Bresche ins Tabuthema schlagen

Freitag, 30. Juli 2010

Die Gewaltbereitschaft von Einwanderern gehört endlich schonungslos auf den Tisch! Sie darf kein Tabu mehr sein; der Gutmenschelei gehört endgültig der Garaus gemacht. Nachkommen von Einwanderern neigen leider zur Gewalt, oder wie Nikolaus Fest schreibt, zu "vulgo: Abzieherei". Das Gewaltpotenzial von Menschen mit Migrationshintergrund ist immens, ist ein wirkliches Problem für diese Republik. Roland Koch und seine Parteigänger haben völlig recht: Einwanderer tendieren zur Gewalttätigkeit, sind aggressiv und kriminell, halten es nicht mit der Verfassungstreue und sind generell schlecht bis gar nicht integriert. All das darf man in diesem Land aber nicht laut sagen, wenn man sich als angesehener Mensch nicht disqualifizieren will. Daher ist es wichtig, den Tabubruch zu vollziehen: der "Migrantenmob" - nochmals ein Zitat von Fest - muß auf den Tisch, muß endlich thematisiert und als Problem öffentlich gemacht werden! Die Zivilcourage gegen diesen Mob muß belohnt, nicht bestraft werden!

Man muß in diesem Land endlich wieder die Aggression solcher Zuwanderer ansprechen dürfen, die aus den französisch-hugenottischen Raum zu uns gestoßen sind, um hier in prachtvollen Devisen-Moscheen ihre Haßpredigten zu halten. Auch der aus dem niederländischen Kreis stammende Zugereiste gehört öffentlich an den Pranger gestellt, weil er gegen Unterschichten geifert und unsere Verfassung dabei mit Füßen tritt. Gleiches gilt für den zu uns gekommenen Polen, der fortwährend Menschen in die soziale Enge treibt und Unfrieden schürt. Und das berührt genauso den ursprünglich aus dem skandinavischen Sprachraum herkommenden Herrn, der mit seinen "Aufartungs-Theorien" faschistoide Impulse zu setzen trachtet. Von den Parolen der Nachhut fränkischer Eroberergeschlechter, die die Überfremdung erst so vollends unerträglich geraten lassen, gar nicht erst zu sprechen!

Nur eine kleine Auswahl, die aber deutlich belegt, die Gewaltbereitschaft von Zuwandererkindern und -enkeln und -urenkeln ist beträchtlich. Besorgniserregend ist das! Beunruhigend! Wir müssen uns als Gesellschaft diesen Randexistenzen annähern, müssen sie integrieren, ihnen staatspolitische Kurse antragen - wer aber nicht gehorcht, muß die ganze Härte des Staates zu spüren bekommen; wer sich nicht zur Verfassungstreue aufrappeln kann, gehört umgehend ausgewiesen! Vorbei die Zeiten des Verständnisses und des falschen Fingerspitzengefühls, denn wir haben viel für deren Integration getan, haben ihnen gute Jobs zugeteilt, sie Geld verdienen, ihnen ein bisschen Ansehen widerfahren lassen - jetzt sind sie an der Reihe, jetzt müssen sie beweisen, dass sie der humanistischen Leitkultur folgen wollen, beweisen, dass sie uns dankbar sind.

Wir können uns diese latente Gewaltfreude von Ausländerkindern nicht mehr bieten lassen! Wenn schon Überfremdung, dann bitte durch friedvolle Gäste - gewaltverherrlichende und menschenverachtende Fremdlinge wollen wir nicht. Deutschland den Menschen! Entweder ändern sich diese militanten, fundamentalistischen Gäste und sind ab sofort mit uns, mit unserer Verfassung oder es hat die Ausweisung zu erfolgen!



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Nicht Bestien, Hanswurste sind gefährlich

Donnerstag, 29. Juli 2010

Wie Adolf Eichmann so dasaß, auf Tonbänder erzählte und in seinen Erinnerungen stöberte, da sei die Banalität des Bösen, mit der Hannah Arendt seine Erscheinung später belegen sollte, schlichtweg von ihm abgefallen. Zu ausgiebig habe er geplaudert, zu boshaft sei dieser Eichmann gewesen - nicht als "Hanswurst", "der schier gedankenlos" und "realitätsfern" auftrat, wie es Arendt schreiben würde. Kurzum, er sei nicht der stoische Bürokrat gewesen, für den er in seinem Prozess gehalten wurde. Kein Schreibtischtäter - ein Massenmörder - eine Bestie!

Hier greifen jene Mechanismen, die immer dann zum Vorschein kommen, wenn man einen ganz besonders abstoßenden Widerling aus der menschlichen Gemeinschaft verbannen möchte. Es ist so viel einfacher, einen Kerl vom Schlage Eichmanns zu entmenschlichen, diesen Mordskerl und Mordsbürokraten zu einen Massenschlächter und Monster zu küren, um nicht daran erinnert werden zu müssen, dass auch das ein Mensch ist, dass auch er ein Teil jener Spezies ist, die sich selbst Menschheit nennt. Nicht Menschen, nicht Paragraphenreiter töten demnach, es sind pervertierte Bestien, die zufällig einen Posten in der Bürokratie ergattern konnten - Unmenschen letztendlich, die nicht der menschlichen Familie zugehörig sind.

Dabei hat Eichmann in jener Interview-Reihe seine banale Menschlichkeit bewiesen. Ein farbloser Idiot saß da vor uns, phantasielos war er, einer von der Sorte Nachbarspießer, dem man nicht über den Weg laufen möchte, weil es einem stetig in der Faust kribbelt, weil man ihm täglich eine boxen möchte ob seiner Arschloch-Aura - ein Pedant, der bei genauerem Hinsehen eine ganz arme Sau war. Offensichtlich ein an der eigenen Erscheinung leidender Typ, der sich selbst noch weniger als die Welt leiden konnte, weswegen er sich vor Mitmenschen aufplusterte, zu mehr macht, als er je imstande war zu sein - ein unbeliebter und vielleicht auch ein ungeliebter Charakter. Dieser triste Däumling weidete sich augenscheinlich an der einzigen Sache, die ihm in seinem Leben je gelungen war: die pendantische Organisationsgewalt eines zu Verantwortung gekommenen Spießbürgers, der passenderweise in einer Diktatur der Klein- und Spießbürger, der Kreaturen aus Bürgerbräukellern und Trinkhallen, dieser fast schon einzigartigen Verstaatlichung der deutschen Schulmeisterei, seine Meriten erworben hatte.

Doch nichts Monströses, nichts Mörderisches scheint ihm da, so wie er in seinem Sessel kauert, anzuhaften. Eichmann war weniger Massenmörder als sturer Umsetzer von an ihn gerichteten Befehlen. Natürlich könnte Eichmanns Ausspruch das Gegenteil beweisen, als er sich brüstete, "kein normaler Befehlsempfänger" gewesen zu sein, sondern einer, der mitgedacht habe. Aber genau dieses Mitdenken zeichnet den folgsamen Bürokraten doch aus! Er trägt nicht stur seine Aktenberge ab, er verinnerlicht dieses Bergsteigen; er macht nicht nur stoisch Dienst nach Vorschrift, er beginnt seine Vorschriften zu lieben, zu verehren, zu atmen - er braucht sie, weil er innerhalb des Wusts an Paragraphen und Anordnungen etwas darstellt, außerhalb aber ein Nichts ist. Der gute Staatsbedienstete, er will nicht nur seine Amtspflicht erfüllen, er will mitdenken, will überkorrekt in seinem kümmerlichen Metier handeln, will in seiner Arbeit aufgehen, will was sein, was er im Privaten nicht mehr werden kann. Natürlich war er mehr als stoischer Kopfarbeiter in einem engen Zimmerchen, natürlich hat er mitgedacht und gewusst, was mit dem "Menschenmaterial", welches er quer durch Europa transportieren ließ, geschehen würde - aber genau das scheidet ja den guten vom schlechtem Bürokraten. Der gute Bedienstete weiß alles, tut mehr als alles und schweigt, obwohl er es besser wüsste - das schlechte Exemplar weiß wenig, tut das Notwendige und schweigt nur, weil er wenig Ahnung davon hat, was nach der Zustellung des von ihm bearbeiteten Bescheides geschieht. Der eine wird zu seinem Dienst, der andere tut Dienst! Der gute Amtsmann weiß von den Folgen seines Handelns und handelt dennoch.

Eichmann wieder einmal zum Monster zu erklären, so wie man stets aufs Neue die Bonzen des Dritten Reichs außerhalb der Menschheit ansiedelt, sie in eine Unmenschheit einreihte, einer fiktiven Spezies, die als Negation des Menschen auftritt, einer Spezies, in der sich alle tummeln, die als Mensch Unmenschlichkeit austeilten, entbehrt jeglicher konstruktiven Aufarbeitung jener Geschehnisse. Solche wie Eichmann, so unsympathisch und unausstehlich sie auch sind, bleiben Menschen. Auch das ist der Mensch, auch der dienstbeflissene Bürokrat, der kaltblütige Schreibtischgauner ist menschliches Adjektiv. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut: das ist die eine, seltene, ideale Seite - schlecht ist der Mensch, egoistisch und böse: das sind die anderen, häufigeren Wesenszüge; Eichmann und die Seinen sind die Mutation des letzteren, eine seltene, aber doch immer noch zu zahlreiche Wucherung. Sie zu etwas zu machen, was nicht mehr menschlich ist, gleicht jenem Jargon, den die Eichmänner gesprochen haben. Der Vergasung überstellte Juden waren bei denen auch keine Menschen mehr, sie waren Menschenmaterial, Volksschädlinge, wurden Sonderbehandlungen unterzogen. Das ist die Entmenschlichung von Menschen, die immer dann sehr bequem ist, wenn man bestimmter Menschen überdrüssig wird.

Aus Schreibtischverbrechern Antimenschen zu machen, hat außerdem eine praktische Funktion - man könnte es als Nebenprodukt dieser sich leicht machenden Bewältigungsarbeit bezeichnen. Solche, die auch heute wieder am Reißbrett menschliche Schicksale steuern, überspitzt und provokativ gesprochen, Bürokraten im Andenken an jenen Eichmann sind, lassen sich damit leicht aus der Schusslinie nehmen. Denn es sind ja nicht ordinäre Amtsstubenmienen, bescheuerte Behördenfratzen oder alberne Bürotrottel, die stoisch ihren Dienst wider den Wehrlosen dieser Gesellschaft verrichten - es sind Bestien, pervertierte Scheusale, die kein menschliches Gesicht haben, schon gar keine Bürovisage. Nein, Fallmanager und Außendienstmitarbeiter, Verweser der Bürgerarbeit und der Ein-Euro-Arbeitsgelegenheiten können nicht zu dem werden, nie und nimmer zu dem werden, was jener nationalsozialistische Musterknabe einst war.

Sicher, sie sind keine Eichmänner, höchstens Eichmännlein - aber wer garantierte dafür, dass es einen Aufstand der anständigen Bürokraten gäbe, wenn die Maßnahmen, die täglich schon verbal und medial verschärft werden - bei Kleinstwohnungen angefangen, bei rigiderer Sanktionierungswut noch lange nicht aufgehört! -, auch tatsächlich in die Wirklichkeit geholt würden? Keine Eichmänner - noch nicht vielleicht! Sie lassen ihn nur diskret auffackeln, kehren ihn meist nur zart heraus: ändert sich aber das Klima weiter in eine Richtung, in der man Erwerbssuchende zu arbeitsscheuem Gesindel abwertet, so wäre Diskretion und Zartheit nurmehr blanker Luxus, hemmender Tand. Nur braucht sich der Bürokrat, der heute schon in Startlöchern zu "höheren Weihen" kniet, keine Sorgen machen: er, der Mensch im Diensten des Staates, der Bedienstete seines Herrn, er ist ein vollwertiger Mensch, würde daher nie, was Eichmann war: denn der war bekanntlich ein Unmensch - es gibt keine Monster im Staatsdienst, der Staat unterhält keine Ungeheuer, deshalb neigt der Bürokratismus auch nie wieder zum Massenmord, leitet er nie mehr das massenweise Elend in die Wege.

Dass aber auch die Nationalsozialisten davon ausgingen, keine Monster in ihren Büros sitzen zu haben, spielt heute als Gegenargument keine Rolle mehr. Eichmann, das Monster, der seine ganze Banalität ablegt habe, macht es möglich, wäscht die Nachfolgegeneration zwischen Aktenordnern und Karteikarten rein.



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Das beste aller möglichen Unglücke

Mittwoch, 28. Juli 2010

Es gab eine Zeit, da rätselte man über den seltsamen Humor eines allmächtigen und liebenden Gottes, der von seiner Macht aber keinen Gebrauch machen wollte, damit das menschliche Leid duldete - besonders rätselhaft erschien den Zeitgenossen dabei das große Erdbeben von Lissabon, welches 1755 unfassbaren Notstand erzeugte. Wie konnte Gott so eine Katastrophe zulassen, fragten sich Europas schlaue Geister. Dieses Zweifeln, Rätseln, Hinterfragen eines mächtigen Gottes nennt sich Theodizee, was soviel heißt wie Rechtfertigung Gottes - eine theologische Rubrik, die auch besonders bereitwillig von Philosophen abgegrast wurde, bei der sich eloquent und zungenfertig gefragt wurde, wie ein gnädiger Gott, ein Gott der Liebe, die Hölle auf Erden zulassen könne, obwohl er doch die Befehlsgewalt besäße, alles zu einem Besseren zu wenden.

Theodizee lebt bis heute fort - mit dem Unterschied, dass dieses Fach ganz unten angekommen ist. Anstelle von Erdbeben stehen heute nackte Frauenbrüste, Bierflaschen und Joints im Zentrum der Theodizee. Wie kann ein allmächtiger Gott, so fragen sich die Freunde transzendenter Erklärungsmuster, bloß Veranstaltungen wie die Loveparade zulassen? Freilich versteht es sich von selbst, dass heute kein Kant, kein Voltaire, kein Leibniz oder Lessing um Antworten bemüht sind - denn nicht nur die Theodizee selbst, als Disziplin liegt am Boden, auch die heutigen Antwortsuchenden kriechen am Boden, dümpeln im geistigen Bodensatz umher. Statt Kant, so könnte man es auch kürzer festhalten, tapst heute eine scharfzüngige Eva Herman über theologische Trampelpfade.

Auch Leibniz sorgte sich um einen Gott, der voyeuristisch zusieht wie die Menschen leiden, während er offensichtlich an potenter Machtfülle reich war - der Gelehrte wurde zum Fackelträger einer optimistischen, pragmatischen Auslegung der Problematik. In seinem Werk Essais de théodicée (Theodizee) brachte er zum Ausdruck, dass es immer noch schlimmer hätte kommen können, weswegen man sehr wohl behaupten könne, der Mensch lebte in der besten aller möglichen Welten - ein allzueinfaches, schlankweg anspruchsloses Erläuterungsmodell, welches später auch von Voltaire in seiner Schrift Candide ou l'optimisme (Candide oder der Optimismus) köstlich verrissen wurde. Rätselfreunde der göttlichen Motivation hatten offensichtlich häufig eine Neigung zur plumpen Beantwortung ihrer ohnehin sinnlosen Fragen.

Herman reiht sich da nur ein - unbegabter natürlich als jene Vordenker, zudem in holpriger, dafür aber galliger Sprache, generell aber wenig intellektuell erleuchtend. Ein frommes, frömmelndes Herz wirft sie allerdings in die Waagschale - etwas muß sie ja auszeichnen! Aber ihre Auslegung, dass dem schamlosen Treiben Sodoms und Gomorrhas nun von mächtiger Stelle ein Ende gesetzt wurde, ist nicht nur zynisch und nebenher ausgesprochen blöde: es ist auch konsequent. Die stumpfe, unbeholfene Deutung ist das sprichwörtliche Klappern, welches zum Geschäft gehört: und in der Geschichte der Theodizee klapperte man von jeher mit spöttischem Zynismus und weihevoller Gelehrtenmiene, die die Unwissenheit annehmlicher kleiden sollte. Anders konnte es auch nicht sein in einer Fachdisziplin, die dem Fischen in trüben Brackgewässern bei dickstem Nebel gleicht. In der besten aller möglichen Welten, so könnte Herman auch geschrieben haben, sind zwar Loveparades, blanke Titten und ordinärer Suff durchaus vorzufinden, aber hin und wieder wird ein solches Treiben auch bestraft - in einer schlechteren Welt, so hätte ihr Leibniz konziliant beigepflichtet, wären nackte Brüste und Trunkenheit noch viel ausgiebiger gestreut, würde das Lotterleben nie bestraft. Sie sehen das ganz richtig, hätte der olle Leibniz ihr geflüstert, das was geschehen ist, ist das beste aller möglichen Unglücke, liebe Eva! Mehr ist zuweilen nicht umsetzbar in dieser besten aller möglichen Welten - dass uns eine bessere Welt vorstellbar ist, dass wir sie uns denken können, heißt ja noch lange nicht, dass sie auch möglich wäre. All das ist die Logik des Trostes; der Trost derer, die im Optimismus resignieren möchten.

In der Theodizee zu waten hieß einst, sich der großen Problematiken des menschlichen Daseins anzunehmen. Die Antworten waren aber auch da stümperhaft, nicht beweisbar, kurz gesagt: theologisch halt - was heute in jener Rubrik des tiefergehenden Denkens betrieben wird, ist meist nur das Deuteln mit dem moralischen Zeigefinger - manchmal durchaus verständlich ob der unsittlichen Auswüchse. Wie kann Gott den Porno zulassen?, fragen sie sich heute. Weshalb erlaubt Gott es, dass sich jemand besinnungslos säuft?, beschäftigt das theologische Gemüt. Auf einen Nenner gebracht: Wie kann Gott eine so sittenlose Welt genehmigen? Der Mensch als Marionette transzendenter Planungsarbeiten! Das sind im Übrigen Fragen, wie sie ähnlich gestellt werden, wenn eine Katastrophe geschieht. Die Pappschilder oder Kondolenzbriefchen, mit denen trauernde Menschen nach Geschehen eines Unglücks die Straßen zupflastern, Schilder und Briefchen auf denen Warum nur? oder Wie konnte das geschehen? steht, sind nichts anderes als softes Theodizee, ein Theodizee der Straße sozusagen - das Wie kann Gott nur die Busenshow und den Drogenrausch zulassen? ist herberer Machart, beruht aber auf der gleichen religiösen Trostlosigkeit, sich mit unbeantwortbaren Fragen zu beschäftigen, die einen Gott zwar angingen, wenn es ihn gäbe, die aber nicht an jene gestellt werden, die es wirklich gibt - Menschen nämlich.

Alles in allem handelt es sich also um sinnlose Fragenstellerei, die keine befriedigende Antwort liefern kann - wer fragt, weshalb Gott nackte und berauschte Partymiezen zulassen kann, ist auf dem Holzweg; man sollte fragen, wie Menschen dazu kommen, sich derart lächerlich zu machen, welcher Bauart eine Gesellschaft sein muß, in der so ein ekelhaftes Verhalten gefördert und gern gesehen wird. Das Elend der Philosophie lag zuweilen darin begraben, zu lange falsche Fragen gestellt zu haben, zulange ein verlängerter Arm von Religion und Mystizismus, Humbug und Esoterik gewesen zu sein. Das Elend derer, die die Nachfolge jener Philosophen angetreten haben ist, dass sie aus ihrem moralintrunkenen Gram einen Verhaltenskodex für die Allgemeinheit schmieden wollen - mit einem zürnenden Gott, wenn nötig. Und es ist das Elend, noch immer dort von Gott zu salbadern, wo man eigentlich von den Menschen sprechen müsste. An so ein Elend gekettet fragt man letztlich nach einem blinden und tauben Gott, der nicht sieht, nicht hört und deswegen nicht eingreift - man fragt aber nicht, wer die Katastrophe angezettelt, und wie im Falle Duisburgs, wer Fluchtwege vergessen und ein zu enges Festgelände abgesegnet hat. Warum Azubis fragen, wenn man einen Meister befragen kann - warum mit Menschen hadern, wenn man einen Gott um Einsicht bitten kann? Eine Bitte, die nach Hermans Lesart auch erfüllt wurde - Gott bestrafte die Sünder, die Geltungssucht Duisburger Behörden war damit nur Erfüllungsgehilfe eines viel größeren Planes.

Jetzt fehlte nur noch ein Voltaire, der der Herman einen Candide widmet - aber nicht mal das hat ihre Frömmelei verdient. Leibniz hat nebenher noch andere Leistungen vollbracht, moderne Rechenmaschinen gehen indirekt auf sein Konto - wäre er bei der besten aller möglichen Welten verharrt, wäre dies seine einzige Arbeit geblieben, man hätte ihn schnell vergessen. Nun ist die Frage, was Herman sonst noch zu bieten hat, außer jenem unglücklichen Ausspruch, wonach vielleicht "andere Mächte mit eingegriffen [hätten], um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen" - und da sieht es finster aus mit ihrer Unsterblichkeit...



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Ridendo dicere verum

"Überlegen Sie doch, Euer Ehren. Wenn man Vergewaltigungen wirklich verhindern wollte, würde man sie mit zwanzig Jahren Kerker bestrafen. Auf Veruntreuung und Steuerhinterziehung stehen zehn Jahre. Tätliche Bedrohung mit einem Messer kann einem sechs Jahre einbringen. Aber für dasselbe Vergehen mit Vergewaltigung sieht das Gesetz nicht mehr als drei Jahre und acht Monate vor. Es begünstigt Vergewaltigungen. Es anerkennt ihre heilende Wirkung."
"Heilende Wirkung? Wieso?"
"Als Ventil für aufgestaute Aggressionstendenzen. Als Entlastung von gesellschaftlichen Druck. Wer vergewaltigt, begeht keinen staatsfeindlichen Akt, nimmt an keiner Demonstration teil, erregt keinen Aufstand, ist politisch einwandfrei. Der Staat weiß das. Deshalb belegt er jede Eintrittskarte ins Kino mit einer fünfzehnprozentigen Steuer, aber Vergewaltigung ist steuerfrei."
- Ephraim Kishon, "Wer's glaubt, wird selig - Politische Satiren" -

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Dem Mann im Felde

Dienstag, 27. Juli 2010

Manche Gebräuche überdauern die Jahrzehnte, schlummern nur gelegentlich weg, erwachen später allerdings erneut. Es sind kleine, liebgewonnene Gepflogenheiten, die nicht aus Desinteresse temporär wegdösen, sondern weil sie in manchen Zeitaltern einfach nicht in die Realität passen - ihrer gedacht hat man jedoch immer, leise, sehnsuchtsvoll. Und offeriert die Wirklichkeit plötzlich ein Klima, in der die Gepflogenheit wieder Lebensrecht erhielte, so greift man erleichtert zu und belebt diese alten Sitten. Was man im alten Deutschland gerne tat, was man in diesem neuen, diesem modernen, diesem aufgeklärten Deutschland neu für sich entdeckt hat, das ist das Briefeschreiben.

Briefeschreiben! Briefe an Soldaten, Feldbriefe um ganz genau zu sein. Schreiben Sie unseren Soldaten! Schicken Sie Grüsse und Wünsche! Das ist traditionell, schon unsere Großmütter waren Grußmütter - damals noch chic in Uniform. Deutsche Mädel schrieben Briefe an den Landser im Felde - wildfremde Mädel an wildfremde Jungs. Unter dem Obdach der Nation verfiel die Fremdheit, wer für ein und dasselbe Land schafft, kann sich nicht fremd sein. Das sind die Segnungen der Einheitsfront! Heute sollen nicht nur Mädel schreiben, heute dürfen alle, geschlechtsübergreifend sozusagen - immerhin herrscht Gleichberechtigung. Jeder hat das Recht, "unseren Soldaten" in Afghanistan warme Worte zu senden; jeder darf seine Unterstützung zu Papier bringen - nur BILD-Leser sollte man vorzugsweise sein. Deutsche Mädel grüßen deutsche Soldaten!, war früher mal eine Rubrik - wir haben uns entwickelt, gehen mit der Zeit, heute dürfen auch deutsche Jungens deutsche Soldaten grüßen - auch Soldatinnen, sofern eben doch heterosexuell gesonnen.

Nation unter Waffen - so schlimm ist es derzeit noch nicht! Wir haben nur ein Paar Waffenbrüder im Einsatz; damit muß sich die Nation zufriedengeben. Es braucht keine bewaffnete Volksfront - jedenfalls keine, die mit echten Waffen hantiert. Ideologische Waffen sind da schon eher erwünscht. Waffen, wie eben jene Briefe, die den Mann - und die Frau; wir sind ja gleichberechtigt! - im Felde erreichen, die ein Band schmieden sollen zwischen Militär und Zivilist, zwischen Mordsjob und Beruf, zwischen in Kabul knallenden BILD-Lesern und in Wanne-Eickel oder Erding ansässigen BILD-Lesern. Feld und Heimat, Heimat und Feld - beides bedingt einander, die Grenzen lösen sich auf. Schreiben Sie unseren Soldaten!, heißt in verständlicherer Sprache: Reihen Sie sich in die Einheitsfront ein! Jeder tut, was er kann, was er muß, was von ihm verlangt wird - die einen schießen, die anderen loben die Schüsse über den Klee; die einen krabbeln im Dreck, die anderen suhlen sich in Dankbarkeit und machen den von der Politik eingeleiteten Kampfeinsatz zu einem wirklichen Volkseinsatz!



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Ein moderner Aufklärer

Montag, 26. Juli 2010

Man hat sich geirrt, der im Startblock lauernde Präsidentschaftskandidat Gauck, der als Aufklärer schmackhaft gemacht wurde, war zuletzt nicht der tatsächliche aufklärerische Typus jener beiden Kandidatenzwillinge. Aufklärer ist der andere, Wulff mit Namen, mittlerweile hinter (Lust-)Schloss verriegelt. Wulff, ein passionierter Aufklärer, ein aus Drang der Aufklärung verschriebener Charakter.

So wie er zum aktuellen Anlass in Duisburg einforderte, es müsse nun eine "rückhaltlose Aufklärung" geschehen, so hat er eine ebensolche, wortwörtlich ebensolche sogar, bereits vor einem Monat in Sachen Katholische Kirche gefordert. Eine liebe Gewohnheit, die er schon vor mehr als einer Dekade pflegte, als er zur Parteispendenaffäre der CDU die Ansicht vertrat, dass nur eine "rückhaltlose Aufklärung" seine Partei retten könne - wer nun meint, Wulff ist ein terminologischer Langweiler, der irrt sich, denn er variiert in seiner Wortwahl durchaus: so wie vor sechs Jahren, als er eine "umfassende Aufklärung" über VW-Gehälter für Abgeordnete gesichert wissen wollte. Oder ein Jahr später, als er eine "lückenlose Aufklärung" zur VW-Affäre für unausweichlich hielt. Wieder ein Jahr danach hatte sich sein Wortschatz erneut aufgefrischt: er sprach von "restloser Aufklärung", die man dem Engagement Gerhard Schröders bei Gasprom angedeihen lassen sollte. Wahrlich, ein Aufklärer ohne Unterlass, ein Mann, der stets um Aufhellung und Ermittlung bemüht ist, unaufhörlich die Aufklärung im Munde führt.

Aber er ist keiner, der aufklärt - eher einer, der Aufklärung aus dem Kehlkopf heraussurrt. Einer, der viel von Aufklärung schwafelt, weil dies in der Sprache unserer Zeit, der öffentlichen Sprache, der Sprache politischer Korrektheit, so vorgesehen und erwünscht ist. Von Aufklärung zu sprechen ist nicht nur chic, es läßt einen blassen Politiker aufblühen, zum Verantwortungsträger mit Format erwachen - ohne solche Reden läßt sich in einer Epoche der Oberflächlichkeit und des Scheins, keine politische Karriere mehr machen. Wer viel von Aufklärung spricht, wer in sein unnötiges Geschwätz, sein entbehrliches Wischiwaschi einen Abglanz von aufklärerischen Bestreben flicht, der kann mit etwas Glück und guten Beziehungen sogar Bundespräsident werden.

Wulff ist dabei aber nur das ranghöchste Abziehbild einer politischen Kultur, die weniger auf Stichhaltigkeit und Wahrhaftigkeit setzt als eigentlich notwendig wäre. Er ist Politiker von blasser, blutleerer Gemütsart - windig und aalglatt, schlängelnd und so sehr ohne eigene politische Konzeption, ohne Vision ausgestattet, dass er als Mann ohne Eigenschaften gelten muß, als unsichtbarer Mann geradezu. Perfekt geschult ist er, wie alle seiner Couleur, in der Sprache der heutigen Politik; einem Idiom der politischen Korrektheit, in der zentrale Begriffe wie Nachhaltigkeit, Freiheit oder eben jene Aufklärung den gesamten Satzbau bestimmen, ohne die kein verständlicher Text mehr fabriziert werden könnte - das heißt, mit denen der Text erst so unverständlich und vielfältig interpretierbar wird, dass alles oder nichts daraus herausgehört werden kann. Es ist eine verstümmelte, wenig aussagekräftige Sprache, die vor Wiederholung immergleicher Floskeln nicht zurückschreckt, ganz im Gegenteil, sie noch befürwortet, um den Zuhörer nicht zu sehr zu überlasten, ihn nicht zu verunsichern. Verbale politische Korrektheit soll Nachhaltigkeit schaffen, um es mal in deren eigenen Sprache zu sagen - sie soll den Zuhörer in Sicherheit wiegen, ihn einlullen, besänftigen, ahnen lassen, was gemeint sein könnte. Und sie besitzt wichtige Textbausteine, die immer anwendbar sind, die nie verkehrt, nie fehl am Platz wirken - Textbausteine wie jenen von der Aufklärung. So einen Baustein kann man immer bringen, er wird immer honorierend zur Kenntnis genommen.

Es ist die Sprache von Apparatschiks, von Technokraten ohne Konturen; eine Sprache, die im wirkliche Leben kaum Beachtung findet. Eine Sprache der Gelehrten, nicht des Volkes - oder sagen wir trefflicher: sie wird von Geleerten heruntergerattert. Leere, ja fast körperlose Wesen, die ihre eigene Hohlheit mit Gummi- und Plastikphrasen füllen, die Worthülsen schnitzen, um wenigstens ein bisschen nach Verantwortungsträger, nach respektablen Politiker zu riechen. Wulff ist da nur das Paradebeispiel: er ist so farblos, so fahl, dass sein plötzliches Verschwinden kaum auffallen würde. Nichts hat er, worüber man sprechen könnte - keine Vorzüge, aber auch keine Nachteile. Letzteres genügt mittlerweile, um als Politiker von Größe anerkannt, genügt, um als angenehmer Zeitgenosse aus der Politik verstanden und geliebt zu werden. Er ist ein Irgendwer, der in die Politik gestolpert ist, weil er gelernt hat, immer dann genau das zu sagen, was man im politisch korrekten Klima unserer Tage auch hören will - der gelernt hat, immer dann genau das zu sagen, was keinen berührt, verärgert, aus der Fassung bringt. Zu reden und nichts zu sagen: das ist die Kunst der vielen Konturlosen, der Eigenschaftslosen, der Nichtssagenden, der Wulffs.

Und Wulff ist somit ein zeitgemäßer Aufklärer. Nicht weil er aufklärt, sondern weil er die vermutliche Aufklärung fordert - immer und immer wieder: der Textbaustein ist variabel. Er klärt uns darüber auf, dass Aufklärung rückhaltlos, lückenlos, restlos zu erfolgen habe: eine aktuelle, zeitgemäße Ausprägung von Aufklärung! Eine ohne nachhaltige Denkarbeit, eine, die man keck in die Öffentlichkeit hinausposaunt. Rousseau, Montesquieu oder Kant haben nicht laut nach Aufklärung gerufen - sie haben es selbst getan, selbst aufgeklärt. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft läßt man schließlich aufklären, zieht Aufklärungsexperten heran - oder man ruft wenigstens zu jeden gegebenen Anlass unverbindlich nach solchen. Der moderne Aufklärer klärt darüber auf, dass Aufklärung nötig sei - und er tut es nicht für die Wahrheit, er tut es für sein blutleeres Antlitz, damit er was gilt, was darstellt, wer ist.



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Entwurzelt

Samstag, 24. Juli 2010

Geh doch dorthin, von wo du hergekommen bist!, bekommt man als Undeutscher häufig zu hören. Geh heim!, vernimmt man auch mehrmals, wenn man lediglich das Kind eines Undeutschen ist. Und kritisiert man als solcher dann hiesige Verhältnisse, so wird man rüde zurechtgestutzt - du kannst ja heimgehen, wenn es dir hier nicht paßt! Als Kind eines Ausländers hat man nicht zu beanstanden, zu nörgeln - als Ausländer selbst ohnehin nicht. Doch wo ist dieses Zuhause, wohin geht man, wenn man als Fremder in einem fremden Land zum Heimgehen aufgefordert wird?

Vielleicht, so hoffte man damals als man in die Fremde ging, würde man dort eines Tages akzeptiert, würde man sich sozusagen seiner Fremdheit entfremden und auch für die Autochthonen irgendwann nicht mehr fremd sein. Aber man bleibt immer fremd, doppelt fremd: Fremd in der Fremde und stockend wird man auch fremd in der Heimat. Ich habe diese Entfremdung an meinem Vater beobachten können. Das fing bei Belanglosigkeiten an, wenn er bestimmte spanische Worte nicht kannte, weil sie erst nach seinem Weggang aus Spanien aufkamen - in Erinnerung ist mir ein Einkauf, bei dem er Nylonstrümpfe für meine Mutter kaufen sollte und nur jenes Nomen kannte, das im Spanischen Wollstrumpfhosen bezeichnet. Das war eine urkomische Situation, mit einer belämmert dreinschauenden Verkäuferin, die sich sichtlich wunderte, dass da ein Mann mitten im heißesten Sommer wollene Strumpfhosen erstehen wollte. Ein familiärer Klassiker, der immer wieder aus der Mottenkiste voller Erinnerungen herausgekramt wird und den auch meine Kinder vorgesetzt bekommen, wenn uns danach ist, die familiäre Vergangenheit komödiantisch aufzupolieren. Gleichwohl ein nebensächliches Sinnbild dafür, dass demjenigen, den man hierzulande schnell mal flapsig nach Hause schickt, auch seine Heimat abhanden gekommen ist.

Aber ich habe bei unseren jährlichen Spanienaufenthalten sehr wohl verspürt, wie dieser Mann, der mein Vater war, in einer Heimat umherirrte, einer Heimat, die ihm verhältnismäßig fremd geworden war. Er war stolz auf jenes Heimatstädtchen, dass kolossal anwuchs, modernen Städtebau praktizierte, Wohlstand heraushängen ließ - aber es war nicht mehr seine Stadt, war wie eine schlecht arrangierte Imitation seiner Herkunftsstadt, die so aussah, so gebaut war, aber doch irgendwie, man konnte nicht sagen wieso genau, anders roch. So pilgerten wir oftmals durch die Altstadt, er uns Orte deutend, an denen dies oder jenes geschah, angefangen beim Ort seiner Geburt bis zum Wohnort eines entfernten Vetters, der von uns nie gesehen ward. Er schwelgte hin und wieder in seiner Vergangenheit - in seiner nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich versunkenen Vergangenheit. In seinem Kopf war er dort, wo er einstmals heimisch war - die reale Welt bot diese Heimeligkeit nicht mehr. Welch Zerrissenheit mir zuweilen sichtbar wurde, dieser beklagenswerte Mann, der seine Wohnung, sein Bett, seinen Kühlschrank in einem Land hatte, in dem er nie akklimatisiert war; der seine Wohnung aber gerne an der Stätte seiner Herkunft gehabt hätte, die ihm mittlerweile auch fremd erschien. Auch in Spanien wäre er als Spanier, der er zeit seines Lebens blieb, wie ein Zuwanderer gewesen.

Wäre er zurückgekehrt, so wie er in manchem verträumten Augenblick von einer Rückkehr ins Land seiner Väter sprach, man hätte ihn wahrscheinlich nicht als Spanier anerkannt - ich glaube, dass er für seine in Spanien gebliebenen Schwestern manchmal exotisch wirkte; dass ein Spanier, der seit Jahrzehnten nicht mehr in Spanien lebte, zwangsläufig fremde und gewöhnungsbedürftige Wesensarten annimmt, steht außer Frage. Vage ahne ich heute, dass eine Rückkehr nach Spanien ein Fiasko geworden wäre - eine zweite Phase Gastarbeiterschaft, wenn man das so sagen kann. Wie hätte er dort leben können, gleich einem Mann seines Alters, der dort immer gelebt hat? Viele seine weltläufigeren Sichtweisen hätte man nicht verstanden, viele seiner eher deutsch geprägten Ansichten genausowenig. Man hätte ihn vielleicht ausgelacht oder für nicht ganz normal eingestuft. El alemán, hätten sie ihn genannt, nehme ich an - den Deutschen! Das wäre ein schönes Stück Ironie geworden: el alemán, der er in Deutschland nie war. So ein Zurückkommen ins Land seiner Ahnen, es wäre voraussichtlich ein Debakel gewesen - es ist ihm erspart geblieben, er starb vorher. Und auch wenn es kleinkariert und wenig nach den Worten eines liebenden Sohnes klingt, ich bin froh, dass ihm das nicht mehr widerfahren konnte; ich bin froh, meinen Vater nicht als geknickten Mann erlebt haben zu müssen.

Wir fuhren beinahe jeden Sommer nach Spanien, das heißt, eigentlich fuhren wir ins Paradies. Die Idealisierung des Geburtslandes ist ein maßgeblicher Bestandteil jeder Gastarbeiterkindheit. In Spanien leben alle glücklich, jeder hat Arbeit, verdient gut, lebt wie Gott in Frankreich, nur eben heißt dieses Frankreich Spanien. Lauter nette Leute belagern die Straßen und alle leben in Eigentumswohnungen, weil keiner mehr Mietverhältnisse nötig hat. Als Jugendlicher wollte ich das glauben, schließlich war auch ich, obwohl in Deutschland geboren, in meinem Umfeld immer der Spanier. Und wenn ich schon so einer sein musste, dann sollte das freilich etwas ganz Enormes, etwas Erhabenes, vielleicht sogar Besseres sein. Deutschland war natürlich der teuflische Gegenspieler: Immer neblig, immer regnerisch, immer kalt. Dazu Schwalle verschlagener, bösartiger Menschen - Typen halt, wie es sie seit Generationen in diesem Land im Herzen Europas zu geben schien. Kapos und Rottenführer garstigster Machart - dass es solche Schweine aber auch in Spanien gab, musste ich erst später erkennen; dass die faschistoide Tendenz international ist, lernte ich erst Jahre danach. Das war das Leitbild des gesamten Jahres: Deutschland ist ein Höllenpflaster, Spanien eine Wolke. Und dann waren wir in Spanien, und oh Wunder, mein Vater sprach ganz anders von Deutschland: es sei dort alles gut organisiert, es gäbe einen hohen Sozialstandard, er könne sich sogar hin und wieder ein neues gebrauchtes Auto, mit etwas Spardisziplin sogar ein neues neues Auto leisten! Aus dem Höllenschlund glitzerte und funkelte es urplötzlich heraus.

Später begriff ich erst, dass in dieser Verhaltensweise stille Rechtfertigung zu vermuten lag. Die wenigsten Gastarbeiter gingen guten Gewissens von ihren Eltern und Geschwistern weg - wenn man heute so tut, als kämen die Menschen aus aller Welt nach Europa, nach deutscher Lesart: nach Deutschland, um sich in unseren Sozialstaat einzunisten, dann spricht da die verwegenste, ahnungsloseste Dummheit; dann bricht da die ganze Engstirnigkeit von Menschen hervor, die niemals vor der Entscheidung standen, die Heimat zu verlassen - verlassen zu müssen. Denn man geht nicht frohen Herzens, auch Kindergeld oder Sozialhilfe locken niemanden ausreichend, um Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Onkel und Oma zurückzulassen, um in ein Land zu gehen, dessen Sprache man nicht spricht und dessen Mentalität einen weltweit nicht besonders guten Ruf besitzt. Und dann stand er vor seinen Schwestern, beide zu netten Reichtum gekommen, und er putzt jenes Deutschland fein heraus, mit dem er während des ganzen Jahres gehässig im Clinch lag. Seht her, so schien er zu rufen, meine damalige Entscheidung war richtig! Goldrichtig! Dass seine beiden Eltern damals seinen Stolz anfachten, als sie ihm deutlich machten, dass er ohnehin bald zurückkäme, weil er ohne sie nicht auskommen würde, tat natürlich das Übrige - schau her Mama, ich habe es auch ohne euch geschafft! Schade, dass Papa das nicht mehr erleben kann!

Mag sein, dass mehr hervorlugte aus diesem Wechsel seines Verhaltens. Was hinterlässt man doch für Wunden, wenn man seine Eltern, besonders aber seine Mutter verlässt. Mütterliche Tränen trocknen nur saumselig und die spärlichen Karten aus dem Ausland trösten nur wenig. Wenn man seiner Mutter schon Mühsal bereitet, wenn man sie schon enttäuscht, weil man von nun ab ein Leben fristet, in dem die Mutter nurmehr eine Nebenrolle einnimmt, eine höchst selten in Anspruch genommene Nebenrolle, ein Arrangement als Statistin oder Komparsin, um es metaphorisch treffender zu zeichnen, dann kann man nicht angekrochen kommen - dann kann man nicht zu Besuch reinschauen und über jenen Ort meckern, für den man sich aus freien Stücken entschied. Das gebietet der Stolz! Und der Anstand! Seine Mutter, seine Familie generell, sollte nicht umsonst gelitten haben - wenigstens sollte am Ende jenes Glück stehen, dass er sich mit seinem Weggang in die Wege einzuleiten glaubte, das ihm vor Jahren, in Zeiten da er noch zuversichtlicher war, gelotst schien. Zuzugeben, dass man nicht vollwertig glücklich ist, die damalige Entscheidung zweifelhaft war: so eine Blöße gibt sich ein stolzer Südländer doch nie im Leben! Gäbe sie sich ein Nordeuropäer? Sind die Menschen da so anders geartet, nur weil sie Sauerbraten statt Paella, Köttbullar anstelle von Polpette verzehren? Ach Bub, hätte seine Mutter, meine Großmutter, unter Umständen vielleicht bemerkt, hättest du nur auf uns gehört! Ach Bub, was hast du mir, was hast du uns und vorallem, was hast du dir da nur angetan?

Ich war nicht dabei, kann es mir aber bildlich vorstellen, wie es gewesen sein muß, als mein Vater, mittlerweile Arbeiter im fernen Alemania, sein Elternhaus besuchte. Er, wahrscheinlich im Trend der Zeit mit weißem Hemd und schwarzer, übertrieben ranker Krawatte gewandet, in der nicht besonders mondänen Küche seiner Mutter hockend, gegenüber seinem Vater, der nach wie vor Schäfer war und eine kleine Metzgerei betrieb - er, mein späterer Vater, der in Jugendjahren ebenso Schafe hütete, schlachtete, urwüchsiger Bursche war und nun zum industriellen Schildknappen aufstieg! Er, der mich behütende Vater, der immer Rat wusste, die Welt verstand, sie mir erklärte, er ruderte in jenen Tagen selbst noch orientierungslos durch die Gewässer. Im Mief seiner eigenen Vergangenheit muß er da gesessen haben, erfüllt vom schlechten Gewissen, den Argusaugen seiner Angehörigen ausgesetzt. Vermutlich sprach er vom effektiven Arbeiten, vom Akkord, vom Fleiß, den man in Deutschland durchaus honoriert, von der peniblen Organisationskraft der Deutschen, vom Beispiel, welches sich die müden Spanier von den Deutschen nehmen sollten - gut möglich, dass sich meine Großeltern traurig anblickten, sich fragten: was ist denn mit unserem Buben los? In welcher Welt lebt er denn eigentlich? Sicher, mein Vater kam aus keinem Dorf, eher vom Rande einer größeren, spannend anwachsenden Stadt, aber die angelsächsisch-ökonomischen Werte, oder nennen wir es Verwertbarkeiten, hatten in Spanien seinerzeit nur spärlich Fuß fassen können.

Er wird schon damals nicht von den kleinen und großen Begebenheiten gesprochen haben, die ihm als Ausländer im Deutschland jener Jahre widerfahren sind. Eine verlassene Mutter sollte nicht auch noch voll brennender Sorge sein, sie sollte sorgenlos ihr verlassenes Dasein ausheulen dürfen, sollte sich damit trösten können, dass es dem Jungen relativ gut geht, dass er akzeptiert und gemocht wird. Dabei blieb er immer ein Fremder, gleichwohl er später der deutschen Sprache mächtig wurde. Man sprach deutsches Stakkato mit ihm, schrotthaftes Deutsch ohne Syntax, frei von jeder auch nur alltäglichen Stilistik, denn der begriffsstutzige Ausländer sollte ja auch verstehen können. Es fällt schwer heimisch zu werden, wenn man unentwegt von der Seite angestammelt wird, wenn man immer wieder zum Stereotyp eines Südländers gemindert wird - wurde einer seiner Arbeitskollegen mal wütend, dann hieß es, er sei mit dem falschen Fuß aufgestanden oder ihn habe etwas in wilde Rage versetzt; wird aber ein Spanier oder Italiener wütend, egal wie berechtigt diese Wut auch ist, dann reduziert man das auf das südländische Temperament. Der Südländer als Opfer seiner Anlagen, als triebgesteuerter Choleriker!

Der Südländer: ein impulsiver, emotionaler Bauchmensch - mit solchen Gestalten kann man wenig anfangen! Sie sind nicht planbar, nicht kalkulierbar. So wie auch dieser Mann, dieser spätere Vater eines schreibenden Sohnes, emotional durchdrehte, seinen Arbeitsplatz von heute auf morgen hinschmiss, weil gut zweitausend Kilometer südwestlich sein Vater, mein mir unbekannt gebliebener Großvater, an Kehlkopfkrebs erkrankte. Urlaub wollten sie ihm, meinem Vater, nicht geben, nicht von jetzt auf gleich. Aber er wollte an das Bett seines moribunden Papas, auch wenn es wahrscheinlich gleichgültig war, ob er gleich oder erst in zwei Wochen dort ankam - solange würde er schon noch leben. Aber ein Sohn, der seinen Eltern den Schmerz des Verlassenwerdens aufhalste, der leidet gezwungenermaßen an schlechtem Gewissen - spanische Söhne jener Zeit mehr als es heutige täten. Da gehen schon mal die Gäule mit einem durch, da wirft man schon mal den begehrten Posten am Fließband hin und reist unverzüglich ab - da macht man aus dem Spanier, der pflichtvergessen war, der impulsiv reagierte, der sich unmöglich benahm, schon mal einen fadenscheinigen Charakter, einen Nichtsnutz, der zwar fleißig sei, aber aufgrund fehlender Sekundärtugenden zu nichts zu gebrauchen. Sie sehen nur den äußeren Einband, den triebgesteuert cholerischen oder emotionalen Südländer, der bei Unverständnis in familiären Notständen, auch mal laut, auch mal derb wird - sie sehen nicht des Gastarbeiters Pein, sein fortlaufend geplagtes Gewissen, sein seelisches Ringen. Sie sahen nicht den Vater meines Vaters, wie er mit Loch im Hals in seinem Bett liegt; sie sahen nicht seine Schwiegertochter, meine Tante, die ihn wickelte, fütterte, pflegte; sie sahen nicht, wie der Sohn zum Vater strebte, auch wenn es zwecklos war, weil der Vater dem Tode schon überschrieben war.

Dieser Mann, der schließlich mein Vater werden würde, er hat nie über seine Ankunft in Deutschland gesprochen, er war für mich ein Mann ohne Vorgeschichte. Ein liebevoller doch strenger Vater, aber aufgrund fehlender Biographie konturlos, fast schon zu geschmeidig. Man musste bohren, wollte man mehr erfahren und auch dann erhielt man nur bruchstückhafte Fetzen jener Tage. Viele Spanier kamen in diesen Erzählungen der ersten deutschen Jahre vor, viele Spanier, die schon nach einigen Jahren zurückgingen - er aber blieb. Es scheinen keine rosigen Tage gewesen zu sein; Tage, in denen er eingehend erklärt bekam, wo seine Stellung in der bundesdeutschen Gesellschaft zu sein hatte. Gastarbeiter eben; jemand, der sich hier nicht zu wohl zu fühlen habe, denn selbst die beliebtesten Gäste gingen letztlich irgendwann nach Hause. Dass Gäste normalerweise nicht zum Arbeiten eingeladen werden, ist den Fürsprechern dieser speziell deutschen Art von Gastfreundschaft natürlich in der Eile, den arbeitsplatzraffenden Ausländer wieder loszuwerden, kurzzeitig entfallen.

Geh doch dorthin, von wo du hergekommen bist!, hörte mein Vater sicherlich öfter als ich - mir wurde das jedoch auch mehrmals ans Herz gelegt. Woher mein Vater kam, war bekannt - aber ich? Woher kam ich denn? Wenn ich dorthin zurückkehren soll, woher ich kam, heißt das dann, dass ich ins Krankenhaus zurückfinden soll, in jenen Kreißsaal, in dem ich geboren wurde? Oder in den Schoss meiner Mutter? Mein Vater hätte gewusst wo der Ort seiner Herkunft wäre - nur was hätte er dort anderes erlebt als hier? Dort hinzugehen, woher man kam: das ist wenigstens eine Ortsangabe - aber heimgehen, wenn es ein solches Heim nicht gibt? Geh heim!, ist als Empfehlung weniger sensibel. Wer dergleichen empfahl, machte sich nicht mal die Mühe, nachzudenken - um ehrlich zu sein, wer derlei empfiehlt, ist mit dem Denken ohnehin nicht so besonders befreundet. Aber zwischen der angeratenen Rückkehr zum Ort der Herkunft oder der Heimstatt, da ist schon ein fundamentaler Unterschied. Letztere Variante reduziert ja den Menschen lediglich auf seine Nationalität, fragt nicht, ob man sich irgendwo auch tatsächlich heimisch fühlt, sondern schaut in den Paß und nimmt an, der dortige Eintrag sei das Heim - du bist nichts, deine Nationalität alles!, blitzt da als eingetrichterte Devise schüchtern durch.

Geh doch dorthin... nichts wissen solche, die entsprechende Anregungen aussprechen. Sie wissen nicht, dass man seine Heimat verliert, dass einem die Herkunft abhanden kommt, wenn man in die Ferne schweift. Für sie sind Ausländer sozialstaatsversessene Raffzähne, die selbst ihre Großmutter verkauften, um die Segnungen des Wohlfahrtstaates zu erlangen. Dabei sind es Entwurzelte, stets fremd Gebliebene hie und fremd Gewordene dort; Menschen, die eine schwärende Wunde in sich tragen. Und wenn man genug von Deutschland hat, maulen diese schlichten Gemüter, dann könne man ja zurück gehen, zurück in die Heimat. Sie wissen nichts von der Komplexität eines solchen Lebensentwurfes, sie wissen nicht, wie demütigend es ist, selbst dort, wo man geboren wurde, nicht wirklich beheimatet zu sein...



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De dicto

Freitag, 23. Juli 2010

"Private Investoren bei der Bahn: Ich behaupte, dabei können am Ende viele gewinnen. Die Bahnkunden zum Beispiel."
- Oliver Günther, HR vom 27. Oktober 2007 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Nach den aktuellen Geschehnissen muß man den Befürwortern der Bahnprivatisierung, für die exemplarisch Günthers schon etwas angestaubte Aussage steht, anerkennend die Hände schütteln. Ja, die Privatisierung würde Bahnkunden zu Gewinnern machen, zu gut gekühlten Gewinnern, die nicht wie Grashalme zusammenklappen, nicht in einem rollenden Dampfgarer durch die Lande zuckeln müssten. Die Bruthitze wäre nie und nimmer in Bahnwaggons eingezogen, wenn der Laden in Hand eines privaten Unternehmens wäre - da irren sich die Freunde der Privatisierung ausnahmsweise einmal nicht!

Eine privatisierte Bahn hätte Hitzekoller und Zusammenbrüche vermeiden können; sie hätte dafür Sorge getragen, dass es so weit nicht gekommen wäre - jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Denn bei einem privatisierten Bahnunternehmen wären die Züge entweder so spät gekommen, dass viele Bahnreisende liebend gerne auf ein Zusteigen verzichtet hätten - oder bestimmte Bahnhöfe wären schon seit Jahren tot, sodass eine ganze Menge Bahnkunden erst überhaupt nicht in die Bredouille gedrängt würden, ein Bahnticket erwerben zu müssen. Schienen wären unter Umständen so ruinös, dass ein Befahren ausgeschlossen wäre - und damit ebenso ein auf Hitzewallung zurückzuführender Kollaps. Und wer ganz viel Glück hätte, weil er ein Ticket erstanden, einen frequentierten Bahnhof vor der Haustüre liegen hat und auch noch auf Pünktlichkeit hoffen dürfte, dem würde per Durchsage im letzten Augenblick mitgeteilt, dass der Zug, auf dem man augenblicklich wartet, soeben vor die Hunde, schlimmer noch, von den Schienen gegangen wäre. Einmal mehr der Glut auf Schienen, die ja eben nicht mehr auf den Schienen ist, weil sie entgleist ist, entkommen!

So oder so, eine privatisierte Bahn hätte uns das Hitze-Desaster erspart. Die Engländer haben das erkannt, sind dem fahrenden Backofen rechtzeitig entflohen, haben die Hitze privatisiert - die Neuseeländer indes wollen womöglich etwas Sauna verwirklichen und haben die Privatisierung zurückgedreht. Der Bahnkunde als Gewinner, weil ihm die Möglichkeit einer Kundschaft denkbar schwer gemacht wird! Die Befürworter der Bahnprivatisierung liegen damit goldrichtig...



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Bloß keine Volksbefragung!

Donnerstag, 22. Juli 2010

In meinem Buch "Unzugehörig" wies ich auf die charmante Geste - das ist auch der Titel des Textes - hin, die die herrschenden Klassen ihrem untertäniges Volk entgegenwerfen, wenn sie Volksbefragungen zulassen. Letztlich kröche sowieso nur die Herrenmoral aus dem Volksentscheid. "Man kann sich das hohe Gut der Volksbefragung", so schrieb ich, "nur schwer in einer Welt der konzentrierten Meinungsproduktion vorstellen. In einer solchen Umwelt erstickt der freie Wille des Souveräns, er wird zwar als freier Wille ausgewiesen und etikettiert, ist aber, recht besehen, nicht mehr als das eingeimpfte, vorgekaute, dauerwiederholte, zerstückelte, aufgebauschte, konditionierte, beschränkte und gedrosselte Abbild einer Welt, wie sie uns über den Äther medienwirksam eingeträufelt wird. Um Namen zu nennen: Von den Stammlesern Deutschlands größter Tageszeitung würden lediglich einige rare Exemplare den eigenen Verstand bemühen, würden ansonsten aber ihr Kreuzchen dort platzieren, wo es Springer vormals als steter Tropfen steinhöhlend lang und breit dargelegt und agitiert hat."

In der Folge verweise ich auf das öffentliche Klima im Jahre 2004, dem Jahr vor der Einführung von Hartz IV, in dem die Zukunft für Arbeitswillige in rosigen Farben gepinselt wurde, worauf sich gigantischer öffentlicher Zuspruch für jene Reform herauskristallisierte. Schnell wurde bei der Gemengenlage an tendenziösen Berichten zugunsten der Agenda 2010 ersichtlich, "dass eine fiktive Volksbefragung zu diesem Thema eine ordentliche Mehrheit pro Hartz IV ergeben hätte." Nun hat der Volksentscheid in den letzten Wochen Schule gemacht, hat abermals jene Resultate gezeitigt, die von herrschenden Interessen befürwortet wurden - und schon fragt sich die Journaille, ob der Volksentscheid nicht ein Mittel wäre, mit dem man Staat machen könnte. Jetzt, wo doch leichthin das dabei herauskommt, was man in oberen gesellschaftlichen Gefilden gerne sähe - vorauseilender Gehorsam gehört aufgezäumt, vor den Karren gebunden, muß in Volksbefragungen münden, ein Milieu direkter Demokratie vorheucheln.

Prompt fragt Springer seine treue Leserschar. Arbeitspflicht für Hartz IV-Bezieher? Mehr als acht von zehn Leser sind dafür! Deutschkurse für Ausländer? So gut wie alle wollen das! Opfern aus Folterkellern im Namen des Kampfes gegen den Terror Asyl anbieten? Nur 17 Prozent bewahren einen Rest an humanitären Anstand! So eine praktische Einrichtung, diese Volksbefragung; kein Wunder, ist sie doch das "eingeimpfte, vorgekaute, dauerwiederholte, zerstückelte, aufgebauschte, konditionierte, beschränkte und gedrosselte Abbild einer Welt", die man uns täglich ins Wohnzimmer hineinsuggeriert. Es sind willige Urnengänger - die vormalig willige Leser, Zuhörer, Zuseher waren -, die den Lobbyisten, die im Deckmäntelchen des Journalismus durch die Lande tingeln, beinahe alles aufs Wort glauben. Da kann man nur betteln, knien, flehen: Bloß keine Volksbefragung - keine Basisdemokratie, damit dieses letzte Rudiment von Demokratie erhalten bleibt! Keinen Basisdemokratie in einer Atmosphäre, in der meinungsmachende Institutionen in der Hand derer sind, die ein geschäftiges Faible für tendenziöse Entscheidungen nach ihrem Gusto besitzen!

Laut Gereon Asmuth, taz-Journalist, hätte ich damit bewiesen, dass ich die Demokratie nicht begriffen habe, weil ich sie von Ergebnissen abhängig mache. Kann man das so stehen lassen? Ist es demokratisches Unverständnis, wenn man gewisse Entscheidungen, die mehr als ethisch zweifelhaft sind, ja, die gar diktatorische Züge tragen, nicht als der Weisheit letzter Schluss hinnehmen will? Wer glaubt, dass das Plebiszit in einer propagandistischen Gesellschaft zu besseren Lebensumständen für alle führen kann, der geht mit blinden Augen und tauben Ohren durchs Leben - in einer solchen Gesellschaft, in der an den Schalthebeln der Meinungsbildung knallharte Interessensvertreter aus Wirtschaft und Finanz thronen, schlägt der vormals edle Gedanke des Volksentscheids schnell ins Gegenteil um, in eine Diktatur der Bourgeoisie oder auch in eine Diktatur eines Proletariats, das sich selbst aber als bourgeois genug einstuft, um Entscheidungen zu fällen, die letztlich zu eigenem Schaden führen werden - "für sich selbst verabschiedete Schlachtbänke, von denen [das Volk] nicht mehr herunter zu kriechen vermag": so formuliere ich es in meinem Buch.

Der Volksentscheid kann nur dort sinnvoll sein, wo die Meinungsmache relativ unterbunden wird. "Erst hat das Meinungsmonopol zu fallen, damit die Volksbefragung auch eine wirkliche Befragung des Volkes sein kann. Bevor man sich emanzipiert, müssen die Ketten durchtrennt werden - Emanzipation an der Kette gleicht dem Atmen im Sarg", so endet der Text "Charmante Geste". Wie gesagt, nur dort ist der Volksentscheid brauchbar, wo das Meinungsmonopol mehr als nur ansatzweise aufgehoben wird. Oder sagen wir: wo es aufgehoben würde. Der Konjunktiv gibt uns die Ehre - denn ob es jemals eine ausreichend aufgeklärte Gesellschaft gibt, in der jeder einzelne Bestandteil des Volkes adäquat um Rat gefragt werden kann, ob je eine Gesellschaft entsteht, in der Interesse und Wissbegier zu Tugenden erklärt werden, ob sich die moderne Massengesellschaft jemals noch von der meist unzureichenden Informierung der Massenmedien verabschieden wird, ist mehr als fraglich, objektiv betrachtet, eigentlich so gut wie unmöglich.

Wer das Plebiszit in so einem Ambiente befürwortet, der hat das Wesen der Demokratie nicht begriffen; der hat nicht begriffen, dass im demokratischen Korpus die Diktatur lauern kann, die zum Ausbruch abgerichtete Bösartigkeit tollgewordener Massen! Was nicht heißen soll, dass Demokratie ein Fehler wäre, sie ist die schlechteste aller Staatsformen - abgesehen von sämtlichen anderen. Sie kann aber gleichberechtigt mit sämtlichen andere Staatsformen die allerschlechteste sein, wenn es sich bei ihr um eine ferngelenkte Demokratie handelt. Nicht die Demokratie steht demnach auf dem Prüfstand, die Einflussnahme diverser Interessensgruppen sollte uns beschäftigen - solange sie es nicht tut: bloß keine Volksbefragung!



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Mit Islamisten kann man nicht reden - aber telefonieren!

Mittwoch, 21. Juli 2010

Wer hätte gedacht, dass der Inbegriff des Satanischen, mit dem weithin kein vernünftiges Gespräch zu führen möglich ist, plötzlich per Hotline zur Besinnung gebracht werden könnte. Der Islamist als Nutzer eines seelsorgerischen Dienstes, bei dem er seine Verzweiflung preisgeben und seinen Ausstieg aus dem Extremismus in die Wege leiten kann. Drücken Sie die Drei, wenn Sie das Starter Kit zum Beenden Ihres extremistischen Irrweges bestellen möchten! Ausgerechnet dieser menschgewordene Entwurf des Satans, dieser Massenmörder und Bombenleger, den man der europäischen Öffentlichkeit seit nunmehr Jahren unterbreitet hat, ausgerechnet diese gefühllose Bestie, soll nun mittels Telefonhörer "zurück in die Mitte der Gesellschaft" befördert werden.

Dialog statt Schelte, Verständnis statt Verurteilung! Das hat mancher schon lange vor Afghanistan und Irak gepredigt - redet doch mal mit denen, die sich von der westlichen Präsenz und Allmacht im Nahen und Mittleren Osten bedroht fühlen! Redet mit denen, nicht am Telefon vielleicht, von Auge zu Auge eher! Respektiert die Menschen dort! Sucht das Gespräch! Droht nicht, verspottet nicht, hetzt nicht gegen sie auf! Nichts hat gefruchtet, am Ende stand die halbe westliche Welt unter Waffen in Kabul. Nun aber auf, Bundesamt für Verfassungsschutz, geschwind ins Verteidigungsministerium hinübertelefoniert, um Rückzug der Truppen gebeten und einige Telekom-Außendienstmitarbeiter nach Afghanistan geschickt, zur Installation diverser Extremisten-Hotlines. Mit dem Telefonhörer in der Hand, nicht mit der Waffe in derselbigen, verändert man die Welt - telefonische Seelsorge, die Menschen anhört statt militärische Seelsorge, die Waffen segnet.

Man muß sich schon fragen, was man uns da seit Jahren erzählt hat. Mit den Taliban ist kein Staat zu machen, sprachen sie, nachdem sie jahrelang mit denen Staat machten und deren Diktatur gelobt wurde, ob der Stabilität, die sie in Afghanistan erzeugte. Mit den Taliban sprechen? Dialog führen? Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Der islamische Extremist, so wurde geschäumt, kenne nur sein Paradies und die darin weilenden Jungfrauen, sei für sachliche Argumente wenig und für Humanismus gar nicht zu erwärmen. Obzwar er Schaltkreise für Bomben entwerfen und basteln könne, sei ihm die Bedienung eines Telefonapparats zwecks Anruf bei einer seelsorgerischen Hotline, ein technisches Rätsel.

Nun also ein Schwenk, eine Volte? Wenn die Sprechmuschel bemüht wird, muß es wohl Redebedarf geben - lassen wir mal außer Acht, was so gemeinhin als Islamist gilt und warum manche Positionen für uns verhärtet und borniert klingen mögen, für einen dortigen Moslem aber weniger. Dann also doch Aussprache! Weg mit den Waffen, her mit den Telefonen - Extremisten-Hotlines ersetzen Bombardements! Und wenn das klappt, so wird beim Verfassungsschutz zu Köln gemunkelt, richten wird gleich noch eine Hotline für andere extremistische Gruppen ein, für Wirtschaftsextremisten beispielsweise - Experten glauben nämlich, dass neunzig Prozent aller FDP-Mitglieder nicht aus freien Stücken extremistisch gesittet sind, sie stünden unter extremen Druck und würden von ihren Anführern bedroht. Telefone ist Thomas-Dehler-Haus!

Zieh Dich warm an, Emma Frauenverlag - jetzt trifft es auch Extremistinnen, jetzt werden auch sie gleichberechtigt wegtelefoniert! Warte ab, INSM-Kurator, bald darfst auch du deinen Ausstieg vorbereiten! Denn so läuft das heute: man telefoniert!



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Sit venia verbo

Dienstag, 20. Juli 2010

"Ich würde sagen, die Menge an Langeweile, falls Langeweile meßbar ist, ist heute viel größer als früher. Weil die damaligen Berufe, jedenfalls zu einem großen Teil, nicht ohne eine leidenschaftliche Neigung denkbar waren: die Bauern, die ihr Land liebte; mein Großvater, der schöne Tische zauberte; die Schuster, die die Füße aller Dorfbewohner auswendig kannten; die Förster; die Gärtner; ich vermute, sogar die Soldaten töteten damals mit Leidenschaft. Der Sinn des Lebens stand nicht in Frage, er begleitete sie, in ihren Werkstätten, auf ihren Feldern. Jeder Beruf hatte seine eigene Mentalität, seine eigene Seinsweise geschaffen. Ein Arzt dachte anders als ein Bauer, ein Soldat verhielt sich anders als ein Lehrer. Heute sind wir alle gleich, alle durch die gemeinsame Gleichgültigkeit für unsere Arbeit geeint. Diese Gleichgültigkeit ist eine Leidenschaft geworden. Die einzige große kollektive Leidenschaft unserer Zeit."
- Milan Kundera, "Die Identität" -

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Nicht das System wird reformiert, sondern der Patient

Montag, 19. Juli 2010

Das Gesundheitswesen ist intakt, es funktioniert einwandfrei - wäre da nur nicht der Patient! Er ist das eigentliche Problem, der Haken an der Sache, er hemmt und stört, ist der Saboteur eines Systems, das im Leerlauf geradezu erstaunliche Erfolge zeitigen würde. Gesundheitsreform bedeutet daher zuallererst, diesen alles durcheinander bringenden Störenfried und Eindringling bestmöglich fernzuhalten. Deswegen sei es Aufgabe des Patienten, nicht mehr Aggressor zu sein, sondern Verantwortungsträger. Oder anders formuliert: der Patient soll nicht mehr nur genesen, er soll sich als verantwortungsvoll erweisen. Pflichtgefühl vor Gesundung - man muß schließlich Prioritäten setzen! Prioritäten und neue Praxisgebühren, die denjenigen bestrafen, der häufiger erkrankt.

Von wegen krank! Der Patient, er ist gar nicht Kranker - nicht in Zeiten, in denen mit gesundheitsreformatorischem Eifer nach Schuldigen für explodierende Gesundheitskosten geforscht wird. Nein, ich solchen Tagen in der Patient ein eingebildeter Kranker, ein Gesunder, der sich nur noch gesünder fühlen möchte, daher zum Arzt stiefelt - Besucher von Arztpraxen sind Nimmersatte! Im schönen Schweden, argumentiert man, da gingen die Leute viel weniger zum Arzt; im schönen Schweden sind die Leute trotzdem gesünder; im schönen Schweden leben diese Leute sogar noch länger. Ein gelobtes, vielgelobtes Land! Bauchschmerzen, Erkältung - muss da wirklich jedes Mal der Spezialist ran? Nein, man kann das alles ertragen - zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Man muß freilich nicht gleich zum Arzt, was soviel heißt wie: man muß es eigentlich schon.

Denn was machen erkrankte Arbeitnehmer, wenn sie zwar einerseits nicht zum Arzt gehen sollen, gleichzeitig aber nicht arbeitsfähig sind? Sie werden dazu gezwungen zum Arzt zu gehen, gleichwohl man sie im Rahmen ihrer Verantwortung zwingt, dort eben nicht zu erscheinen. Auch daher weht der Wind, auch das ist mit der Strenge und Hartherzigkeit gegen das eigene Unwohlsein gemeint: Bauschmerzen, Erkältung - muss man da wirklich jedes Mal krankgeschrieben werden? Kann man sich denn da nicht mal zusammennehmen und ein ganzer Kerl sein? Wenn schon für sich selbst nicht, dann wenigstens für die Gesellschaft - Kranker, zeig Verantwortung und verantworte keine Fehlzeiten! Und hemme nicht das tüchtige Gesundheitswesen mit deiner Anwesenheit - deiner Anwesenheit in einer Arztpraxis, denn bei deinem Arbeitgeber darfst du ja ruhigen Gewissens anwesend sein. Es ist ja nicht so, dass man deine Anwesenheit verschmäht, dass man dich als störend empfindet - man schätzt deine Anwesenheit durchaus, wenn du auch dort anwesend bist, wo es der Gesellschaft nützlich erscheint.

Die Schweden sind da weiter, sie gehen nicht alle naslang zum Arzt - und sie sind gesünder, leben länger. Ohne Arzt lebt man gesünder! Vielleicht liegt es auch am gesellschaftlichen Klima Skandinaviens, möglich, dass es dort beschaulicher, übersichtlicher, weniger mit Speichel in den Mundwinkeln zugeht - es kann gut sein, dass die Schweden seltener in Wartezimmern hocken, weil ein einigermaßen menschliches Lebensumfeld Gesundheit begünstigt. In Deutschland steigt die Zahl psychischer Erkrankungen auch deshalb auf Rekordstand, weil eine Atmosphäre aus Angst und Hass vorherrscht. Mag sein, dass die Schweden daher verantwortungsvollere Patienten oder seltenere Patienten sind, weil sie in einem weniger gefühlstauben und feindseligen Klima heranwachsen. Wenn sie aber krank sind, davon muß man ausgehen, empfiehlt ihnen niemand, den Arzt nicht aufzusuchen - bei ganzen drei Arztbesuchen im jährlichen Durchschnitt, wäre ein so dreister Ratschlag unvermeidlich mit dem finanziellen Bankrott des dortigen Ärztestandes verbunden.

Anstelle von störenden Patienten zu schwafeln, ihnen weitere Unkosten aufzubürden, sie für Krankheit zu bestrafen, könnte man ja auch dazu übergehen, ein freundlicheres, wohnlicheres Umfeld zu entwerfen. Statt neuer Praxisgebühren, eine neue gesellschaftliche Ausrichtung - statt Angst haben zu müssen, weil eine Krankheit Löcher in die klamme Haushaltskasse reißt, die Angst um Arbeitsplatz und Zukunft drosseln! Das wäre ein Ansatz, ein radikaler, an die Wurzel gehender, sicherlich aber erfolgsversprechender Ansatz! Freilich käme er uns teuer zu stehen, denn wir müssten uns von liebgewonnenen Einsichten wie Wer mehr zahlt, wer arbeitet soll es besser haben! oder den fundamentalistischen Auslegungen des Leistungsprinzips, trennen. Wirklich eine fast unbezahlbare Reform des Gesundheitswesens - am Ende käme es uns allerdings billiger.

Ohne Angst leben, fragt sich da mancher, dem die Furcht der Massen gerade recht kommt, wie soll man denn da einen Staat machen? Da doch lieber höhere Praxisgebühren, die erhöhen nebenbei auch die zum Regieren und Ausbeuten dringlich benötigte Angst nochmals beträchtlich. Und hernach fragt ohnehin niemand mehr nach, ob denn die gedrosselten Arztbesucherzahlen deshalb zustandekamen, weil die Bevölkerung plötzlich gesünder wurde oder weil der Kranke auf Distanz gehalten wurde. Was zählt ist, dass das Gesundheitswesen funktioniert - auch ohne Patienten, wenn nötig. Eine Gesundheitsreform ist deshalb abgeblasen - was ansteht ist die Reformierung des Patienten, der nach durchstandener Innovation kein Patient mehr zu sein braucht.



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Noch in Jahren aktuell

Samstag, 17. Juli 2010

oder: gegen das Asoziale anzuschreiben, sich dem Asozialen also zu widmen, sichert einem ein zeitloses Werk.


Ich habe mich zu schämen! Ich und viele andere! Denn wir sind Krisengewinnler. Ganz unverfrorene Profiteure des geistig-moralischen Dilemmas, das uns immer zudrückender umarmt. Was täte ich, was täten viele meiner Kollegen, wenn es diese Krise nicht gäbe? Wovon schrieben wir? Und wir profitieren nachhaltig - denn unserem am Verfall sich schmarotzenden Geschäft liegen unendliche Zukunftsmärkte zu Füßen. Eigentlich müssten wir traurig sein, weil die Themen, die uns zum Schreiben drängen, beharrlich aktuell bleiben, nicht aus der Mode zu kommen scheinen - wir sollten uns schämen, dass wir nicht traurig sind; wir sollten traurig sein, dass wir uns nicht schämen wollen! Vorbei die Zeiten, in denen man mit den Leiden eines jungen Liebesgockels oder einer Räuberpistole ein zeitloses Werk schuf - wer heute zeitlos sein will, der muß im asozialen Dickicht unserer Epoche wildern. Wer zeitlos sein will, der braucht nichts über edle Gefühle wie Liebe und Sehnsucht niederschreiben, der sollte sich eher an den Zottelbärten zynischer Vernunft verbreitender Philosophen oder Rassenkunden-Crashkurs abhaltenden Ex-Senatoren herauf- und herunterhangeln. Zeitlos und unvergänglich war früher das erhabene Sentiment - ein klassischer Evergreen wird zukünftig sein, über das Heruntergekommene, das Abgewirtschaftete, das Asoziale geschrieben zu haben.

Oh ja, ich sollte mich was schämen, ein Buch geschrieben zu haben, das man heute oder in einigen Jahren mit der gleichen Aktualität lesen kann! Ob ich nun von "feuchten Schößen", "Tretminen" oder "eingezäunten Welten" schrieb - die Welt wird in ein Paar Jahren nur unwesentlich anders aussehen. Die Texte werden dann noch immer nicht sinnlos geworden sein. Der Eitelkeit des Schreiben
den, da gleichen sich beinahe alle Schmierfinken einander, tut es wohl, wenigstens zu ahnen, dass der ganze asoziale Schmus, auf dem die Zeilen gründen, auch noch in ferner Zukunft zeitgenössisch sein könnte - und wer weiß, redet man sich ein, möglicherweise sind sie dann sogar noch aktueller, noch brennender als heute. Spätestens hier treibt es einem die Schamesröte ins Gesicht! Schreibt man nicht auch, wenigstens ein klitzekleines Bisschen, um das Umfeld zu verändern, es zu sensibilisieren, neu zu gestalten? Vermutlich schon - der Mensch soll ja auch träumen dürfen. "Wie anmaßend der erfolglose Schreiberling doch ist!", so leite ich Unzugehörig ein, "Anmaßend in seiner Passion! Da tritt er ans Katheder, setzt seinen Stift an, verfasst einige Wortreihen, mischt seine ganze Schärfe in die Tinte [...], und meint in besonders optimistischen Stunden, ganz dreist, ganz überheblich, er könne die Weltenläufte beeinflussen, könne, wenn schon das Spiel nicht beenden, so doch wenigstens in einer Weise sichtbar machen, dass es ins Auge sticht, zur Reaktion nötigt. [...] Nur weil er geboren wurde, nur weil er im Jetzt existiert, glaubt er, daran etwas ändern zu können. Als hätte sein Dasein einen messianischen Auftrag zu erfüllen." Sicher treibt einen die eigene Arroganz ebenfalls, aber wenn man dann schon relativ klanglos untergeht, ungehört bleibt, so redet man sich ein, als zeitloser Schriftsteller in die Annalen einzugehen.

Zeitlosigkeit haben wir denen zu verdanken, die in ihren unendlichen Auslassungen menschenhassender und inhumaner Art, uns das notwendige Futter liefern. Das rationelle Wesen jenes Autors, der die Leiden eines jungen W. zu Papier brachte, musste sich einst beim entrückten und schwelgenden Romantiker bedanken, der seine Liebelei manchmal bis an die Grenze seines Atems brachte - wir bedanken uns beim Rüpel, beim Gesellschaftsrowdie. Letzterer expandiert wild - Unzugehörig wird aktuell bleiben. Wenn es also überhaupt etwas gibt, was den wirkungslosen Schriftsteller tröstet - und wirkungslos sind wir ja beinahe alle, sofern wir nicht Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes heißen -, so ist es der Umstand, auch weiterhin etwas zu einem Thema zu sagen zu haben.

"Unzugehörig" von Roberto J. De Lapuente ist erschienen beim Renneritz Verlag.



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Repression in progress

Freitag, 16. Juli 2010

Dass selbst die progressive Geisteshaltung immer häufiger mit konservativen und repressiven Extrakten versetzt ist, mutet mittlerweile ja leider nicht mehr neu an, entmutigt aber stets aufs Neue. In Tagen, in denen progressives Denken soviel heißt wie Brosamen aufsammeln, tapst man unwillkürlich in repressive Fußspuren, ohne dass es einem auch nur ansatzweise gewahr wird. Gemeinhin zeichnet sich das progressive Lager dadurch aus, sich mit der Bewahrung und Konservierung alter, damals schon überholungsbedürftiger Standards zu befassen - anders gesagt: der Progressivismus sattelt zum Konservatismus um, weint Altem hinterher, weil ein besseres Neues für ihn heutigentags nahezu ausgeschlossen scheint. Wollte beispielsweise die progressive Gesellschaftsdynamik der Sechziger- und Siebzigerjahre noch mehr Mitbestimmung und reichlichere soziale Sicherheit für Arbeitnehmer, so wären diejenigen, die heute glauben besonders fortschrittlich zu denken, schon damit zufrieden, wenn der alte, durchaus reformbedürftige Standard mangelhafter Mitbestimmung und ausbaufähiger sozialer Sicherheit wiederhergestellt würde. Der Progressive trauert gegenwärtig überwiegend antiquierten Gegebenheiten nach, die dazumal schon verbesserungswürdig und reformbedürftig waren, die jedoch im Vergleich zu heute schon fast modern und fortschrittlich daherkommen - progressiv zu sein heißt gegenwärtig, trübsinnig zurückzublicken und die letzte abgestandene Neige an Bewahrenswerten zu erhalten, einzufrieren, zu konservieren.

Durchdrungen wird diese ohnehin schon rückwärtsgewandte Auffassung mit allerlei reaktionären und herrischen Symptomen - sich dem morsch gewordenen progressiven Lager zugehörig zu fühlen, beinhaltet aktuell auch, Luftsprünge zu machen, wenn grundlegende Freiheitsrechte gestutzt werden sollen - dient es nur einem übergeordneten Ziel oder einem absoluten Dogma, so destilliert man aus der beschnittenen Freiheit plötzlich eine fortschrittliche Leistung. Man ziehe als mustergültiges Beispiel nur mal das namentliche Burka-Verbot heran, wie es nun in einer Welle islamophoben Kleingeists über Europa schwappt. Selbstverständlich ist der Anblick einer vollkommen eingehüllten Frau für unsere europäischen Augen sehr gewöhnungsbedürftig; selbstverständlich sollte keine Frau von Manneshand gezwungen werden, ein solches Gewand tragen zu müssen - aber den Mummenschanz grundsätzlich und rigoros zu verbieten, damit auch jene Frauen zu kriminalisieren, die dieses Gewand aus welchen weltanschaulichen Gründen auch immer, mit Vorliebe tragen: dies kann nie und nimmer fortschrittlich sein, auch dann nicht, wenn sich - wie geschehen - Stimmen aus progressiveren Kreisen freudig zur Einführung eines solchen Verbotes äußern. Man kann als fortschrittlich denkender Mensch durchweg der Burka skeptisch gegenüberstehen, mag sich wundern, dass Frauen freiwillig eine solche Kluft tragen: aber die Freiheit einzuschränken, am Leibe die Kleidung zu tragen, die man tragen möchte, den Leib so zu verbergen, wie es einem gerade lieb ist, das ist keine fortschrittliche Option.

Das Recht auf Burka, ihm wohnt kein konservativer Antrieb inne, nach dem Motto: Burka ist Tradition, war immer und muß daher erhalten bleiben - das Recht auf Burka ist ein Freiheitsrecht, wenn auch unter extremer Auslegung. Eine selbsterklärt freiheitlich-demokratische Gesellschaft muß die Burka aushalten können, zumal sie kein Massenphänomen ist. Sich kritisch zum Burka-Verbot zu äußern ist gefährlich, läßt einen die gesamte progressive Reputation verlorengehen - wer für Verschleierung ist, muß repressiv sein, ein antifeministischer Faschist, ein schlechter Mensch ohnehin! Das heutige progressive Lebensgefühl ist oftmals von tyrannischen Impulsen durchzogen. Bestimmten Menschen die Burka oder wie letztens das Rauchen zu verbieten, weil das alles ja ach so vernünftig ist, ist nicht unbedingt die Entscheidung konservativer Klientel - gerade sich progressiv wähnende Menschen halten das Vernunftsdiktat, den auf die angebliche Ratio fußenden Imperativ, der das irrationale Wesen des Menschen völlig verleugnet, für mehr als attraktiv. Für die gute Sache, so argumentieren sie, dürfe das Ziel auch gerne mit Gewalt durchgesetzt werden. Die Progressiven sind unter wirtschaftlichen Zwang konservativ geworden, wollen im zeitgenössischen Klima der gesellschaftlichen Zersetzung und Entsolidarisierung bewahren und konservieren, was einst der höchste Stand der freiheitlichen und sozialen Ordnung war - und sie haben, wahrscheinlich, weil sie derart in die Ecke gedrängt werden, einen reaktionären und repressiven Beißreflex entwickelt. Anders, so meinen sie vermutlich, können sie heute keine gesellschaftlichen Verbesserungen mehr bewirken.



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Nomen non est omen

Donnerstag, 15. Juli 2010

Heute: "Management"

Projekt-Management, Content-Management, Sozial-Management, Qualitäts-Management, Zeit-Management, Finanz-Management, Personal-Management, Konflikt-Management, Team-Management usw. usf. Viele Bereiche im öffentlichen oder privaten Leben bekommen heute den Zusatz "management" (an der Hand führen). Ursprünglich ein Begriff aus der Welt der Wirtschaft, der vor allem Führungspersonen (Manager) in Großunternehmen meinte, ist er heute ein Synonym für alle möglichen Tätigkeiten und Prozesse die geleitet, geführt und kontrolliert werden sollen. Das dieser Begriff längst die Ebene der Wirtschaft verlassen hat, ist ein Zeichen für die Ökonomisierung vieler Lebensbereiche.

Die Begriffsinflation von "management" zeigt zudem ein großes Paradoxon von Gesellschaft und Ökonomie auf. Auf der einen Seite werden der freie Markt mit Wettbewerb, Eigeninitiative und individueller Lebensgestaltung beschworen; auf der anderen Seite wird jeder noch so kleine Prozess, jede noch so kleine Tätigkeit einem Management unterworfen. Sie sollen geprüft, kontrolliert, geführt, geleitet und evaluiert werden. Liberale und Unternehmensberater würden den Widerspruch wahrscheinlich so aufzulösen versuchen:
"Management bedeutet frei an der Hand führen, zur Freiheit erziehen."
Ganz so, als wäre alles was nicht einem Management unterliegen würde, chaotisch, unfrei und unorganisiert. Der Management-Wahn ist aus einem wild um sich greifenden Kontrollzwang geboren. Er ist nicht die Erziehung zur Freiheit, sondern ein Indiz für die Angst vor der Freiheit. Die Angst, etwas nicht kontrollieren und leiten zu können. Die Angst, Prozesse und Tätigkeiten der eigenen in ihr wohnenden Dynamik zu überlassen. Stattdessen wird versucht, diese Dynamiken zu steuern und in die Richtung zu lenken, die gewünscht wird.

Das Management vieler Bereiche des Lebens zeigt zudem den Trend auf, Effizienz und Effektivität der kreativen Idee vorzuziehen. Häufig sind Management-Vorgänge davon geprägt, Zeit zu gewinnen und möglichst viel Effizienz zu erreichen - was an sich ja nichts Schlechtes sein muss. Problematisch ist nur, dass ein Effizienz-Denken im Sinne eines Selbst-Managements den Zweckrationalismus in Lebensbereiche vordringen lässt, wo Normen und Werte besser aufgehoben wären.

Dies ist ein Gastbeitrag von Markus Vollack aka Epikur.

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Wenn es am schönsten ist...

Mittwoch, 14. Juli 2010

Setzen Sie sich, Frau L. - schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Sie ahnen ja ohnehin, weshalb ich Sie eingeladen habe - Anhörung stand ja auch im Einladungsschreiben. Aber zunächst setzen Sie sich doch... zur Sache also: Frau L., Sie sind nun neunundsiebzig Jahre alt, entnehme ich meinen Unterlagen. Ein schönes Alter, will ich meinen. In so eine Zeitspanne läßt sich ein vollwertiges, befriedigendes Leben packen; in acht Dekaden hat man wahrscheinlich schon alles erlebt, was es so zu erleben gibt. Gut in Schuss sind Sie auch, steht hier - stimmt das? Möchten Sie mir nicht mitteilen, wie es um Ihren Gesundheitszustand bestellt ist?

Frau L., ich verstehe Ihre Skepsis im Hinblick auf Ihre Krankenakte durchaus - nur: Sie sind dazu verpflichtet zu kooperieren. Laut Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems sind Sie dazu angehalten, bei jeglicher behördlicher Überprüfung die anfallenden Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten - und fürchten müssen Sie sich nicht, wir reden hier doch nur, sonst geschieht gar nichts. Natürlich weiß ich von den Horrorgeschichten, die auf den Straßen kursieren - aber seien Sie ganz unbeschwert: nichts davon ist wahr, wir schläfern hier keine Senioren ein. Ich bitte Sie! Wir sind doch kultivierte Leute! Also, wie geht es Ihnen denn derzeit, Frau L.?... na, das hört man doch gerne, dass es Menschen auch im hohen Alter noch gut gehen kann - das macht der vom Alter sich fürchtenden Jugend doch Hoffnung. Sie sehen ja auch gut aus, wie das blühende Leben, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.

Gut, ich notiere demnach: keine Krankheiten, keine besonderen Gebrechen. Auch keine Herzschwäche beispielsweise? Diabetes? Nein? Ist notiert! Sie beziehen nun ja bereits seit knapp zwölf Jahren Rente - Grundrente, genauer gesagt. Sofern Ihre Angaben stimmen - (wir lassen Ihren Zustand auf alle Fälle bei einem gesonderten Termin nochmals ärztlich überprüfen!) -, entsteht für die Rentenkasse ein Problem, ein Engpass sozusagen. Wir haben als Behörde die gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, die ohnehin knappen Ressourcen der Rentenkasse fair und gleichberechtigt zu verteilen. Die Mittel effektiv auf alle anspruchsberechtigten Schultern zu verteilen, glauben Sie mir: das ist ein schwieriges und undankbares Geschäft - gerade dann, wenn jemand mit solch rosigem Teint und einer derart leeren, mich fast schon deprimierenden Krankenakte vor mich tritt. Wo soll ich denn da ansetzen? Ist jemand schwer krank, dann ist es ein Kinderspiel, denn die Zeit übernimmt dann meine Aufgabe und enthebt mich der Verpflichtung, mich um eine effektive und faire Rentengelderverteilung zu bemühen. Dann warte ich geduldig ab bis der Rentennehmer diese Welt verlässt und muß nicht nachdrücklich auf den Rentner einwirken, so wie es das Gesetz nach Paragraph X vorschreibt.

Tja, Frau L., wenn Sie jetzt krank wären, könnten wir uns bereits jetzt einen schönen Tag wünschen - genießen Sie Ihre restliche Zeit!, würde ich Ihnen mit auf den Weg geben. Sie sind aber gesund, ganz besonders gesund offenbar: damit gehen wir beide in die Verlängerung. Vorab aber noch als Information, die ich Ihnen von Gesetzes wegen mitteilen muß: niemand drängt Sie, niemand quengelt, niemand macht Druck, auch wenn Sie das subjektiv so wahrnehmen könnten - und vorallem: niemand will Sie beseitigen! Wir unterhalten uns nur - das ist nur eine Anhörung, Frau L.; Sie hören mich nur an! Ich hoffe sehr, dass Ihnen das klar ist. Sehen Sie, es gibt Stimmen, die halten kranke Rentner für besonders soziale Wesen - dass der Mensch sozial veranlagt sei, behaupten diese Stimmen gerne, verspüre man besonders daran, dass viele Senioren vorsorglich erkranken und die Sozialkassen entlasten. Wissen Sie, ich würde so etwas nie behaupten; aber ganz von der Hand kann man diese Logik ja nicht weisen. Denn ich kann ja wirklich bestätigen, wie sozial verträglich kranke Alte doch sind - sie tun uns gut, geben knappe Rentenmittel frei, lassen unsere Behörde effektiv arbeiten.

Selbstredend, dass dieselben Stimmen natürlich auch von den anderen, von den gesunden Exemplaren etwas halten: nur leider nichts Gutes. Der kranke Rentner ist bei denen also ein guter Mensch, ein soziales Wesen - aber der gesunde Alte, der seinen Lebensabend künstlich verlängert, sich in die soziale Hängematte verkrallt, den verachten sie. Daran erkenne man, dass dieser Mensch sein ganzes Leben lang schlecht gewesen sei, ein Asozialer, ein Egoist, selbstsüchtig bis in die Senilität hinein. Frau L., auch da stimme ich nicht mit ein; das sind unmenschliche Äußerungen, wissenschaftlich nicht abgeklärt und ohne Beweiskraft - aber natürlich haben Sie einen ethischen Wert, auch wenn sie nicht verifizierbar sind. Und diesen Wert erkenne ich natürlich an, auch weil meine tägliche Büroerfahrung mir immer wieder bestätigt, dass ein Fünkchen Wahrheit in solchen Aussagen steckt. Deswegen verachte ich den ans Leben verhaftete Senioren nicht persönlich - er kann nichts für seinen egoistischen Impuls, ist vielleicht fehlerhaft von der Natur programmiert, falsch erzogen oder leidet unter einer psychischen Erkrankung, kurz gesagt: ist also unschuldig und daher moralisch freizusprechen. Nur darf dieses mitfühlende Verständnis nicht dazu führen, die wirklichen Umstände auf sich beruhen zu lassen. Mitfühlen heißt nicht tolerieren! Als zivilisierter Mensch sollte man wissen, wo man mitfühlen muß - aber ebenso zivilisiert ist es, sich von dieser emotionalen Regung nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen.

Nur eine Anhörung, Frau L. - vergessen Sie das nicht! Hören Sie mich an, wie ich meine Gedanken schweifen lasse - mehr könnte ohnehin nicht geschehen, unser verehrtes Grundgesetz, bald ein Säkulum alt, ließe eh nicht mehr zu als bloße, verhallende Worte. Fürchten Sie sich also nicht, denn es fallen nur Worte, geschehen keine Taten. Und sehen Sie, ich bin nun von Gesetzes wegen dazu gezwungen, Sie nachdrücklich und im Sinne des effektiven Rentensystems zu fragen, wie lange Sie noch zu leben gedenken. Neunundsiebzig Jahre haben Sie erlebt - ein schönes, ein biblisches Alter. Älter sollte man sowieso nicht werden, denn dann stellen sich nur Zipperlein und handfeste Leiden ein. Was man mit neunundsiebzig Jahren noch nicht erlebt hat, erlebt man nimmermehr - außer natürlich Alterskrankheiten, die man nicht erleben möchte, nicht erleben sollte und auch nicht erleben muß, wenn man nicht will. Ab einem gewissen Lebensalter sollte man nicht mehr nach vorne schauen, man sollte Rückschau halten und zufrieden werden; sich des Erreichten erfreuen, nicht voll Freude hoffen, dass es zu noch mehr reicht. Neunundsiebzig! Und dann noch gesund! Doch man weiß, ab da kommen nur noch Krankheit, Hilflosigkeit, Demenz. Schön wäre es, gesund sterben zu können - finden Sie nicht?

Aber Frau L., ich plausche doch nur, ich fordere Sie doch nicht auf, sich das Leben zu nehmen. Wohin denken Sie denn? Wir sind doch hier alles wohlerzogene Menschen, kultiviert von Kindesbeinen an. Wir hängen nur gemeinsam meinen Gedanken nach, ganz unverbindlich und offiziös. Die Würde des Menschen, Sie wissen doch, diese etwas antiquierte und pathoslastige Vorstellung - sie gilt stets und überall, auch bei uns hier. Nein, ich denke nur laut nach und - ich gebe es ja zu, Frau L. - versuche Sie zum Nachdenken zu bringen. Sie hatten doch bestimmt ein erfülltes Leben, nehme ich an - eines das, sollte es heute plötzlich enden, nicht als vergeudete Existenz bezeichnet werden müsste. Natürlich verstehe ich: Sie haben viel gearbeitet in Ihrem Leben, vielleicht zu viel, haben viele Entbehrungen ertragen müssen - und das tut mir als Mensch leid für Sie. Und freilich begreifen ich, dass Sie nun, da Sie ein wenig zu Zufriedenheit und Ruhe gekommen sind, dieses Leben genießen wollen, solange es nur irgendwie geht. Oh doch, Frau L., ich verstehe nur zu gut! Die Frage ist nur: ist "solange es nur irgendwie geht" fair? Ist es solidarisch? Sozial akzeptabel? Dabei könnte ich mir vorstellen, würde Ihr Leben heute enden, Sie wären von viel Leid erlöst; Leid, welches sich aus Ihrem Lebensabend bestimmt nicht gänzlich verflüchtigt hatte, sondern sich nur versteckt hielt - möglicherweise solange, bis es sich zum finalen, herzzerreißenden Schlag antigerte. Bedenken Sie doch nur, was da noch alles kommen könnte! Metastasen und Krebsschmerzen, Lähmungen oder Demenz warten da vielleicht auf Sie. Haben Sie schon mal die Schmerzensschreie eines Verkrebsten erlebt? Falls nicht, unsere Behörde bietet Abschreckungsseminare an - machbar, dass wir Sie mal zu so einem Seminar schicken...

Wäre es da nicht viel vernünftiger, das Leben endete augenblicklich dann, wenn das Unglück auf seine Chance lauert, zum Angriff ansetzt? Auf der Schwelle zur Krankheit sterben - das wäre doch human. Das ist indes auch der Irrtum der aktiven Sterbehilfe, die wir in dieser Gesellschaft genau aus diesem Grunde verboten belassen. Denn wenn man Totkranken zum Tode verhilft, dann erlöst man sie nur vom Elend; der Kranke tritt dann relativ deprimiert, ausgezehrt, verbraucht aus dem Leben - und er tritt uneffektiv ins Nichts, weil er ohnehin gestorben wäre. Er ermöglicht damit der Gesellschaft keinen Gewinn, denn abgetreten wäre er sowieso. Jemanden human sterben lassen bedeutet aber, ihn in blendender Verfassung dem Tod zu übergeben, sodass er eine Freude hat am Hinübergehen, dass er davon etwas mitbekommt, sich bewusst verabschieden kann - und es bedeutet auch, human zur Gesellschaft sein, weil man sie von einem Esser befreit hat. Human sterben heißt, wenn es am schönsten ist abzutreten - subjektiv betrachtet. Human sterben heißt objektiv besehen: einem noch lange währenden Leben ein Ende setzen.

Aber nein, Frau L., ich versuche Sie zu nichts zu bewegen. Ich dränge Sie mitnichten! Das dürfte ich auch gar nicht - im Gesetz steht lediglich, dass der Mitarbeiter der Rentenversicherung den Rentenbezieher über die Sachlage aufzuklären hat. Was dabei Sachlage ist, ist nicht genauer definiert. Aber zum Freitod überreden oder dergleichen - also Frau L., Sie haben ja eine lebhafte, eine makabere Phantasie! Vielmehr ist es doch so, dass ich Ihnen meine Gedanken laut mitteile - Konsequenzen teile ich Ihnen aber nicht mit. Schlüsse müssten Sie schon selbst ziehen, wenn Sie welche ziehen wollten - das kann Ihnen niemand abnehmen. Wie wir indes jeden eine Rente zuteilen könnten, wenn alle so gesund, so stur und erdverwachsen wären wie Sie, vermag ich, vermag die Gesellschaft allerdings nicht zu beantworten. Auch wenn vielen so eine langlebige Sturheit stinkt, Ihr Leben nehmen wir Ihnen nicht weg, nicht mal Ihre Rente wird einbehalten solange Sie leben. Aber viel gesellschaftliches Wohlwollen dürfen Sie natürlich nicht mehr erwarten. Der Preis für ein langes Leben ist die Verachtung - wir als Behörde unterstützen die niederen Instinkte des Stammtisches nicht; wir können ihnen aber auch nicht entgegentreten. Was wir jedoch können: diejenigen, die mit Verachtung zu rechnen haben, schon vorher warnen und ihnen Gedanken mitteilen, wie sie dieser Drohung entrinnen können. Sehen Sie meine Auslassungen also als Ratschlag.

Und ich betone abermals, auch weil ich es gesetzlich muß: niemand will Sie tot sehen! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft, in einer Demokratie - und das schon seit beinahe durchgehend einem Jahrhundert. Die Gerüchte von der Straße, in denen es heißt, wir hätten eine Sterbehilfeabteilung, die sind Humbug, phantastische Märchen. Nein, niemand möchte Sie tot sehen - aber wenn Sie sich selbst tot sehen wollten, einfach weil Sie zum Entschluss gekommen wären, dass Sie nun lange genug das Brot anderer Menschen verspeist haben, dann stünde Ihnen das Gemeinwesen nicht im Wege, dann würden Sie auch tatkräftige Hilfe erhalten. Keine Hilfe aus Sterbeabteilungen, die es in unserem Hause gar nicht gibt - privatwirtschaftliche Hilfe: durch das bereits erwähnte Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems waren alle Pflegedienste dazu verpflichtet, einen Sterbedienst einzurichten, die allerdings verdeckt zu halten seien, nur auf Nachfrage offenbart werden dürfen. Auf Antrag wäre unsere Behörde dazu verpflichtet, Ihnen einen solchen Heimgehungsdienst, wie er amtssprachlich genannt wird, zu bezahlen - das heißt, wenn Sie sich freiwillig dazu entscheiden würden, einen solchen Dienst in Anspruch zu nehmen. Was Sie ohnehin auf dem Antrag ankreuzen müssten, dort wo es heißt "Haben Sie sich freiwillig dazu entschlossen, einen solidarischen Heimgehungsdienst zu kontaktieren?" Alles freiwillig, Frau L., denn wir leben in einer Gesellschaft der Freiwilligkeit - und Freiwilligen helfen wir nur gerne. Der moderne Sozialstaat belohnt den guten Willen seiner Kinder.

Nein, Frau L., niemand nötigt Sie - aber Sie sollten über Ihre Rechte informiert sein. Und es wäre Ihr gutes Recht, einen Sterbebegleiter in Anspruch zu nehmen. Er würde Sie kein Geld kosten. Sie würden von ihm eine Spritze bekommen, langsam eindösen, bei erhabener Musik, jedoch in Abwesenheit Ihrer Familie, um die Tarnung der Sterbedienste zu gewährleisten. Glauben Sie aber nur nicht, es handelte sich dabei um aktive Sterbehilfe - passive Begleitung ist das, denn der Sterbebegleiter ist keine Sterbehilfe, er begleitet nur und setzt die Spritze, die Sie ja mittels Ihres freien Willens beantragt haben - die damit nicht er intramuskulär injiziert, sondern Ihr freier Wille. Der Sozialstaat soll zwar aktivieren, liebe Frau L., aber aktive Sterbehilfe leistet er nicht - wer den Staat um die Milde des Todes bittet, der wird von ihm begleitet, der bekommt übrigens auch die Beerdigung anteilig bezahlt. Der Antrag hierzu findet sich im Antrag für Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes.

Das war es auch schon für heute. Ich werde Sie kommende Woche erneut einladen, eine erneute Anhöhrung wird dann fällig sein. Das Gesetz zwingt mich dazu, Sie nun regelmäßig vorstellig werden zu lassen - bei Krankheit bitte ich Sie, mir umgehend eine Bettlägrigkeitsbescheinigung zukommen zu lassen. Gleichwohl muß ich Sie darauf hinweisen, von der Existenz sogenannter Sterbedienste Stillschweigen zu bewahren. Auch dazu sind Sie im Rahmen des Kooperationsparagraphen verpflichtet. Sollten Sie dem zuwiderhandeln, so muß ich laut Paragraph X einen Verwaltungsakt einleiten, in dem ich für Sie einen Antrag zur Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes einreiche, der außerdem mit einem Eilt!-Stempel versehen wird. Der Abschnitt, der die Freiwilligkeit Ihrer Entscheidung behandelt, entfällt bei einem solchen Verwaltungsakt, weil Sie zeitgleich für unzurechnungsfähig erklärt werden und umgehend einen Vormund erhalten, der von der Rentenbehörde gestellt wird. Dieser wiederum unterliegt zwar seinem Gewissen - aber sein Gewissen ist dazu gesetzlich angehalten für effektive und faire Rentengelderverteilung zu stimmen.

Frau L., wir sind keine Barbaren, auch wenn man uns im Volk nicht sehr schätzt. Mit uns kann man reden, wir sind freundlich - und wir widmen uns kompetent jedes Einzelfalles. In diesem Sinne, Frau L., bis nächste Woche...



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