Ein kurzer Satz voll Weltanschauung

Dienstag, 4. Dezember 2012

Labour griff das elitär-snobistische Substrat des Thatcherismus auf, aus welchem letzterer seinen Antrieb für eine kalte Sozialpolitik bezog. Er nahm sozialdarwinistische Dogmatik in sein Konzept auf, um den Sozialabbau als ethische Handlung begründen zu können. Die stets paffende, dauerhaft saufende und Geld verprassende Unterschicht war eines der Märchen, das der Thatcherismus in die Welt setzte, um damit eine Politik der Herzlosigkeit für moralisch geboten zu konstatieren. Die Labour Party distanzierte sich in der Zeit der Opposition nicht davon, sondern nahm nach und nach die Ansichten und Überzeugungen der Conservative Party unter Thatcher auf und rüttelte nicht mehr an deren Wahrheitsgehalt. Aus der elitären Doktrin des Kreises um Thatcher wurde Parteidoktrin und wurde letztendlich Staatsdoktrin. Owen Jones beklagt das als eine der Wurzeln der Alternativlosigkeit, in die sich die politische Landschaft Großbritanniens hineinlavierte.

Die deutsche Sozialdemokratie hat viel von diesem New Labour gelernt und kopiert. Sie hat die Doktrin des faulen und genusssüchtigen Bodensatzes der Gesellschaft forciert und damit den Sozialabbau gerechtfertigt, den sie Reformen nannte. Dass man diese Doktrin nicht für einen Irrtum vergangener Jahre hält, macht der amtierende Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten nachdrücklich klar, als er vor einigen Tagen in einem Interview auf die Frage, ob das Kindergeld erhöht werde, mit folgenden Sätzen antwortete: "Schon zehn Euro Erhöhung würden den Staat eine Milliarde kosten. Und man weiß dann auch nicht, wo das Geld hingeht. Zehn Euro sind ja auch zwei Schachteln Zigaretten, zweieinhalb Bier oder zwei Pinot Grigio." Er hat außerdem noch deutlich gemacht, dass er persönlich keine Flasche Pinot Grigio für fünf Euro kaufen würde, was bei einigen Medien mehr Aufmerksamkeit erhielt, als die snobistische Essenz seiner Antwort.

Viel hat man darüber geschrieben, dass Steinbrück keine neue Sozialdemokratie vertrete, sondern den schröderianischen New Labour-Gedanken zu neuen Höhen treiben möchte. So deutlich wie mit diesem flapsig formulierten Zeilen hat er das womöglich vorher nicht unterstrichen. Was er da von sich gab, ist nicht weniger als der Urgedanken jedes neoliberalen Sozialabbaus, nämlich den, dass die Menschen, die in armen Verhältnissen leben, nicht mit Geld umgehen können, es für sinnlose Genüsse verpulvern, statt es wohlüberlegt anzulegen oder zu investieren. Weil Menschen in armen Lebensverhältnissen das Geld, das sie plötzlich mehr haben, nur für Quatsch ausgeben, so glaubt der snobistische Blick auf die Welt, dürfe man ihnen nicht noch mehr finanzielle Zuwendung erteilen und sollte sie zudem noch Kürzungen unterwerfen, um unsinnig verbrauchte Ressourcen vor den Exzessen der Unterschicht in Sicherheit zu bringen.

Es schwingt noch mehr mit in der Denkart, Menschen in Armut würden das ihnen erteilte Geld verschwenden. Man konstruiert daraus einen weiteren Rechtfertigungsansatz, um eine gerechte Sozialpolitik zu unterlassen. Wenn nämlich Menschen aus armen Verhältnissen Geld verschleudern, dann sind sie nicht ganz unschuldig an ihrer Situation. Leben in armen Verhältnissen wird damit zu einem Verschulden, spielt sich nicht nur zwischen auflaufenden Schulden ab, sondern ist eine Schuld, die man selbst verbrochen hat. So als könne jemand, der seine knappen Mittel mit Bedacht ausgibt, niemals in Armut gelangen. Steinbrück sagt das nicht direkt, wie das die Apologeten des Sozialabbaus, wenn sie sich dieser sozialdarwinistischen Impulse bedienen, generell nie unmittelbar sagen. Aber sie lassen es einen wissen, haben eine Perfidie entwickelt, Dinge zu benennen ohne sie zu nennen.

Der Sozialabbau kann so mit zweierlei Mitteln gerechtfertigt werden. Erstens, weil Hilfe immer an der Unbelehrbarkeit und der Unfähigkeit der Armen scheitert und, zweitens, weil Armut als das Produkt eigener Fehler im Almanach der unhinterfragten Selbstverständlichkeiten geführt wird. Wie sehr die neoliberale Ökonomie die Evolutionslehre auf menschliche Gesellschaft übertragen hat, läßt sich an seinen Erkenntnissen ablesen. Folgt man einmal seiner Logik, wonach Menschen in Armut mit Geld nicht umgehen könnten, also unfähig sind und zieht man daraus den Schluss, dass Armut Selbstverschulden heißt, womit als Summe die Einsicht entsteht, dass Sozialabbau nicht verwerflich, sondern vielleicht sogar anständig ist im Anbetracht der Prämissen, so wird das survival of the fittest offenbar, das dieser Denkweise zugrundeliegt. Unfähigkeit wird zur Schuld wird zur Einstellung der Hilfe. Wer nicht fähig ist, wer damit nicht unschuldig bleibt, der bleibt auf der Strecke. Das ist die evolutionäre Konstellation, die im Dschungel oder in der Savanne vorzufinden ist. Unfähigkeit (wenn man sie mal kurz für bare Münze nimmt) zu strafen ist kein zivilisatorischer Ansatz, sondern mit fiskalen Maßnahmen betriebener Biologismus.

Steinbrück bringt mit seinem kurzen Statement das gesamte Menschen- und Gesellschaftsbild des Neoliberalismus zur Sprache. Und er ist also der Mann für eine neue sozialdemokratische Zeit ...



19 Kommentare:

Roland Epper 4. Dezember 2012 um 08:12  

Evolution falsch verstanden: das "survival of the fittest" kann man nicht mit dem "Überleben des Stärkeren" übersetzen - das "Überleben des Angepassten" ist richtiger. Ich finde es gefährlich, diese Fehlinterpretation schon am Anfang der Evolutionstheorie unbesehen zu übernehmen - die Biologie funktioniert so nicht. Genauer: es ist bloße Ideologie, die nicht einmal Darwin selbst seinen Beobachtungen überstülpte. Das darf und muss man also fundamentaler sehen.

ad sinistram 4. Dezember 2012 um 08:15  

Ich habe schon oft darüber geschrieben. Mir ist klar, was survival of the fittest meint. Denen, die aber sozialdarwinistisch argumentieren, ist es nicht klar. Ich gebrauchte den Begriff sozusagen aus deren Warte heraus.

baum 4. Dezember 2012 um 08:27  

sehr gute beschreibung der neolib. staatsdoktrin. in einem punkt allerdings musst du steinbrück missverstanden haben: 2 pinot grigio, damit meint stenbrück zwei gläser nach art des weinkenners. große gläser mit je 0,1 l. inhalt, damit sich im glas das bouquet voll entfalten kann. macht dann 35 euro die flasche.
von pighin aus dem collio gibt es schon für 20 euro einen erstklassigen pinot grigio.

Anonym 4. Dezember 2012 um 09:13  

Alles schon mal dagewesen! Dieser Armen als unfähige Nichtsnutze, dieses faule Pack, dieses arbeitsscheue Gesindel. Dafür gab es um die vorletzte Jahrhundertwende Arbeitshäuser, für ganz uneinsichtige Zuchthäuser. Ich bin gespannt, wann der erste Politiker diese Ideen wieder aufgreift...

Hartmut 4. Dezember 2012 um 09:24  

Ein wunderbarer Artikel.

Über die Seuche, genannt Neoliberalismus, habe ich wieder einiges hinzugelernt und von Klaus Kommentar etwas neues aus der Weinkunde. ;-)

Über den Politiker Steinbrück kann ich nach dem von ihm geäußerten, entwürdigenden, herablassenden und erniedrigendem Gesülze nur Abscheu empfinden.

Anonym 4. Dezember 2012 um 10:04  

Es war eben ein Irrtum anzunehmen das S in SPD stünde für sozialdemokratisch...
Danken wir Leuten wie Peer Steinbrück, dass er uns rechtzeitig eines besseren belehrt. Immerhin kann nun niemand im Nachhinein mehr behaupten er hätte es nicht besser wissen können.

Anonym 4. Dezember 2012 um 10:24  

Das Geschlagenwerden als Beweis der Schuld.

Wo sind eigentlich die ganzen Lobbyisten der Alkohol- und Zigarettenindustrie.
Die müssten doch Schlange stehen bei unserer Regierung, wenn bei 5€ mehr im Portmonnaie eines einzelnen sofort 1Mrd. mehr an Umsatz auf dem Plan steht.
Es könnte dann zum Beispeil jedes Bundesland seinen eigenen Hartz IV Satz festlegen, bzw. einen Bonus auszahlen und somit diese Industrie anziehen.
Das fördert wieder den Wettbewerb.

Die Hartz IV Empfänger könnten dann als prekär Beschäftigte in diesen Werken gleich das wegrauchen und saufen, was ihnen durch das Aufstocken zusteht.


ernte23 4. Dezember 2012 um 11:12  

"Survival of the fittest." stammt meines Wissens von Spencer nicht von Darwin, dem Vater des Sozialdarwinismus und meint Anpassung an die Marktgesellschaft. Spencer war ein heftiger Gegner jeglichen sozialistischen Gedankengutes.

Horatio 4. Dezember 2012 um 12:13  

"Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott."

Anonym 4. Dezember 2012 um 13:09  

Gelungenes Schlaglicht auf die rethorischen Manöver, die die Verbreitung des neoliberalen Kahlschlags begleiten.
Etwas ausführlicher ist das Alles hier beschrieben:

http://www.hintergrund.de/201209172242/feuilleton/zeitfragen/den-prolls-die-fresse-polieren.html

Jutta Rydzewski 4. Dezember 2012 um 16:45  

Der amtierende Kanzlerkandidat der so genannten SPD, und Abzockerkönig in Sachen Honorarabgreifung, hat schon im Jahre 2003 sein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zum Besten gegeben. Dagegen ist seine wieder Mal erbärmliche Einlassung hinsichtlich der zehn Euro Kindergelderhöhung fast schon an laues Lüftchen. Steinbrück:

„Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie – und nur um sie - muss sich Politik kümmern."

Damit hat dieser Gierlappen die Hosen deutlich heruntergelassen, deutlicher geht nicht. Wenn Herr Oberabzocker sagt - und nur um sie - heißt das ja in der Konsequenz: Politik muss sich z.B. NICHT um chronisch Kranke, NICHT um Pflegebedürftige, NICHT um Rentner, NICHT um Arbeitslose kümmern. Das ist neoliberaler Wirtschaftsfaschismus in Reinkultur. Damit plädiert Herr amtierendes Großmaul für die Aushöhlung und Schwächung des Rechts- und Sozialstaates. Im Grunde stellt er damit das gesamte Demokratie-Prinzip in Frage. Diese Type war, ist und bleibt ein Anbeter der neoliberalen Glaubenslehre, wonach alle Lebensbereiche, angefangen bei den Kindergärten, Schulen, Unis, Krankenhäuser, Altenheime, Gefängnisse usw. der ökonomischen Verwurstung zu unterwerfen sind. Begründet wird dieser ganze Scheiß mit Globalisierung, Demographie, und angeblicher Geldknappheit des Staates. Und diese "Botschaft" trommeln Bertelsmann, Springer, RTL, INSM, BILD, Spiegel, Focus usw., mit ihren Lohnschreibern, Abschreibern und Hofberichterstattern, permanent in die Köpfe der gehorsamen, obrigkeitstreudoofen Bevölkerung. Und dieser Geldbrück war, ist und bleibt ein Botschafter dieser Glaubenslehre. Wie ein echter Sozialdemokrat, von denen es ja wohl auch noch ein paar geben wird, zu diesem Heuchler vor dem Herrn der Märkte seine Zustimmung geben kann, ist mir unerfindlich.

Parklife 4. Dezember 2012 um 18:06  

Wenn er das wirklich so gesagt hat (bisher taucht das Zitat primär nur bei BILD und Focus auf und wird von den anderen Medien nicht erwähnt) macht ihn das wirklch endgültig unwählbar. Was für ein trauriges Menschenbild spricht aus dem Zitat! Ich finde es auch bezeichnend, dass sich die Medien, die darüber berichtet, eigentlich nur an der "Wein für 5 €"-Geschichte hochziehen, als wenn das irgendwelche Relevanz hätte. Naja, deutscher "Qualitätsjournlismus" eben...

Hartmut 4. Dezember 2012 um 18:49  

@Jutta Rydzewski

Dieser Kommentar ist klar, deutlich und unübertroffen in der Aussage.

Aus dem hiermit gesagten, ist für mich nochmals deutlich geworden, wo unsere Verfassungsgegner zu suchen sind.....ich bin wütend und traurig zugleich, so einen zum Kanzlerkandidaten zu küren.(sollte diese Type Kanzler werden, muß er ja den Eid ablegen.......)

Gleichzeitig fühle ich mich elend, weil ich in den 70ern Mitglied dieser Partei war.

SPD = Spezial Demontage Deutschlands

Anonym 4. Dezember 2012 um 20:51  

Warum habe ich den Verdacht, dass schlechte staatliche Umverteilung immer in die Taschen der Unternehmer wandert?

Hier als , ich muß nicht mehr Lohn zahlen, ihr bekommt aufstockendes Kindergeld?

Anonym 5. Dezember 2012 um 13:23  

Zuerst war Armut ein gottgegebenes Schicksal, aus dem es kein Entrinne gab.

Dann war fehlender Fleiß und Anstrengung der Grund für die Armut und damit zu einem Auswuchs eines schwachen, faulen Charakters, eine lässliche Sünde.

Heute ist man Arm mit Vorsatz: Der Arme will es nicht anders und suhlt sich in seinem verdorbenen Leben aus Alkohol, Drogen und Müll. Heute ist Armut eine Todsünde und wird von den Eliten und ihren Vasallen kriminalisiert. Das neue Credo: Wer Arm ist, wird bestraft. Und wer den Armen hilft, mach sich mitschuldig.

Anonym 6. Dezember 2012 um 14:20  

m.E. dient das alles dem Ziel einer faschistischen Renaissance. Erst reitet man uns richtig in die Sch***e und dann kommt der große Zampano mit den einfachen Rezepten und präsentiert Schuldige....

Marc 6. Dezember 2012 um 16:02  

Bei mir heißen die jetzt nur noch so:

SPD = Sozialdarwinistische Partei Deutschlands

Wenn es nur nicht so traurig und ohnmächtig wär' ...

Madner Kami 8. Dezember 2012 um 01:21  

@Anonym 4. Dezember 2012 09:13

"Dafür gab es um die vorletzte Jahrhundertwende Arbeitshäuser, für ganz uneinsichtige Zuchthäuser. Ich bin gespannt, wann der erste Politiker diese Ideen wieder aufgreift..."

Der Hartz-IV-Zwang zum Umzug für jeden noch so sinnlosen Quadratmeter oder Euro an Einsparung führt über längere Zeit zur Ghettoisierung. Die Sanktion bei Ablehnung einer Stelle ist bereits der Zwang zur Arbeit. Die Begünstigung der ganzen sinnbefreiten (Computeranfängerkurse für studierte Informatiker, Prüfung von Rechtschreibung und grundlegender Mathematik als Qualifizierung für eine Ausbildungsmaßnahme für Leute mit Abitur usw. usf.) und qualifizierungsfreien (Generation Praktikum) Auffangmaßnahmen bzw. Querfinanzierung von Billiglöhnen (Kombilohn) ist das moderne Äquivalent zum Arbeitshaus. Wir sind schon lange wieder im 17/18/19. Jahrhundert angelangt und auch der Leiharbeiter ist kaum mehr als der Wanderarbeiter.

Martin 11. Dezember 2012 um 09:57  

Die angebliche Geldverschwendung durch HartzIV-ler sollte man im Kontrast zur Subventionierungs-Politik sehen, bei der ca. 100-150 Mrd. € jährlich in die Taschen von Firmen wandern.

Große Firmen zahlen fast keine Steuern mehr in Deutschland, sie haben Steueroasen oder lassen ihre Abrechnungen sonstwo machen.

Und angesichts solcher Zustände, für die Kandidat Steinbrück mitverantwortlich ist, unterstellt er den Eltern von Kindern, diese würden das Kindergeld für Bier und Zigaretten verplempern.

Fakt ist, nur 3% aller HartzIV-Empfänger betrügen. Im Vergleich dazu liegen kleine Diebstähle in Kaufhäusern bei etwa 5% der Warenmasse.

Diebstähle durch das Management einer Firma liegen im Schnitt wesentlich höher und die Schäden sind wesentlich größer!

Fakt ist, 95-98% aller Eltern machen einen sehr guten Job und sparen eher an Ausgaben für sich selbst, als dass sie ihren Kindern Taschengeld, Fahrrad oder Sportverein vorenthalten. Es besteht also kein Grund, Kindergelderhöhungen mit solch abfälligen Bemerkungen abzulehnen.

Fakt ist, dass diejenigen, die glauben, sie seien Mittelschicht, sehr viel Wert auf die Abgrenzung nach unten legen, sprich: die Verachtung von HartzIV-lern gehört zum Klassenbewusstsein dazu. Dass die meisten dieser selbst-definierten Mittelschicht auch nur ein paar Monatslöhne von HartzIV entfernt sind, sagt kaum einer.

In einem Land, in dem wir es uns leisten können, studierte Elektroingenieure als Kirchenhausmeister einzustellen, sollten wir über bessere analytische Fähigkeiten von Gesellschaftszusammenhängen verfügen.

  © Free Blogger Templates Columnus by Ourblogtemplates.com 2008

Back to TOP