitglied gerne mal nach dem Meer der Nachbarn und verfügt über dessen potenzielle Zukunft als Asylunterkunft mit breitem Wassergraben. Australien mache das ja auch so. Und sind die Australier nicht eigentlich coole Surfer und Crocodile Dundees? Die machen doch nichts Fieses …

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Reden, wir müssen reden

Mittwoch, 17. August 2016

Über Depressionen müssen wir reden. Jetzt! Das fand der »Stern« nachdem bekannt wurde, dass der Münchner Amokläufer psychische Probleme hatte. So müssen wir das also? Müssen wir wieder mal darüber reden, ja? Machen wir das dann so wie damals, als sich ein Nationaltorhüter das Leben nahm, indem er sich vor einen fahrenden Zug stellte? Da wollten wir auch reden, ganz viel reden. Jede Zeitung trug ihr Scherflein dazu bei, dass diese kalte Republik sich endlich mal durch Reden therapiert von dem Vorurteil, dass Depressionen nur ein Ausdruck individueller Charakterschwäche seien. Nein, wir sollten darüber reden, dass wir es hier mit einer Krankheit zu tun haben. Mit einer, die Leidensdruck verursacht. Einer, die einer physischen Sache ebenbürtig ist. Und diese Kälte, der Leistungs- und Erfolgsdruck sollte auf den Prüfstand. Hierzu sollten wir über Depressionen reden müssen, hieß es auch damals. Nun ist es wieder mal so weit, wir sollten wieder mal darüber reden.

Alle sieben Jahre scheint das ein Thema zu werden. So lange ist es her, dass Robert Enke aus dem Leben schied. Zwischenzeitlich haben wir darüber wenig gesprochen. Selbst als ein Bundesliga-Schiedsrichter versuchte, sich aus dem Leben zu nehmen und später als Motiv Depressionen angab, haben wir nicht mehr darüber gesprochen. Wir hatten keine Zeit dazu. Der Druck auf den Märkten hat seither nicht abgenommen und wir haben sogar akzeptiert, dass der Markt ein Recht dazu hat, uns unter Druck zu setzen. Die Arbeitswelt brennt die Arbeitnehmer aus, psychische Erkrankungen sind massiv angestiegen, nur wer leistet, bekommt gesellschaftliche Anerkennung. Psyche hin, Psyche her. Wir haben, wenn überhaupt, so nur ganz kurz davon gesprochen - und es gleich wieder vergessen oder verdrängt.

Oder wo haben wir in all den letzten Jahren über Depression und psychische Erkrankungen geredet? Haben wir den Leidensdruck und mögliche Ventile besprochen? Suizid und letztlich erweiterten Suizid, wie in München geschehen? Als vor über einem Jahr ein Pilot offenbar einen solchen erweiterten Suizid begangen hatte, sprachen wir moralisch über seine Tat, über seine Erkrankung allerdings so gut wie nicht. Aber wir wollten doch darüber reden, sollten endlich eine aufgeklärte Gesellschaft in dieser Frage werden, nach Worten der Publikative. Schließlich war nach Enke nichts mehr so, wie es mal war. Jedenfalls für einige Tage. Danach war es freilich genau wieder so, wie es immer war: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Nein, wir haben nicht darüber gesprochen. Und wir werden auch jetzt nicht darüber sprechen. Depressionen lenken ab, psychische Erkrankungen sind Langeweile. Was daraus werden kann, Skandalmeldungen und Eklats, das ist doch, worüber wir sprechen müssen, sollen, können. Und es reicht doch auch nicht, wenn Journalisten davon schreiben, wenn sich die Politik dieser Problematik nicht annimmt. Von der Leyen hat als Arbeitsministerin den zögerlichen Ratschlag an die Arbeitgeber erteilt, sie sollten ihr Personal nach Feierabend nicht mehr auf Bereitschaft halten. Alles kann, nichts muss. Gelobter Wirtschaftsliberalismus. Die Politik verschärft den Druck eher noch, erschwert das Reglement bei Hartz IV, behält alle in der ökonomischen Garotte. Was nützt es also, wenn wir immerzu müssen oder sollen, aber die Politik nichts muss oder soll?

Mich regt dieser Wichs vom »Wir müssen reden!« unsäglich auf. Immer wenn jemand in meinem Leben auf mich zu kam und sagte, wir müssen reden, kam nichts dabei heraus. Bloß mehr oder weniger Gedruckse und Wichtigtuerei. Man sitzt da und wir müssen ja ach so sehr reden und wissen beide nicht so recht, was wir reden können. Wenn man nicht redet, sondern ankündigt reden zu müssen, dann stimmt schon was nicht. Der letzte, der mit mir reden musste, kratzte irgendein Thema an, ich war so klug als wie zuvor und dann musste er eilig weiter. Nein, es handelte sich nicht um den Journalisten des oben zitierten »Stern«-Artikels. Er hätte es aber sein können. Ach komm, wir müssen doch gar nicht reden darüber, wir haben ja doch gar keine Zeit darüber zu reden. Wen kümmern denn die Nachrichten von gestern? Nur die Gestrigen! Aber wir leben doch in der Gegenwart. Und da sind die Olympischen Spiele.

Und ein Artikel ist wohl schon in jeder Redaktion vorbereitet, für den Fall, dass die deutschen Leichtathleten mal wieder versagen. Dann waschen sie ihnen den Kopf. Dann sagen sie, wir müssen reden, wir müssen nämlich über das Versagen sprechen. Und zwar jetzt! Über psychische Belastungen sprechen wir dann synchron dazu - unausgesprochen und zwischen den Zeilen. Nur beanstandet es dann keiner.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 16. August 2016

»Meine Einstellung zur Beschreibung der Geschichte der Vereinigten Staaten ist anders: Dass wir die Erinnerung der Staaten nicht als unsere eigene hinnehmen dürfen. Nationen sind keine Gemscheinschaften und waren es noch nie. Die Geschichte jedes Landes, die uns als Geschichte einer Familie präsentiert wird, verbirgt bittere Interessenskonflikte (die manchmal ausbrechen, meistens aber unterdrückt werden) zwischen Eroberern und Eroberten, Herren und Sklaven, Kapitalisten und Arbeitern, rassisch oder sexuell Dominierten und Dominierenden.
[...]
Es geht mir nicht darum, die Opfer zu betrauern und die Henker anzuklagen. Diese Tränen, diesen Ärger auf die Vergangenheit zu richten, heißt, die moralische Energie der Gegenwart zu verbrauchen. Und die Grenze ist nicht immer einfach zu ziehen. Auf lange Sicht betrachtet ist auch der Unterdrücker ein Opfer. Kurzfristig (und bisher besteht die Geschichte der Menschheit nur aus Kurzfristigem) suchen sich die Opfer, verzweifelt und von der Kultur besudelt, die sie unterdrückt, ihre eigenen Opfer.
Dennoch, im Verständnis der Komplexitäten, ist dieses Buch skeptisch gegenüber Regierungen und ihrem Versuch, einfache Leute mit Hilfe von Politik und Kultur und unter Vorspiegelung eines gemeinsamen Interesses in einem gigantischen Netz des Nationalen einzuspannen. Ich werde versuchen, die Grausamkeiten nicht zu übersehen, welche die Opfer einander antun, während sie im Viehwaggon des Systems zusammengepfercht sind. Ich will sie nicht romantischer darstellen als sie sind. Aber ich erinnere mich an einen Satz (sinngemäß wiedergegeben), den ich einmal gelesen habe: Die Schreie der Armen sind nicht immer gerecht, aber wenn wir nicht auf sie hören, werden wir nie wissen, was Gerechtigkeit ist.«

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Die sollten nie wieder Auto fahren dürfen

Montag, 15. August 2016

Den Alleinerziehenden will der oberste Sozialdemokrat unter die Achseln greifen. So ein bisschen sozial ist er ja doch noch, der Herr Gabriel. Jedenfalls möchte er so erscheinen. Den Unterhaltsvorschuss hätte er hierzu gerne ausgebaut und der Staat müsse bessere Druckmittel bekommen, um säumige Väter zum Unterhalt zu zwingen. Wenn es sein muss, mit Führerscheinentzug. Angemessenheit ist ja kein Grundsatz mehr im heutigen Staatsverständnis politischer Eliten. Hauptsache man kann Aktionismus üben, irgendwas tun. Wenn es sein muss, auch gerne mit einem Verbot, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Das kommt ganz sicher noch als nächster Schritt, wenn der zahlungsunwillige Vater keinen Schein mehr hat und nach seiner immobil bedingten Entlassung versucht, den Weg zum Arbeitsamt auf sich zu nehmen. Dann darf er zur Strafe nur noch radeln. Bis auch das verboten wird. Kurze Frage gleich mal vorweg: Geht es Gabriel eigentlich nur um Väter? Wahrscheinlich nicht, auch Mütter versäumen in der gleichgestellten Gesellschaft hie und da mal etwas. Aber er begründet seine Thesen halt mit eigenen Lebenserfahrungen. Da kommt halt genau das bei raus, was sich in ihm eingebrannt hat als Erinnerung.

Sein Vater habe sich geweigert zu zahlen, erzählte er. Er wisse also, worum es gehe. Seine Mutter wurde so bis an die Grenzen ihrer Kraft gebracht. Hätte man seinem Erzeuger damals den Führerschein abgenommen, das könnte man jetzt vermuten, so hätte sich die Situation im Hause Gabriel sofort fühlbar entspannt. Aber nein, keine Häme, denn ehrlich gesagt tut einem so eine Mutter natürlich leid. Gar keine Frage. Dennoch macht es sich Gabriel zu einfach. Denn dass viele Väter nicht zahlen, liegt ganz oft nur daran, dass sie selbst am Existenzminimum herumkrebsen. In einigen Fällen mag es tatsächlich so sein, dass da einer nicht zahlen will - aber in der Hauptsache geht es wohl um das Nicht-Können.

Quid pro quo, die Erfahrungen Gabriels mit dem, was ich erlebt habe. Erfahrungsaustausch schafft Perspektiven, nicht wahr? Als ich vor Jahren Unterhaltvorschuss für mein Kind beantragte, erzählte mir der Sachbearbeiter des Jugendamtes, dass siebzig Prozent der unterhaltspflichtigen Personen den Unterhaltsvorschuss nie zurückbezahlten. Das läge vor allem daran, dass es bei diesen Leute selbst kaum etwas zu holen gäbe. Viele seien arbeitslos - und selbst wenn sie Arbeit bekämen, könnten sie davon kaum den Unterhalt finanzieren. Stimmt es eigentlich, dass die Unterhaltspflichtigen nicht zahlen wollten?, fragte ich den Mann. Er verneinte, so könne man das nicht sagen. Einzelfälle kommen vor. Aber grundsätzlich wollten sie schon, wenn sie könnten.

Gabriel lenkt mit diesem Manöver ab, er verlagert die Verantwortung, schiebt sie dem Einzelnen zu, wo die Arbeitsmarktpolitik Tag für Tag versagt. Und er wirft dazu auch noch seine persönliche Erfahrung als Vorurteil in die Debatte. Es geht hier aber um Armut, um arbeitende Armut zudem - und es geht nur in zweiter Linie um fehlende Zahlungsmoral. Wir sprechen hier nämlich eigentlich vom Niedriglohnsektor, von Prekarisierung und von Löhnen, die es fast unmöglich machen, Kindesunterhalt (zumal in voller Höhe) zu leisten. Durch Kriminalisierung aller Väter, die es sich nicht leisten können, Unterhalt zu bezahlen, schafft man dieses ökonomische Versagen aus dem Sichtfeld.

Die geforderte harte Gangart ist also durchaus als klassistische Maßnahme zu begreifen. Umso mehr, wenn man mal kurz davon Notiz nimmt, dass der von Gabriel geförderte erweiterte Unterhaltsvorschuss bei Alleinerziehenden im Hartz-IV-Bezug vollumfänglich angerechnet würde. Wo ist denn da eine Erleichterung geplant, Herr Gabriel? Sie erwähnten nichts diesbezüglich. Oh nein, es ist abermals so, dass man ganz plump noch mehr Druck auf Menschen ausüben will, die ohnehin täglich um ihre Existenz kämpfen müssen. Denen drohen wir dann auch noch mit Führerscheinentzug, damit sie ihren schlecht bezahlten Job noch schwerer erreichen. Was früher Weltfremdheit hieß, ruft man heute Politik.

Fangen wir doch mal zur Abwechslung damit an, uns über Grundlagen zu unterhalten, Herr Gabriel. Über Arbeitsplätze und Löhne. Wie kann man Sicherheit garantieren, wie niedrige Löhne heben? Reden wir über den Mindestlohn, der nicht so atemberaubend hoch ist, um davon Kindesunterhalt bezahlen zu können. Da hat man einzugreifen, Regulative einzubauen, dann regelten sich viele unserer Probleme nach und nach von selbst. Unter anderem die Säumigkeit.

Den Führerscheinentzug hingegen würde ich nach einer etwaigen Regulierung dieser Missstände dann für diejenigen aufsparen, die wie der Alt-Kanzler stolz waren auf den besten Niedriglohnsektor Europas und die in Kauf nahmen, dass viele Kinder in diesem Land von einem ihrer beiden Elternteile nicht finanziell gefördert werden konnten. Sie sollen nie wieder ein Auto benutzen dürfen. Andererseits: Wer will denen schon im Bus begegnen?

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Ausländerkriminalität

Freitag, 12. August 2016

Frau Snyder war eine schrecklich dumme Person. Ihre letzten Erledigungen in Freiheit zeugten davon. Wie sie aber versuchte von sich abzulenken, das zeugt davon, dass es auch kluge Momente im Dummen gibt. Selbst blöde kann man noch Augenblicke erfahren, in denen das Genialische im Ansatz durchschlägt. Genutzt hat es Frau Snyder jedoch nichts, sie hat ihr Alibi dann doch wieder zu dumm arrangiert. Hätte sie es geschickter angestellt, man hätte es ihr vielleicht abgenommen und schon einen Italiener gefunden, den man die Sache in die Schuhe schieben könnte. Italienische Einwanderer, Menschenskind, das waren doch Tiere aus Südeuropa. Gesindel, die den braven Amerikanern den Job wegnahmen und dabei auch noch langsam und schlecht arbeiteten. Wenn man sich die ganze Nacht im dolce vita herumtreibt, um Verbrechen zu begehen, war man am Arbeitsplatz halt übermüdet. Das wusste man seinerzeit doch. Das wusste auch Frau Snyder. Man konnte gar nicht dumm genug sein, um das nicht zu wissen.

Ruth Snyder war eine junge Hausfrau und Mutter aus Queens und seit einigen Jahren mit ihrem Albert, wohl einem Langweiler wie es hieß, verheiratet. Mit 33 Jahren fühlte sie sich allerdings zu jung für eheliche Ödnis. Also zog sie sich Abwechslung an Land, einen Liebhaber, der sich als Korsett-Verkäufer verdingte. Nach zwei Jahren heimlicher Zusammenkünfte, im Jahr 1927 um genauer zu sein, sollte dann der langersehnte Moment des jungen Glückes eintreten, was bedeutete, dass dem Alten ein Unglück widerfahren musste. Das Schicksal war fies und so stellte sich ein solches leider nicht von alleine ein. So einigten sich die Liebenden, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und Albert aus dem Leben scheiden zu lassen. Diesmal sollte es endgültig sein; Frau Snyder hatte wohl schon öfter probiert, ihren Gatten zu vergiften, was ihr stets misslang. Nun sollte der Liebhaber den ihr angetrauten Nebenbuhler töten und Ruth sicherte indes zu, alles so auszustaffieren, dass es wie ein arglistiger Raubmord aussah. Eine Summe aus der Lebensversicherung winkte außerdem als Starthilfe für das Paar.

Nachdem sie Albert chloroformiert hatte, erwürgte der Liebhaber den Sedierten mit einem Stück Draht. Als er seine Ruth verwitwet hatte, eilte er zum Bahnhof und reiste mit dem Zug nach Syracuse ab, einen Ort, der einige hundert Meilen entfernt lag, um sich dort in einem Hotel ein Alibi zu erwerben. Ruth Snyder alarmierte die Polizei und erzählte den Constables unter Tränen, dass sie und ihr lieber Mann im Bett von zwei dunkelhäutigen und riesenhaften Männern überfallen worden seien, die eine unverständliche Sprache schwatzten. Doch ihre Aussage und der vorgefundene Tatort erlaubten keinen stimmigen Tathergang. Der Polizei war ziemlich schnell klar, dass Ruth Snyder log, denn die von ihr präsentierten Puzzleteile ließen sich nicht kombinieren. Weder war ihre Bettseite benutzt worden, noch hatte das eheliche Kind, das im Nebenzimmer schlief, die Täter gehört. Dabei hatte Frau Snyder ausgesagt, dass die Typen die Eingangstüre brutal aufgestemmt hatten. Diese war aber im tadellosen Zustand. Wie man es drehte oder wendete, es passte einfach nicht zusammen. Der als gestohlen zu Protokoll gegebene Schmuck tauchte dann letztlich auch wieder auf, Frau Snyder hatte ihn unter ihre Matraze gesteckt.

Das war alles lächerlich genug, um dieses Liebespaar als dümmste Verbrecher aller Zeiten zu verbuchen. Es wurde aber noch plumper. Um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken, legte Ruth Snyder eine italienische Tageszeitung auf den Küchentisch, um zu unterstreichen, dass die Täter Fremde waren, Italiener natürlich, denn von den Italienern wusste man in jenen Jahren ja, dass sie Bestien waren. In einigen Wochen stand ja auch die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti an, zweier italienischer Raubmörder mit anarchistischer Weltanschauung, die wahrscheinlich keine leichten Jungs waren, aber deren Prozess Jahre zuvor die groben Vorurteile und den rassistischen Reflex dokumentierten, mit der die amerikanische Gesellschaft gegenüber Italienern aufwartete. Beweise gab es gegen sie nicht. Man vermutete und das reichte damals zuweilen schon aus. Den Ermittlern in der Sache Snyder wollte es partout nicht in den Kopf, warum Mörder noch am Küchentisch Zeitung lesen sollten, bevor sie türmten. Als Befragungen im Umfeld ergaben, dass die arme Witwe bekannermaßen einen Galan hatte, der in derselben Nacht übereilt mit dem Zug aufbrach, war eigentlich schon lange klar, dass Ruth Snyder es nicht so mit der Wahrheit hatte. Sie endete, wie der arme Trottel, der sich eine Zukunft mit ihr aufbauen wollte, auf dem elektrischen Stuhl. Sacco und Vanzetti waren da schon Monate zuvor auf einer Apparatur dieser Art ermordet worden.

Wenn ich dieser Tage höre, welche Bestien zu uns ins Land kommen, dann denke ich manchmal an Ruth Snyder. Die Frau war offenbar nicht die hellste Kerze im Leuchter, aber dass man Ressentiments gelegentlich gut benutzen kann, um sich aus der Affäre zu stehlen, dass hat selbst sie kapiert. Also legte sie eine Zeitung aus, wollte die Fahndung auf irgendeinen armen italienischen Kerl hinlenken, der dann das Schicksal anderer italienischer Einwanderer geteilt hätte: Urteil durch Vorurteil. Das ist nämlich die Kehrseite der Ausländerkriminalität, der Umstand, warum mancher da draußen ganz froh ist, dass man diese Ausländerkriminalität weiterhin als liebgewonnenes Klischee zelebriert. So kann man ganze Silvesternächte Leuten in die Schuhe schieben, die bestimmt keine Chorknaben sind, aber eben auch nicht die Sexmonster, als die man sie zeichnete. Viele von denen, die vor einigen Monaten Vergewaltigungen anzeigten, standen zum Schluss so unglaubhaft wie Frau Snyder da. Hingerichtet wurden sie aber nicht. Das ist ein glücklicher Umstand, denn man sollte bei der Bereinigung der Statistik zur Inländerkriminalität nicht künstlich nachhelfen.

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Brazil

Donnerstag, 11. August 2016

Nach zwei Jahren sind die Heuschrecken wieder zurück. Zwei Sportveranstaltungen von Weltformat haben Brasilien zerrieben. Die Wirtschaft darbt, aber der »bessere Teil der Weltgemeinschaft« feiert ein Fest. Sportkolonialismus pur.

Die Bilder, die vor der letzten Weltmeisterschaft um die Welt gingen, dürften noch präsent sein. Ausgerechnet die vom Fußball so faszinierten Brasilianer spuckten Gift und Galle gegen das FIFA-Turnier und protestierten. Sie kriegten schon im Vorfeld zu spüren, dass es kein Fest des Volkes oder gar der armen Leute sein sollte, was hier organisiert wurde. Kleine Händler verbannte man vom Areal um das Stadion; billige Stehplätze wurden getilgt, um sie durch lukrative Sitzplätze zu ersetzen. Die Diktatur der Sponsoren entschied darüber, was Existenzberechtigung haben dürfe und was nicht. Brasilianische Getränke mussten zum Beispiel weichen, um den üblichen Globallimonaden einen Absatzmarkt zu garantieren. Sozialstandards waren ja eh ein seltenes Gut in Brasilien, aber der Weltverband hatte es bei der Regierung durchgesetzt, diese umgehen zu dürfen, sofern sie störten; staatliche Hoheitsrechte standen so unter FIFA-Richtlinien.

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Wünscht Euch was!

Kürzlich wurde der erste Podcast mit dem wohlklingenden Namen »JackPod« fertig. Das Thema »Bedingungsloses Grundeinkommen« hatte es in sich und zog lebhafte Diskussionen nach sich. Inzwischen hat sich alles wieder etwas beruhigt, die Gemüter sind nicht mehr so erhitzt wie noch vor kurzem.
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... wenn man trotzdem lacht

Mittwoch, 10. August 2016

»Einen Verbrecher könnte man definieren als die Ausnahme, die das tut, was die Mehrheit im Allgemeinen unterlässt oder nur heimlich und auf andere Weise tut.«

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Hinz und Kunz und die Genossen

Dienstag, 9. August 2016

Die Sozialdemokraten haben in den letzten Jahren ihre internen statistischen Taschenspielertricks perfektioniert. In diesem Fach haben sie es zu einer kleinen Meisterschaft gebracht. Ihnen gehen in unschöner Regelmäßigkeit Genossen flöten, weil sich die Parteioberen nicht trauen, eine couragierte Politik für Arbeiter und Angestellte einzuleiten. Und was macht der moderne Sozialdemokrat mit parteilicher Verantwortung? Er sucht sich ein gänzlich anderes Motiv aus, mit dem er diese Austrittslaune statistisch erläutern kann. So ist aktuell also wieder mal nicht Gabriel und sein Vorstand schuld an dieser Misere, diesmal trifft es eine einzelne, ja relativ unbedeutende und unbekannte Bundestagsabgeordnete namens Petra Hinz. Sie und ihr gefälschter Lebenslauf seien jetzt als Gründe eines massiven Mitgliederabgangs anzugeben. Jaja, halt wieder mal nur ein Einzelfall ...

Wahrscheinlich haben die Ausgetretenen der Stunde ein gewisses Verständnis für Hinzens Vita-Verschönerung. Es war ja nie ganz einfach aufzusteigen, wenn man nicht gewisse Abschlüsse hatte. Aber seit der Agenda 2010, da haben wir die Elitenförderung doch quasi zum Staatsvertrag gemacht. Wer jetzt unten war, der blieb es; dessen Kinder blieben es. Wie also rauskommen, wenn nicht durch Nachhilfe? Schulische Nachhilfe für die Kinder wird im Regelfall nicht bezahlt, Hartz-IV-Familien müssen bei ihren Kindern eben selbst nachhelfen. Vielleicht mit einer kleinen Fälschung des Lebenslaufes? Ja, was soll man denn tun, wenn man sonst nicht aus dem Schlamassel kommt? Der Ehrliche - seien wir doch auch mal Ehrliche - ist in dieser Angelegenheit der Dumme. Bewerbungsgespräche macht man ohnehin unter dem strikten Einfluss von Lügen, man sagt Dinge, die man nicht meint und Lebensläufe sind Auflistungen, die man in Zeiten, da Erwerbsbiographien wie Emmentaler aussehen, ein bisschen mit Füllseln ausstattet. Nette kleine Features für müde Personaler, die dann erst plötzlich aufhorchen.

Unhaltbar ist das natürlich trotzdem, wenn eine Hinz das macht. Unhaltbar ist aber auch, dass diese Partei der kleinen Leute gar nichts tut, um Menschen in einer ähnlichen Lage vor kriminellen Handlungen zu schützen, indem man sie als Subjekt am Arbeitsmarkt schützt. Ja, ich würde zum Beispiel auch gerne mal wissen, warum zum Henker eine Frau wie diese Hinz es in einer Partei kleiner Leute nötig zu haben scheint, sich lebensläuflich aufzudonnern? Kann man denn schon als Schreibhilfe in einer Kanzlei keinen Aufstieg bei den Sozialdemokraten mehr hinlegen? Vor zwei, drei Jahrzehnten hätte man noch anerkennend genickt, wenn jemand erzählt hätte, er würde jetzt bei einem Rechtsanwalt im Vorzimmer hocken. Bei den heutigen Sozis scheint das aber schon nicht mehr genug zu sein, um sich gegen die Konkurrenz im eigenen Laden durchzusetzen. Da muss man dann schon anmerken, man sei ja auch selbst Anwältin gewesen. Sagen wir es doch, wie es ist: Diese Partei ist so elitär geworden, dass man es sich in ihr gar nicht leisten kann, einen Parteikarriere anzugehen, indem man den Leuten dort sagt, man habe mal was ganz Stinknormales gearbeitet. Unter Rechtsanwalt geht bei denen heute wenig.

Die Hinz hat vielleicht auch ganz andere Probleme, wenn man mal nachliest. Sie liebe es zu bossen, also die Chefvariante des Mobbings auszuführen, wurde über sie erzählt. Und dann war da auch noch die Story mit dem Finanzamt und der Steuer. Ich habe aber auch nicht behauptet, dass Frau Hinz eine unantastbare Koryphäe sei. Aber die Schuldige des Niedergangs ihrer Partei, das ist sie nicht. Da haben Gabriel und Nahles, um nur zwei zu nennen, die nicht Oppermann oder Scholz heißen ... Da haben echt ganz andere astreine Arbeit geleistet. Und das nicht erst seit gestern.

Aber es ist natürlich klar im parteiliche Mikrokosmos, die Hinz macht die Austritte aus. Immer sind es Hinz und Kunz, die die Schuld tragen. Weil sie keine Arbeit finden, kürzt man Hinz und Kunz das Geld und macht deren Nachbarn jetzt gleich noch - nach neuer Hartz-IV-Verordnung - zu Spitzeln, die dann auch Schuld sind, wenn sie nichts über den Faulpelz von nebenan zu berichten haben. Diese Leute in der Sozialdemokratie, die schieben es doch immer auf Hinz und Kunz. Und genau diese Hinzens und Kunzens löffeln am Ende noch jedes Instantsüppchen aus, das die Sozis ihnen einbrocken.

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Sperrt Facebook, sicher ist sicher

Montag, 8. August 2016

Sicherheit. Wir sind wieder bei mal dem Punkt. Sie soll doch bitte garantiert werden. Das ist der öffentliche O-Ton. Wo ist denn verflucht nochmal das Konzept, das uns absichert? Dann, ihr lieben Rufer da draußen, seid so ehrlich und tragt Konsequenzen. Ein Vorschlag zur Güte, um wenigstens ein bisschen diesem Sicherheitswahn gerecht zu werden: Verhängt Netzsperren immer dann, wenn jemand Amok läuft oder ein Terroranschlag verübt wurde. Dreht dem Hype den Saft ab, es stört doch nur die Polizei, wenn sie zwischen eurer Panikmache, euren Falschmeldungen und Skandalisierungen herauszufiltern versucht, ob es denn im Netz sachdienliche Hinweise zur Lage am Tatort gibt. Keiner weiß mehr, was stimmt, was Phantasie, was bösartige Verdrehung ist. Ihr wollt also mehr Sicherheit? Ein erster Schritt: Der virtuelle Ausnahmezustand mit temporären Sperrstunden.

Polizeiarbeit ist nämlich heute bei solchen Einsätzen mehr als nur Aufmarschieren. Man sondiert auch die Netzwerke, es könnte ja was Verwertbares dort zu finden sein. Wieviele Täter es sind - zum Beispiel. Welche Waffen sie bei sich tragen - zum Beispiel. Oder ob es Verletzte gibt - zum Beispiel. Vielleicht hat ja ein Anwohner gemeldet, er habe einen Täter auf dem Dach einer Garage gesehen - ohne ihn gleich als »Kanake« zu titulieren. Die sozialen Netzwerke zu vernachlässigen, das wäre polizeilich betrachtet wiederum eine schwere Vernachlässigung von Zeugenaussagen. Das Problem ist nur, dass dort in der Stunde der Tat nicht nur Zeugen aussagen, sondern alle ein Wörtchen mitzureden haben. Wenn da einer behauptet, er wisse aus sicherer Quelle, weil sein AfD-Kumpel ihm das eben erzählt habe, der es wiederum von seinem Kollegen aus dem Ortsverband hat, der am Terrorort weilt, wenn also einer postet, er wisse es ganz sicher, da seien sechs Täter vor Ort, obgleich es in Wahrheit dann doch nur ein Einzeltäter ist, dann muss man das zumindest mal in Erwägung ziehen. Schlussendlich heißt es dann, dass die Polizei eine Täterbande durch die Stadt verfolgt, so wie es kurzzeitig mal im Falle Münchens hieß. Stillstand, Stadt unter Quarantäne inklusive. Von der Panikmache gar nicht erst zu sprechen. Ob dann die Verfolgungsjagd ein Produkt der Falschmeldung oder ob sie gar selbst eine Falschmeldung ist, das nimmt der Polizei so oder so Ressourcen und Kraft, die sie eigentlich zur Wiederherstellung der Sicherheit benötigte.

Diese sekuntiös in die Welt katapultierten Statements und Meldungen, man kann sie als ganz viel Heu bildlich machen, die die berühmte Nadel bedecken. Heu auch, weil es nicht selten aus den Denkprozessen von Strohköpfen stammt. Im Nachgang, wenn sich die Situation geklärt hat, man die Normalität wiederhergestellt hat, fallen immer noch Heuballen hernieder. Allerlei ist da dabei, nichts was der Polizei zur Aufklärung dient, aber vieles, was die allgemeine Situation anspannt und vernebelt. Ja, man kann sagen, die offenen Türen der Netzwerke sorgen dafür, dass Angst geschürt wird, dass man vorverdächtigt und Ressentiments anfacht. Ist das ein sicheres Klima? Ihr steht doch so auf Sicherheit, Mensch? Schweigt ihr Leute denn von selbst? Haltet ihr mal still, um Ermittlungsruhe einkehren zu lassen? Nein? Eben drum, sperrt die Netzwerke!

Ausnahmezustand halt. Warum nur auf der Straße? Datenautobahnen sind doch auch Straßen. Und verstopfte Kanäle kann man sich nicht leisten, wenn alle nach Sicherheit rufen. Sicher, sicher, da fällt euch der alte Spruch ein, den angeblich der alte Franklin irgendwo so ähnlich notiert haben soll: Wer die Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgibt, der verliert letztlich beides. Ah ja! Jetzt kommt euch diese Erkenntnis. Man nimmt dem modernen Bürger doch seine Post-Demokratie nicht weg, seinen kleinen Button zur Welt, da lebt er dann schon etwas lieber in einer gefährdeten Welt. Solange Einschränkung der Freiheit heißt, dass man Bärtige vorverdächtigt oder bestimmte Bevölkerungsgruppen rastert und generell besser überwacht, ruft man nach Sicherheitsmaßnahmen. Aber wird es konkret und man schneidet dem Äther, aus dem der Skandalismus, der dauernde Hintergrundton des leisen, aufgebrachten Flüsterns, die Zufuhr ab, dann nennt man es Zensur, Diktatur oder wie auch immer.

Dass man mich richtig versteht: Diese Einschätzung ist richtig. Es ist ein Diktat. Aber ich rufe ja auch nicht nach Sicherheit, das sind die Rufer da draußen. Ich weiß, dass Sicherheit so eine Sache ist, wenn man freiheitlich leben und leben lassen will. Die gibt es zu großen Teilen, aber ein Rest Unsicherheit bleibt. Wer das nicht akzeptiert, sollte über eine Sperre bei Facebook und Twitter nachdenken. Vielleicht sogar über eine tägliche Sendezeit mit nächtlichem Testbild. Weniger Schmu von dort und unsere nette kleine Welt hier im Westen wird gleich wieder ein bisschen sicherer. Zumindest gibt es dann nicht mehr so viele unsichere Zwischenrufe. Ich indes postete das hier gleich mal bei Facebook. Wer weiß, wie lange ich noch die Gelegenheit dazu habe ...

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Lieber Leser, du Nazi!

Freitag, 5. August 2016

Mike Godwin war mal ein Gesetzgeber. Sein Godwin's law besagte, »as an online discussion grows longer, the probability of a comparison involving Nazis or Hitler approaches one.« Etwas deutscher gesagt, je länger eine Online-Diskussion andauert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit Hitler und den Nationalsozialisten um die Ecke biegt. Das war mal, wie gesagt. Heute müssen Diskussionen gar nicht mehr anwachsen, um Godwin zu seinem Recht kommen zu lassen. Manchmal gehen Gesprächsfäden schon damit an. Eigentlich sogar immer öfter. Gesetzgeber müssen auch mit der Zeit gehen und die Gesetze neu modellieren und dem Zeitgeist eingliedern, kann man da nur sagen.

Mit Hitler geht es dieser Tage zu häufig los. Einer sagt was, der nächste antwortet in die Runde, das sei ja wie bei den Nazis. Was heißt er antwortet? Er ruft in die Runde! Dialog ist da meist eh nicht mehr, wir führen Parallelmonologe. Beispiel zur Güte: Zuletzt eröffneten die Rufer ihre Analysen zum türkischen Putsch mit Hitler. Ich meine, es ist ja tatsächlich berechtigt, wenn man gewisse Entwicklungen im Verlauf einer Analyse auch mal auf historische Parallelen abklopft und festhält, dass es zwischen 1933 und 1945 vielleicht Ähnlichkeiten gab. Wenn aber Analysen nur noch aus Hitler-Vergleichen bestehen, aus Hakenkreuzen und Hitlerbärtchen, die die Ähnlichkeit optisch zur Schau stellen, wenn man als Statement nur #Reichtstagsbrand oder #Röhmputsch schreibt, dann hat Godwin's law sich überholt. Man braucht gar keine Diskussion andauern lassen, um die Wahrscheinlichkeit eines Nazi-Vergleichs zu steigern. Dieses Gesetz ist keines in einer Reihe von mehreren mehr, in einem paragraphierten Katalog quasi. Godwin's law ist die Präambel geworden. Oder schlimmer noch der totalitäre Mindestanspruch an jede Diskussion.

Freilich kann man im Verlauf eines Gesprächs Rückschlüsse ziehen und festhalten, dass es seinerzeit ja auch ähnliche Entwicklungen gab. Menschen vergleichen nun mal gerne; der Vergleich ist ja letztlich ein Gradmesser, unvergleichbar ist nichts auf dieser Welt. Der menschliche Verstand benötigt solche Vermessungen. Um bilanzieren zu können. Wenn man Geschehnisse schon gleich mit einem solchen Vergleich eröffnet, dann trübt man den Blick für die aktuelle Situation. Ja, genauer gesagt, ist das kein Vergleich mehr, sondern eine Gleichsetzung, der jeglicher differenzierter Wesenskern abgeht. Natürlich führt sich Herr Erdoğan diktatorisch auf. Er brütete eine megalomane Störung aus, davon kann man auch als jemand ohne medizinische Fachlichkeit ausgehen. Aber daraus abzuleiten, er sei exakt wie Hitler und jede Gesprächsrunde gleich mit dieser Erkenntnis auszustaffieren, bringt die Sache doch nicht auf den Punkt. Geschichte wiederholt sich nicht. Auch nicht, wenn sich manches ähnelt. Es gibt stets Faktoren, die Ereignisse sich nicht gleichen lassen.

Der inflationäre Gebrauch solcher Vergleiche ist ein Totschlagargument. Es ist eine moralische Wertung, aus der es keinen Ausweg gibt. Natürlich kann und muss man die türkischen Ereignisse moralisch betrachten, aber das vorgezogene Gesetz Godwins ist kein normaler moralischer Wertungsansatz. Es ist die höchste Herabsetzung, wer erstmal Hitler war und wie die Nazis wütete, den kann man ja gar keine graduelle Abweichung von seinem Höllenkurs mehr gewähren, jede Facette des tatsächlichen Geschehens wird unter dem Label einer solchen Gleichsetzung im Grunde zum Tand, denn diese Vergleichspraxis macht a priori dingfest, welcher Geisteshaltung jede Entscheidung, Umsetzung oder Konzeption aus dem Kanon des Gleichgesetzten entspringt.

Wie gesagt, Godwin glaubte, dass ein Gespräch via Internet nur lange genug in die Tasten gekloppt werden muss, irgendwann kommt Hitler als Anklang. Das Anschwellen der sozialen Netzwerke hat Godwin als Gesetz kassiert. Hitler ist der Grundtenor, jede Debatte wird von Anfang an auf mögliche hitleristische Kompatibilitäten abgeklopft. Je länger eine Diskussion heute anhält, desto eher kommt man von Hitler als Erklärung weg, scheint es manchmal. Denn wer heute noch diese Aneinandereihung vieler Monologe in den Kommentarspalten durchhält, der muss ja Motivation haben, doch noch zu einem Gesprächsgewinn zu geraten.

Godwins Entdeckung war mit großer Sicherheit das Produkt einer Gesprächskultur, die den Hitler als letzten Hammer hervorholte, auch um leidige Diskussionen abzuwürgen, um sie endgültig einstellen zu können. Insofern ist es nicht so verwunderlich, dass Godwin's law zu einem
Godwin's preamble wurde. Wer will denn heute noch diskutieren? Soziale Netzwerke heißen nicht so, weil man als soziales Wesen unter anderen agiert. Man profiliert vor allem sein Image. Haut hier und da Wort- oder Satzfetzen heraus. Gespräche führen? Wenn es nicht zu anspruchsvoll wird, dann bitte gerne. Falls doch, dann hauen wir den Hitler raus, dann ist gleich Ruhe im Karton.

Als Godwin sein Gesetz formulierte, da barg das Netz noch die schöne Illusion, dass die Menschen unkompliziert kommunizieren könnten, das Netz Wissen vermittelt und so weiter. Godwin war ein Optimist. Heute würde er das Gesetz anders austüfteln müssen. Das siehst du anders, lieber Leser? Ehrlich? Du, ich habe keinen Bock mit dir zu diskutieren. Ich sag mal so, die Nazis sahen auch immer alles anders. Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht ...

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Von Kanake zu Kanake

Donnerstag, 4. August 2016

Der junge Amokläufer aus München wurde kurz vor seinem Tod noch als »Kanake« beschimpft. Der arische »Deutsch-Iraner« rechtfertigte sich: »Ich bin Deutscher.« Den hier textenden Deutsch-Spanier wundert das nicht.

Habe ich es immer gesagt oder habe ich es gesagt? In diesem Land an einem Prozess namens Integration teilzunehmen, das funktioniert bestenfalls bruchstückhaft. Man bleibt immer ein Fremdkörper. Selbst wenn man hälftig zu den Deutschen gehört, ist man eben ein Kanake. Ein Deutsch-Iraner, Deutsch-Spanier, Deutsch-Er-gehört-nicht-ganz-in-dieses-Land. Auf Dauer nervt das ganz schön. Es prägt den Alltag von »Halbdeutschen«, zumal man ja auf der anderen Seite auch nur als ein »Halbspanier« oder »Halbperser« angesehen wird. Dass der junge Mann, der München mit seinem Amoklauf überschattete, sogar besonders stolz auf seinen gemeinsamen Geburtstag mit Adolf Hitler gewesen sein soll, sich gar als Arier fühlte (was er mit seinen iranischen Wurzeln wohl eher war als all diese Aryan Brothers zusammen), überrascht mich Deutsch-Spanier jetzt überhaupt nicht. Das ist nicht das Motiv von Verzweiflung, es ist nur ein Symptom.

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Die absolut stabile Idiotie

Mittwoch, 3. August 2016

Da ist sie wieder, die Forderung. Alle paar Jahre wird sie wieder ins Programm aufgenommen. Es ist ein bisschen so, als bekämen die Sicherheitspolitiker und solche, die sich für solche halten, gelegentlich einen fieberhaften Schub und dann muss sie raus, diese Forderung. Einige Jahre war nun Ruhe, nun geht es wieder mal um die Bundeswehr, die im Inneren endlich mal eine Einsatzberechtigung erhalten soll. Diesmal haben die Damen und Herren der nationalen Sicherheit den Herrn Herrmann aus dem Fränkischen vorgeschickt. »Wir leben nicht in Zeiten der Weimarer Republik. Wir haben eine absolut stabile Demokratie«, behauptete er in einem Interview. Da könne man also die Vorbehalte aufgeben. Soso, eine stabile Demokratie. Der Mann lebte immer schon in dieser parteipolitischen Parallelwelt, die von der Wirklichkeit da draußen eher so eine eingeschränkte Ahnung hat. Trotzdem darf man doch sicher mal nachfragen, was eine Bundeswehr gegen Äxte und/oder Amokläufe auszurichten vermag.

Es ist ja an sich überhaupt nicht so, dass wir kein Militär im Inlandseinsatz hätten. Man schaue sich doch bitte nur mal an, wie die heutige Polizei ausgestattet ist. Das sind doch keine Schupos mit zierendem Tschako auf den Kopf, das sind teils paramilitärische Beamte. Aus den Samtgrünen sind hochgerüstete Einheiten geworden, die wahrscheinlich besser mit Material ausgestattet sind als das, was die Bundeswehr so in ihren Waffenkammern lagern hat. Bundeswehr im Inland? Für was eigentlich. Oder anders und deswegen nicht gegenteilig beantwortet: Haben wir doch schon!

Trotzdem, die Frage muss man doch jetzt nochmal ganz konkret stellen, diese vermeintlich stabile Demokratie hin oder her: Für was denn der ganze Aufwand, für was eine Änderung des Grundgesetzes anstrengen, nur damit man eine zweite Armee neben der hiesigen dunkelblauen Armee aufstellen kann? Und was können bittesehr diese oder jene Armee eigentlich gegen Amokläufer tun? Ja, wie können sie denn im Augenblick eines Terroranschlages dienen, um eine Situation abzuwenden, die dann ja schon eingetreten ist? Armeen brauchen einen sichtbaren Gegner, eine Gegenarmee, dann greift das Prinzip. Aber gegen Unangekündigtes, gegen Überraschungsattacken, gegen Großstadtguerilla, da hilft doch keine Wehr. Herrmann sollte mal erklären, welchen Zweck es erfüllt, Soldatenreihen aufzubauen, wenn wieder mal einer mit einer Pistole überschnappt. Soll die Truppe neben der Polizei stehen und den darauf spezialisierten Sondereinsatzkommandos Kaffee kochen und das Salz von den Brezeln reiben? Oder glaubt der Mann einfach bloß, dass eine Übermacht an verschiedenen Armeezugehörigkeiten und Einsatzgruppen abschreckende Wirkung erzielt?

Was konkret hätte die Bundeswehr in München getan, was die Polizei nicht genauso, wahrscheinlich aber besser angestellt hat? Polizisten sind ja dauernd im Kriseneinsatz, die haben eine gewisse Routine. Was stellt denn so ein Division an, die die meiste Zeit des Jahres im Paralleluniversum des Heeres eine ruhige Kugel schiebt und plötzlich auf konkrete Probleme losgelassen wird? Man hätte zunächst mal aufmarschieren können vor dem Einkaufszentrum. Bis hierher schon mal in Ordnung. Und dann? Reingehen, wild um sich schießen, das Gebäude durchkämen? Was daran kann ein Sondereinsatzkommando nicht? Und was kann es nicht besser? Es sei denn man antwortet damit, dass die Bundeswehr über alle zivilen Verluste, die so ein Vorgehen mit sich bringen würde, gewissermaßen erhaben ist. Dann, ja dann ist so eine Bundeswehr im Inland natürlich schon eine neue Qualität im Einsatz gegen Amoktäter. Dem Amok mit Amok begegnen: Ist das die Quintessenz dieser Forderung? Oder geht es um Panzer, die einen Einzeltäter gezielt erschießen sollen? Je mehr man darüber nachdenkt, desto lächerlicher wird es.

Es scheint eher so, dass Herrmann - wie alle diese Sicherheitsfreaks in der Politik - überhaupt keinen Schimmer davon hat, wie man im Ausnahmezustand einer solchen Tat zu agieren hat. Truppe, Feldzugrhetorik, Schlachttaktiken und was alles dazugehört, sind jedenfalls keine Ansätze, um diese Tragödien einzuhegen. Die von ihm postulierte absolut stabile Demokratie hin oder her. Und klammern wir an dieser Stelle einfach mal freundlich aus, dass diese Demokratie zwischen rechten Rattenfängern und Marktkonformität in einer gewaltigen Zerreißprobe steckt. So absolut stabil, wie der Mann sagt ist sie also wahrscheinlich nicht mal, diese unsere Demokratie. Was allerdings stabil ist, dass ist die Idiotie, die annimmt, mit blindem Aktionismus, mit der Getriebenheit von der Öffentlichkeit und harter law-and-order-Sprache könne man die Gesellschaft zu einem sichereren Ort modeln.

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Aus fremder Feder

Dienstag, 2. August 2016

»In der heutigen Zeit geht die wahre Macht vom Geld aus. Die Demokratie, wie sie derzeit ausgeübt wird, ist nichts weiter als Betrug.«

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Wir haben es nicht geschafft

Montag, 1. August 2016

Die ganze Naivität der Wir-schaffen-das-Parole kriegen wir im Grunde dieser Tage um die Ohren gehauen. Würzburg, Ansbach. (München ist anders gelagert.) Es reichte eben nicht, wie Bob, der Baumeister die Bewältigung möglichst laut in die Runde zu kommunizieren. »Wir schaffen das!« ist kein Plan, es ist Motivationstraining, nicht Politik, sondern billiger Psychotrick. Man muss schon vorbereitet sein, wissen was man wie und wo tut. Und es reichte eben außerdem nicht aus, die alten T-Shirts und Pantoffeln für die Flüchtlinge aus dem Schrank zu kramen und zivilgesellschaftlich eine Willkommensdelegation an Bahnhöfen abzustellen. Das war naiv und für Naivität bezahlt man einen Preis auf dieser Welt. Das muss man so offen artikulieren können, nicht jede Kritik an dieser Kriegen-wir-schon-hin-Mentalität, der die Bundeskanzlerin eine kurze Phase ihrer dritten Amtszeit widmete, ist ein rechter Einwand. Es ist eher ein verantwortungsvoller Ansatz.

Islamismus oder nicht? Diese Einschätzung treibt die Behörden nach solchen Taten an. Terror oder Amok? Diese Fragen sind jedoch zweitrangig, sie lenken vom wirklichen Problem ab: Von traumatisierten jungen Männern, die aus Kriegsgebieten zu uns flüchteten. Man hieß sie mehr oder weniger willkommen und das war es im Großen und Ganzen auch schon. Aber das reicht halt nicht. Es ist nicht genug, diese Leute auf eine friedliche Scholle zu setzen und zu sagen: »So, jetzt seid ihr raus aus der Gefahr. Ihr habt es geschafft. Und deshalb jetzt alle im Chor: Wir schaffen das. Gemeinsam.« Das sind Durchhalteparolen, das ist die Naivität irgendwelcher good vibrations, ist think positive, eine zur politischen Leitlinie erhobene Feel-good-Parole. Man kann Menschen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung laborieren und Tag für Tag durch die Dunkelheit ihrer erlebten Vergangenheit waten, nicht einfach die Hand tätscheln und ihnen zwischen Tür und Angel gut zureden. Das bewirkt gar nichts. Das bewirkt höchstens, dass man sich selbst als Tröstender Zuversicht spendet und sich aufmuntert, die Dinge doch noch halbwegs im Griff zu haben.

Dass traumatisierte Menschen zu uns kommen, damit musste man rechnen. Krieg, der Verlust von Angehörigen und Heim, gewalttätige Übergriffe, die Degradierung der eigenen Existenz zu einer Fracht in den Bäuchen von Schlepperkuttern, all das geht nicht spurlos an Menschen vorbei. Manche fesselt das ans Bett, andere erleiden einen Realitätsverlust. Viele landen in den Notaufnahmen von Krankenhäusern, meist als neurologischer Notfall, der sich dann aber meist schon im Arztgespräch als ein psychologisches Problem entfaltet, das nicht in allen Häusern behandelt werden kann und mit einer Überweisung in ein anderes Haus endet. Die sprachliche Barriere - eine große Zahl der Geflüchteten spricht kaum einen Brocken Englisch - erschwert Anamnese und einen adäquate ärztliche Konsultation. Es mangelt an arabischsprachigen Dolmetschern. Aber auch an therapeutischen Angeboten. Wir kriegen es ja scheinbar nicht mal auf die Reihe, Menschen, die in diesem Land leben, psychologisch ausreichend zu betreuen, wenn sie zur so genannten Unterschicht gehören. Siehe München.

Andere hingegen entfalten ihre akute Belastungsreaktion eher aktionistisch, kompensieren das unverarbeitete Erlebte durch Verdrängung und wenn dann zur richtigen Zeit noch ein pseudopolitischer Überbau als »attraktives Angebot« feilgeboten wird, mag das als Alternative und Verarbeitungsoption wahrgenommen werden. Als Selfmade-Islamist wechselt man schließlich die Fronten: Vom Angehörigen einer Familie, die ganz offenbar wegen solcher Radikaler alles verloren hat, kommt er auf die Seite der mutmaßlichen Gewinner. Ein nicht zu unterschätzender Wechsel der Perspektiven für junge orientierungslose Männer. Wenn man keine psychologische Hilfe an der Hand hat, erwirbt man sich halt selbst Strategien, um mit dem erlittenen seelischen Unglück leichter leben zu können. Psychologen können bei diesem Prozess zu einer konstruktiven Verarbeitung beitragen. Eigentherapie endet zuweilen, aus Mangel an Distanz zum eigenen Ich, in Destruktivität.

So oder so, wenn man Geflüchtete aufnimmt, so übernimmt man auch Verantwortung für sie. Man muss Antworten finden, was im Wort Verantwortung schon drinsteckt. Menschen, denen dergleichen widerfahren ist, gehört im Rahmen dieser Verantwortung psychologische Betreuung an die Hand gegeben. Solche Ratschläge hat man dann auch von verschiedener Seite gehört. Angemessene Betreuung sei nun mal notwendig, kommentierte im Zentralkomitee der allgemeinen Befindlichkeit, kurz Facebook genannt, so mancher Zeitgenosse. Das klingt vernünftig - ist es ja auch! -, geht allerdings an der Machbarkeit wesentlich vorbei. Psychologische Betreuung braucht, im Gegensatz zu anderen mediznischen Fachrichtungen, ganz explizit die Sprache. Sie ist das Medium, über das man das Innere eines Menschen erreicht. Ein gebrochenes Bein röntgt man. Kopfschmerzen jagt man durchs CT. Psychologische Defizite, romantisch gesagt: eine gebrochene Seele, die kann nur mit Sprache durchleuchtet werden. Und daran scheitert schon mal eine flächendeckend psychologische Betreuung der vielen Traumatisierten dort draußen.

Ohne finanzielle Ausstattung ohnehin, denn psychologisch geschulte Sozialarbeiter müssen bezahlt werden, man kann nicht erwarten, wie man das seit dem verstärkten Flüchtlingszuzug tut, dass diese Menschen das privat in ihrer Freizeit als Ehrenamtliche bestellen. Zivilgesellschaft ersetzt keine staatliche Verpflichtung. Auch ohne Sprachkenntnisse könnten solche Fachkräfte zumindest Verarbeitungsansätze anbieten und Perspektiven aufzeigen. Eine medizinische Betreuung ersetzen sie indes natürlich nicht. Doch selbst daran scheitert es ja, weil weder Geld noch Personal vorhanden ist, um dieses breite Problemfeld abzudecken. Auf Universitäten und Hochschulen hat man, ganz wie es das Ideal einer Zivilgesellschaft unter der Kuratel des schlankes Staates ist, Betreuer für Flüchtlinge gesucht. Junge Menschen ohne Lebens- und Berufserfahrung, die in ihrem Studium sicher schon etwas von Psychologie gehört haben, sollten übernehmen, wofür der Staat unzureichend Mittel zur Verfügung stellte und alles mit einem wohlfeilen »Wir schaffen das!« übertünchte, was an massiven Problemen auf uns als Gesamtgesellschaft zukam.

Das Auftreten solcher Amokläufe darf man als Themenfeld nicht den Rechten überlassen, damit sie damit ihre isolationistische Haltung bestätigen. Daher muss man auch links sagen: Ja, hier gibt es riesige Probleme. Die kann auch eine noch so gut gemeinte Willkommenskultur nicht einfach so abschütteln. Refugees welcome ist eine nette Geste. Und dann? Es ist jedenfalls der Preis der Naivität, den wir jetzt bezahlen. Damit ist keine etwaige Naivität gemeint, Menschen in Flucht generell zu helfen. Das ist Verpflichtung. Was gemeint ist, das ist so zu tun, als könne mit ein wenig guten Willen alles gestemmt werden. Ohne Geld und Plan nützt guter Wille gar nichts. Und wenn dann der Innenminister Ärzten rät, Asylbewerber nicht mehr ganz so schnell Atteste auszustellen, dann zeigt das letztlich nur, wie gefährlich die gut gemeinten Ratschläge von Naiven sind. Wir brauchen keine Ärzte, die schneller wieder weg sind von asylsuchenden Patienten, wir benötigen Ärzte, insbesondere Psychologen, die sich Zeit nehmen für Traumapatienten. Und dazugehörige Übersetzer, die das aus Haupterwerb tun und daher nicht in Eile sind, um doch noch was von ihrer Freizeit zu haben. Das alles und noch viel mehr kostet Geld, dazu braucht man einen Masterplan. Keine warmen Worte und frommen Empfehlungen.

So wie es sich jetzt zeigt, bleibt nur eines zu sagen: Wir haben es nicht geschafft. Und es sieht auch nicht danach aus, als dass es wir das noch packen. Ursachen ausblenden und Amokläufe zu einer kulturellen Angelegenheit von Muslimen zu erklären, so schaffen wir es nicht. Aber so schafft uns die ganze angespannte Situation.

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