Anne Will hat sich noch immer nicht entschuldigt!

Montag, 9. Juni 2008

Anne Will hat sich also entschuldigt, beugte sich dem Druck der öffentlichen Entrüstung. Will: "Wir haben die Verschuldung des Stadtstaates Berlin fehlerhaft dargestellt. Wir bedauern diesen Fehler und wollten dies natürlich gerne noch einmal klarstellen." - Den Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Pflüger wird es freuen. Mit aller Macht strebte er ins Rampenlicht und nun wurde diese mediale Geltungssucht auch noch mit einem Erfölgchen belohnt. Um welche Fehler es genau ging, hat wohl für die Mehrheit der Zuschauer keine Rolle gespielt, war nur ein Beiwerk im ewigen Widerstreit der Parteien. Ein Streit, der stattfinden muß, damit das Wahlvolk ernsthaft glauben kann, in einem Land der Wahlmöglichkeiten zu leben. Dass sich alle Parteien den gleichen Vorstellungen markttreuen Vasallentums unterwerfen, diese Vorstellungen auch konkret in Parteiprogramme und - schlimmer noch - in die Gesetzgebung des Landes einbinden, soll mit solchem Parteigeplänkel unkenntlich gemacht werden. Aber unterlassen wir dies, denn von Interesse soll für uns nur sein, dass Anne Will reuig zu Kreuze kroch, des Pflügers medialen Amoklauf angstvoll zu dessen Ziel führte und damit - ob bewußt oder unbewußt - wieder einmal bewiesen hat, dass die Belange anderer, nämlich von der Gesellschaft ausgeschlossener Personen, keinerlei Widerhall in den Aufnahmestudios und den dazugehörigen Büros finden.

Warum? - Wills Fehlinformation zur Berliner Staatsverschuldung entsprang der Sendung vom 1. Juni 2008, doch eine Woche zuvor, in der Sendung vom 25. Mai 2008, wurde ein Fehler größerer Tragweite getätigt und der Protest, der sich übrigens nur leise und meist in Form diverser Weblogs äußerte, einfach weggefegt oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Unter dem bezeichnenden Sendethema "Hungern muß hier keiner - Ein Land redet sich arm" (Man beachte: Hier wird nicht mal eine Frage gestellt, sondern sofort eine Behauptung zementiert!) wurde in bekannter Manier gegen Bezieher des Arbeitslosengeldes 2 gehetzt. Besonders menschenverachtend und aggressiv zeigte sich ein Gast der feinen Runde. Auftritt Rita Knobel-Ulrich: "Hartz IV alimentiert die Menschen ganz gut. Vater, Mutter und zwei Kinder bekommen 345 Euro pro Erwachsenen, 247 Euro pro Kind, plus Wohngeld, plus Heizung, plus Strom, plus Krankenversicherung. Das sind circa 2000 Euro im Monat. Das muss man erst mal verdienen! Ein Mann, der vielleicht der einzige Verdiener ist, der im Kindergarten den höchsten Satz zahlt, weil man sagt 'Du hast ja Arbeit', der jeden Tag sieht, dass seine Tankfüllung teurer wird, dem nicht angeboten wird, dass er ein Sozialticket für die U-Bahn bekommt, der muss mit diesen 2000 Euro ganz schön haushalten." - Man kann kaum in einem Satz abhandeln, was an diesen wenigen Zeilen gelogen, verdreht und manipuliert wurde. Wir versuchen es, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Zunächst erhält ein verheirateter Erwachsener keine 345 Euro - sie meinte zudem wohl 347 Euro, schon da wird meßbar, wie hier recherchiert wurde -, sondern 312 Euro. Die Regelsätze für Kinder betragen: 208 Euro für Kinder bis 13 Jahre; 278 Euro für Kinder ab 14 Jahre - woher ihre Zahlen zu den Regelsätzen bei Kindern stammen, bleibt rätselhaft. In den erstatteten Heizkosten sind nicht die Kosten für Warmwasserbereitung enthalten, denn diese sind bereits im Regelsatz mitgerechnet. Strom wird nicht erstattet, ist vom Regelsatz selbst zu bezahlen. Zudem, und dies hat Knobel-Ulrich gekonnt überspielt, wird das Kindergeld komplett angerechnet. Diese Frau spricht in voller Ernsthaftigkeit von 2000 Euro, die eine vierköpfige Familie im Monat bekäme. Dazu sei angemerkt, dass eine achtköpfige Familie (Eltern, vier Kinder bis 13 Jahre, zwei Kinder ab 14 Jahre) knapp über 2000 Euro erhält. Natürlich ist da noch die Unterkunft anzurechnen, aber dennoch zeigt dieser Vergleich auf, welche Zahlen der Wahrheit, welche der Knobel-Ulrichschen Phantasie entspringen und in welchen Relationen hier geschwindelt wird.
Eine Entschuldigung Wills blieb aber aus! Obwohl man durchaus von einer größeren Tragweite sprechen kann. Es ist tatsächlich schlimmer, wenn man die Lebenssituation von denen, die es sowieso schon schwer haben, wie eine paradiesische Insel innerhalb der Gesellschaft interpretiert, um Ressentiments zu schüren, als das Parteiengeplänkel um die Berliner Staatsverschuldung falsch darzustellen. Und wenn man die "Berichterstattung" zum Sozialthema so gestaltet, dass man damit Stimmung erzeugt, die Bezieher von Arbeitslosen 2 brandmarkt und vorverurteilt, dann ist es nicht nur von größerer Tragweite, sondern schlicht unethisch und - man verzeihe mir - kriminell. Zur Volksverhetzung ist es da nicht mehr weit, wenn sie nicht gar schon erreicht ist.

Nun könnte man freilich festhalten, dass es nicht Anne Will selbst war, die in besagter Sendung Fehlinformationen verkündet hat. Immerhin sprach Rita Knobel Ulrich in dieser fehlerhaften und ressentimentschürenden Weise. Dem ist aber entgegenzusetzen, dass man davon ausgehen darf, dass die verlesenen Zahlen zum Berliner Staatshaushalt sicher ebensowenig von Will selbst recherchiert wurden, sondern von einem oder mehreren Mitarbeitern der Redaktion der Sendung. Wenn sie sich also für die falsche Recherche ihrer Mitarbeiter entschuldigt - und sie entschuldigte sich ja gestern nicht für sich selbst, sondern sprach von einem Wir -, warum dann nicht ebenso für falsche Recherche eines Gastes? Außerdem hätte eine kluge und redegewandte Journalistin - als die sich Anne Will ja selbst sieht - spielend die Zahlen Knobel-Ulrichs widerlegen können, ohne stundenlanger Recherche im Vorfeld. Die Zahlen sind für jene, die sich damit befassen - und ich gehe optimistisch davon aus, dass sich jemand, der eine solche Sendung leitet, viel und oft damit befaßt -, durchaus bekannt und hätten eigentlich sofort zum Widerspruch animieren müssen. Anne Will hätte sich also durchaus dafür entschuldigen können, dass sie ihrer Rolle als Moderatorin und Journalistin an diesem 25. Mai nicht gerecht wurde, da sie nicht eingeschritten sei und damit den Eindruck erweckt habe, nichts gegen Stimmungsmache gegen Erwerbslose zu haben. Außerdem, man möge die naiven Ansicht verzeihen, hat jemand, dessen Sendung seinen eigenen Namen trägt, für alles Gesagte und Getane innerhalb dieser, die Verantwortung zu übernehmen. Die Blogger dieser Erde wissen ein Lied davon zu singen. Sie tragen für jeden Kommentar, den sie auf ihrer Seite zulassen, die Verantwortung, werden sogar dafür gerichtlich belangt, sofern das Geschriebene eines Fremden gegen ein Gesetz verstößt.

Wird sie sich beugen? Wird sie sich in der nächsten Sendung für das dreiste Auftreten Knobel-Ulrichs entschuldigen? Das Ansehen von Millionen von Erwerbslosen damit ein wenig geraderücken und wiederherstellen? - Man darf befürchten, dass sich der Springer-Konzern nicht in jener Weise stark machen wird, wie im Falle der falschen Darstellung der Berliner Staatsverschuldung. Außerdem verfügt die Masse der Erwerbslosen, die mehr und mehr einer Pogromstimmung ausgesetzt wird, nicht über einen bissigen Kettenhund, wie die Berliner CDU. Würde nur eines der bedeutenden Magazine dieses Landes, würde sich gar die BILD dafür einsetzen, wir würden am Sonntag eine devote Will erleben, wie sie sich beugt vor dem Druck der Printmedien, wie sie sich windet vor dem Angesicht der Erwerbslosigkeit, wie sie ihre unterlassene Intervention entschuldigt! Aber so, alleine mit der Wahrheit und dem Mut der ethischen Entrüstung, ist von Anne Will keine Entschuldigung zu erwarten. Und was würde es auch nützen, wenn in einer der nächsten Sendungen jemand wie Clement, der von Parasiten sprach und spricht, oder Oswald Metzger, der von kohlenhydratfressenden Alkoholikern fabulierte, auftritt?

Nein, Anne Will hat sich am Sonntag nicht entschuldigt, sondern nur dem Druck der Medien gebeugt. Und selbst wenn ihr nur ein Funken aufrichtigen Entschuldigens innewohnte, so hat sie sich doch nur bei einer kleinen Elite der Berliner CDU entschuldigt. Millionen von Erwerbslosen aber, nachgerade auch viele Millionen Aufstocker, blieben aber geschmäht und falsch dargestellt. Da saß sie diplomatisch-staatsmännisch in ihrem Stuhl, richtet ihr Wort an die Zuseher und entschuldigt sich bei einer auserwählten Elite. Millionen aber bleiben mundtot gemacht am Rande stehen. Millionen Erwerbslose, die durchaus auch Zuschauer ihrer Sendung sind. Und diese Dame entschuldigt sich bei einem erlesenen Kreis Berliner Politiker! Und tut dann auch noch so, als entschuldige sie sich beim geliebten Publikum. So weit sind wir also schon...

Nochmals: Anne Will hat sich nicht entschuldigt. Die Entschuldigung steht noch aus!

6 Kommentare:

Anonym 9. Juni 2008 um 14:24  

Rita Knobel-Ulrich ist Mitglied in der FDP und ihr Mann ist Vorsitzender des FDP-Kreisverbandes Harburg Land. Auch darauf hat Anne Will nicht hingewiesen, obwohl es sehr gut die Intention des völlig verfälschenden Films von Knobel-Ulrich und ihre Einstellung zu den sozial Schwachen aufdeckt.

Gruß

Alex

Kurt aka Roger Beathacker 9. Juni 2008 um 16:30  

Sehr guter Artikel!Aber Berliner CDU und Elite? Eher geht ein Kamel durch ein Nadeloehr ..

;-)

Anonym 9. Juni 2008 um 17:37  

Ich zitiere aus Ihrem Artikel folgendes Statement, daß ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann.

"dass die Belange anderer, nämlich von der Gesellschaft ausgeschlossener Personen, keinerlei Widerhall in den Aufnahmestudios und den dazugehörigen Büros finden"

Ich hatte vor drei Jahren die Rezension eines Gedichtbandes an eine Reihe von Redaktionen gesendet, darunter waren Literatur-Redaktion und solche, die sich mit Religion befassen. Während Literaturzeitschriften größtenteils antworteten, so kam von den Rundfunkredaktionen nicht eine einzige Reaktion.

Da der Link zur Rezension zu lang ist, hier der zu meiner Webseite. Der Text findet sich dort unter Literatur unter dem Titel: In der Hölle ist der Teufel eine positive Gestalt. Es geht mir hier nicht darum, mich zu produzieren, sondern der kritische Inhalt des Textes macht deutlich, was die Redaktionen nicht mehr veröffentlichen.:

http://www.klaus-baum.info

ad sinistram 10. Juni 2008 um 15:59  

"Aber Berliner CDU und Elite?"

Wenn wir uns unseren Humor nicht bewahren, lieber Roger, dann wäre das Dasein doch nur noch öde.

Anonym 11. Juni 2008 um 18:46  

Wir von den Aktiven Erwerbslosen haben einen Offenen Brief zu dieser Sendung veröffentlicht.

http://www.aktive-erwerbslose.de/hp
http://www.aktive-erwerbslose.de/forum

Dieser ging an Frau Dr. Ulrich-Knobel, Die Deutsche Welle - Anstalt des öffentlichen Rechts, den Deutschen Journalistenverband, ver.di, Fachbereich 8 Medien, Kunst und Industrie und die WILL MEDIA GMBH, sowie die Redaktionen von ARD, WDR und SWF.

Wir werden die Sache offensiv weiterverfolgen.

Anonym 14. Juli 2008 um 12:50  

Bei aller prinzipieller Übereinstimmung mit dem, was Du über Hartz IV schreibst, möchte ich eine kleine Korrektur vornehmen:

"Strom wird nicht erstattet, ist vom Regelsatz selbst zu bezahlen."

Diese Aussage stimmt nicht mehr ganz. Geht die Stromrechnung nämlich über das hinaus, was im Regelsatz angesetzt wurde, so wird der überschüssige Betrag (mittlerweile!) durchaus erstattet.

Dazu sollte man die Pressemitteilung des Bundessozialgerichts lesen.

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