Im Wandel der Zeit

Freitag, 20. November 2009

"Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen."
- Kurt Tucholsky -
Ohne zu mäkeln wird die fürsorgliche Ehefrau die Bitte ihres Mannes umsetzen und ihm einen Broccoliauflauf servieren. Broccoli, welches er einst als billiges, fast erbärmliches Gemüse des kleinen Mannes ansah, als Unterschichten-Grünzeug! Nun soll es Einzug in die heimische Küche finden. Ein köstliches Gericht: das proletarische Kreuzblütengewächs mit einem braungebackenen, gutbürgerlichen Käse überzogen. Obwohl es mundete und man sich schnell zum baldigen Wiederzubereiten entschloss, war man sich im familiären Kreise schnell darüber einig geworden, dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
So nahmen also die Kartoffeln - die man reichlich dazugab - einen Großteil von Broccolis Platz ein, trotz des Umstandes, dass dies grüne Gewächs der Namensgeber war und auch blieb. Kartoffel-Mehrheit hin oder her, im Familienkreise sprach man fortan vom Broccoliauflauf.

Sellerie und Karotten waren die nächsten Zutaten, die dem Broccoli Gesellschaft leisten sollten. Freilich reduzierte sich das Grün im Gesamtbild erneut. Kam die Familie aber überein, man wolle gratiniertes Gemüse, so schrie sie weiterhin: Broccoliauflauf!
Erneut Grünverlust: Paprika, Zucchini und Aubergine fanden Zugang unter die Käsekruste. Andere Zutaten, vornehmlich Hülsenfrüchte, wurden nach einmaliger Verwendung sofort wieder ausgeladen - doch dies Zurücknehmen mehrte den Zuspruch des Broccolis nicht. Und schon bevor man sich entschloss, dem Vegetarischen zu entkommen, indem man Speckscheiben vor dem Käsestreuen auflegte, war der Namensgeber Minderheit geworden und an den Rand gedrängt. Der bewährte Name aber blieb, ja, viel schlimmer noch: Kam das Gericht als Gemüsegratin auf den Tisch, so rätselte man, was dies wohl sein möge. Niemand wußte mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen, bis das erlösende Broccoliauflauf fiel.

Es kam, wie es kommen mußte: Erneut stand der familiäre Kollektivwunsch nach dem proletarischen, wenn nun auch verfeinerten Gericht. Dumm nur, dass ausgerechnet heute der Broccoli nicht zur Hand war. So also geschah das Unglaubliche: Ganz ohne grüne Kreuzblüten wurde geschmaust. Die Abwesenheit wurde nicht einmal bemerkt. Warum aber etwas Bewährtes, etwas dass jeder versteht, anders benennen?

Nun könnte man vom Lauf der Zeit sinnieren, der einstige Helden stürzt oder vergangene Werte und Genüsse verteufelt. Tut man dies, so muß aber auch das Neue – der Platzhalter, das Surrogat - mit in die Überlegungen eingeschlossen werden, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert: Ein blasser Blumenkohl soll diese Rolle spielen: Broccoli war aus dem Haushalt verbannt. Keiner wußte so recht, warum dies so war, aber der Lauf der Zeit kann nicht immer erklärt werden. Er waltet seines Amtes, ohne Fragen zu beantworten und viel zu oft erkennt man Veränderungen gar nicht aus dem Alltagsblick heraus. So nahm der farblose Doppelgänger fortan die Rolle ein, die anfangs dem einstigen Namensgeber zuteil wurde.

Das jüngste Familienmitglied, um dies trostlose Stück zu einem baldigen Ende zu führen, kannte dies Mahl nur als Broccoliauflauf, so wie Eltern es lehrten und Geschwister dies nachäfften. Während sich aber letztere zumindest an etwas Grünes erinnern und mit viel Geistesanstrengung dem Grünen sogar den passenden Namen zuteilen können, bleibt dem Jüngsten dieses Wissen versperrt: Sein Broccoli ist Blumenkohl und sieht er ihn am Verkaufstische, so meint er zu wissen: Das ist Broccoli, das tragende Ingrediens und Fundament des Gerichts.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist so eine vergangene Broccolinatur. Das proletarische Grüngewächs, der politische Auswuchs des Arbeiters: All das wurde Stück für Stück entfernt und durch andere Werte und Ideale ersetzt. Diese neuen Zutaten verfälschten den Geschmack der Sozialdemokratie, raubten des Broccolis Eigenheit. Ganz verschwand das einstige Wesen des Sozialen nicht, und mit einiger – wenngleich weniger – Berechtigung, durfte man weiter von einer sozialen und demokratischen Partei sprechen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Broccoli ausging, bis das geschmackstragende, aber schon lange sterbende Gemüse weggelassen wurde.

Aber selbst als die Sozialdemokratie ihr Wesen vollends verlor, konnte man sie als Alternative ansehen, die zwar nicht ernstzunehmen war, aber immerhin keiner politischen Klamaukshow gleichkam. Dann aber entdeckten die führenden Köpfe den Blumenkohl, experimentierten damit und befanden ihn würdig der neuen Ideologie der Partei. Um niemanden zu verwirren, um die jüngeren Genossen scheinbar in eine Ahnengalerie zu hieven, der schon den Urgroßvater angehört hatte, blieb man dabei, weiterhin alles Broccoli zu nennen, so wie es überliefert wurde. Keiner merkt mehr, dass man nun Blumenkohl als Broccoli getarnt untermengt, dass man knallharte Arbeitgeberpolitik unter dem Namen einer ehemaligen Arbeiterpartei vertritt. Und vertritt einer der Köche nicht bis ins kleinste Detail die Ansichten des Blumenkohlismus, so stempelt man ihn zum unverbesserlichen Broccolianer, der auf ewig im Gestern lebt.

11 Kommentare:

Anonym 20. November 2009 um 16:53  

Ich meine mich erinnern zu können, dass Wolfram Siebeck den Blumenkohl einmal einen "ordinären Stinker" nannte. Insofern haben Sie mit dem Blumenkohl genau den richtigen ausgesucht.

Anonym 20. November 2009 um 17:20  

Zum Glück hat die Grippe ihre Verve nicht gemindert.
Ich steh auf Broccoli und deshalb geht meine Stimme nun stets zur Broccolipartei (die unverfälschte).
Gute Besserung an den Broccolianer im Homburger Klinikum.

Anhänger des 04.08.1789

antiferengi 20. November 2009 um 17:43  

Sehr Treffend.
Aber Mein Gott. Jetzt hab ich Hunger das es kracht.

christophe 20. November 2009 um 19:43  

Felicitaton! Der beste Beitrag seit langem! Mehr von dieser Grippe!

carlo 20. November 2009 um 22:35  

Auf einem backofenfesten Teller den bereits gekochten Reis flach verteilen, Brokkoliröschen gleichverteilt auflegen, ordentlich mit Muskat, Pfeffer und Sals würzen, gleichmäßig mit feinst geschnittenen Emmentaler Scheiben belegen und kurz bei großer Hitze überbacken. Sozialdemokraten sollten anstelle des Brokkolies Blumenkohl nehmen, weil sie dann weniger verwerfliches Gewürz brauchen.

landbewohner 21. November 2009 um 02:31  

schön daß du wieder auf dem damm bist.
aber - auch blumenkohl kann man essen - vor allem auch deshalb, weil broccoli hier in den nördlicheren gefilden schlecht im garten gedeiht - das ,was da als spd firmiert aber ist ungeniessbar bis hochgiftig.

maguscarolus 21. November 2009 um 09:48  

Um im kulinarischen Bild zu bleiben:

Gerne nimmt man Reformen an, die eine Verbesserung bedeuten.

Leider ist der sozialdemokratische Auflauf mittlerweile zu einem ungenießbaren Ersatzprodukt der Nahrungsmittelindustrie verkommen, und es ist nur folgerichtig, wenn die Leute sich wieder auf die Originalzutaten besinnen.

Frank Benedikt 21. November 2009 um 14:00  

Na, mein Bester - wieder genesen?
Hübsches Gleichnis, das Du da gebracht hast und ich habe mich köstlich amüsiert.

Der gute "Tucho" hat es, wie so oft, ja wieder trefflich gesagt und es erfordert m.E. Cojones, da noch was eigenes drunterzuschreiben ;-) Hast Du aber elegant gelöst :-)

LG
Frank

Schall und Rauch 23. November 2009 um 01:40  

Auszug aus dem Abkürzungslexikon...

SPD = Sichsozialdemokratischnennende Partei Deutschland

(bei Bedarf ergänzen)

Anonym 23. November 2009 um 09:52  

Der Lebensmittelgesetzgebung sei es gedankt!
Auch mit homöopathischen Dosen darf der Brokkoliauflauf weiter so bezeichnet werden!

Vielleicht sollte sich die SPD dementsprechend in H(omöopathische)PD oder HSPD umbenennen :)

Anonym 25. November 2009 um 21:10  

Thomas Mann, ick hör dir trapsen....
Köstliche Stilparodie!

Gruß von
stellasirius

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