Friede sei mit uns

Samstag, 13. Oktober 2012

Die Verleihung des Friedensnobelpreises ist die traditionelle Verweigerungshaltung, die Wirklichkeit als das zu sehen, was und wie sie ist. Das war nie anders. Man könnte Kissingers Friedensliebe ante bellum als Beleg angeben. Oder Obamas a priori verliehenen Preis zur Ermutigung ebenjener Friedensliebe. Das Triumvirat um Arafat war ein ähnlicher Akt. Zuletzt dann die Auszeichnung Sirleafs, die den Restpostenausverkauf ihres Landes leitet. Die Auszeichnung der Europäischen Union ist nicht nur einer Wirklichkeitsblindheit geschuldet, sondern obendrein ein Akt von vielleicht historischer Angemessenheit, allerdings tagespolitischer Steigbügelhaltung. Sie ist Interpretation und Ausdeutung eine Institution, die Frieden mit Deregulierung, Privatisierung und Freihandel verwechselt. Dass die Auszeichnung ausgerechnet dieser Tage erfolgte, nachdem die EU schon jahrelang nominiert war, ist als politischer Akt der Reinwaschung und Aufwertung zu begreifen.

Die Troika, die in Schieflage geratene Staatshaushalte unter Kuratel der Europäischen Union mittels typisch Chicagoer Schulwissen sanieren will, die also Privatisierungen vorsieht, deregulieren möchte, den Freihandel stützt und ausweitet, die niedrige Löhne und Sozialleistungen anmahnt, ein schmales Gesundheitswesen vorbetet, Renten von denen man leben kann als Luxus deklariert, Arbeitslosigkeit anfacht und Perspektivlosigkeit schürt - kurzum, diese EU-Troika schafft einen seltsamen Frieden. Ist es Frieden, wenn Legionen von Menschen in Selbstmord getrieben werden? Wenn sie Angst vor knurrenden Mägen haben? Sich Medikamente nicht mehr leisten können? Ist es ein erwiesener Aspekt des Friedens, dass man eng geschnallten Gürteln rät, nochmals ein Gürtellöchlein enger zu schnüren?

Wahrscheinich muss man Frieden definieren, um ihn dann als das einzuordnen, was gerade gemeint ist. Das ist wie mit der Freiheit, die für manchen schon beginnt, wenn man Ketten löst, die aber für andere noch ein Auswurf von Unfreiheit ist, weil ohne Mittel, ohne Zugang zur Teilhabe, noch kein freiheitlicher Lebensentwurf möglich ist. Frieden kann somit auch sein, rumorende Straßenzüge und aufwallende Plätze halbwegs polizeilich oder militärisch im Griff zu halten. Militärischer Frieden herrscht ja zweifelsohne ziemlich in Europa - und der soziale Friede, den das Europa der Konzerne und Banken dauerhaft untergräbt, jetzt da die Krise brodelt, schon vorher, als man die Freihandelsverfassung Lissaboner Art durchpresste? Und ist eigentlich Frontex ein Friedensprogramm?

Historisch betrachtet kann man zustimmen. Die EU war zwar immer ein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Doch gemeinsame Interessen zu hegen, das verband Europas Völker ganz ohne Zweifel. Bevor man nun schoss, bevor man nun einmarschierte - was nach dem Blutzoll beider Weltkriege ohnehin so schnell nicht mehr geschehen wäre! -, wog man die gemeinsamen Interessen ab, sprach sich ab, einigte sich. Vereinfacht gesagt jedenfalls. Aber die Europäische Union just in jenem Moment auszuzeichnen, da ihr historischer Wert ins Hintertreffen gerät, weil ihr tagespolitischer Qualitätsverlust überwiegt, ist schon mehr als Chuzpe. Es ist die Modellierung der Gegenwart, wie man sie sich wünscht, wie sie aber nicht ist. Der Friedensnobelpreis ist seit Jahrzehnten das Vorhaben, Frieden als das zu deuten, was die herrschende Ordnung als Frieden akzeptiert. So erklärt sich Kissinger; so erklärt sich Sirleaf - und so erklärt es sich, dass eine Institution belobigt wird, deren beste Zeiten passé sind und deren erklärte Zukunftsaussicht es ist, ein straff kosteneffizientes Europa zu entwerfen.



18 Kommentare:

Anonym 13. Oktober 2012 um 10:38  

Bin mal gespannt wer diesjahr den alternativen Friedensnobelpreis erhält - der weitaus mehr besagt als der Kriegs-Nobelpreis des Herrn Nobel.

Gruß
Bernie

mann_von_nebenan 13. Oktober 2012 um 13:26  

@Bernie,

aber auch dabei hats schon peinliche
Missgriffe gegeben – z.B. die
Verleihung an Mohammed Yunus und
die Grameen Bank …

baum 13. Oktober 2012 um 13:39  

sehr differenzierter artikel. das musste mal gesagt werden.

Anonym 13. Oktober 2012 um 13:59  

"unter Kuratel der Europäischen Union mittels typisch Chicagoer Schulwissen sanieren will,"

ist es nicht eher die Schule des Österreichers Hayek die da durchgedrückt wird?

MfG

Schibulski

Anonym 13. Oktober 2012 um 14:05  

@mann_von_nebenan

Danke für den Hinweis - Ich dachte immer der hätte den echten Nobelpreis erhalten ;-)

Amüsierte Grüße
Bernie

Anonym 13. Oktober 2012 um 14:16  

Seltsames Wochende, die EU erhält den Friedensnobelpreis, und ein dt. Innenminister hetzt gegen europäische Cinti und Roma - auch "Zigeuner" genannt - wegen angeblichem Asylmißbrauch.

Hier mehr darüber:

"[...]Samstag, 13. Oktober 2012
13:00 Uhr
Bundesinnenminister Friedrich will Asylverfahren beschleunigen - Kritik der Grünen
Der Grünen-Politiker Kilic hat die Notwendigkeit von Sofortmaßnahmen gegen Asylmissbrauch bestritten. Der sprunghafte Anstieg von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien sei angesichts der herannahenden Wintermonate zu erwarten gewesen, sagte der migrationspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion im Deutschlandfunk. Dabei gehe es vor allem um Roma und Sinti, die auf Grund falscher Informationen und wirtschaftlicher Hoffnungen nach Deutschland kämen. Es gebe daher keinen Grund, rechtsstaatliche Prinzipien zu ändern, meinte Kilic. Bundesinnenminister Friedrich hatte sich zuvor dafür ausgesprochen, die Asylverfahren zu beschleunigen und Unberechtigte rasch wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Zugleich sollte auf europäischer Ebene wieder eine Visumspflicht für Bürger aus Serbien und Mazedonien eingeführt werden, betonte Friedrich[...]"

Quelle und kompletter Text:

http://www.dradio.de/nachrichten/201210131300/4

Bin kein Fan der Grünen mehr, aber hier liegen die, ebenso wie "Pro Asyl" wohl richtig - Es ist halt bald Bundestagswahl, und da will man als CSU-Mensch namens Friedrich bei den Rassisten und Antiziganisten in Deutschland punkten.

Trauriger Gruß
Bernie

Anonym 13. Oktober 2012 um 14:25  

Ein Inselvölkchen kritisiert den "Friedensnobelpreis für die EU":

"[...]"Jenseits einer Parodie"
Die britische Presse amüsiert sich über den Friedensnobelpreis für die EU[...]"

Quelle und kompletter Text:

http://www.heise.de/tp/blogs/6/152975

Amüsierte Grüße
Bernie (Briten-Fan)

Anonym 13. Oktober 2012 um 14:30  

Ich bin grundsätzlich gegen solche Preise.
Sie fördern nur ein ungesundes Wettbewerbsdenken (was auf den Friedensnobelpreis allerdings nicht zutrifft).

der Herr Karl

ulli 13. Oktober 2012 um 15:06  

Im Gegensatz zu allen anderen finde ich diese Preisverleihung gar nicht schlecht. Denn es ist ja wahr: Als ich ein Kind war, in den Sechzigern, standen noch in sämtlichen rheinhessischen Dörfern neben den Kirchen die Denkmäler an den Krieg von 1870/71. Später hatte eine junge Frau aus der Verwandtschaft einen Freund aus Frankreich und dieser "Franzos" wurde eher skeptisch beäugt. Das klingt heute alles ziemlich bizar, aber es ist erst ein paar Jahrzehnte her. Die europäische Vereinigung war ein großer zivilisatorischer Fortschritt.

Etwas anderes ist, dass wir heute nur ein Europa der Finanz- und Politeliten haben, "Eliten" in Anführungszeichen. Aber keines der Bürger. Dementsprechend sieht die europäische Politik denn auch aus. Aber das kann sich in den nächsten Jahrzehnten ja ändern, Europa muss sich erst noch von unten konstituieren. Die Bürger haben diesen Preis verdient, nicht Merkel, die mit ihrer "Sparpolitik" Griechenland auf das wirtschaftliche und soziale Niveau der Dritten Welt zurückprügelt; das hat einer europäischen Politik, wie sie etwa von Kohl und Mitterand noch praktiziert wurde und wie die Menschen sie erst wieder durchsetzen müssen, überhaupt nichts zu tun.

ad sinistram 13. Oktober 2012 um 15:13  

Mir war klar, dass Du das gut findest, Ulli...

Hartmut 13. Oktober 2012 um 15:39  

darf ich mal posten - no komment

sorry, das erste mal "Totalüberraschung"

Aldo 13. Oktober 2012 um 15:49  

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU ist ein Skandal, egal ob man darin nur eine Ironie oder sogar eine Grabrede auf das Projekt der europäischen Einheit sieht.
Ein Skandal deswegen, weil die Europäische Union bisher nur ein Projekt der Eliten von Wirtschaft und Politik ist. Die Masse bleibt davon ausgeschlossen. Diese Entscheidung ist “ eine Beleidigung für die Millionen Von EuropäerInnen, die in die Arbeitslosigkeit oder Armut abgedriftet sind. Außerdem ein Schlag ins Gesicht für alle jene, die rund um den Globus um die Menschenrechte kämpfen.“ So jedenfalls nach Meinung von Kristian Tangen, dem Generalsekretär von Landesorganisation i Norge, der größten nationalen Gewerkschaft Norwegens.
Und er steht damit nicht allein.
Nur 26 Prozent der norwegischen Bevölkerung ist mit dieser Entscheidung des Nobelkomitees einverstanden laut Recherchen der norwegischen Tageszeitung Aftenposten.

Aldo 13. Oktober 2012 um 16:33  

Hier ein Kommentar aus meinen Tagebuchaufzeichnungen vom 30.April 2004, anlässlich der EU Erweiterung: Überall Feste an diesem symbolträchtigen Tag.
Gestern unter den Linden in Berlin,ein warmerFrühlingstag und schwitzende PolizistInnen,8000 sind gestern in Berlinzusammengezogen worden, damit die Gala am Gendarmenmarkt ohne Störungenverlaufen kann. -
Die sollen nicht so viel demonstrieren,sagte ein Touristin breitem Schwäbisch,denn dann hätte der Staat mehr Geld.
Geld wozu,denke ich mir,bisher haben die Oberen ja bei denen, die sich schlecht wehren
können, kräftig abgezockt ,nämlich bei den Arbeitslosen,Kranken undRentnern. 4Wochen ist es her, da gab es in Berlin eine Demonstration gegen
den Sozialabbau mit 250000 TeilnehmerInnen.
Alles vergessen?
Heute heißt es feiern für die Wiedervereinigung Europas,für ein Ende von Hass,nationaler Verblendung, Unterdrückung und Ausrottung von Minderheiten.
Das mag alles stimmen und es war sehr bewegend, wie die Menschen auf der Oderbrücke zwischen Frankfurt/Oder und Slubisce aufeinander
zugingen.Friedlich und nicht in aggressiver Absicht wie unsere Väter/Großväter im September 1939. Wir haben Grund zur Freude,gewiß.
Einsymbolträchtiger Tag.
Ob die Verantwortlichen daran gedacht haben, dass
das neue Europa nicht nur die Freiheit für die Warenströme, sondern auch
soziale Gerechtigkeit für die Menschen in dieser neuen Gemeinschaftbedeutet?
Dazu eine tragikomische Geschichte: Eine Spanierin
beschließt nach der Trennung von ihrem französischen Ehemann von Toulouse
nach Berlin zu ziehen. Nichts Außergewöhnliches. Da Carmen viel Respekt vor der deutschen Bürokratie hat ,meldet sie sich ordnungsgemäß auch an. Dies
war jedoch ihre falla tragica ,denn jetzt gerät sie in die Mühlen der Bürokratie -wovon sie lebt,da sie keine geregelte Arbeit hat,wollen die
Behörden wissen . Sie erzählt etwas von gelegentlichen Zuwendungen einer
Tante in Spanien.
Wenig später flattert ein Schreiben mit amtlichen Siegelin ihre Wohnung, das sie jedoch nicht öffnet. Kurz darauf wird Luisa vonder Polizei abgeholt ,sie muss die Nacht in einer Zelle verbringen und
wird am nächsten Tag via Amsterdam nach Madrid abgeschoben.
“ Some of us are illegal,and some are not wanted ... You won''have a name when you ride the
big airplane all they will call you is deportee:http://www.youtube.com/watch?v=TN3HTdndZec

mann_von_nebenan 13. Oktober 2012 um 17:47  

@bernie 13:26,

yep, muss mich entschuldigen.
Irren ist männlich ;-)

Anonym 13. Oktober 2012 um 17:47  

@Aldo

Das nenne ich Selektion, was mit Carmen geschehen ist - da sind dt. Asylbehörden ja mittlerweile perfekt, und gnadenlos.

Wäre Carmen eine reiche Spanierin gewesen, so eine die ihr Geld nach Deutschland in Sicherheit bringen wollte, bevor Spanien in eine Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes stürzt, die wäre mit offenen Armen empfangen worden.

Selektion eben, wie bei der Rampe in Auschwitz - nur heißt es heute, "du taugst nichts und wirst abgeschoben" statt "du taugst nichts und kommst ins Gas" - Ich schrieb es ja woanders bereits, einige meiner dt. Landsleute - vor allem die selbsternannten "Eliten" und deren Fünfte Kolonne in den Ämtern ticken noch immer extrem ausländerfeindlich, und rechts.....

Trauriger Gruß
Bernie

Karim 15. Oktober 2012 um 16:24  

In China, sagte gestern Friedenspreisredner Liao Yiwu, habe er sich 'im eigenen Land heimatlos gefühlt': 'Das Elend wurde immer schlimmer, und die Menschen stumpften immer weiter ab, während die chinesische Wirtschaft zunehmend florierte.' Die Geschichte des chinesischen Großreiches habe seit jeher 'gewaltige Blutspuren durch die Geschichte gezogen'.
Ja, warum soll es denn nicht Preise für das kleinere Übel Europa geben, warum denn nicht?
Mit Lob positive Energien zu verstärken wirkkt grundsätzlich mehr als Kritik gegen negative Energien anzugehen.
Heißt nicht, dass es grundsätzlich keine Kritik geben darf, usw... Bevor wieder dieses Todschlagargument kommt...

Anonym 16. Oktober 2012 um 08:47  

@"Karim"

Empfehle - "[...]Mit Lob positive Energien zu verstärken wirkkt grundsätzlich mehr als Kritik gegen negative Energien anzugehen[...]"...zur Kur mal Literatur oder Filme über die Krankhaftigkeit deiner Ideologie des Positiven Denkens *grins*

Karim 16. Oktober 2012 um 21:23  

"Empfehle zur Kur mal Literatur oder Filme über die Krankhaftigkeit deiner Ideologie des Positiven Denkens"

Hallo Anonym,
Extreme sind immer ungesund, aber jeder kann ja an sich selbst beobachten, ob ihn eher Lob in Schaffensfreude bringt oder Kritik.
Um das festzustellen braucht es nicht mal Studien.
Steinzeitpädagogik hat ausgedient.

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