Das war's dann

Samstag, 22. Dezember 2012

oder Peer übernimmt jetzt.

Ich habe nichts mehr zu sagen. Drum mache ich es zum Ende hin kurz. Das war's dann. Es bleibt nichts zu tun. Und was habe ich schon getan? Geschrieben! Sonst nichts. Jedenfalls habe ich es versucht.

Nun lohnt es sich nicht mehr. Also beende ich es. Ein Mann muss wissen, was ein Mann wissen muss. Ich weiß es, also hör' ich auf. Verändern werde ich die Welt eh nicht mehr. War nie meine Absicht. Wer mit solchen Plänen schreibt, der endet im Suff oder in der Psychiatrie. Oder beides. Das Jahr ist alt, bald tot. Das Land wiegt sich in wonniger Harmoniesucht, badet im Geruch der Nordmann-Tanne, feiert Nächstenliebe, wo es sonst keine gibt. Da will ich nicht weiter stören. Also halte ich die Klappe... halte ich die Klappe meines Tintenfasses verschlossen.

Das war's dann. Meine Stimme verstummt. Wieder ein Jahr, nachdem man enttäuscht sein muss. Der Neoliberalismus wütet immer noch und schlimmer noch. Er tut jetzt nur manchmal etwas bedächtigter, macht auf nachdenklich und philosophisch. Gespielte Besonnenheit ist nötig in, nach und vor der Krise. Der Rassismus stößt Brunftschreie aus wie lange nicht mehr, findet ein paarungswilliges Massenpublikum und sein kleiner Bruder, der Sozialrassismus, fällt selbst bei denen auf fruchtbaren Boden, die mit aufgeklärter und oberlehrerhafter Anstalt dem Rassismus begegnen, den sie für rückständig und unmenschlich und gemein halten. In Wirklichkeit sieht das dann so aus: Diese unbescholten braven Bürger gehen gegen den Rassismus demonstrieren und gegen jene Arschlöcher, die gegen Schwarze und Araber hetzen, während sie nach der Demo das Arbeitsscheuenproblem erörtern.

In einem Jahr, in dem die Wiederwahl eines Advokaten der Wallstreet zum US-Präsidenten bejubelt wird, weil sein Kontrahent noch viel schlimmer, ein milliardenschwerer Reaktionär war, kann kein gutes Jahr gewesen sein. Das war's dann. Ich flüchte nach 2013, jetzt gefällt es mir nicht mehr.

Ich gebe ab. Nicht dass ich das Wort dem neuen Messias erteilen müsste. Er ergreift es sich von ganz alleine. Was habe ich noch zu melden, jetzt, da der hanseatische Cherub der Entrechteten und Geknechteten verkündet hat, er schaffe ein neues Deutschland? Hat Peer nicht seine Programmatik so ausgerichtet, wie ich es mir wünschen würde? Seie Rede zu Hannover war doch Erleuchtung und das bittere Ende von ad sinistram. Es war doch stets so, dass ad sinistram in Mahnungen schwelgte. In einer besseren Welt ist es selbst überflüssig, in einer Welt des gerechten Peer ist es doch unnötig geworden. Steinbrücks Rede hat mich zum Artefakt aus einer anderen Zeit gemacht. Nachdem er seinen messianischen Auftrag gefunden hat, sind all die ad sinistrams dieser bloggenden Welt abkömmlich geworden.

Also war's das dann. Das Fest der Stille als Beginn meiner Stille. Kein Wort mehr - aber nur für dies' Jahr.

Liebe Leser, ich wünsche Ihnen ruhige Feiertage. Mal den Dreck vergessen, der uns sonst beschäftigt. Auch wenn es nur kurz ist. Manchmal braucht es den Rückzug, die Einkehr, die Distanz zu dem, was uns ärgert. Der Satz klang wie aus einer Neujahrsansprache. Falsch ist er deswegen ja nicht. Man muss kein Christ sein, um die vermeintliche Ruhe zum Jahresende schätzen zu können. Anfang 2013 halte ich meine Klappe dann nicht mehr. Und wenn Sie mögen, so dürfen Sie ad sinistram unterstützen. Aber wirklich nur wenn Sie mögen. Wenn nicht, dann eben nicht. Entweder per Paypal (siehe rechte Seitenleiste) oder über den gewöhnlichen Bankweg. Meine Kontodaten teilte ich Ihnen gerne mit. Vielen Dank. Aber wirklich nur wenn Sie mögen!



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Metaphern von Dichtern und Denkern

Freitag, 21. Dezember 2012

Ein Appell auf die Scheiße.

Offensichtlich ist es so, dass man in diesem Lande gar kein Deutsch spricht. Das spricht man nur immer in dem Moment, in dem man deutlich werden will. Berühmte und oft gehörte Einleitung in diesem Lande ist: Auf Deutsch gesagt. Und nach diesen drei Worten folgt dann die Deutlichkeit.

Neulich fragte ein Radioreporter Angestellte eines Unternehmens, das Einsparungen beim Personal beschlossen hat. Eine Frau gab zu Protokoll: Auf Deutsch gesagt, alles beschissen. Und gleich darauf ein Mann: Auf Deutsch gesagt, das ist Scheiße. Dann kam einer, der sagte, dass es deutlich gesagt, eine Frechheit sei. Deutsch sprechen bedeutet also deutlich sprechen? Hat Deutsch und deutlich denselben Wortstamm? Welche Sprache sie vorher sprachen, erklärten die Empörten allerdings nicht. Getraut haben sie sich aber was - und das im Radio!

Auf Deutsch gesagt ist auf Deutsch gesagt eine ankündigende Floskel, dass jetzt gleich ein böses, besonders schlimmes Wort folgen wird. Man konnte der Frau wie dem Mann den Stolz aus der Stimme herauslesen. Wahrscheinlich dachten sie, nun etwas ganz grob Wahrhaftes gesprochen zu haben. Beschissen, hohoho, so ein unanständiges Wort! Da haben sie es der Geschäftsleitung aber mal gegeben.

Zu Auf Deutsch gesagt, alles Scheißkerle! hat es jedoch nicht mehr gereicht. Da sind sie vor ihrer eigenen Courage erschrocken und haben just geschwiegen, sich verschämt zurückgezogen. Als wäre ihnen eingefallen, dass sie gerade einen Tabubruch begangen haben, der zwar im Zustand der Erregung geschehen kann, aber nicht soll. So hat man es ihnen doch beigebracht.

Es muss schon viel zusammenkommen, dass der unbescholtene Bürger in der Öffentlichkeit zur rhetorischen Scheiße greift. Sonst hingegen leidet er unter falscher Zurückhaltung, krankt er an einem falsch anerzogenen Anstandsgefühl. Die Geziertheit eines Bürgertums, zu dem die meisten Menschen nie zählten und vermutlich nie zählen werden, hat auf sie abgefärbt. Unzumutbarkeit sacken lassen, dezent umschreiben, Diplomatie anwenden und die nicht genannte Scheiße schlucken - in vier Schritten zum sittsamen Bürger.

Schitt, Scheibenkleister, schade - oft genutzte Ersatzwörter ohne Bezug zu dem, was sich einem innerlich aufdrängt. Wenn jemand meint, dies oder jenes sei Scheiße, so definiert er dieses Dies oder dieses Jenes als Produkt der Verdauung, als braunen Brei, als Abfall und Dreck. Niemand denkt an Kleister, der auf Scheiben landet. Soviel metaphorisches Geschick kann man im Augenblick der Erregung eigentlich gar nicht entwickeln. Die Scheiße ist hingegen die natürlichste aller Metaphern.

Es gibt Eltern, die ihren Kindern beibringen, das unerträgliche Sch-Wort nicht zu sagen. Sie tun das, weil sie glauben, sie würden der Welt einen Dienst erweisen, Menschen in sie hinauszuschicken, die nicht mal das Mütchen haben, etwas das Scheiße ist, auch damit zu bezeichnen. Wer nicht Scheiße! flucht, weil man das nicht tut, der ist allerdings schon irgendwie suspekt, der wird immer schlucken, wird stets hinnehmen und ist wahrscheinlich nur ein moralischer Windbeutel und politischer Idiot. Die Scheiße ist immerhin der Ursprung aller Politik. Besser gesagt: das laute Scheiße!-Rufen.

Im Gegenteil, man muss seinen Kindern beibringen, auf die Kacke zu hauen. Im richtigen Moment, dosiert aber bestimmt. Maßloses Sanktionieren im Schulalltag soll nicht mit Sentenzen wie Ich finde das nicht gut! kommentiert werden, sondern mit Das ist absolute Scheiße! Und wenn es heißt, was das für eine liderliche Ausdrucksweise sei, dann soll es antworten: Die einzige, die jetzt in diesem Augenblick richtig war.

Man darf wetten, dass die Frau und der Mann aus dem Radio hernach zuhause gerügt wurden. Recht hast du ja, wird die bucklige Verwandtschaft gesagt haben. Muss man das aber so derb sagen? Was, wenn die Betriebsleitung dir das verübelt? So fest ist der Schluckreflex manchen Menschen anerzogen. Sie glauben, dass die in den Mund genommene Scheiße eine dumme Donquichotterie ist, gekühltes Mütchen, etwas das man unter rationeller Betrachtung nicht tut.

Es gehört aber doch kein Scheißmut dazu, die Dinge beim Namen zu nennen. Es nicht zu tun ist Fabrikat einer falschen Erziehung. Die Scheiße als Metaphorik der Unerträglichkeit ist uns doch immanent, sie abzuerziehen ist "wider die Natur". Vor Scheiße ekeln wir uns. Sogar vor unserer eigenen. Andere Körpersekrete finden wir in der Regel nur bei anderen ekelhaft. Bei uns selbst weniger. Die Scheiße ist aber generalisierend das auf der eigenen Haut Unerträgliche. Manche erbrechen fast sogar, wenn sie sie auf der Haut ihrer Mitmenschen erblicken. Ausnahmen lassen wir mal als Minderheitenvotum unter den Tisch fallen. Wir können uns zwar selbst riechen - meistens! -, aber anfassen, sie an die Finger bekommen wollen wir sie nicht. Scheiße als Wort des Unmuts ist so natürlich, weil wir eine natürliche Abwehrreaktion zu ihr in uns haben. Wenn wir uns in die Hand niesen, sind wir zwar nicht entzückt, aber tragisch finden wir es nicht. Keiner fasst in seinen Haufen, denn die Berührung dessen, was uns hintenraus entfleucht, ist für uns völlig unerträglich. Scheiße zu sagen ist demnach die exakte Beschreibung für Dinge, Läufe, Ereignisse und Entwicklungen, die so ekelhaft sind, dass wir sie nicht näher berühren mögen.

Auf Deutsch gesagt zur Einleitung ist kurios. Welche Sprache sprechen Menschen in diesem Lande denn vorher? Ist es nicht mehr das Deutsche? Eine Krämer- und Arbeitsmarktsprache, die im Moment der Erregung dem Deutschen weichen soll? Eine Sprache gesellschaftlicher Korrektheit? Etwas das nur noch zur reinen Kommunikation auf niedrigstem Level dient? Ohne Gefühl, ohne Unflätigkeit zum gebotenen Augenblick? Zweifelsohne sind es bürgerliche Konventionen, die da auf die gesittete Sprache abfärbten. Was haben dann Bürger gesprochen, wenn nicht Deutsch? Scheißt man unter Bürgern nicht oder hat man wenig Ekel davor?

Die Scheiße ist nur eine Metapher. Es gibt viele andere. Kacke natürlich, was aber auf dasselbe hinauskommt. Kot oder Stuhlgang eher nicht, denn so sprechen Ärzte und die fummeln bekanntlich auch in der Scheiße zur Erlangung von Erkenntnissen. Wenn der Ekel vor Darmendprodukten wegfällt, so fällt auch deren Sinngehalt als metaphorisches Element weg. Und dann gibt es ganz andere Möglichkeiten. Das Arschloch ist zwar eine Beleidigung, aber manchmal trifft man es nicht besser. Aus ihm kommt die Scheiße, es stinkt und ist nie rein. Arschloch als Metapher ist wahrlich trefflich, daran erkennt man, dass es aus dem Land der Dichter und Denker kommt. In Spanien beispielsweise sind die Beleidigungen undurchdachter, will man Arschloch sagen, sagt man hijo de puta, was nicht weniger als Hurensohn heißt. Das ist einfältig und beleidigt ja die falsche Person. Und was sagt Herkunft schon über einen Menschen aus? Und statt Scheiße sagt man meist coño, was Fotze bedeutet. Nun ist die aber nicht unbedingt etwas, womit man Ekel verbindet - normalerweise. Scheiße und Arschloch sind dementgegen zwei elementare Metaphern, die eine kulturelle Leistung darstellen.

Hijo de puta, diese so häufig gebrauchte Floskel im Spanischen, ist nur eine Ehrabschneidung, allerdings keine Metapher, die mehr ausdrücken will. Mit hijo de puta will man jemanden schwer treffen, ohne die Sachlage zu treffen. Das Arschloch indes ist ein Scheißefabrikant, aus seiner Öffnung presst sich stinkender Brei. Das ist Metaphorik! Die große Kunst, einen Tatbestand mit einem vortrefflichen Wort auszustatten. Hijo de puta drückt nichts aus. Es ist eher, wenn man es analytisch sieht, ein klassistischer Ansatz, denn es reduziert den Empfänger auf seine Herkunft, degradiert ihn nicht menschlich, sondern klassistisch, sagt damit auch: Du bist blöd oder gemein, weil du nicht gesellschaftlich höhergestellt bist. Das Arschloch als Metapher ist klassenübergreifend. Jeder hat eines, jeder kann eines sein. Die Klasse und die Herkunft ist dabei einerlei. Der an dieser Stelle selten gelobte Sloterdijk schrieb ja auch mal Annehmbares. In seiner KzV schrieb er dazu: "Der Arsch ist der Plebejer, der Basisdemokrat und der Kosmopolit unter den Körperteilen..." Er meint damit sinngemäß, dass überall auf dem Erdenrund geschissen wird. Stimmt auch. Insofern kann auch jeder überall Arschloch sein.

Über das Leck mich am Arsch!, das es im Spanischen so gar nicht gibt, nur einige Sätze. Der Spanier sagt Vete a tomar por el culo!, also Greif mir an den Arsch. Das Lecken suggeriert Abscheu, nur der letzte Dreck leckt den letzten Dreck. Asche zu Asche, Staub zu Staub, Scheiße zu Scheiße. An den Arsch greifen kann hingegen auch sexuell interpretiert werden. Wahlweise sagt man in Spanien auch Tocáme los cojones!, übersetzt: Fass mir an die Eier. Hoden sind kein Arsch. Die ins Deutsche gekommene Ausdrucksart, jemand hätte keine Eier, kommt ursprünglich aus dem Spanischen, weswegen manche Kenner dieses Ausdrucks auch nicht Eier, sondern polyglott und kosmpolitisch cojones sagen. Keine Eier haben sagt ja, es ist eine Tragik, unbehodet zu sein. Und an Körperteilchen zu greifen, deren Abwesenheit schade ist, soll etwas Verächtliches ausdrücken?

Dies hier kann keine Empfehlung sein, mit einem lockeren Arschloch auf den Lippen durch die Welt zu gehen. Das ist zu teuer, wenn es auch nötig wäre. Nur wird das Arschloch auch kaum verwendet, wenn beispielsweise zwei Angestellte unter sich über einen Höhergestellten in verächtlicher Form sprechen. Denn dergleichen schickt sich nicht. Man könnte das auch Sklavenmoral nennen. Wenn man einem Worte als unschicklich aberzieht, fehlen irgendwann treffende Bezeichnungen und der Ausdruck leidet.

Dies soll auch kein Aufruf, kein Bekenntnis zur barschen Unflätigkeit sein. Hinter jeden Satz ein Scheiße zu setzen mag manchmal ein Lebensgefühl der Befreiung sein, ist aber dauerhaft auch nicht befriedigend. Nur zur Kenntnis zu nehmen, dass die Kultur des Dichtens und Denkens Metaphern hinterlassen hat, die zuweilen und nicht inflationär verschwendet, durchaus stichhaltig und effektvoll sind, das sollte man schon. Und man muss sich nicht entschuldigend ankündigen, gleich auf Deutsch gesagt Scheiße zu sagen. In einer Zeit, da Perspektivlosigkeit und Alternativlosigkeit das Scheißprogramm von Scheißtypen sind, ist das böse Sch-Wort nicht schlecht, sondern einfach nur eine treffende Karikatur der Wirklichkeit.



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Laxe Waffengesetze und thanatöser Gesellschaftsentwurf

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Die deutschen Kommentarspalten zeigen sich empört über die laxen Waffengesetze in den Vereinigten Staaten. Newtown sei vielleicht der Wendepunkt, liest man dort jetzt hoffnungsfrohe Zeilen. Schärfere Waffengesetze müssen kommen, damit sich solcherlei Exzesse an Schulen nicht mehr wiederholen können. Was diese Spalten nicht berücksichtigen: Amokläufe an Schulen kommen hierzulande mindestens so häufig vor, wie in den Vereinigten Staaten - und das trotz eines Waffengesetzes, das für eines der strengsten weltweit gehalten wird.

Striktes Waffenverbot verhindert Amokläufe nicht

So wie sich die deutsche Öffentlichkeit pro striktes Waffengesetz in den USA ausspricht, kann man nur von Überheblichkeit und Selbstvergessenheit sprechen. Natürlich hat man hier ein diesbezügliches Gesetz, das den Besitz von Waffen reglementiert und erschwert. Gleichzeitig erlaubt aber selbst das schärfste Waffengesetz immer auch Zugang zu Waffen unter bestimmten Bedingungen. Ein erschwerter Zugang zu Schusswaffen ist aber keine Garantie dafür, dass sich Amokläufe an Schulen nicht ereignen würden, wie die jüngere deutsche Geschichte beweist.

Geht man davon aus, dass ein striktes Waffengesetz noch gar nichts garantiert, so wirft das die Frage auf, was noch eine geeignete Präventivmaßnahme wäre. Stets werden die Verursacher solcher Bluträusche als Typen beschrieben, die sich offenbar nicht wohl in ihrer Haut fühlten, die vereinsamt, verwahrlost oder unbeachtet waren. Produkte einer Massengesellschaft, die emotional auf der Strecke blieben, dabei wenig Anteilnahme oder Hilfe erfuhren, manchmal sogar richtiggehend unter dem Druck und den Erwartungshaltungen anderer litten. Sie waren Opfer sozialer Kälte außerhalb wie innerhalb ihrer Familien.

Schier zum verrückt werden

Erstaunlich ist, dass in Deutschland solcherlei Gewaltexzesse offenbar im Kontext zur neoliberalen Offensive stehen. Seitdem die Agendapolitik kein nennenswertes Gegengewicht zum neoliberalen Zeitgeist mehr aufwarf, die Alternativlosigkeit Programm wurde, der Bologna-Prozess für die Effektivierung des Lernens und der Schüler sorgte, häuften sich solche Amokläufe an Schulen. Während in den Vereinigten Staaten die Täter oft unter fehlender Anteilnahme und Fürsorge litten, scheinen in Deutschland die Täter unter vermehrten Leistungsdruck und den an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen zu zerbrechen.

Vermutlich ist es zu einfach, davon zu sprechen, dass es weniger laxe Waffengesetze sind, die solche Ereignisse verursachen, als ein Zeitgeist, der zu Perspektivlosigkeit verurteilt, der enge Grenzen setzt und junge Menschen zur Verfügungsmasse der Wirtschaftsprozesse herabwürdigt. Überspitzt gesagt ist es der Neoliberalismus und dessen Lebensgefühl, das einige labilere Menschen zu Massenmördern nötigt. Freilich stehen dahinter auch medizinische Vorbedingungen, die Menschen so reagieren lassen. Aber das System fördert diese Disposition womöglich stärker, als das zugegeben werden will innerhalb dieses Systems.

Zeitgeist des Perspektivlosigkeit abschaffen

Die Diskussion zum Waffengesetz verschleiert - sie verbirgt die wirklichen Probleme, die sozio-ökonomischer Beschaffenheit sind, ebenso, wie die immer wieder aufkeimende Diskussion um PC-Spiele, die Gewalt auslösten. Natürlich ist die Reglementierung des Waffenbesitzes in den Vereinigten Staaten geboten - nirgends sonst sterben so viele Menschen an Schussverletzungen im Alltag als dort. Und Schulmassaker sind ja nur die eine Seite der Medaille - in den USA gibt es Massaker verschiedenster Sorte, vor einiger Zeit erst bei einer Kinopremiere. Aber eine striktere Reglementierung des Waffenbesitzes alleine bannt die Gefahr von Gewaltexzessen ganz sicher nicht. Sie ist nur eine mögliche und nötige Präventivmaßnahme. Eine andere ist, Lebensverhältnisse zu schaffen, in denen es - in der Sprache des Neoliberalismus - weniger Anreize dafür gibt, sein Leben und das Leben anderer so brutal wegzuwerfen.

Die öffentliche Debatte ist darauf abgerichtet, am Kern des Problems vorbeizureden. Waffengesetze stoppen den Thanatos, mit dem die Jugend im neoliberalen Lebensumfeld Bekanntschaft macht, nicht. Diese Thanatose, die bei Stress eintreten kann, äußert sich zuweilen beim Menschen nicht in Starre, sondern verursacht Situationen, die andere in Schreckstarre zwingen. Der herrschende Zeitgeist erzeugt in Zivilisation getunkte Dschungelgesellschaften - das zu verhindern, wäre mindestens so sehr Präventivmaßnahme wie ein striktes Waffengesetz.



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Ridendo dicere verum

Mittwoch, 19. Dezember 2012

"Die Idee von der Rasse ist der Versuch von einem Kleinbürger, ein Adeliger zu werden. Er kriegt mit einem Schlag Vorfahren und kann auf was zurück- und auf was herabsehen. Wir Deutschen kriegen dadurch sogar eine Art Geschichte. Wenn wir schon keine Nation waren, können wir wenigstens eine Rasse gewesen sein. An und für sich ist der Kleinbürger nicht imperialistischer als der Großbürger. Warum auch? Aber er hat ein schlechteres Gewissen und braucht eine Entschuldigung, wenn er sich ausbreitet. Er haut nicht gern jemanden mit dem Ellbogen in den Bauch, wenn es nicht sein Recht ist."
- Bertolt Brecht, "Flüchtlingsgespräche" -

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Verzweifelt links

Dienstag, 18. Dezember 2012

oder Hier können Familien Kaffee kochen.

Oh Du lieber Augstein, weit hast Du es mittlerweile gebracht! Las ich doch letztens einen Deiner Texte, die Du bei Spiegel Online in den Server pflanzen läßt und den Du aus Gründen, die nur Du zu kennen vermagst, mit Im Zweifel links überschreibst. Mensch, war das mal wieder unausgegorener Quatsch! Ich habe mich über Dich sehr geärgert, wie ich das generell dieses Jahr oft tat. So verteiltest Du dereinst Lob für die Kanzlerin, dann neulich erst dieser Käse, man könne als Linker quasi nur Sozialdemokratie oder nichts wählen und noch was ist mir in Erinnerung. Letzteres habe ich jedoch vergessen, man kann sich den Mist, den Du zuweilen fabrizierst, nicht immer merken.

Warum ich mich daran machte, einen etwas zurückliegenden Eintrag von Dir zu lesen, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Eventuell Hoffnung, dass Du doch noch was von Dir wirfst, was so halbwegs versöhnlich wäre. Was ich dann las, stülpte mir nahezu die Schlappen über die Knöchel.

Über deutsche Waffenlieferungen hast Du Dich ausgelassen. Sind die wirklich so verwerflich? Waffen sind böse, war Dein Einleitungssatz. Und dann folgte: Panzer sind ganz böse. Was für ein infantiler Bullshit! Quintessenz dieses in Sätze gefassten Unsinns: Waffenlieferungen sind nicht nur im globalen Wettbewerb unerlässlich, sondern auch ein Beitrag zur Befriedung der Welt. Als ich dann von Dir las, dass du den Pazifismus, der solche Lieferungen verurteilt, als Käsmann-Doktrin bezeichnest, die nichts anderes sei als eine zu höherer Gesinnung verkehrte Feigheit, da sagte ich bei mir, jetzt hat er die Latte mal wieder noch ein Stückchen tiefer gelegt. Ein neuer Tiefpunkt, aber gut, dachte ich weiter, so ist er halt, der Augstein. Aber recht durchdacht schon grob, was sich dieser linke Herr da leistet. Doch bei allem Ärger, gewundert hat es mich nicht.

Ich klickte weiter und bekam bald darauf eine e-Mail, jemand empfahl mir Deinen Artikel zur Waffenpolitik der Regierung. Ich bekomme oft so sonderbare Hinweise wie Dich. Das ist nicht außergewöhnlich. Dein Artikel hatte nun auch einen anderen Namen und Du warst plötzlich nicht mehr so nihilistisch und von Käßmann keine Rede mehr. Da erst fiel mir auf, dass ich vorher einen Text Deines stockkonservativen und linkenhassenden Kollegen Fleischhauer für den Deinen angesehen habe.

Was soll uns diese Geschichte lehren? Sie mag eine der entbehrlichen Erzählungen in den Weiten des Internets sein, die vor der Entdeckung des Netzes nicht öffentlich gemacht, sondern höchstens vielleicht seinem Nachbarn erzählt wurde, sofern der politisch interessiert war. Gleichwohl die Geschichte hat schon Gehalt. Du, mein lieber Augstein, hast es nämlich so weit gebracht, dass man den inhaltlichen Quark etwaiger Konservativer durchaus auch als aus Deiner Feder erachten könnte, ohne sich dabei überhaupt zu wundern. Dass Du den Wahnwitz der Konservativen mit Deinen Worten repetierst, ist mittlerweile so verfestigt im Denken von Menschen, die sich als links definieren, dass man so hirnrissige Argumentationen wie die Deines Kollegen, auch partout als Dein Elaborat durchgehen lassen würde.

Ich meine, das will schon was heißen. Fleischhauer ist ja nicht irgendein unideologischer Typ, der mal nach Rechts, mal nach Links tendiert, wie es ihm gerade gefällt. Der Mann schwadronierte ja eine Weile über die rote Übernahme der Republik durch Lafontaine. Er schiss sich geradezu in die Hose aufgrund der anstehenden Sowjetisierung. Dass Spiegel Online den weiterhin erträgt, ist ein Kennzeichen des Niedergangs des Magazins. Und mit so einem bist Du verwechselbar! Ist das ein Zeichen für meine Unfähigkeit? Oder eher eines dafür, dass Du als Linker beliebig geworden bist? Wohl beides, nehme ich an.

Im Zweifel bedeutet nicht zweifelhaft. Das hätte man schon mal überdenken müssen, als man sich einen Titel für seine Kolumne ausdachte. Im Zweifel links ist nicht Zweifelhaft links. Es gibt ja auch Leute, die dasselbe und das Gleiche als dasselbe erachten. So ist im Zweifel und zweifelhaft auch nicht dasselbe. Deine Kolumne ist ein Abbild dessen, wie man sich heute einen Linken unter Konservativen vorstellt. Er darf ein wenig andere Ansichten vertreten, aber nicht zu sehr. Und er tut so, als sei alles irgendwie verhandelbar, damit man auch für alle Optionen offen bleibt. Es ist kurz gesagt das grüne Befindlichkeitslinke, das Du publizistisch aufbereitest. Agendalinks wie die Sozialdemokratie oder links nach Art von New Labour. Links als Label ohne Inhalt, als Kennzeichnung für eine Kundschaft, die ein Bedürfnis danach hat, sich mit linken Lametta zu schmücken.

Verzweifelt links sind die, die auch erkennen, dass Du das Linke nur als Gag gebrauchst, um Deinem Schaffen eine exquisite Note, einen chicen Anstrich zu verpassen. So macht das die Sozialdemokratie seit Schröder, so gestaltet sich New Labour seit langen Jahren schon. Was da vertreten wird ist politischer Konservatismus mit linkem Kolorit. Das erinnert an manchen Spinner, der sich einen Buddha ins Wohnzimmer stellt und dann meint, er habe die buddhistische Weisheit nun für sich gepachtet. Andere dekorieren ihre Wohnung mit Lichtern, Tannenzweigen und Kerzen und haben keinen Schimmer davon, was Weihnachten eigentlich mal war. Du bist so ein buddhistisch-weihnachtlicher Linker, Augstein. Das meine ich gar nicht vorwurfsvoll. Es ist halt so. Gib Deiner Kolumne doch nur einen anderen Namen.

"Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen." Das hat Tucholsky mal geschrieben. Hier können Familien Kaffee kochen - Mensch, das wäre doch ein schöner Name und er wäre viel passender als Im Zweifel links.

Was soll das jetzt, würdest Du fragen, wenn Du das lesen würdest. Liest beim Fleischhauer und pisst mir ans Bein, würdest Du den Kopf schütteln. Eigentlich ein berechtigter Einwand. Manchmal braucht man aber Missgeschicke, um einen Stein des Anstoßes zu erhalten. Mein Maleur war so ein Augenblick, in dem ich dachte, jetzt hat er es zu weit getrieben, auch wenn es eigentlich der Fleischhauer war. Ihr beiden seid gewissermaßen dasselbe - oder heißt es das Gleiche?



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Hessens Konservative haben 'nen Schatten

Montag, 17. Dezember 2012

Komm aus Deiner linken Ecke, ruft ein Werbeplakat der hessischen Konservativen dem Betrachter zu. Wir sehen eine gelockte Frau, sie trägt grüne Boxhandschuhe, sie will denen, die aus der linken Ecke kommen, scheinbar eine verpassen. Die Handschuhe mögen grün sein, weil das zum Blümchen passt oder aber einfach nur, weil man damit verdeutlichen will, dass die hessischen Christdemokraten ökologisch aufgestellt sind. Wie McDonalds, das nun auch häufig mit grün unterlegtem Logo wirbt, unterfüttert sich das Schwarze grünlich. Der grüne Daumen ist hier zu einem Paar grüne Fäuste mutiert. Sie warten auf die, die aus der linken Ecke kommen. Dialog ist nicht geplant, Hiebe vermutlich schon. Wer aus der linken Ecke kommt, darf keine Gnade erwarten. Aufgetischt wird zudem, dass die in der linken Ecke feige sind, denn man muss sie herausfordern, in den Ring bitten. Von alleine kommen sie ja nicht heraus.


Deutlicher wird eine ausführlichere Variante des Plakates. Hier ist das ökologische Faible kein Thema mehr. Es geht nämlich um viel mehr als darum, den Wähler mit Ökologie zu neppen. Jetzt gibt es zwei Zusätze, die dem McCarthyismus alle Ehre machen. Verantwortung statt linke Politik heißt es da. Linke Politik ist also verantwortungslos, sie ist unbesonnen und damit gefährlich, will man implizieren. Und man leitet standesgemäß ein, schreibt: In Hessen aktueller denn je. Hier wird das große Märchen der Konservativen aufbereitet, nämlich jenes, wonach wir aktuell im linken Zeitgeist leben, sozialistische Ideen im Aufwind seien, die Marktwirtschaft am linken Lebensgefühl erstickt. Das sei ein Problem, das gerade in Hessen aktueller denn je sei. Man kürt einen linken Zeitgeist zum Kontrahenten, gegen den es sich zu wehren gilt. Notfalls mit Boxhieben. Einen Gegner, den es so nicht gibt, der nur als Nische existiert und der sicherlich nicht mal ansatzweise so gefährlich ist, wie die konservativen Konzepte. Es ist eine Meisterleistung an Verschlagenheit, sich einen Feind zu erfinden, um als wackerer Boxchampion aus dem Ring klettern zu können.

Vielleicht verrät das Plakat aber mehr als es will. Die hessischen Konservativen fordern die politische Linke mit einer schmächtigen Frau heraus. Sie wirkt nicht besonders angsteinflössend, nicht sehr kraftvoll. Der Landesverband hat auf höchster Ebene einige Exemplare Mann, die einen mächtigen Gegner, den es aktueller denn je zu besiegen gilt, besser versohlen könnten. Man unterschätze hier nicht die Sprache des Unterbewussten. Man schickt eine nicht sehr robuste Frau in den Ring, eine, die sogar jetzt noch geschminkt ist. Man glaubt wohl, eine solche Verteidigerin des Landes vor den Typen aus der linken Ecke, reiche vollkommen aus. Warum einen bulligen Mordskerl vergeuden? Die plakative Gefahr von links wird demnach kraft des Layouts aufgehoben. Der fiese Kontrahent ist somit doch nicht das große Thema, es ist so nichtig, dass weibliche Fäuste genügen, ihn in die Seile gehen zu lassen.

Es sind Schattenboxereien, die die hessischen Konservativen da zu einem Plakat ausgearbeitet haben. Inhaltlich leer, was den Zustand der Partei karikiert. Es handelt sich um einen Rückgriff auf traditionell konservative Wahlslogans: Kommunismus oder Freiheit war einst, heute heißt es Verantwortung statt linke Politik. Damals gab es tatsächlich einen Gegenspieler - heute leider nicht. Es täte dieser Demokratie und dem Gemeinwohl gut, wenn der linke Gegenspieler mehr Einfluss hätte, wenn der Zeitgeist zuweilen auch nach links tendierte. Beides trifft nicht zu, nur in der Gedankenwelt der Konservativen, wo sie sich mittels Aufbau eines Gegners aufwerten wollen. Sie boxen gegen Schattenwesen. Sie haben 'nen Schatten - als Gegner.



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Ermordete Kinder

Samstag, 15. Dezember 2012

Zwanzig durch Schusswaffe ermordete Kinder sind eine Tragödie. Es fällt schwer, sich tote Kinderleiber vorzustellen. Es scheint so unwirklich. Trost mag es für die Eltern keinen geben. Und ob sie das Trauma aus diesem Verlust je überwinden können, scheint doch sehr fraglich. Verdrängen vielleicht. Auch das wäre dann schon ein modus vivendi.

Dass man sachlich darüber berichtet wäre der journalistische Idealfall. Leider geschieht das gerade nicht. Die üblichen Medien des Boulevard überströmen ihre Leser und Zuseher mit Seelenkitsch, lassen sie ihn Tränenmeere ertrinken. Selbst sich selbst seriös schimpfende Vertreter der journalistischen Zunft sind nun larmoyant, neigen zur Rührseligkeit und betonen die Unfassbarkeit, dass da so viele Kinder aus ihrem Leben und Lachen gerissen wurden. Und alle, ausnahmslos alle, widmen sich des heulenden US-Präsidenten.

In einem solchen Augenblick mag es kleinkariert und vielleicht auch pietätlos sein, dergleichen Rührseligkeit zu kritisieren. Schlimmer noch, wenn man Vergleiche zieht. Aber um den Hype in Relation zu setzen, wieder klar zu sehen, ist eine solche Kritik notwendig.

18.000 Kinder sterben täglich an Hunger. Zum besseren Verständnis: Bevor man endgültig verhungert ist, litt man an Sichtproblemen, erblindete, war apathisch und wachstumsgehemmt, elementarste Körperfunktionen konnten nicht ausgeführt werden. 30.000 Kinder sterben pro Tag insgesamt an vermeidbaren oder behandelbaren Krankheiten. Zwar sind unter den Opfern auch Kinder, die als Hungertote zählen, aber nicht alle sind auf Mangelernährung zurückzuführen. Über die kindlichen Opfer pro Tag in Kriegsgebieten finden sich kaum Zahlen. Sie dürften allerdings nicht unwesentlich sein.

"Die Weltlandwirtschaft könnte problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wírd ermordet", sagte Jean Ziegler vor etlichen Jahren. Kinder, die an heilbaren Krankheiten sterben, unbeachtet von den Pharmakonzernen, die die benötigten Medikamente herstellen, werden auch ermordet. Kindliche Kriegsopfer sowieso.

Sind achtzehntauend durch Hunger ermordete Kinder weniger Tragödie? Machen wir uns ein Bild über die Berge toter Kinderleiber? Kümmern uns die Eltern, die zu ausgehungert sind, um überhaupt zu trauern? Zu ausgehungert, um überhaupt ein Trauma zu entwickeln, für das sie erst die Energie hätten, wenn sie regelmäßig satt würden?

Welcher Präsident weint um diese Kinder? Welche Presse berichtet davon mit derselben skandalös-melodiösen Tonlage wie in diesem aktuellen Fall? Haben wir unseren modus vivendi mit den durch Hunger ermordeten Kindern schon gefunden? Ist es unser Modus, sie einfach zu vergessen und sie einmal jährlich mit pseudoethischen Habitus und ritueller Selbstverständlichkeit, meist zur Adventszeit, per Ablaßspendenschein abzuspeisen?

Heute Abend soll Jörg Pilawa die Springer-Spendensendung Ein Herz für Kinder leiten. Die schwerste Sendung seines Lebens, nennt er sie nun nach dieser Tragödie. Und die Tragödie die sich täglich abspielt? Kann er in ihrem Angesicht unbeschwert durchmoderieren? Oder steht sie ihm nicht im Angesicht, weil er wie alle nicht zu viel darüber wíssen möchte? Haben wir uns so sehr daran gewöhnt, dass des wohl in fernen Weiten Hungertote gibt? Mit achtzehntausend toten schwarzen und asiatischen Kindern lebt man wohl besser, als mit zwanzig Kindern aus unserer westlichen Mitte?

Die zwanzig Kinder sind ein Desaster. Man kann es nicht oft genug erwähnen. Aber spricht aus dem Umgang mit diesem Fall nicht auch eurozentristischer Dünkel? Ist es nicht auch gewissermaßen ein rassistischer Einstieg in diese Thematik? Was ist diese westliche Gesellschaft doch verlogen.



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Nur der Chronist polemischer Weiten

Freitag, 14. Dezember 2012

Nee, das sei nichts für ihn, hat er mir gesagt. Er hat halt mitbekommen, dass ich schreibe. Hier bei ad sinistram, manchmal auch für das Neue Deutschland. Er wollte wissen, ob er da was lesen dürfe. Schau halt rein!, antwortete ich, ihn den Namen a-d-s-i-n-i-s-t-r-a-m buchstabierend. Mache er, meinte er. Und dann hat er es wohl getan und gesagt, Nee, das ist nichts für mich. Ich wollte wissen wieso. Zu polemisch, sagte er. Zu links und zu polemisch. Nichts anderes hatte ich erwartet, der Typ ist so konservativ im schlechtesten Sinne des Wortes, dass er sich nur zwei rechte Schuhe kauft, um ja keinen linken anziehen zu müssen.

Polemisch? Oh Mann, der verwechselt da was, bringt was durcheinander. Nicht ich bin polemisch. Die Welt, wie sie sich mir präsentiert ist es. Sie ist Realpolemik. Bedient sich polemischer Mittel wie Sarkasmus oder Übertreibung. Was kann ich denn dafür, über etwas schreiben zu müssen, das so ist, wie es ist? Und sollte ich doch polemisch sein hie und da, dann ist es a) nicht gekünstelt, sondern die Wirklichkeit abbildend, b) nichts als die Wahrheit, wie sie sich darstellt und c) nicht Ursache, sondern nur die Folge aus dem Destillat der real existierenden Ereignisse.

Ich bin nur der Chronist dieses Polemissmus'. Nichts weiter. Übertreibe ich? Mit Verlaub, ich bin es nicht, der Parteitage veranstaltet, die wie längst vergessene KP-Sitzungen aussehen. Ich erfinde mir keine Stories, in denen Menschen sich umbringen, weil sie versehentlich Scherzkekse zum unantastbaren Adel durchstellen. Ist es auf meinem Mist gewachsen, dass Steinbrück Kopf an Kopf mit Marx, Engels und Lenin gepinselt wird? Habe ich mir ausgedacht, dass man eine rechtsextreme Zwergenpartei vielleicht verbieten möchte, während in den schrumpfenden "Riesen der Mitte" Rechtsextremismus mit Meinungsfreiheit verwechselt wird?

Es ist zu viel der Ehre, mich als den Erfinder solcher Tatbestände zu rühmen. Ich gebe zu, manchmal überspitze ich, manchmal formuliere ich es so aus, wie es sich die Wirklichkeit nicht immer traut. Über Umwege und Ecken tut sie es aber dann doch. Leute, Romney ist doch nicht mein Geistesfabrikat! Den Kerl gibt es wirklich! Und wahrscheinlich ist er noch viel widerwärtiger als es jede noch so übertriebene Polemik je behaupten könnte.

Feindseliger Streit will das Wörtchen Polemik heißen. Und feindselig streitet die herrschende Ökonomie für ihre Unsitten, die sie zu Idealen machen will. Das erfinde ich doch nicht! Ich bin nicht mal besonders sarkastisch. Dieser Schrittezähler war kein Scherzschrittmacher - das war der volle Ernst einer Behörde, die zur Durchsetzung neoliberaler Maximen bei den Habenichtsen bestellt ist. Ich habe auch nicht das Drehbuch dafür geschrieben, anhand falscher Zeugenaussagen auf Schwarzenjagd zu blasen

Sarkasmus ist nicht mein Metier. Es ist das Fach der medial erfassbaren Welt - und vermutlich darüber hinaus. Man kann diese Wirklichkeit im neoliberalen Orbit gar nicht überspitzen. Sie ist es schon so stark in Wirklichkeit, dass man sie nicht spitzer beschreiben kann. Spitzt man einen Bleistift zu sehr, bricht die Spitze ab. Einen überspitzen Bleistift gibt es nicht. Insofern ist die neoliberale Wirklichkeit in der wir leben, schon lange dabei, sich selbst abzubrechen, weil sie spitzt und spitzt und spitzt. Sie tut das - nicht der Chronist!

Karl Kraus meinte mal, dass die Polemik den Gegner nicht belästigen, wohl aber um seine Seelenruhe bringen soll. Wen bitteschön könnte ich um seine Seelenruhe bringen? Die Kreise, gegen die ich angeblich polemisiere, scheren sich einen Dreck um einen wie mich. Die lachen ja noch nicht mal über mich. Aber sie stehlen Millionen von Menschen überall auf der Welt die Seelenruhe, schaffen Zukunftsangst und Schlaflosigkeit, nervöse Ticks und Psychosen. Sind damit nicht sie die Polemiker?

Im Grunde ist das hier auch so eine Form von Jahresrückblick. Einer, der die Polemik des Lebens aufgreift. Einiges habe ich aufgezählt. Es gäbe noch so viel mehr. Kleine und große Kaliber. Kleine wie neulich, als eine der ekelhaftesten Zeitungen dieses Kontinents das Schattenkabinett der schwarz-grünen Koalition brachte und darin einem gewissen Guttenberg als Landwirtschaftsminister empfahl. Den kleinen Bruder desjenigen, der einst von eben dieser Zeitung emporgehoben, gefeiert und gestützt wurde, der aber letztlich die Erwartungen nicht ausreichend kopierte und einfügte. Aber vielleicht kann ja der nächste in der Erbfolge punkten. Ist man polemisch, wenn man das als Sujet eines Textes wählen würde? Oder ist es das Sujet an sich schon von ganz alleine?

Die Polemik wird gerne als Produkt der Phantasie verunglimpft. Etwas, das nicht ins seriöse Fach gehört. Wenn aber Polemik nicht phantastisch, sondern ganz im Gegenteil, wenn sie Realität ist, so ist eben auch der Polemiker in gewissem Grade Realist. Ich jedenfalls kenne keinen, dem das Etikett Polemiker angeheftet wurde, der auch nur ansatzweise so gut polemisierte, sarkastisch betonte, überspitzt berichtete und so weiter, wie es die Wirklichkeit tut. Sie ist der beste Polemiker, der überhaupt nur vorstellbar ist. In Zeiten der neoliberalen Ökonomie hat sie sogar wieder polemische Höhen erklommen, die sie lange nicht mehr aufweisen konnte. Zeiten des Extremismus sind auch Zeiten, in denen der Zeitgeist polemisch galoppiert.

Heine war ein genialer Polemiker. Noch heute hat er Biss. Und doch wirkt er manchmal harmlos im Vergleich zu unserer Wirklichkeit. Er konnte sich den Holocaust nicht denken. Den zynischen Sarkasmus, mit dem man ins industrialisierte Ermorden geleitete, konnte Heine sich nicht erfinden. Dazu fehlte die Erfahrung. Tucholsky kam später. Ein blendender Genosse seines Faches. Noch heute lesen sich seine Texte giftig. Aber er glaubte noch an Alternativen. Klammern wir mal aus, dass es wirklich Alternativen gibt. Im Angesicht des Popanz' der Alternativlosigkeit wirkt Tucholsky manchmal naiv und fortschrittsgläubig. Der Zynismus unserer Zeit, der Sarkasmus mit dem für den westlichen Wohlstand schier alternativlos gemeuchelt und ausgebeutet wird, dabei so verlogen tuend, als sei man dabei, das Leben aller Menschen auf Erden zu verbessern, konnte Tucholsky nicht mal den Kapitalisten anheften, die er aus seiner Zeit kannte.

Dieser Heine kannte natürlich auch aus seiner Zeit den Zynismus als der Macht polemischer Vasall. Unmittelbar vor seiner Geburt soll eine Königin gesagt haben, dass die Armen, die kein Brot hätten, auf Kuchen zurückgreifen sollten. Der Spruch war, wenn schon nicht wahr, so doch gut erfunden. Dass der Zynismus der amtierenden Ökonomie walten kann, ohne auf Empörung zu stoßen, dass er auch noch von denen mit Galanterie behandelt wird, die unter dieser zynischen Aneignung der Welt bitter leiden müssen, das hätte sich Heine nur schwerlich im Kopfe kreieren können. Nie wurde die Polemik der Macht so still und beständig hingenommen wie heute. Für Heine war sie etwas, das im Gefolge immer die Empörung hatte, wenn sie sich auch nicht immer laut äußerte. Und für ihn war der Zynismus der Welt etwas, das mit arroganter Abgehobenheit zelebriert wurde, nicht im Anstrich eines hemdsärmeligen Volkstribunals, das so tut, als stehe es denen, die es mit Zynismus und polemischer Häme malträtiert, besonders nahe.

Heine war nicht der Polemiker aus freien Stücken, er war nur das Produkt einer solchen Welt. Die Polemik in der Welt da draußen färbt ab. Man ist quasi nicht polemisch, man zeichnet sie nur nach. Das gilt für alle mit Polemie vorbelasteten Gemüter. Man glaubt heute oft, die Polemik hätte keinen Stil mehr, sie kommt ja auch manchmal wirklich grob daher. Es sind aber nicht die Polemiker, die schlechter geworden sind, sondern die polemischen Weiten sind es, die sich so schlecht entwickelt haben. Dem Kerl, dem ad sinistram zu polemisch war, kann man nur sagen, dass ad sinistram dieselbe Sachlichkeit aufgreift, die da draußen wütet. Wenn die Wirklichkeit nicht polemisch sein kann, weil Realität einfach nur Realität sein soll, dann ist auch ad sinistram nicht polemisch.

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Sit venia verbo

Donnerstag, 13. Dezember 2012

"Was wären wir ohne Waffen? Gäbe es Friedensmissionen, wenn wir unsere Waffen nicht lieferten? Was, wenn wir Waffen den Radikalen dieser Welt - den anderen Radikalen neben uns! - nicht zustellen würden? Nicht auszudenken! Dann würden wir nach Afghanistan einmarschieren, in den Irak stürmen und würden keine Gegenwehr erleben - jedem wäre dann sichtbar, dass es sich um bloße Okkupation, um geostrategische, niederste Instinkte handelte. Keiner würde an Friedensmissionen glauben, weil nach dem Angriffskrieg bereits Stille, so was wie Frieden herrschte. Verdammt, wir müssen Waffen exportieren, damit der Frieden dort erzwungen, erbombt, erschossen werden kann. Friedensmissionen brauchen Waffen, damit sie sich nicht zur ungeschlachten, für jeden erkennbaren Besatzung wandeln. Erst wenn ein Widersacher bombt und knallt, kann der Frieden zum Motiv werden, kann man Friedensmissionen ins Leben rufen, die der Geschäftemacherei im besetzten Gebiet ein wenig Frieden sichern."
- Roberto J. De Lapuente, "Auf die faule Haut: Skizzen & Essays" -

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Alle Schwarzen im Verdacht

oder Rasterfahndung selbst als Light-Version grandios gescheitert.

Es kann doch nicht so schwer sein, diesen "Bombenleger" zu finden! Man ergreift einfach alle Schwarzen, deren man habhaft werden kann, überprüft deren Alibi - einem aus dieser Brut wird man schon was anhängen können. Das jedenfalls scheint die Vorgehensweise der Kölner Polizei zu sein. Nachdem man mit Hilfe eines Zeugen ein Phantombild erstellte und dieses einen dunkelhäutigen Tatverdächtigen ergab, ergriff man auch just zwei Schwarze und glaubte den Fall aufgeklärt zu haben. Nach einigen Stunden waren die beiden Männer allerdings wieder auf freien Fuß. Ihnen konnte nichts nachgewiesen werden.

Rasterfahndung nannte man das in der Hochphase des Krieges gegen den Terror. Die wurde aber grundsätzlich verboten. Wenn aber Verdächtige markante Eckdaten aufweisen, dann rastert man dennoch leidenschaftlich. Ist der Unbekannte dunkelhäutig, so sind eben alle Dunkelhäutigen zunächst mal verdächtig. Man filtert sie aus und spezialisiert sich sodann auf die Verdächtigen, die nach der Aussiebung übrigblieben. Andere Ermittlungsansätze werden vernachlässigt. Das ist trotz grundsätzlicher richterlicher Ablehnung doch gängige Praxis. Unlängst las man davon, dass es nicht unbedingt rassistisch sein müsse, wenn auf Flughäfen bevorzugt Menschen kontrolliert würden, die dunkelhäutig sind und arabesk dünken. Ermessenssache nennt man das dann. Rasterfahndung ist nur verboten, wenn nach Schnurrbartträgern oder Katholiken oder roten Ford Fiestas gefahndet werden soll; wenn also Eckdaten in eine Suchmaske eingetippt werden müssten, die jeden Bürger betreffen könnten. Schwarzer Hautfarbe sind hier ab die wenigsten, da kann man schon mal in Raster suchen und vorverurteilen.

Der Anwalt der beiden meldete nach der Freilassung der Presse, dass er bis jetzt nicht wisse, weshalb seine Mandanten festgenommen wurden. Konkrete Vorwürfe oder Anhaltspunkte gab es keine. Ob da wohl die Hautfarbe Grund genug war, den Tatverdacht zu begründen? Klar, zumindest einer der beiden Männer soll der Polizei bekannt sein. Vor Jahren hatte man ihn festgenommen, weil man annahm, er würde in ein Terrorcamp reisen wollen. Auch dieser Verdacht hatte sich nie bestätigt. Dem Mann wurde keine Schuld nachgewiesen, dennoch berichten die Medien darüber, als habe die abermalige Festnahme nun bewiesen, dass es sich um einen schlimmen Finger handelt.

Jetzt, da diese Zeilen getippt werden, scheint es eine Wendung zu geben. Die Zeugenaussage sei demnach fraglich. Das Phantombild eines Schwarzen soll nicht weiter verbreitet werden, denn Videoaufnahmen, die in einem Fastfood-Restaurant gemacht wurden, zeigen eine hellhäutige Person. Was auf den ersten Blick wie die Außerkraftsetzung des Vorwurfes "rassistischer Unregelmäßigkeiten" aussieht, zeigt auf dem zweiten Blick das genaue Gegenteil. Es konnten bei den beiden Schwarzen, die verhaftet wurden, nicht mal ansatzweise Spuren oder Indizien gefunden werden, weil es kein Schwarzer war, der die Tasche mit der Bombe platziert hatte. Es dürfte hingegen der Beweis dafür sein, dass tatsächlich nur rein nach Hautfarbe gefahndet zu haben.

Nebenbei darf der Fall als Präzedenzfall gegen die Rasterfahndung angegeben werden. Wenn man bedenkt, wie sehr noch vor Jahren die Jünger dieser Methode, die so genannten Rasterfari, vom Erfolg überzeugt waren! Damals wollten sie den globalen Terrorismus im Keim zerrastern. Und nun scheitert die Methode schon im Ansatz bei wesentlich kleinerer Aufgabenstellung. Denn man sieht: Sie behindert die Fahndung eher, als dass sie Erträge zeitigt. Und sie speist rassistische Affekte und verunmöglicht eine vorurteilsfreie Ermittlung.



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Und der legale Flügel des Rechtsextremismus?

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Jetzt wagen sie wahrscheinlich den Schritt, wollen den parteilich organisierten Rassismus und Chauvinismus einschränken und ausdünnen. Problematisch ist dabei lediglich, dass beides nicht einzig und alleine in der NPD organisiert ist. Auch in anderen Parteien gedeiht rassistischer Unsinn und Nationaldünkel.

Und die Rechtsextremen, die nicht in der NPD organisiert sind?

Es ist aller Ehren wert, dass man der NPD die Legalität entziehen möchte. Es darf nicht legal sein, die Ausweisung von Menschen zu fordern. Und es darf nicht legal sein, ausländische Menschen als Schmarotzer am deutschen Wohlstand zu diffamieren und sie so der Lächerlichkeit preis zu geben. Haken an der Sache ist, dass das nicht nur in der NPD Weltbild ist. Man nehme nur mal die Sozialdemokratie, die Leute wie Sarrazin und Buschkowsky in ihren Reihen gedeihen läßt, das ganze dann aber unter dem Label der Meinungsfreiheit subsumiert. Und dann ist da natürlich noch die CSU, die den europäischen Süden zur mediterranen Bummelzone zusammenschiss, die die dort um sich greifenden Effekte der Krise mit der phlegmatischen Bequemlichkeit und Arbeitsscheue der Menschen dort erklärte. In der CDU ist man indessen stolz darauf, dass Europa wieder mal in Deutschland aufgehe. Und die FDP strampelt sich an anderen Erscheinungen des Faschismus ab, weniger am Nationalismus oder Rassismus. Sie lehrt von Ballastexistenzen, von unnützen Essern, von der Unterstützung falscher Personen und reduziert Gesellschaft auf die Funktionalität des jeweiligen Bürgers im Produktionsablauf. Sie sagt es nur nicht immer in diesem Jargon.

Rechtsextreme Attribute

Natürlich ist diese Denkweise nicht nur in der FDP vorzufinden. Auch der Konservatismus, zu dem sich mittlerweile die Grünen ganz offen bekennen, tut das. Und die SPD spricht auch davon und hat in Regierungszeiten nach dieser Maxime gehandelt und gearbeitet. Die FDP ist vielleicht nur insofern ein Sonderfall, als dass sie keine Parteiflügel zu haben scheint, in denen gleichsam andere Ansichten liberaler Natur vertreten werden könnten. Der Alt-Liberale Baum äußerte sich ähnlich vor einiger Zeit.

Wenn wir in diesem Lande über Rechtsextremismus reden, meinen wir die obligat bekannten Attribute. Es geht um Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus. Auch um Gewaltbereitschaft und um organisierte Trupps und Brachialgewalt. Mit Rechtsextremismus verbinden wir gedanklich das, was sich einst in diesem Lande ereignete: den Nationalsozialismus. Und die genannten Attribute sind jene, die man auch ohne historische Vorbildung kennt und aufzählt, wenn nach "nationalsozialistischen Werten" gefragt wird. Komischerweise werden das Effizienzdenken, die Ausbeutung menschlicher Ressourcen bis hin zum Gedanken, dass Menschen, die nicht durch Arbeit ausbeutbar sind, wertlos seien, eher selten genannt. Dass sich der Mensch im Nationalsozialismus als Verfügungsmasse zur verdingen hatte, dass er seinen Wert für die Allgemeinheit durch seine Nützlichkeit und seine Produktivität begründete und nicht qua seiner bloßen Existenz, vernimmt man leider viel zu selten. Es ist, als sei diese Seite des Nationalsozialismus und jeder faschistischen Bewegung gänzlich unbekannt. Vielleicht passt es nicht in unsere Zeit, vielleicht assoziierte man dann nicht nur die NPD mit dem Rechtsextremismus.

Wenn wir aber beim Rechtsextremismus meinen, was üblicherweise nationalsozialistisch war, dann müssen auch die Ansichten gemeint sein, die heute vor allem in der FDP und im parteilich arrangierten Neoliberalismus vertreten werden.

Der legale Flügel des Rechtsextremismus

Die Grünen und ausgerechnet die FDP haben gemahnt vor dem Verbotsverfahren gegen die NPD. Der Rechtsextremismus ist nicht gebannt, wenn man die Legalität aufhebt, meinten sie. Denn dann gehe er eben in die Illegalität. Der Legalität beraubte Menschen fühlen sich, egal ob zu recht oder nicht, meist als moralischer Sieger - der Weg in den Untergrund erscheint da als standhaft und zwanghaft auferlegt. Das ist nicht selten die Geburtsstunde von Märtyrern. Die beiden Mahner hatten allerdings noch auf andere Weise recht. Freilich so, wie sie es nicht gemeint haben werden. Der Rechtsextremismus ist nicht aufgehoben, wenn die NPD verboten wird. Er darf legal weiterbrüten im Schutz etablierter Parteien, die nicht anständig und aufrichtig genug sind, die Mitglieder in ihren Reihen auszufiltern, die Gedankengut vertreten, das als rechtsextrem bezeichnet werden muss.

Es hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, Menschen mit laienhafter Genetik zu verblöden. Rassismus ist keine Meinung, sondern ein begrenzter Horizont - vor allem in einer Welt, in der die Horizonte sich kontinuierlich weiten. Und Chauvinismus und nationalistischer Dünkel sind Brandbeschleuniger, die nicht hinnehmbar sind. Noch gibt es Menschenrechte, noch haben wir Grundrechte. In beiden ist die Würde des Menschen zentraler Gegenstand. Sie rekrutiert sich aus dem bloßen Dasein eines Menschen. Weil er ist, hat er unveräußerliche Rechte. Er muss sich nicht beweisen, er muss nicht brauchbar und belastbar sein. Es reicht völlig, dass es ihn gibt. Wer aber fortwährend das Existenzrecht von Menschen anzapft, indem er individuelle Leistungsfähigkeit und Produktivität, Nutzen und Kosten aufwiegt, der steht nicht mehr zur grundsätzlichen Menschenwürde. Menschen als Ballast oder Leistungsträger zu kategorisieren ist insofern rechtsextrem, weil es ähnlich schon mal gängige Lehrmeinung war.

Verlogener Traditionalismus

Die Verlogenheit im Umgang mit dem Rechtsextremismus ist eine Konstante. Die deutsche Gesellschaft arbeitet seit einigen Jahrzehnten ihre Geschichte auf. Sie tat das manchmal exzessiv. Die Ansätze waren zwar manchmal hysterisch, aber grundsätzlich vernünftig. Die Gegenwart verlor man hierbei aber aus dem Blick. In der gab es rechtsextreme Parteien, die in vielen von der Politik wissentlich im Stich gelassenen Regionen zu Kümmerern wurden, in ein sozio-ökonomisches Vakuum stießen. Später stützte man die bekannteste dieser Parteien dadurch, dass man sie durchdrang mit vom Staat finanzierten Mitgliedern, was ihr Verbot verunmöglichte. Und dann geschahen rassistisch motivierte Morde und keiner wollte es sehen. Stattdessen gab man der Mordserie einen verächtlichen Namen und tat so, als sei das ein tragischer Einzelfall. Der Innenminister hat indessen nichts anderes im Sinn, als diese rechte Brachialgewalt, die Leib und Leben nicht nur gefährdet, sondern auslöscht, mit linken Straftaten, die vornehmlich gegen Autos und Mülltonnen geschieht, gleichzusetzen.

Man kann das Blindheit nennen. Oder Verlogenheit. Man log sich selbst an und man log die Öffentlichkeit an. Insofern ist der Umgang mit dem Rechtsextremismus der Gegenwart die Lebenslüge dieser Berliner Republik. Jetzt die NPD verbieten zu wollen, während synchron dazu die legalen Rechtsextremen in den eigenen Reihen weitermachen dürfen, ist nur konsequent, denn ist die übliche verlogene Tradition, in der der Umgang mit dem Rechtextremismus steht. Aber es keimt ja Widerstand in der Politik auf, die NPD verbieten zu wollen. Vielleicht schreckt da mancher von seiner eigenen Verlogenheit zurück ...



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Einverstanden mit Ruinen

Dienstag, 11. Dezember 2012

Wie hat man doch die Inszenierung der DDR-Eliten immer belächelt. War da die Nomenklatura versammelt, war es das reinste Geklatsche und Gewinke. Feierlichkeit lag in der Luft, einstudiertes Sendungsbewusstsein wurde abgehalten, Loblieder angestimmt. Nichts konnte die Festlichkeit trüben, alles war im Butter, die politischen Ziele schon jetzt oder bald erreicht, man war auf einem guten Weg, Es entwickelt sich, Genossen! Wie hat man doch diesen allgemeinen Zustand von Zufriedenheit belächelt. Keine schlechten Nachrichten, nur Erfolgsmeldungen. Man fand es komisch, wie da alte Kader mit jungen Wilden um Linientreue wetteiferten, sich mit Vorwärts immer, rückwärts nimmer!-Deklamationen überboten. Die Lächerlichkeit der Inszenierung, der ungelenke Pathos, die schrille Farbenpracht, lächelnde Menschen überall, die überbetonte Weihe des Augenblicks waren historische, ja gar historisch-materialistische Meisterwerke des Kitsches. Rückblickend kann man darüber nur lächeln. Damals mag es erbost haben.

Letzte Woche fand der Bundesparteitag der CDU statt.

Alte und junge Parteimitglieder lächelten um die Wette. Alle waren sich halbwegs einig. Man sei auf einem guten Weg. Es entwickelt sich, Kollegen! Gewinkt wurde auch. Geklatscht ohne Unterlass. Auf dem Parteitag keine schlechten Botschaften. Die Partei ist einig. Fast 98 Prozent für die neue und alte Parteivorsitzende und Kanzlerin. Fast wie bei der Wahl der Volkskammer. Nur noch 1,5 Prozent, dann hat man auch jene absolute Zustimmung mit Promilleabweichung. Es entwickelt sich, Kollegen! Heute lächelt man über 99,86 Prozent Ja-Stimmen von einst - gleichzeitig berichten die Medien im Überschwang von einer allseits beliebten Kanzlerin, die beim Volk gut ankomme und auch noch 98 Prozent Zustimmung unter ihren Kollegen erzielt. Da lächelt keiner hämisch. Das findet keiner komisch. Eher lobenswert. Man nimmt es als Zeichen allgemeiner Zufriedenheit und als Belohnung für den allseits bestätigten Wohlstand an.

Das Fernsehen ist dabei. Es zeigte Einigkeit, nur marginale Übereinstimmungslosigkeit. Grundsätzlich ließ man dieser Nomenklatura die Freiheit, in Objektive zu lächeln und zu verkünden, man sei trotzalledem sachlich und mit großem Respekt untereinander umgegangen. Im Zentrum die Kanzlerin als weihevolle Gestalt, als Gallionsfigur einer Veranstaltung von solch starker Geschlossenheit und Zuversicht, dass selbst die Reporter mitschunkelten zum Takt der Lobeshymnen und der Selbstbeweihräucherungen. Zeitungen lichteten nur lächelnde Unionspolitiker ab, lauter fröhliche Personen, alle gut drauf, alle hoffnungsfroh und auf verheißungsvollem Enthusiasmus kalibriert. Das Fieber ergriff selbst das Feuilleton. Dort strampelte sich mancher wie im Fieberwahn von Satz zu Satz.

Die politische Ostalgie lächelt noch immer und immer wieder spöttisch über den gellenden Narzissmus, über die Selbstüberhebung im anderen Deutschland. Scheindemokratie wolle man nie wieder haben. Der Bundespräsident mahnt beständig, denn er hat diese Diktatur des Selbstlobes mit eigenen Augen gesehen. Leitmedien stützen ihn dabei. Aber Parteitage mit Fast-100-Prozent-Bestätigungen und Bundesversammlungen mit nur einem Kandidaten werden nicht nur hingenommen, man bauscht sie in sicherer Regelmäßigkeit zu gewünschten Resultaten aus. Das sei sogar gewissermaßen Demokratie. Ein Allparteien-Bundespräsident mit einem Alibi-Gegenkandidaten ist Demokratie. Alternativlose Politik, die man dem Bundestag verordnet, ist Demokratie. Alles-im-Butter-Inszenierungen sind Demokratie.

Auferstanden aus Ruinen? Weil Parteitage heute Volkskammer-Resultate erzielen, könnte man das flapsig so ausdrücken. Es wäre aber falsch. Was da geschieht ist ganz sicher nicht Sozialismus. Der hat bei allen seinen Fehlern doch ein ganz anderes Menschen- und Gesellschaftsbild zur Grundlage gehabt. Auferstanden aus Ruinen trifft es nicht. Einverstanden mit Ruinen / Und in Zukunft abgebrannt... Neue Not gilt es zu schaffen / Und wir schaffen sie vereint / Tiefe Wunden sollen klaffen / Daß die Sonn' so gut wie nie / Über Europa scheint... ist es wohl, was hier weggelächelt wird. Mit Harmonie und Sonnenschein die neoliberalen Ruinen retuschieren. Aber die Bilder damaliger Tage belächeln sie noch immer.



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De auditu

Montag, 10. Dezember 2012

Kürzlich las und lauschte man von einem Mann in Indien, der zum Tode verurteilt wurde, weil er einen Bombenanschlag verübte, bei dem Menschen zu Tode kamen. Der Orginalton lautete: ... weil er unschuldige Menschen in den Tod riss. Oder andernorts: ... weil er unschuldige Menschen tötete. Der Verurteilte war ein Attentäter der Anschläge von Mumbai, die im Jahr 2008 laut Angaben indischer Behörden 174 Menschen das Leben kosteten. Ein Überlebender der Anschläge läßt sich im selben Wortlaut zitieren: "Wir senden eine klare Botschaft an alle Terroristen, dass sie nicht davonkommen werden, wenn sie in Indien unschuldige Menschen töten." Zynisch könnte man nun fragen, ob das Töten von Menschen in Indien kein Problem darstelle, solange man keine unschuldigen Menschen trifft.

Die Floskel von den unschuldigen Menschen, die den Tod fanden, ist ja nicht nur auf Mumbai beschränkt. Man hört sie oft. Sie ist gebräuchlich und eine Standardformulierung, die eine Form der Empörungshaltung trotz Wahrung der üblichen Contenance darstellt. Gleichzeitig ist sie aber irrational und schafft zwischen potenziellen Opfern einen moralischen Riss. Und nicht nur dort setzt sie Moral ein, sondern auch beim Täter, dem man quasi eine Art Option gewährt, sich zwischen unschuldigen und schuldigen Opfern entscheiden zu können. Die Unschuld ist ja eine ethische Begrifflichkeit, meist nicht mehr als eine offene Frage, ein unerreichbarer Zustand. Der Katholik ist es beispielsweise nie, er trägt die Erbschuld im Katechismus mit sich herum. Was so kirchenspießig klingt, hat aber durchaus eine philosophische Wurzel. Ohne Schuld ist niemand, egal wie bemüht er auch ist, Schuld zu vermeiden. Das wirft eine Frage auf, die in der gebräuchlichen Floskel unschuldiger Menschen, die zu Opfer wurden, relevant ist: Welche Schuld ist gemeint, wenn man die Unschuld betont? Anders gefragt: Die Unschuld von was ist da gegenständlich? Und was hat sie mit der Zufälligkeit der Brutalität zu tun, der man zum Opfer fiel?

Käme bei einem fiktiven Doppelmord heraus, dass die beiden fiktiven Todesopfer nicht unschuldig waren, sondern vorher ein Verbrechen begangen haben, das jetzt durch ihren Tod Aufklärung fand, lindert das die Schuld des Mörders? Und wie schwer müsste das Verbrechen der Opfer sein, um den Täter reinzuwaschen? Was aber, wenn nur ein Mordopfer schuldig war, dafür aber vielleicht ein sehr schweres Vergehen auf seinen Schultern trug? Wiegt das schuldige Opfer das unschuldige auf? Die Verwendung des Floskel, es wurden unschuldige Menschen getötet, ist unangebracht, denn sie wird in diesem Zusammenhang gar nicht gebraucht. Ein Mord ist nach gängigen Rechtsverständnis auch dann ein Mord, wenn man jemanden tötet, der schwerste Schuld auf sich geladen hatte. Der Mord an einen Mörder ist Mord und keine gerechte Sache. Und genau das suggeriert das "unschuldige Opfer". Die Frage nach Schuld oder Unschuld eines Opfers ist irrelevant, sie wird gerichtlich nur dann wesentlich, wenn der Mörder in einer direkten Beziehung zum Opfer stand und man die persönlichen Beweggründe, die aus dieser Zwischenmenschlichkeit erwuchsen, ins Strafmaß binden möchte. Aber auch im Rahmen einer Berichterstattung zu einer Beziehungstat, ist die Floskel "unschuldiges Opfer" unzureichend, denn dann müsste man fragen, welche Schuld angemessen gewesen wäre, um jemanden mit allgemeiner Anerkennung töten zu dürfen.

Dem sprachlich als unschuldig erwähnten Opfer wohnt die Antithese inne. Es gibt demnach Mord, der qua Schuld des Opfers berechtigt zu sein scheint. Ein stilles Plädoyer für die Todesstrafe? So unscheibar die Floskel wirkt, so gängig sie ist und so schnell wieder vergessen, weil wir an sie gewohnt sind: Sie ist eine Wortkombination reaktionärer Sprache. Das heißt nicht, dass alle, die die Floskel nutzen, Reaktionäre sind - das heißt eher, dass sich Sprache einschleift und Reaktionen zeitigt, die man vielleicht gar nicht beabsichtigt. Wer laut "unschuldiges Opfer" sagt, meint still das Gegenteil. Und irgendwann ist das ganz natürlich und normal und hinterfragt wird es nicht mehr. So bereitet Sprache Taten vor.



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Um sie – und nur um sie - muss sich Politik kümmern...

Sonntag, 9. Dezember 2012

Die Genossen sind eine kritische Masse. Das glauben sie jedenfalls selbst von sich. Man hat nicht erwartet, dass der Freund kostenintensiven Weines scheitern würde. Dass es aber dann 93 Prozent würden, konnte man ja nicht ahnen. Was haben sie noch gewettert, ausgerechnet dieser Mann, dieser Bossegenosse, dieser Honorist und Agendist, dieser Pekingese des Schröder und des Müntefering. Tja, da dachte man noch, sie machen es sich schwer mit diesem Mann, der von der Parteispitze vorschlagend beschlossen wurde.

Vielleicht haben sie es sich ja auch schwer gemacht. Wer weiß schon etwas über die Gemütslage der Genossen? Gut möglich, dass sie innerlich zerrüttet sind, dass sie mit schwerfälligem Gewissen mit Ja votierten. Da hat der kleine Leib- und Magenkoalitionspartner bereits abgefärbt. Die Realos, früher auch Grüne genannt, haben sich irgendwann mal den hübschen rhetorischen Gewissensbiss und -kniff ausgedacht, der da heißt "mit Bauchschmerzen". Der geht so: Kriegseinsatz? Ja, aber mit Bauchschmerzen! Sozialabbau? Eigentlich wollen wir nicht, aber mit Bauchschmerzen: Ja! Wer sagt denn, dass der Mann nicht einfach nur ein Bauchschmerzkandidat ist? Vielleicht waren es Bauchschmerzen, die das fulminante Ja für ihn ermöglichten. Hoffentlich handelte es sich bei diesem Bauchweh nicht um sich ankündigenden Stuhlgang. Dann wäre der Kerl ja aus falschen Motiven Kandidat.

Und hat er nicht eine schöne, eine wirklich erhebende Rede gehalten? Wenn die Sozis regieren, geht es dem Land besser. Hurra! Haltung und Werte für die Politik. Vivat! Kein klassistisches Gesundheitssystem für Deutschland. Hosianna! Gerechte Löhne für alle. Wacht auf, verdammte dieser Erde...! Der soziale Wohlfahrtsstaat ist das große Projekt der deutschen Sozialdemokratie. Die Partei, die Partei, die hat immer...!

Ist das Lug und Trug oder einfach nur Verblendung? Wo hat dieser Mann seit Schröders Antritt gelebt? Und leiden die Genossen allesamt an Demenz? Vielleicht ist diese Vergesslichkeit der Delegierten ja nichts weiter als ein Anzeichen der Alterung unserer Gesellschaft. Waren all die jungen Menschen, die man auf dem Sonderparteitag sah, nur die Buftis, die die Stimmberechtigten zur Urne schoben?

Persönlich nehme ich es diesem Menschen übel, dass er auf dem Rücken der Armen einen Wahlkampf gestalten und gewinnen will, die ihm später relativ gleichgültig sein werden. Seine Aussage zur hypothetischen Erhöhung des Kindergeldes sagte ja alles. Der Mann, der in etwa so sehr für die Agenda 2010 steht, wie Schröder und Clement und Müntefering selbst, ausgerechnet dieser Kerl will die soziale Gerechtigkeit zu seinem Thema machen. Weshalb ernennt er nicht gleich den Ex-Senator und Ex-Bänker mit dem Bestseller in der Tasche zum Entwicklungsminister? Das passt in etwa so gut, wie er als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Neulich meint er noch, mehr Geld für Arme bringe nichts ein, weil es vielleicht wo landet, wo man es nicht haben will. Und jetzt gibt er den rhetorischen Tribun der Elenden.

Ich weiß, dass er beim Interview mit Cicero nicht die Armen sagte, als er Angst um das Geld hatte. Aber er meinte sie? Wen sonst? Seinesgleichen? Und er sagte auch nichts, wohin das Geld geht. Aber er meinte sicherlich nicht auf das Sparbuch von kleinen Scheißern etwaiger Mittelstandspaare. Zigaretten und Alkohol natürlich. Und die Playstation. Die Vorurteile sind hinlänglich bekannt. Der Mann sagte zu Zeiten, da er noch ministerieller Erfüllungsgehilfe der Agendapolitik war, auch etwas zur sozialen Gerechtigkeit. Ich habe mir das Zitat archiviert. Hier ist es, damit wir gleich mal wissen, wie er soziale Gerechtigkeit definiert: "Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie – und nur um sie - muss sich Politik kümmern." Wer ist da wohl nicht inklusive?

Dreiundneunzig Komma fünfundvierzig Prozent für diese soziale Gerechtigkeit als Wahlkampfthema! Ein klares Bekenntnis von den Sozialdemokraten, wie ich finde. Und er scheint auch die Basis getroffen zu haben, drüben bei Facebook überschlagen sie sich gerade vor Freude. Endlich ein Kandidat mit Format, klare Versprechen, Politikwechsel. Ich scheiß' gleich in die Hose vor Lachen. Entschuldigung, ich kann es nicht feiner schreiben. Und jetzt kommt der Clou obendrauf: Man kann nichts machen, um diesen Mann zu verhindern, weil man damit nämlich die Frau ermöglicht. Aber abwinken und sagen Alles Scheiße!, das macht man nicht, lehrt uns der demokratische Kodex. Er zeigt aber auch nicht auf, was man tut, wenn wirklich alles Scheiße ist. Lachen über gruppenspezifische Dummheit ist ja auch keine Lösung.



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Anarchismus oder Der beste aller möglichen Staaten

Freitag, 7. Dezember 2012

Was ist denn aus Ihnen geworden, Mensch?, fragte mich der Kerl. Ich wusste nicht, was er meint, aber er war schnell, legte gleich nach, ohne auf Antwort oder Gegenfrage meinerseits zu warten. Früher haben Sie immer mal geschrieben, Sie seien Anarchist. Und nun sprechen Sie so oft vom Staat. Er hat mich ertappt, dachte ich mir. Ich wollte mich fast aus meiner Lethargie bewegen und antworten, da monologisierte der Kerl weiter drauflos, was mir wiederum zupass kam. Jetzt schafft der Neoliberalismus mal Konzepte, in denen der Staat endlich in Rückzug geraten soll und Sie wirken nicht mit. Mir verging es gleich komplett, ich hatte keine Lust mehr, ihm zu antworten. Ich gebe auch zu, dass er es nicht ganz so sagte, Neoliberalismus verwendete er in seinem Satz überhaupt nicht. Neoliberale sagen nie Neoliberalismus. Sie gehören offenbar einem Geheimorden an, der so geheim ist, dass er nicht mal genannt werden darf. Konfrontiert man sie mit dem Begriff, dem Konzept, mit seinen Unsitten, dann leugnen sie lautstark seine Existenz.

Noch eine Weile hörte ich ihm zu, das heißt, ich tat so, gab einige klägliche Antworten von mir, die ich heute nicht mehr weiß und verschwand. Arschloch, dachte ich mir. War er auch, mal abgesehen davon. Tut aber nichts zur Sache. Anarchismus heißt doch nicht Freiheit vom Staat, überlegte ich dann, sondern Freiheit von Herrschaft. Kann doch ich nichts dafür, das beides irgendwie immer zusammenfällt.

Für mich schließt es sich nicht aus, den Sozial- und Rechtsstaat sichern zu wollen, weiterhin aber an den Idealen des Anarchismus festzuhalten. Für einen Kerl wie jenem ist das natürlich zu hoch, er braucht so klare Kanten, wie sein Gesicht welche hatte. Sowohl als auch ist für ihn keine Option, seine widerlich anschmeichelnde Art verriet mir das gleich. Es ist ja nicht so, dass der Anarchismus ein Chaos ohne aufgestellte Regeln wäre, auch wenn es sich die Mehrheit so phantasiert. Man lese mal Horst Stowasser, der das in seinem überwältigenden Buch beschrieb. Auch im Anarchismus gibt es Regeln. Alles Zusammenleben ist stets Regelwerk. Immer und überall und egal wie man es nennen mag. Unbeherrscht nach Regeln leben - was nicht heißt, sich unbeherrscht aufzuführen, sondern besonnen nach dem, was die Gesellschaft als Kodex entworfen hat. Die Neoliberalen praktizieren das genau ja nicht, ihre Freiheit von staatlicher Herrschaft ist eine unbeherrschte, rücksichtslose, jähzornige und wutschnaubende. Sie sind zu den Herrschern geworden und wollen immer noch mehr Herrschaft - sie sind herrschsüchtig. Und genau das ist und will das anarchistische Ideal vermieden wissen.

Wenn man einsieht, dass es Regeln geben muss, die möglichst vernünftig, also kein ius positivum sind, dann kann man auch einsehen, dass es Institutionen gibt, die auf Einhaltung getrimmt sind. Und die Einsicht, dass es Regeln braucht, ist unter Anarchisten nicht verwerflich. Wer etwas anderes behauptet, hat den Anarchismus nie begriffen. Man nenne dann die Institution der Regelüberwachung meinethalben Staat. Es geht mir auch nicht um die Verteidigung des Staates, wie er in der westlichen Welt heute zu finden ist. In ihm ist aber die Keimzelle dessen, was werden könnte und werden sollte. Anarchismus sollte man als Ideal verstehen, das man nicht aufgibt, nicht verrät. Welcher Christ ist schon wie Jesus? Dennoch bewahrt sich die Christenheit diesen idealisiert guten Juden als Leitbild. Wir glauben doch alle an was - und wenn wir wissen, dass unsere geglaubten Ideale nicht praktikabel sind, dann versiegeln wir sie in uns und halten sie dennoch fest. Würden wir sie loslassen, gerieten wir zu Nihilisten.

Und die Neoliberalen sind genau solche Nihilisten. Sie glauben an nichts, nur an Profite; der Weg zum Profit ist gepflastert mit dem Nichts, denn nichts ist ihnen heilig, nur das Ziel ist der Weg. Braucht man Mord dazu, toleriert man den Mord und nennt ihn Sachzwang; geht es mit Geschenken, schenkt man; ist Aushungern nötig, hungern sie eben aus - winkt bei reichlicher Verpflegung mehr Gewinn, verpflegen sie einen mit einer Fürsorge, dass man vor Ergriffenheit weinen möchte. Dass die Mittel immer mit dem Zweck vereinbar sein müssen, schrieb Stowasser übrigens auch, sei ebenfalls anarchistisches Ideal. Mit Bomben Befriedung zu schaffen sei unsinnig und nicht vertretbar, ganz zu schweigen davon, dass man so keinen Frieden macht, sondern nur Verstümmelungen. Neoliberale sind da nicht wählerisch, sie sind sicherlich pragmatischer als solche, die sich Ideale eingemeißelt haben. Mehr aber auch schon nicht.

Anarchisten haben immer, und tun dies heute noch, die geistige Veränderung der Menschheit postuliert. Die einen meinten, der Anarchismus sei praktikabel, wenn die Menschheit endlich eine neue geistige Entwicklungsstufe erklommen habe, die anderen glaubten: Erst der Anarchismus, dann der menschliche Fortschritt. Zweifelsohne bedarf es einer materiellen Basis. Da ist er sich mit Marx einig. Vor dem Sozialismus kommt der Kapitalismus und die industrielle Massenfertigung. Erst das Fressen, dann die Moral. Die Frage wird jedoch sein, ob wir nicht zu evolutionsgläubig sind. Ist der geistige Fortschritt im Sinne eines Weltethos überhaupt programmiert? Woher nimmt man die Zuversicht, dass der Mensch als Menschheit denken lernt? Scheitert daran der Anarchismus? So wie jedes System wird er das. Der Anarchismus scheitert am ihm immanenten Guten, daran dass er gutgläubig ist - der Neoliberalismus wird daran scheitern, nur an das Schlechte zu appellieren. Am Menschen scheitert es immer, weil er ist, was er ist.

Ich ringe nach einen Sinnspruch, den man unterstreichen könnte, wenn man ein Lineal hätte. Ist nicht einfach, weil vermutlich eh jeder glaubt, dass ich von der reinen Lehre abgefallen bin. Auch so ein Unsinn, denn der Anarchismus sollte ja eigentlich ein unideologisches Fach sein.

Also, Sinnspruch, ein Versuch dazu jedenfalls: Der Anarchist ist heute jemand, der eingesehen hat, dass der beste aller möglichen Staaten besser ist, als das Schwelgen in staatslosen Idealen, die momentan (oder immer?) nicht machbar sind.
Konkretisierung: Die besten aller möglichen Staaten sind nicht die, die wir haben im Westen oder sonstwo. 
Ergänzung zum Sinnspruch: Der Anarchist ist das, was ich oben schrieb und zusätzlich weiß er, dass für eine Verbesserung immer wieder gestritten werden kann, auch wenn es schon Verbesserungen gab.
Konkretisierung II: Der Anarchist braucht keine Staatenlosigkeit, sondern kann mit einem Staat leben, der Freiheiten garantiert und ermöglicht und die Ausübung von Herrschaft relativ erschwert und kontrolliert.
Sinnspruch, Ergänzung zweiter Teil: Der Anarchist ist das, was oben steht plus Ergänzung und er legt zwar Wert auf Sozial- und Rechtsstaatlichkeit und auf Einhaltung von Menschenrechten und Verfassung, aber Staatsbekenntnisse und nationale Selbstbeweihräucherungen lehnt er ab. Er ist verfassungspatriotisch.
Konkretisierung III: Er hat eine entspannte Beziehung zur Staatlichkeit. Er sieht sie als Garantin eines friedlichen Miteinanders, was nicht heißt, dass es vielleicht auch anders gehen könnte, wenn der Mensch anders wäre.

Es fällt nicht leicht, einen Sinnspruch zu schleifen, der wie eine mathematische Formel angewendet werden kann. Wie hätte ich dem Typen denn das erklären sollen? Reden ist eh nicht meine Liga. Das Beste von einem Autor steht auf dem Papier. Der Rest ist meistens Nonsens, schrieb mal ein kluger Alkoholiker.

Dieser mich einsülzende Pisser mit seiner jovialen Art, mich dem Neoliberalismus anzunähern, wird damit nichts anfangen können. Kann ich ja selbst kaum. Trotzdem geht das für mich zusammen. Anarchistisch zu denken und gleichzeitig dafür zu sein, dass der Staat als Mittler notwendig ist, das ist nicht paradox, das ist konsequent. Nicht der Sozialstaat, der heute abgebaut wird, auch nicht der Rechtsstaat, der heute weniger mit Recht, viel aber mit den Rechten zu tun hat - so wie sie sind, will ich sie ja nicht; sie sollen besser werden, gerechter, die Menschen partizipieren lassen, Übervorteilung einzelner Egomanen einschränken. Auch wenn es den Staat heute nicht mehr gäbe, müsste man sich auf Regeln verständigen, um den Zustand, in dem die Gesellschaft leben will, zu definieren. Der Begriff Staat ist nicht zufälligerweise dem lateinischen Begriff für Zustand, status nämlich, entlehnt. Irgendeinen Zustand gibt es immer. Irgendeinem Absolut muss man sich immer beugen - und wenn es ein Absolutes ist, das vernünftig und anständig ist, sollte das nicht weiter verwerflich sein.

Staatenlosigkeit können sich Menschen leisten, die auf einen starken Spieler, der ihre Interessen durchboxt, nicht angewiesen sind. Auf dieser Ebene wirkt der Neoliberalismus. Der Anarchismus kann nicht in dieselbe Kerbe schlagen.



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Lustig, lustig, traleralera!

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Nikolaustag. Manchmal habe ich den Eindruck, seitdem man die Mentalität Südeuropas zum Auslöser der Krise auserkoren hat, ist so gut wie jeden Tag Nikolaustag. Keiner, an dem rauschige Bärte, cocacolarote Roben und fette Bäuche vorstellig werden. Einer, bei dem eine zeitgemäße Interpretation des Nikolo, frei von Runzeln, frei von altbackener Schwerfälligkeit, molestiert. Im Geschäftsanzug gerafft, schön glatt rasiert und gescheitelt, liest er nicht aus einem güldenen Buch Sünden heraus, sondern spricht leger aus dem Stehgreif. Das ist moderner. Und die müßiggängerische Eintagespräsenz per annum reicht auch nicht mehr in Zeiten, da Flexibilität und Erreichbarkeit Primärtugenden sind. Bald ist Nik'lausabend da, kann man mehrmals im Jahr singen. Und es ist nicht nur der Abend alleine für ihn reserviert. Er stapft in Talkshows, schreibt in Gazetten, ist immer als Nikolaus präsent, der keine Geschenke zu verteilen hat, wohl aber Vorwürfe, Vorurteile und den drohenden Finger.

... Nik'laus ist ein guter Mann ...

Neulich lauschte ich zwei Kollegen. Sie sprachen von einer Talkrunde am Vorabend. Zu Gast mehrere Leute aus der Politik und den Medien. Meinungsmacher eben. Einer bestätigte dem anderen, das dieser Nikolaus Blome doch eine recht gute Figur gemacht habe. Ich traute meinen Ohren kaum. Ausgerechnet dieser Mann, ausgerechnet der gegelte Blome. Letztlich darf das einen nicht verwundern. Blome ist omnipräsent. Wie sein Namensvetter aus der Legende scheint er alles zu sehen, zu hören, zu riechen, ist immer zur Stelle. Er hat nicht zu allem eine Meinung, aber zu seinem Lieblingsthema hat er die einzig richtige und gültige Meinung. Eine populistische, die nach fünf Pils noch nachvollziehbar und logisch klingt. Ein so beharrlicher Mensch, der ins Fernsehen drängt, um dort nochmal zu verlesen, was er zuvor in seine Zeitung schrieb, erntet irgendwann Anerkennung. Man verwechselt Beharrlichkeit manchmal mit Seriosität.

... Nik'laus legt gewiss was drauf ...

Das Thema, das ihn besonders beschäftigt, sind die Griechen. Es könnten auch die Spanier, Italiener und Portugiesen sein. Vielleicht sind die das Thema kommender Jahre. Ökonomische Fragen sind ihm dabei eher zweitrangig, Zusammenhänge egal. Die Krise des Euro ist für ihn ein Produkt völlig inakzeptabler Mentalitäten, wie man sie am Mittelmeer findet. Zur Korruption und Hang zur Hängematte, attestiert dieser Nikolaus den Südländern außerdem Undankbarkeit. Die Eurokrise hat für ihn keine ökonomischen Grundfeste, sondern ist rein ein Problem falscher Geisteshaltung und mediterraner Rückständigkeit. Erfüllen die Krisenstaaten die vorgegebenen Kriterien, so legt Nik'laus gewiss noch was drauf, fordert noch mehr deutsche Tugendhaftigkeit für Europa und die nachhaltige Kleinhaltung mediterranen Lebensgefühls.

Lasst uns froh und munter sein ...

Nikolaus platzt nicht nur in unser Wohnzimmer, um die bösen Kinder zu schelten. Er sagt, dass wir froh und munter sein sollen, denn die deutsche Mentalität hat alles richtig gemacht. Sie ist der Urgrund einer standfesten deutschen Wirtschaft. Weil dem Deutschen der Müßiggang üblicherweise fremd ist, lebten wir als paradiesische Insel inmitten der Agonie. Die Wirtschaft schwingt auf, die Menschen hätten Arbeit, die Kanzlerin hütet unsere Interessen und Nikolaus teilt uns mit, dass jetzt Glück programmiert ist, dass wir Dankbarkeit zeigen sollten dafür, mit so guter Mentalität ausgestattet zu sein. Natürlich belohnt ein richtiger Nikolaus auch die braven Kinder. Er lobt sie und sagt ihnen, dass man jetzt noch mehr Anstrengungen machen müsse, um das Vollbrachte weiterhin zu sichern. Blut, Schweiß, Tränen als Belohnung für Niedriglöhne, sinkende Einkommen und prekäre Arbeitsverhältnisse. Und gerade deshalb: Lasst uns froh und munter sein!

... Bald ist Nik'lausabend da ...

Der stellvertretende Chefredakteur der BILD-Zeitung ist ein Platzhirsch. Er hat es in den letzten Jahren geschafft, von einer breiten Öffentlichkeit als ein ehrlicher Makler angesehen zu werden. Immerhin vertritt er die behäbigen Ressentiments, die eben diese breite Öffentlichkeit teilt. Er wirkt mit seiner kühlen, glatten Art nicht wie ein Populist, sondern wie jemand, der sagt, was er sagt, um der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Er und sein Blatt brechen komplexe ökonomische Prozesse auf Mentalitätsfragen herunter. Diese Popularisierung der Krise ist zugleich eine Trivialisierung. Nikolaus Blome bedient den deutschen Chauvinismus und erntet Anerkennung. Und ein ihm an die Seite gestellter Knecht Ruprecht namens Augstein putzt seinen chauvinistischen Sendungsauftrag zu Seriosität heraus.

... Hast denn die Rute auch bei dir? ...

Jeder Zeitgeist erhält den Nikolaus, den er geistig vorbereitet. Das autoritäre Bürgertum kannte den cholerischen, den schlagenden Nikolaus, der nur Stichwortgeber des Ruprecht war. Die Aufbruchsgesellschaft nach dem letzten Weltkrieg kannte den gnädigen und verständigen und lobenden Nikolaus, der kurz vor dem Abendessen ohne Ruprecht zu Besuch kam. Und in chauvinistischen Zeiten, da die inneren Diskrepanzen im Lande dazu führen, nach Außen wie ein Hegemon aufzutreten, da trägt der Nikolaus keine Mitra, sondern Anzug; ist er nicht mit der Gelassenheit des Alters sondern mit jugendlicher Arroganz am Werk; ist er nicht großherzig sondern kühl und herablassend.



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Der Sender gibt es und der Sender nimmt es

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Vor einigen Tagen half RTL wieder Kindern in Not. Spendenmarathon nennt sich das alljährliche Erflehen einiger Euro zur Verbesserung der Welt. Vielen Kindern in Deutschland und der ganzen Welt soll nun mit 8,8 Millionen Euro nachhaltig geholfen werden können. Es ist schon erstaunlich, wie dieser Sender von Bertelsmanns Gnaden erst nimmt, um dann als engagierter Geber moralisch punkten zu können.

Sind denn nicht auch stets Kinder Opfer des üblichen durchboulevardisierten Programms, das RTL rund um die Uhr so bietet? Dieser Sender war und ist wie kein anderer daran beteiligt, das Narrativ des faulen Sozialschmarotzers zu begründen. Er war der Broadcast-Flügel einer Kampagne, die alle Medien erfasste. Was Springer-Gazetten im Print-Sektor betrieben, bannte RTL vor die Kamera. Noch heute ist das so. Der Sender zeigt in einem wahnwitzigen Hype an Doku-Konzepten, wie sich das Leben in Hartz IV-Familien gestaltet. Um zu wenig Geld oder soziale Ausgrenzung geht es dabei nie - dafür um die Drückebergerei, um Blödheit und Unfähigkeit. Der Ableger RTL II führt indessen Familien aus der Unterschicht vor, die ihre Mütter tauschen. Dabei zeigt man dem Zuseher ein Leben im Dreck und arbeitsfreier Sorglosigkeit. Und bis vor einem Jahr schickte man beispielsweise Familien aus unteren Schichten eine Erziehungshilfe und zeigte hippelige, fettige und rotzfreche Kinder am Rande oder im Zentrum einer Bedarfsgemeinschaft. Immer sind da also auch Kinder im Spiel.

RTL trägt dafür Sorge, dass eine allgemeine Stimmung gegen arme Familien und deren Kinder entsteht, in denen Kinder und Jugendliche aus dieser Schicht wie Taugenichtse und Schwerenöter gezeichnet werden. RTL macht, dass nach wie vor Konsens einer breiten Allgemeinheit ist: Die Hartz-Schicht sei immer noch zu kostenintensiv, lernresistent und zudem auch noch zu anspruchsvoll. Opfer sind hierbei nicht nur erwachsene Leistungsberechtigte, sondern Kinder aus Bedarfsgemeinschaften. Sie wirken im Programm von RTL deplatziert, wie Wesen, die es besser nicht geben sollte; wie Ballastexistenzen, die bei aller Widerlichkeit und Frechheit von der Allgemeinheit durchgefüttert werden müssen. Man kann freilich nicht behaupten, dass RTL die sozialen Benachteiligungen von Kindern aus Familien in Armut begründet hat - aber der Sender hat seinen Teil dazu beigetragen, dieses ohnehin beliebte Narrativ zu verfestigen. Er hat daran mitgewirkt, jegliche Armutsdebatte schon im Keim zu ersticken, weil man immer plötzlich verdreckte und patzige kleine Scheißer vor seinem geistigen Auge hat, denen man nur widerwillig Unterstützung angedeihen lassen würde.

Nun aber bietet RTL Unterstützung für genau diese infantile Klientel. Der Sender nimmt und der Sender gibt. Das ist schier göttliche Anmaßung. Erst nahm man Würde, nahm man sich heraus, die wirklichen Sorgen der Armut zum lustigen Boulevard und Bashing zu machen - und nun gibt man einige müde Euro, die man sich bei den Zuschauern erbettelt hat, gibt man seinen Obolus wie eine Ablasszahlung, als ob man bei den armen Kindern, die vorher ein witziger und stimmungsmachender Inhalt des Programmes war, Abbitte leisten wollte. Erst nahm man den Kindern ohne deren Wissen jegliche gesellschaftliche Reputation, machte sie zu rotznasigen Unkostenfaktoren und Produkten einer angeblich sexuell enthemmten Unterschicht und jetzt gibt man etwas zur Linderung jener sozialen Missstände, an denen man fleißig mitboulevardisiert hat.

Überhaupt scheint das RTL-Hilfsfernsehen größtenteils auf der Prämisse Erst nehmen, dann geben! zu gründen. Aktuell wird Mobbingopfern geholfen. Das sind näher betrachtet Opfer eines enthemmten Geschwätzes, wie es in Bouelvardkonzepten des Senders Dauerthema ist. Da wurde unlängst ein schwuler Schüler unterstützt, weil er in der Schule aufgrund seiner Homosexualität gemobbt wurde. Aber schimmert aus dem Privatleben eines Schauspielers hervor, dass er vielleicht, unter Umständen und mit ganz viel Phantasie schwul sein könnte, dann bauscht man das zum ganz großen Thema auf, schwätzt darüber, fragt Society-Quatschköpfe und macht einen endlosen Rabatz darum. Natürlich, gemobbt wurde auch schon vor RTL, auch ohne diesen Sender hätte der schwule Schüler wahrscheinlich gelitten. Aber dass man sich über Belanglosigkeiten heute das Maul zerreißt, ist schon auch eine Folge von der Penetranz, mit der RTL seit Jahren von Nichtigkeiten berichtet, als seien es weltbewegende News.

Hin und wieder schickt man dann eine Anwältin in Hartz IV-Familien, die deren Rechte vertreten soll. Die Anwältin soll angeblich gar keine sein, liest man in einschlägigen Internetangeboten - dafür war sie vormals bei einem anderen Sender Sozialfahnderin und lief Sozialschmarotzern nach. Jetzt darf sie bei RTL Hilfsdienste anbieten. Sie soll die medial erzeugte Pogromstimmung, die in Jobcentern dazu führt, es mit Rechtsansprüchen nicht zu genau zu nehmen - schließlich haben Schmarotzer keine gesellschaftliche Lobby! -, quotenwirksam ausbaden. Bei RTL fragt man sich dann oft, wie es hat so weit kommen können, wieso wollte man Leistungsberechtigte prellen? Dass die jeweiligen Sachbearbeiter ihre emotionale Intelligenz möglicherweise bei RTL geschult bzw. entsorgt haben, dass sie sich dort angesehen haben, wie die Kundschaft, die sonst in ihrem Büro hockt, zuhause in Unrat, Untätigkeit und Ausschweifung lebt, ist als Antwort allerdings bislang noch nie genannt worden.



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