An der Wand

Samstag, 2. April 2011

S. trat, warum und wieso sei an diesem Punkte gleichgültig, vor sein Exekutionskommando. Nach langem und zähem Prozess, bei dem man S. darlegte, dass er sich der Schuld schuldig gemacht hatte, entschied man ganz rechtsstaatlich legitimiert, dass die Erschießung zu vollziehen sei.
Lange hatte er nicht verstanden, was das hohe Gericht ihm verdeutlichen wollte. Nicht das einzelne und jeweilige Verbrechen sei zu verurteilen, erläuterte der Richter mehrmals, sondern die Schuld, gegen gesetztes Recht verstossen zu haben - Vergewaltigung, Mord, Diebstahl, das alles seien nur Möglichkeiten des Verstosses, Spielarten der Gesetzeswidrigkeit sozusagen. Das Gesetz umgangen zu haben, das sei die eigentliche Schuld, und die habe ein neutrales Gericht zu beanstanden und zu sanktionieren, teilte man ihm, trotz allem recht freundlich und zuvorkommend, mit.
Als S. mitsamt Vollzugsbeamten, Staatsanwalt und Geistlichem aus dem Häftlingstrakt trat und dem Licht des Gefängnishofes gewahr wurde, erblickte er prompt einige uniformierte Männer, die nervös rauchten und dabei flatterig an ihren Gewehren nestelten. Kaum dass sie S. erspähten, kam Unruhe in den Haufen, ein ebenfalls uniformierter Mann, wahrscheinlich der Kopf der kleinen Einheit, fuchtelte und flüsterte auf die Männer ein, gebot ihnen Haltung und den Befehl, sofort die Zigaretten auszudrücken. S. gefiel die Emsigkeit, die sein Erscheinen zeitigte; es schmeichelte ihm, dass er kurz vor seinem Ende noch so viel Aufmerksamkeit und Entgegenkommen erzielte, dass er noch einmal Hauptdarsteller sein durfte.
Man geleitete ihn höflich - er war übrigens nicht gefesselt - an eine Wand; der Vollzugsbeamte, der ihn dirigierte, nahm sich sehr galant aus und beendete jeden Satz mit 'Herr S.'; 'etwas mehr nach links, Herr S.', 'gut so, Herr S.', 'Sie sind aber sehr kooperativ, Herr S.' In der ihm beorderten Stellung verharrte S. einige Minuten, während hie das uniformierte Menschenhäuflein, dort ein Häuflein ziviler und spiritueller Vollstreckungsdelegierter plauschte. Die vormals uniformierten Raucher, die zu Haltung befehligt wurden, rührten sich nun wieder ungezwungener, was S. enttäuschte, hatte man ihm doch die Aufmerksamkeit wieder entzogen. Jedes der beiden Grüppchen frönte dem Klatsch; 'Herr Staatsanwalt, haben Sie schon gehört?', danach das Gelächter feiner Herren, die sich über schmutzige Scherze freuten; auf der anderen, weniger feinen Seite, plumpe Sätze, 'Hey, Arnold, haste die Kleine schon...?', die letzten Schnipsel des Satzes im Gekicher erwachsener Jungs untergehend.
Man sollte den Herrn Verurteilten nicht zu lange warten lassen, schallte es plötzlich aus dem feinen Haufen heraus über den Hof. Schließlich habe jeder noch anderes zu tun, einschließlich dem Herrn Verurteilten selbst. Mit pflichtschuldigstem Gehorsam eilte einer der Vollzugsbeamten zu S., legte ihm rücklings Handfesseln an, faselte dabei etwas vom heutigen spannenden Finale, bei dem die örtliche Fußballmannschaft teilnehmen und hoffentlichhoffentlich gewinnen würde. Nebenher drapierte er eine Augenbinde über S.' Augen und entfernte sich mit einem freundlichem 'Auf Wiedersehen!' von ihm.
Man fragte S., ob er noch etwas verkünden wolle; der überlegte und wurde prompt zur Eile angetrieben, denn das Prozedere sei bereits im Verzug. S. sprach Worte, wie sie Tausende von zu Tode Verurteilte an Tausenden von Orten im Laufe von Tausenden von Jahren gesprochen haben mögen. Belangloses Gestammel eines gleich Beendeten. Leid täte es ihm und er würde es bereuen und nicht mehr tun. "Vielen Dank!", rief jene Stimme, die hier offenbar das Sagen hatte, nachdem S. mit seinen letzten Worten, zusammengestellt aus Allgemeinplätzen, geendet hatte.
"Das Gewehr legt an!", hallte es da bereits über den quadratischen Hof, "das Gewehr" dabei theatralisch in die Länge gezogen. Da nahm jemand sein Metier ernst, dachte sich S. - eine Hinrichtung ist nicht nur Akt, sie ist ein Szenarie, ein Schauspiel. Das ist von damals geblieben, als die Tötung von Verurteilten noch auf Marktplätzen geschah und man dem Pöbel das Schauspiel bieten wollte, was mit einem geschähe, der sich nicht an die Gesetze hielte - hätte man nur geköpft, ohne den Zusehern ein wenig Theatralik zu bieten, einen Pfaffen, der betete, einige schmalzige letzte Worte, einen entweder ängstlichen oder mutigen Todeskandidaten, einen Henker, der seine Anweisungen in langezogenen Silben hinausschreit... hätte man dergleichen nicht feilgeboten, wer hätte sich Gedanken um einen weiteren abgetrennten Kopf gemacht?
Der Ausruf "Feuer!", den S. erwartete, er ließ auf sich warten. Am dem, der da das Kommando hatte, ist ein Henker früherer Tage verlorengegangen, dachte sich S. So nervenzerfetzend wie er diese Erschießung in die Länge zog, hätte er ein mittelalterliches Publikum irgendwo auf einem Marktplatz, welches dem Spektakel beiwohnte, fest im Griff gehabt. Es hätte auf seine Lippen gestarrt, gebannt auf ein Zucken von Oberlippe gewartet - nun gut, er hätte seinerzeit nicht "Feuer!" gerufen, vielleicht gar nur ein Handzeichen gegeben, dieses dann lange, sehr lange hinausgezögert, nur um für diesen Augenblick seine Herrschaft über Leben und Tod auszukosten und als Dramaturg der menschlichen Endlichkeit seine Bühne zu betreten. Dieser Mann, er hätte in Zeiten leben sollen, in denen noch vor den Augen aller gerichtet wurde, dachte sich S., sich wundernd, welche Gedanken man vor dem Hinscheiden doch haben kann. Doch weiterhin lauschte er keinem "Feuer!", stattdessen laute Stille.
S. vernahm ein Tuscheln. Warum falle der Verurteilte denn nicht um, fragte eine piepsige Stimme. Habe man etwas falsch gemacht, warf jemand ein. Jemand, vermutlich der Staatsanwalt, fragte nach, welche Probleme es denn gäbe. Er ermahnte zugleich zur Eile; er müsse gleich zu Gericht und könne nicht mehr lange warten. Abermals schrie derjenige, der das Kommando innehatte, "Das Gewehr legt an!" Wieder Pause, wieder ein langer Akt des Wartens. S. lauschte der Stille, er glaubte jeden Moment Schüsse, dann stechende Schmerzen zu verspüren, mit etwas Glück jedoch nur Schüsse. Nichts. Es geschah nichts.
Stimmengewirr. 'Was soll das?', 'Etwas stimmt nicht!', 'Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu!' Vergessen diese Schildbürger etwa abzudrücken und wundern sich dann, dass als Wirkung am Fuße der Wand keine in sich zusammengefallene Kreatur kauert? "Schießt doch!", rief S. "Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!" "Ungeheuerlich!", plärrte eine Stimme. "Der wird auch noch frech! Schneid hat er ja!" S. hörte Schritte, die sich im näherten; der Befehlshaber des Exikutionskommandos nahm ihm die Augenbinde ab. "Was ist denn los?", fragte S. "Schießt doch endlich und macht kein endloses Theater aus dieser ganzen Angelegenheit. Das sollte doch nur ein Routineeingriff sein, oder nicht?"
Der Kommandant schien verdattert. "Schießen?", fragte er. "Aber Herr Verurteilter", setzte er empört an, "halten Sie uns etwa für Mörder? Wir leben doch in einem Rechtsstaat, wir führen keine Todesstrafe aus; das wäre doch gar mittelalterlich!"
"Und weshalb stehe ich hier, weshalb hat man mich zum Tode verurteilt, wenn man nicht tötet?", fragte S. irritiert. "Sind Judikative und Exekutive im Clinch? Weiß die eine -tive nicht, was die andere tut?"
"Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter, Herr Verurteilter", belferte der Kommandierende. "Dass Sie hier stehen hat schon seine Richtigkeit. Sie sind zum Tode verurteilt, gleichwohl die Todesstrafe nicht ausführbar ist. Das schließt sich auch gar nicht aus, ist in sich logisch."
S. konnte dem nicht folgen und blinzelte gen Staatsanwalt, rief dem zu, was der ganze Zirkus dann eigentlich soll. Warum poliere man Uniformknöpfe und teile Gewehre aus, die vermutlich nicht mal mit Munition bestückt sind, wenn endlich doch nicht geschossen würde. Was will man damit bezwecken, diene es der Bespaßung der Anwesenden oder liebe man das Theater so sehr, dass man es nun in die Justiz hat einziehen lassen?, fragte S. Warum dann nicht einfach etwas Gift in die Gefängniszelle legen und dem Verurteilten, gleich Sokrates und seinem Schierlingsbecher, eine makabere Empfehlung aussprechen.
Der Staatsanwalt, der sich schon während der Fragen S.' von seiner bescheidenen Sitzgelegenheit erhoben hatte, um sich dem Verurteilten zu nähern, begann mit der Antwort, als er noch unterwegs zum Verurteilten war. Alles habe seine Richtigkeit, sagte dieser. Man mache nur, was das Gesetz vorsähe, nicht mehr, auch nicht weniger. "Und Gift zu reichen, Herr Verurteilter: wir leisten doch keine Sterbehilfe!", entrüstete sich der Staatsanwalt. Bei S. angekommen wollte er diesem die Hand schütteln, bis er sah, dass dieser ja seine Hände etwas über seinem Gesäß gefesselt hatte.
"Und wie geht es nun weiter?", fragte S. "Führt man mich wieder ab und ich bin symbolisch getötet? Versauere ich als symbolisch Getöteter im Kerker, damit niemand außerhalb dieser Mauern begreift, dass ich eigentlich noch lebe? Komme ich auf freien Fuß? Dürfen die Menschen wissen, dass ihre Justiz symbolische Todesstrafen ausspricht?"
"Wer spricht von Symbolik, Herr Verurteilter? Natürlich müssen Sie sterben, so sieht es das Gesetz vor. Aber wir, wir werden nicht Handlanger des Todes sein, wir sind nur dessen Statisten, verstehen Sie? Wir arrangieren das Prozedere doch nicht gänzlich zu unserem Amüsement; es hat schon seinen Sinn."
S. lauschte den schwammigen Erläuterungen des Staatsanwaltes bedächtig. "Und welchen Sinn", fragte er, "will man mich hier stehenlassen bis ich verhungere, während diese Pappkameraden da hinten", S. deutete auf die Uniformierten, die sich mittlerweile gelangweilt auf ihre Gewehre stützten, "ihre Gewehre auf mich gerichtet halten? Das kann Tage dauern, denn ich habe bis eben vorzüglich gespeist, Herr Staatsanwalt."
"Unsinn, Herr Verurteilter. Sie sind vom Gericht der Schuld schuldig gesprochen worden. Man wird Sie nun vor ein Exekutionskommando stellen, und Sie werden, wenn Sie 'Das Gewehr legt an!' hören, anstandslos tot zusammenbrechen. Sie werden in vorauseilender Einsicht in sich zusammensacken, bevor unser Herr Kommandat hier, auch nur 'Feuer!' denken muß. Unser Rechtsstaat baut auf Vernunft und er ahnt, dass auch im Verurteilten Vernunft vorzufinden sein muß. Ist es zu viel verlangt, wenn man von jemanden mit Vernunft verlangt, dass er einfach aufhört mit seinem Leben, weil sich die Gesellschaft, die überdies vollkommen frei von der Sünde des Tötens von Delinquenten bleibt, dafür entschieden hat, ihm den Tod nahezubringen?"
Man legte S. die Augenbilde wieder an, während der Staatsanwalt weiter ausführte, dass man das Prozedere mit Bedacht gewählt habe. Man wolle als Staat symbolisch für den Tod verantwortlich sein, nicht jedoch den symbolischen Tod des Verurteilten. Die Ausführung bedarf der Symbolik, der Tod hat aber wahrhaftig zu werden. Außerdem könne die gesamte Inszenierung auf nervlich schwache Verurteilte dahingehend einwirken, eine Herzattacke zu bewirken. Man habe schon Verurteilte gehabt, denen wurde es beim Erklingen des 'Das Gewehr legt an!' so heiß und kalt, dass sie einfach tot in sich zusammensackten. Man habe sich entwickelt, Fortschritt sei, dass man niemanden mehr ums Leben bringe, dass man aber sagt 'Hören Sie, wir sähen gerne, dass Sie stürben.' Die Gesellschaft darf nicht morden, aber sie kann jemanden heiß und innig empfehlen, das Leben aufzugeben. Nun zieren Sie sich nicht, Herr Verurteilter, seien Sie kultiviert, nehmen Sie Ihre Strafe an, sacken Sie zusammen.
Und S., nachdem er 'Das Gewehr legt an!' abermals vernommen hatte, brach zusammen und fand sein Ende.



5 Kommentare:

Anonym 2. April 2011 um 10:12  

Nebenbei bemerkt: Hat was von Kafka...

Anonym 2. April 2011 um 12:18  

Ich musste auch an Kafka denken, und an Hartz4. Das Wort "Roman" kommt mir auch noch in den Sinn, wo ich schonmal bei freien Assoziationen bin.
Gefällt mir sehr gut!

Anonym 2. April 2011 um 13:37  

Stark!

Trojanerin 2. April 2011 um 19:19  

Ich fühlte mich beim Lesen auch an Kafka erinnert.
Ich habe vor einiger Zeit etwas über einen Fall aus den USA gelesen: Es handelt sich um den bisher ältesten Mensch, der in den USA hingerichtet wurde. Er war um die 70 Jahre alt und erlitt einige Wochen vor dem Hinrichtungstermin einen Herzinfarkt. Er wurde nach allen Regeln der Kunst wiederbelebt und medizinisch versorgt, um nach erfolgter Genesung und Erholungsphase dann doch hingerichtet zu werden. Der Psychoterror, die Menschen jahrzehntelang in den Todeszellen zu belassen, immer wieder Hinrichtungstermine festzusetzen, diese dann in letzter Minute doch wieder zu verschieben, ist dem amerikanischen Todesstrafensystem eigen. Und außerdem ist auch das Todesstrafensystem in den USA ein Geschäft.
Bei einer solchen Gelegenheit möchte ich immer um Solidarität mit dem schwarzen Journalisten und Bürgerrechtler Mumia Abu Jamal bitten, der mutmaßlich unschuldig in den USA in der Todeszelle sitzt. Er ist derjenige Gefangene, der in den USA am längsten in der Todeszelle ausharren muss.

Erik Erdmann 3. April 2011 um 02:19  

Sehr geehrter Herr de Lapuente,

heute habe ich zum ersten Mal das Gefühl, nichts, aber auch gar nichts aus Ihrem Text entnehmen zu können. Auf die alte Frage, die man im Deutschunterricht eingebleut bekommt: "Was will uns der Autor damit sagen?" finde ich nicht einmal den Ansatz einer Antwort.

Könnten Sie einem Ihrer jüngeren Leser da vielleicht auf die Sprünge helfen?

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