Mein Abgeordneter - Teil 4

Samstag, 7. Juni 2008

Fortsetzung vom 1. Juni 2008
Teil 2 vom 29. Mai 2008
Teil 1 vom 28. Mai 2008

Schritt 4: Der mündige Bürger hat mehr Eigeninitiative zu zeigen!


Das alles war bisher ganz nett anzusehen. Sicher hatten wir unsere Freude an seinem genervten Auftreten, seinen manchmal verständnislos wirkenden Gesichtszügen. Aber da man den Bürgern unserer Gesellschaft immer wieder eintrichtert, dass Stillstand ein stillschweigender Rückschritt ist, wollen wir uns also gar nicht erst ausruhen. Der Fortschritt unseres politischen Engagements und das Wachstum seiner Not sind unsere nächsten Ziele. Es sei nochmals daran erinnert, dass wir ihm nichts Schlechtes wollen. Freilich liest es sich nicht freundschaftlich, wenn wir seine Not anwachsen lassen wollen, aber wir tun das alles im Sinne politischer Mündigmachung unseres Delegierten. Wir wollen nur sein Bestes, auf keinen Fall – so wie es böse Zungen verkünden – wollen wir ihm nachstellen oder ihm auf Raten an den Kragen. Sowas müssen wir uns auch nicht nachsagen lassen, nur weil wir uns intensiv mit unserem Mann im Parlament auseinandersetzen.
Nun wird es aber höchste Zeit, uns über das Abstimmverhalten unseres Mannes, aber auch über seine An- und Abwesenheitszeiten im Parlament, zu informieren. Das Internet bietet dort vielfältige Informationsmöglichkeiten, die wir als mündiger Bürger auch nutzen werden. Auf keinen Fall werden wir Abwesenheiten wortlos hinnehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine wichtige Abstimmung oder um eine Formalie handelt. Immerhin wollen wir an allen Entscheidungen in diesem Lande teilhaben. Wie aber soll das gehen, wenn unser Mann nicht vor Ort ist? Doch wir schelten ihn nicht, sondern nutzen den Zaunpfahl: „Waren Sie krank?“ Verneint er das, so werden wir ihm einen verständnislosen Blick zuwerfen. Nach einer Weile bieten wir an, ihn zukünftig in Hohen Haus zu vertreten, wenn er verhindert sein sollte. Schließlich sei es doch nur eine Unwesentlichkeit, ob nun die Vertretung dort ihr Mandat erfüllt oder die Hauptperson selbst erscheint. Da es uns an Zeit mangelt, haben wir einen Vertreter gewählt. Wenn nun dieser keine Zeit hat, werden wir in jenem Moment nicht angehört. Gleichfalls lassen wir sein Abstimmverhalten nicht kritiklos über die Bühne wandern. Sollte es – wie es nicht selten vorkam in den letzten Jahren – so sein, dass die meisten Menschen eine Reform oder ein Gesetz nicht wollen, weil sie es vielleicht als Spionageakt gegenüber ihrem Privatleben, als Existenzvernichtung oder gar als blanke Dummheit ansehen, und unser Mann an der Quelle stimmt trotzdem dafür, sollten wir ihn festnageln und mit sokratisch-naiven Fragen traktieren. Nein, wir wollen ihm nicht drohen. Wir wollen ihn nur verstehen.
Da es uns alle verärgerte, als die Mehrzahl der Abgeordneten Bespitzelungsattacken gewährt hat, sollten wir diesen Herrschaften aufzeigen, wie sehr wir diese Schnüffelei verachten. Wenn also unser ehrenwerter Mann wider Erwarten Gegenstand einer Klatschkolumne werden sollte, weil er seine Gattin betrogen hat, ein gleichgeschlechtliches Sexualleben führt oder perverse Kopulationspraktiken mit Honigmelonen ausübt, verfallen wir nicht ins Moralisieren und Schelten seiner Person, sondern halten die ganze Prozedur des Breittretens seiner Privatheit für unmoralisch. Dennoch verbitten wir uns, dass er seine von uns verliehene Aufgabe, die er ja nicht gratis, oft aber umsonst tut, mit solchen Nebensächlichkeiten vernachlässigt. Gleichermaßen verbitten wir uns, dass er unseren guten Namen als unbescholtenen Bürger und folglich Wähler, durch seine privaten Eskapädchen in Verruf bringt. Zuweilen ist auch er von unseren Eskapaden erschüttert, wenn er uns beispielsweise unterstellt, täglich mehrere Stunden mit Biertrinken und Kohlenhydratessen zu vertrödeln. Auch er wettert dann, fühlt sich in Verruf gebracht, weil seine Schäfchen verfehlen. Tun wir es ihm gleich!

Fortsetzung folgt...

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