Beim Tupfen von Fettflecken
Dienstag, 2. Oktober 2012
Reichlich und viel gestaltet sich heute wie ein Fettfleck. Wie jener berühmte Fettfleck, den Ingo Schulze in seinem herausragenden Essay zitiert - ein Fettfleck, von dem Schulze wiederum aus einem Essay von Franz Fühmann erfuhr. Der meinte, dass die Kritik im Lande DDR einem solchen Fleck auf den unsichtbaren Kleidern des Kaisers gleiche. Keiner sage nämlich, dass es da gar keine Kleider gibt. Der kindliche Ausruf Aber er hat ja gar nichts an! bleibe gänzlich aus. Anstelle dessen bekrittele man den einen oder andere Dreck- oder Fettfleck, den man auf dem unmerklichen Gewand entdecke. Eine solche Kritik an unsichtbarem Gestrick sei nicht weniger als eine Posse.
Schulze schreibt, das diese Kritik des vermeintlichen Fettflecks nur Kritik vortäusche. Simulierte Opposition sei das. Pseudokritik, die "affirmativer als jede Lobpreisung oder Rechtfertigung des Bestehenden" ist. Denn es wird grundsätzlich anerkannt, was gar nicht vorhanden ist.
Solchen Fettbefleckungen sieht man sich heute fast dauerhaft gegenübergestellt. Kein richtiges Leben im falschen, hätte ein bekannter Soziologe zu seiner Zeit präzisiert. Die Kritik mit dem Fettfleck auf einem Gewand, das offenbar für jedermann sichtbar ist, obgleich es nicht da ist, dürfte aber bildhafter sein, als Parabel mehr Gewicht erzielen, als die oft trockene Analytikersprache des oben ungenannten Soziologen.
Schulze arbeitet sich in seinem Büchlein - der überarbeitete Abdruck einer Rede, die er hielt - an dem ab, was unser aller Alltag ist. Als Beispiel: So wie ich vom Fettfleck las, sah ich mich ins hessische Schulsystem geschmissen, in dem ich nun seit knapp zwei Monaten als Elternbeirat walte. Klar war mir, dass ich dort keine Bäume ausreißen werde, dass mein Beitrag nur gering sein würde, vielleicht überhaupt nicht beitragen würde. Nun sehe ich, dass es ein Kampf gegen Worte ist, wenn Lehrer von "funktionierenden Schülern" reden und Rektoren Eltern als Kunden titulieren - es ist ein Kampf gegen Willkür, gegen absichtlich leer gehaltene Schulkassen, gegen all die scheußlichen neoliberalen Agenden im Schulalltag; ein Kampf gegen ein Bildungssystem, in dem Schüler wettbewerberisch in Stellung gebracht werden, in dem Lehrer überfordert sind, wenig ermutigen, aber leicht entmutigen, wenn sie von der grauen Zukunft sprechen, die einem widerfährt, falls sich die Zensuren nicht endlich merklich bessern.
"Im Übrigen meine ich, dass die Mauer abgerissen werden sollte", wäre der ursprünglichste Satz jedweder Kritik in der DDR gewesen, meint Schulze weiter. Dieser Satz wäre die Wurzel, lateinisch: die radix, wovon sich das Beiwort radikal ableitet - jede Kritik hätte mit diesem Satz einhergehen müssen; jede Kritik hätte also radikal sein müssen, wenn sie als Kritik aufrichtig sein wollte. Das wäre aber stets unrealistisch gewesen, denn wer hätte das schon durchgehalten? Doch die Kritik an Alltagsproblemen innerhalb der DDR hätte bedeutet, dem Bestehenden in die Arme zu fallen - erst wenn man das mit der Mauer gesagt hätte, wäre der Kritik der würdige Rahmen verpasst worden. Und so müsste ich als Elternbeirat immer wieder nach- oder vorschieben, darlegen und zwischen die Zeilen streuen, dass ich im Übrigens meine, dass das hessische Schulsystem reformiert und vom codex neoliberalis befreit werden müsse. Weil ich das aber nicht durchhalte und weil ich mich wahrscheinlich als Diskussionspartner ins Abseits leitete, kann ich das nur selten und in ausgewählten Augenblicken tun - und so benenne auch ich nur Fettflecken auf einem Gewand, von dem jeder eigentlich sehen müsste, dass es nicht zu sehen ist, von dem aber jeder vorgibt, es zu erblicken.
Neulich ein Gespräch mit meiner Stellvertreterin. Ich wurde grundsätzlich, meinte sinn- nicht wortgemäß, dass ich im Übrigen meine, dass das System marode sei - absichtlich marodisiert natürlich, denn der schlanke Staat, dieses neoliberale Schlagwort, meint ja auch gertenschlanke Schulen. Es ging um die Renovierung des Klassenzimmers. Die Schule finanziert dergleichen nicht - sie wird von der Landesregierung finanziell kurzgehalten, sodass andere, existenziellere Dringlichkeiten schon nicht bezahlt werden können. Höchstens und vielleicht und eventuell, wenn viele Eltern intervenieren, dann könnte sich was machen lassen. Ich vermute, man würde die billigste Farbe bezahlen und dann könnte man sehen, wer sich einsprenkelt und volltupft. Womöglich finde sich dann jemand, sagte man mir in jenem Gespräch, irgendein Elternteil, das das Malen übernehmen würde. Ich sagte, dass ich nicht gewillt bin, die Schule und die hiesige Bildungspolitik aus der Verantwortung schleichen zu lassen, um dann die Eltern mit dem zu behelligen, was Aufgabe der öffentlichen Hand wäre, nicht des privaten Engagements einiger Eltern - das war sozusagen mein ceterum censeo an jenem Tag. Nein, sagte die Stellvertreterin, sie denke viel da pragmatischer. Was ist eigentlich das Gegenteil von Pragmatik? Ist es Starrheit? Gar Starrsinn? Ist es ideologische Borniertheit? Verkrustet?
Die unsichtbaren Kleider nicht zu sehen, dazu zu stehen, sie nicht sehen zu können, verortet einen in Hilflosigkeit. Man wird für blöd, mindestens aber für sonderbar erklärt, wenn man stur dabei bleibt - oder man rutscht ins Affirmative, weil man sein ceterum censeo nicht mehr anbringt. Wenn man mit einem Lehrer über das Wie und Ob pädagogischer Maßnahmen diskutiert, dann bejaht man solche Maßnahmen nicht nur: man bejaht solche Maßnahmen in der Schule, wie sie aktuell ist, wie sie gestaltet und abgewirtschaftet wird. Ein Konsens innerhalb des falschen Lebens ist immer auch das affirmative Zugeständnis dieses verfälschten Entwurfes. Schon wenn man über die Gestaltung des Pausenhofes in einer solchen Schule in einem solchen System spricht, erkennt man den status quo an, erkennt man ein System an, das neoliberal zum Himmel stinkt.
Fettflecken auf transparentem Gewebe begegnen uns überall. Wenn wir derzeit davon berichtet bekommen, wie innerhalb der Sozialdemokratie die Kanzlerfrage gestellt wird, dann handelt es sich auch hier alleinig um Fettflecken, die uns als Alternative gereicht werden. Die K-Frage ist in ihrer Metaphysik nichts weiter als eine F-Frage. Denn die zur Wahl gestellte Person, gleich welchen Namens, ist nicht als Alternative gedacht, nicht als Kind, das Aber er hat ja gar nichts an! ruft. Der potenzielle Kanzler ist nur ein verschobener, an andere Stelle eingewirkter Fettfleck. Überparteilich gestaltet sich die Wahl der potenziellen Kanzler nicht anders. Wo landet der Fleck? Ganz rechts als konturloser Wust an Fettspritzer, indem der Kanzler diese Kanzlerin bleibt oder nicht völlig rechts als fettiges Gekleckse, indem der Kanzler aus der Sozialdemokratie kommt?
Überall diese öligen, schmierigen Flecken, die wir Kritik taufen - aber das Gewand wird als gegeben vorausgesetzt. Es existiert dabei in keiner wahrnehmbaren Dimension, gleichwohl ist die Zustimmung einem eindimensionalen Denkmuster geschuldet. Dieses "eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformationen systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden", schreibt Herbert Marcuse - jener Denker, der wie kein anderer in unsere Zeit passt. Das Gewand ist eine Hypothese und wer es nicht hypothetisch annimmt und sich demgemäß sprachlich und inhaltlich ausrichtet, verwirft diese Hypothese und beraubt sich damit des Fundaments jedes Dialogs, nimmt sich selbst die Worte, macht sich unverstanden. Das hypothetische Gewand ist eine totalitäre Diktatur, es nicht zu erkennen, verstößt gegen den Sittenkodex dieses Diktats. Beanstandete Fettflecken nerven die Schneider und Designer unsichtbarer Gewänder durchaus, denn sie rauben Zeit und Nerven und werden als querulantisch eingestuft. Aber gleichzeitig ist das Deuten solcher Flecken ja auch der Beweis dafür, dass man das Kleid sieht. Sagt man Fettfleck, so sagt man damit ja auch: ich sehe das Gewand! Da ist es! Ich sehe es so unglaublich gut, dass ich sogar diesen einen Fleck darauf entdeckt habe!
Schulzes Essay trage ich nun bei mir, wie eine tiefe Erkenntnis. Die ist mir jedoch insofern nicht neu, was er schreibt, habe ich so oder ähnlich vorher schon empfunden oder gewusst. Aber es ist, wie er selbst schreibt: Das Selbstverständliche ist uns so selten geworden, dass wir die Nennung des Selbstverständlichen in uns saugen, wie einen kostbaren und raren Schatz. Aber er hat ja gar nichts an! ist für uns eine so profunde Einsicht, dass wir uns verneigen vor denen, die es sich trauen, die kaiserliche Nacktheit zu benennen. Dabei ist es nur das Offenkundige. Dieses Selbstverständliche verleugnet: das ist die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern. Aber er hat ja gar nichts an!, denke ich mir heute mehrmals täglich zur eigenen Ermutigung und Erbauung, wenn es mal wieder mit Leuten zu tun hatte, die bloß Fettflecken bemängeln und fleißig an ihnen herumtupfen - die sie nicht verreiben, denn Fettflecken tupft man ausschließlich.
Sehen sie denn nicht, dass sie ins Leere tupfen?
"Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie - für demokratiekonforme Märkte" von Ingo Schulze erschien bei Hanser Berlin.
Schulze schreibt, das diese Kritik des vermeintlichen Fettflecks nur Kritik vortäusche. Simulierte Opposition sei das. Pseudokritik, die "affirmativer als jede Lobpreisung oder Rechtfertigung des Bestehenden" ist. Denn es wird grundsätzlich anerkannt, was gar nicht vorhanden ist.
Solchen Fettbefleckungen sieht man sich heute fast dauerhaft gegenübergestellt. Kein richtiges Leben im falschen, hätte ein bekannter Soziologe zu seiner Zeit präzisiert. Die Kritik mit dem Fettfleck auf einem Gewand, das offenbar für jedermann sichtbar ist, obgleich es nicht da ist, dürfte aber bildhafter sein, als Parabel mehr Gewicht erzielen, als die oft trockene Analytikersprache des oben ungenannten Soziologen.
Schulze arbeitet sich in seinem Büchlein - der überarbeitete Abdruck einer Rede, die er hielt - an dem ab, was unser aller Alltag ist. Als Beispiel: So wie ich vom Fettfleck las, sah ich mich ins hessische Schulsystem geschmissen, in dem ich nun seit knapp zwei Monaten als Elternbeirat walte. Klar war mir, dass ich dort keine Bäume ausreißen werde, dass mein Beitrag nur gering sein würde, vielleicht überhaupt nicht beitragen würde. Nun sehe ich, dass es ein Kampf gegen Worte ist, wenn Lehrer von "funktionierenden Schülern" reden und Rektoren Eltern als Kunden titulieren - es ist ein Kampf gegen Willkür, gegen absichtlich leer gehaltene Schulkassen, gegen all die scheußlichen neoliberalen Agenden im Schulalltag; ein Kampf gegen ein Bildungssystem, in dem Schüler wettbewerberisch in Stellung gebracht werden, in dem Lehrer überfordert sind, wenig ermutigen, aber leicht entmutigen, wenn sie von der grauen Zukunft sprechen, die einem widerfährt, falls sich die Zensuren nicht endlich merklich bessern.
"Im Übrigen meine ich, dass die Mauer abgerissen werden sollte", wäre der ursprünglichste Satz jedweder Kritik in der DDR gewesen, meint Schulze weiter. Dieser Satz wäre die Wurzel, lateinisch: die radix, wovon sich das Beiwort radikal ableitet - jede Kritik hätte mit diesem Satz einhergehen müssen; jede Kritik hätte also radikal sein müssen, wenn sie als Kritik aufrichtig sein wollte. Das wäre aber stets unrealistisch gewesen, denn wer hätte das schon durchgehalten? Doch die Kritik an Alltagsproblemen innerhalb der DDR hätte bedeutet, dem Bestehenden in die Arme zu fallen - erst wenn man das mit der Mauer gesagt hätte, wäre der Kritik der würdige Rahmen verpasst worden. Und so müsste ich als Elternbeirat immer wieder nach- oder vorschieben, darlegen und zwischen die Zeilen streuen, dass ich im Übrigens meine, dass das hessische Schulsystem reformiert und vom codex neoliberalis befreit werden müsse. Weil ich das aber nicht durchhalte und weil ich mich wahrscheinlich als Diskussionspartner ins Abseits leitete, kann ich das nur selten und in ausgewählten Augenblicken tun - und so benenne auch ich nur Fettflecken auf einem Gewand, von dem jeder eigentlich sehen müsste, dass es nicht zu sehen ist, von dem aber jeder vorgibt, es zu erblicken.
Neulich ein Gespräch mit meiner Stellvertreterin. Ich wurde grundsätzlich, meinte sinn- nicht wortgemäß, dass ich im Übrigen meine, dass das System marode sei - absichtlich marodisiert natürlich, denn der schlanke Staat, dieses neoliberale Schlagwort, meint ja auch gertenschlanke Schulen. Es ging um die Renovierung des Klassenzimmers. Die Schule finanziert dergleichen nicht - sie wird von der Landesregierung finanziell kurzgehalten, sodass andere, existenziellere Dringlichkeiten schon nicht bezahlt werden können. Höchstens und vielleicht und eventuell, wenn viele Eltern intervenieren, dann könnte sich was machen lassen. Ich vermute, man würde die billigste Farbe bezahlen und dann könnte man sehen, wer sich einsprenkelt und volltupft. Womöglich finde sich dann jemand, sagte man mir in jenem Gespräch, irgendein Elternteil, das das Malen übernehmen würde. Ich sagte, dass ich nicht gewillt bin, die Schule und die hiesige Bildungspolitik aus der Verantwortung schleichen zu lassen, um dann die Eltern mit dem zu behelligen, was Aufgabe der öffentlichen Hand wäre, nicht des privaten Engagements einiger Eltern - das war sozusagen mein ceterum censeo an jenem Tag. Nein, sagte die Stellvertreterin, sie denke viel da pragmatischer. Was ist eigentlich das Gegenteil von Pragmatik? Ist es Starrheit? Gar Starrsinn? Ist es ideologische Borniertheit? Verkrustet?
Die unsichtbaren Kleider nicht zu sehen, dazu zu stehen, sie nicht sehen zu können, verortet einen in Hilflosigkeit. Man wird für blöd, mindestens aber für sonderbar erklärt, wenn man stur dabei bleibt - oder man rutscht ins Affirmative, weil man sein ceterum censeo nicht mehr anbringt. Wenn man mit einem Lehrer über das Wie und Ob pädagogischer Maßnahmen diskutiert, dann bejaht man solche Maßnahmen nicht nur: man bejaht solche Maßnahmen in der Schule, wie sie aktuell ist, wie sie gestaltet und abgewirtschaftet wird. Ein Konsens innerhalb des falschen Lebens ist immer auch das affirmative Zugeständnis dieses verfälschten Entwurfes. Schon wenn man über die Gestaltung des Pausenhofes in einer solchen Schule in einem solchen System spricht, erkennt man den status quo an, erkennt man ein System an, das neoliberal zum Himmel stinkt.
Fettflecken auf transparentem Gewebe begegnen uns überall. Wenn wir derzeit davon berichtet bekommen, wie innerhalb der Sozialdemokratie die Kanzlerfrage gestellt wird, dann handelt es sich auch hier alleinig um Fettflecken, die uns als Alternative gereicht werden. Die K-Frage ist in ihrer Metaphysik nichts weiter als eine F-Frage. Denn die zur Wahl gestellte Person, gleich welchen Namens, ist nicht als Alternative gedacht, nicht als Kind, das Aber er hat ja gar nichts an! ruft. Der potenzielle Kanzler ist nur ein verschobener, an andere Stelle eingewirkter Fettfleck. Überparteilich gestaltet sich die Wahl der potenziellen Kanzler nicht anders. Wo landet der Fleck? Ganz rechts als konturloser Wust an Fettspritzer, indem der Kanzler diese Kanzlerin bleibt oder nicht völlig rechts als fettiges Gekleckse, indem der Kanzler aus der Sozialdemokratie kommt?
Überall diese öligen, schmierigen Flecken, die wir Kritik taufen - aber das Gewand wird als gegeben vorausgesetzt. Es existiert dabei in keiner wahrnehmbaren Dimension, gleichwohl ist die Zustimmung einem eindimensionalen Denkmuster geschuldet. Dieses "eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformationen systematisch gefördert. Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden", schreibt Herbert Marcuse - jener Denker, der wie kein anderer in unsere Zeit passt. Das Gewand ist eine Hypothese und wer es nicht hypothetisch annimmt und sich demgemäß sprachlich und inhaltlich ausrichtet, verwirft diese Hypothese und beraubt sich damit des Fundaments jedes Dialogs, nimmt sich selbst die Worte, macht sich unverstanden. Das hypothetische Gewand ist eine totalitäre Diktatur, es nicht zu erkennen, verstößt gegen den Sittenkodex dieses Diktats. Beanstandete Fettflecken nerven die Schneider und Designer unsichtbarer Gewänder durchaus, denn sie rauben Zeit und Nerven und werden als querulantisch eingestuft. Aber gleichzeitig ist das Deuten solcher Flecken ja auch der Beweis dafür, dass man das Kleid sieht. Sagt man Fettfleck, so sagt man damit ja auch: ich sehe das Gewand! Da ist es! Ich sehe es so unglaublich gut, dass ich sogar diesen einen Fleck darauf entdeckt habe!
Schulzes Essay trage ich nun bei mir, wie eine tiefe Erkenntnis. Die ist mir jedoch insofern nicht neu, was er schreibt, habe ich so oder ähnlich vorher schon empfunden oder gewusst. Aber es ist, wie er selbst schreibt: Das Selbstverständliche ist uns so selten geworden, dass wir die Nennung des Selbstverständlichen in uns saugen, wie einen kostbaren und raren Schatz. Aber er hat ja gar nichts an! ist für uns eine so profunde Einsicht, dass wir uns verneigen vor denen, die es sich trauen, die kaiserliche Nacktheit zu benennen. Dabei ist es nur das Offenkundige. Dieses Selbstverständliche verleugnet: das ist die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern. Aber er hat ja gar nichts an!, denke ich mir heute mehrmals täglich zur eigenen Ermutigung und Erbauung, wenn es mal wieder mit Leuten zu tun hatte, die bloß Fettflecken bemängeln und fleißig an ihnen herumtupfen - die sie nicht verreiben, denn Fettflecken tupft man ausschließlich.
Sehen sie denn nicht, dass sie ins Leere tupfen?
"Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie - für demokratiekonforme Märkte" von Ingo Schulze erschien bei Hanser Berlin.
19 Kommentare:
Bravo! Ein gelungener Text!
Wow - als Elternbeirat gegen das System argumentieren wollen - mutig, mutig! Ich habe mich mal gegen ein Anti-Gewalt-Mobbing-Dingens-Training an der Grundschule meiner Kinder ausgesprochen, an dem nur eine private Firma verdiente. Es gebe eine Evaluation, alle würden sich in falsche Sicherheit wiegen, es koste alle Beteiligten einen Haufen Geld und verdienen würde nur die Schulungsfirma. Ich wurde von den anderen Eltern fürderhin in etwa als Förderer der Kindesmisshandlung betrachtet (ist mir wurscht, da habe ich ein verdammt dickes Fell).
Desgleichen später an der Realschule - wieder Anti-Aggressions-mobbing-Dingsda. Wieder meine Frage nach dem Wirkungsmechanismus einer solchen Maßnahme und vollkommenes Unverständnis als Reaktion. Dabei kann es ja durchaus sein, dass es helfen KÖNNTE, tuts nur nicht. Mobbing und Aggression kommen immer häufiger vor, und sexueller Missbrauch wird auch nicht dadurch verhindert, dass die Kinder ein paar Mal aufgefordert werden, im beschützten Umfeld des Klassenraums laut NEIN zu rufen oder der Tante kein Küsschen mehr geben zu müssen. Der Rektor gab mir Recht, kann aber gegen die tollen Programme der Ministerien und die zunehmend hysterischen Eltern nichts machen. Mein Vorschlag, die Schüler Schüler sein zu lassen und statt dessen die Eltern mit einzubinden wurde sofort abgebügelt (geht nicht, da kommt ja doch keiner, ...) Mobbing und Aggression gibts natürlich weiterhin in steigendem Maße.
Nach einem Umzug - eine neue Schule. Noch freuen sich die Lehrer und die Schulleitung, dass ich mich so engagiere. Freue mich schon auf die ersten Fachkonferenzen - kenne ich noch nicht und hab´mich mal in ein paar eingetragen. ;-)
Bei Revolutionen ist noch nie herausgekommen, was die Revolutionäre anstrebten. In Frankreich haben sie "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" gerufen und sie bekamen die bürgerliche Gesellschaft (die dem Feudalismus auf jeden Fall vorzuziehen ist). Von Rußland und Lenin will ich erst gar nicht reden. Was die Mehrzahl der DDR-Bürger 89 genau wollte, weiß ich nicht (die wunderbare westdeutsche Warenwelt vermutlich), immerhin haben sie in Massen Helmut Kohl gewählt. Da kann man leicht sagen: Selbst schuld - es ist aber die Wahrheit.
Letztlich stimmt Schulzes ganzes Bild nicht. In Deutschland trägt der Kaiser natürlich Kleider. Vielleicht sind es nicht gerade die allerschönsten, aber die Kleider sind vorhanden. Immerhin lebt man in Deutschland als armer Mensch wesentlich besser als in den allermeisten Teilen der Erde. Das sollte man nicht vergessen.
@ ulli. Der Mensch lebt relational. Zweiffellos besteht auch eine Relation zum Armen in Kambodscha, insofern man heute wenigstens weiß, dass es so schlimme Armut gibt. Aber das kann man nicht als Maßstab für eine hieisge Lokalität nehmen. Und wenn schon, dann Läge es doch unendlich viel näher zu sagen, um so reicher man im Unterschied zum armen Kambodschaner ist, um so illegitmer ist der Reichtum. Dann wäre, wenn schon, zuerst der Reichtum zu delegitmieren und nicht die hiesige Armut zu legitimieren. Diese sind so arm, was tut ihr mit Gütern, die ihr ein 1000 Jahren nicht verbrauchen könnt.
Marcuse hatte schon die Realfiktionen angedacht. Das war mir neu. Interessant.
Wieviel und was sind wir noch? Eine tiefe Langweile geht um, alle Menschen verhalten sich nur mehr gleich, an allen Gesichtern sehen wir dieselbe Mimik, alle gestikulieren in Situationen gleich. Alle Stimmen lachen gleich, überall die gleich angezogenen Backenmuskeln, die gleichen Wörter kommen aus den MÜndern, mancherorts können Menschen schon nicht mehr anders, als zugleich geleichzeitig das Selbe zu tun. So gleich sind sie. Es geht nicht anders. Obwohl alle anderes sein wollen, können sie nicht anders, als gleich zu sein. Sieh da, diese drei konzentrieren sich, damit sie in 20 Sekunden alle drei etwas Unterschiedliches tun. Und siehe nun, nach 22 Sekunden tun sie dasselbe. Es ist unheimlich. Manche verabschieden sich monatelang von einander in der Hoffnung, sich in Differenz wieder zu sehen. Aber es geht nicht. Nur eine schale Erinnerung an frühere Differenzen hält überhaupt die als Angst wesende Hoffnung auf Differenz aufrecht. Aber all dies hilft nicht zu Weiterem. Die stärkste Willensanstrengung bringt nur die gleichen Existenzsequenzen hervor. Ein tiefer Horror bricht episodenweise herein und läßt alle gleich schreckhaft schauen. Wir müssen in eine immense Falle geraten sein. Was ist geschehen mit den Menschen? Sie können sich nicht mehr unterscheiden. Moment um Moment, erregen sie die gleichen Sensationen. Die gleichen Ideen schwirren durch die Köpfe, im gleichen Augenblick reden sie voreinander von ihrer Gleichheit und beschweren sich zugleich im Anschluß, dass der andere den einen nicht reden ließ. Wohinein sind wir gefallen? Wie kommen wir wieder heraus?
Danke, ulli! Der beste Kommentar, den ich hier seit mehreren Jahren gelesen habe! Danke, danke, danke!
Zitat: "Immerhin lebt man in Deutschland als armer Mensch wesentlich besser als in den allermeisten Teilen der Erde. Das sollte man nicht vergessen."
Hallo, Opportunismus!
Nicht zu handeln unter Bedingungen, die durch das System gegeben sind, bedeutet moralische Reinheit zum Preis der Bewegungslosigkeit.
Die moralische Reinheit kann folglich nicht weiterführend sein gegenüber dem Handeln auch unter Bedingungen des Systems.
@ ulli
Es sind immer dieselben Beißreflexe die aufkommen, wenn etwas zur DDR geschrieben wird. Das fällt mir bei Deinen Kommentaren immer wieder auf.
Der Relativismus der Armut, den Du bemühst (was ich nicht ganz verstehe, wie Du dazu gelangst) ist, ob man es bewusst oder unbewusst tut, ob beabsichtigt oder nicht, ob gut gemeint oder nicht, immer die Verfestigung der Armut, die Rechtfertigung und Beschwichtigung.
Dass Revolutionen ihre Kinder fressen und ihre Ideale ist indessen eine Binse.
Der beste Kommentar, den ich seit Jahren hier las? Anonym von 12:56. Entweder kannst Du nicht lesen oder Du bist einer von denen, die dauernd applaudieren, wenn jemand was sagt, was auch nur ansatzweise ins konservative Weltbildchen passt.
Roberto, jeder hier betreibt den Relativismus der Armut auf seine Weise. Mögliche Aspekte von Selbstverschuldung oder gar Ermunterung dazu spielen für Dich in der ganzen Thematik zum Beispiel niemals eine Rolle, weil Du dies per se als böswillige Beschwichtigung von Systemhörigen ansiehst.
Die Realität ist aber vielgestaltiger... Aber auch das darf man ja nicht sagen.
Das sagen schon viel zu viele. Abgesehen davon, wir sprechen von einer Armut die Produkt von denen ist, die nicht arm sind - sie das ist sie strukturell bedingt immer.
"Das sagen schon viel zu viele" - Man gibt einfach seine Ideale auf, wenn man selber zu Pauschalisierung greift als Reaktion darauf, dass andere pauschalisieren.
Es ist die gleiche Argumentationsweise wie "Ich bin eigentlich absoluter Pazifist, aber wenn jemand eine Waffe benutzt, dann benutze ich auch eine."
Es ist dann nur noch ein Schritt hin zu "Ich benutze meine Waffe dann lieber präventiv, bevor der eindeutig böse Andere es tut."
Und schon wären wir mitten in der Erklärung fortlaufender Kriege unter dem Banner der Gerechtigkeitsschaffung...
Es liegt mir fern, die Armut relativieren zu wollen. Aber ich habe auch Erfahrungen gemacht. So hatte ich während einer USA-Reise mal das Pech an einer Bronchitis zu erkranken, und da ich keine goldene Kreditkarte besitze, bin ich eben dorthin, wo die Armen sich behandeln lassen (es war in einem von den Demokraten regierten Staat, wo es so etwas gibt). Armut und Elend, die es zu sehen gab, waren wirklich grausam. In dieser Hinsicht sind die Verhältnisse in Deutschland viel besser.
Was die DDR angeht, werden wir uns in diesem Leben sicher nicht mehr einigen. Ich kenne die DDR noch aus eigenem Augenschein, und bei jedem Besuch war mein Eindruck: Wenn das der Sozialismus sein soll, will ich aber lieber im Kapitalismus leben. Das Land war grau, verarmt und spießig. Ohne Mauer wäre es schon lange kollabiert. So hätte ich niemals leben wollen. Wenn man mich beispielsweise vor die Wahl gestellt hätte: USA oder DDR?, ich wäre tausend Mal in die USA gegangen.
Ich pauschaliere nichts, aber "Aspekte von Selbstverschuldung", wie das genannt wurde, sind nicht das Problem - das ist die Ablenkung vom Problem.
welche gestalten kommentieren denn heute wieder hier!!!
Der Kaiser ist nicht nur nackt, sondern auch längst dick und runzlig. Was mach ma nu?
Mich beschleicht ein Gefühl wie vor kurzem beim 'Sozialstaat als Versprechen'. Auch wenn du nach eigener Aussage mit Marx nie viel anfangen konntest, 'wusstest' du aber doch schon mal, dass es der Kapitalismus selbst ist, der abgeschafft gehört, und der 'Neoliberalismus' nur sein historisch aktuelles Kleidchen bzw eben Nicht-Kleidchen. Es sind nicht 'die Reichen', die Staat und Arme arm machen. Es ist das Prinzip, das dahinter steht und das bereits so dysfunktional geworden ist, dass es seine eigene Substanz verzehrt - zu der eben auch 'Sozialstaat' und Schulen gehören. In dieser Situation noch für 'demokratiekonforme Märkte' einzutreten ist selbst nur noch ein Rumgetupfe.
Was aber wiederum nicht heissen soll, 'das System' aus seiner Verantwortung zu entlassen, oder es nicht dauernd mit seinen eigenen Heilsversprechen zu konfrontieren. Es ist ja nackt, und natürlich muss man ständig darauf hinweisen.
Und was die Relativierung der Armut angeht - vernünftiger Maßstab kann nie sein, dass die Zerstörungen andernorts bereits noch gravierender sind. Maßstab kann und sollte nur sein - was wäre mit den Kapazitäten, die wir haben bei 'vernünftiger' (und nicht nur 'rationaler') Anwendung längst für alle möglich? Gerade für die Armen, auf deren Armut auch der 'relative Reichtum' eines hiesigen HIV-Empfängers immer noch beruht. Dennn das ist natürlich richtig - der 'Reichtum' beruht auf Armut. Aber es sind nicht nur 'die Reichen', die ihn machen und auch sie - wir alle sind es, die wir uns von einem auch noch weitgehend unverstandenen und als 'natürlich' halluzinierten Prinzip knechten lassen. Im übrigen ist auch der Reichtum nackt insofern er nur aus 'Geld' besteht...
Am Sonntag übrigens wieder die Sendung "Precht" mit dem Thema "Freiheit" und als Gast Mathias Döpfner, Vorsitzender des Springer-Konzerns!
Ich denke, der Mann wird es wissen, seinen Konzern reinzuwaschen in dieser Sendung.
Hier schon die ersten 3 Minuten der Sendung:
www.zdf.de/ZDF/zdfportal/web/ZDF.de/Precht/23803724/23803722/9fa219/Precht.html
Ja, am Sonntag "Precht" mit Mathias Döpfner, und ich fürchte, dass Precht damit daran mitwirken wird, Mathias Döpfner und damit dem Springer-Konzern einen intellektuellen Heiligenschein zu verpassen...
Er wird seinen Gesprächspartner garantiert nicht als die Inkarnation des Bösen an sich bloßstellen, und selbst wenn er subtil Kritik äußert, wird es unterm Strich eine Adelung Döpfners sein, der sich "achtsam" präsentiert hat oder so ähnlich...
Precht hat wie erwartet der Gesinnung des Mathias Döpfners höhere Weihen erteilt.
Die Umverteilung sei keine Lösung. Es fördere nicht mehr Leistungsenergie, es gebe eine Erosion des Prinzips Eigentum, des Prinzips Leistung. Das fördere die Trägheit der Gesellschaft. Am Ende würde es allen schlechter gehen. Das kenne man schon aus dem Sozialismus.
Kommentar veröffentlichen