Die Ikonologie exkludierenden Wohlstandes
Donnerstag, 19. Mai 2016
Vor dem Plakat der Fluglinie stand ein Mann, mehr einer zerschlissenen Vogelscheuche gleichend, nur nicht mit ganz so schäbigen Klamotten. Ein Mittvierziger oder ein Endreißiger, der sich schlecht gehalten hatte. Er betrachtete das Plakat mit stumpfem Blick, Palmen im Hintergrund, Vater, Mutter, Bengel in freudiger Erwartung, »Alle fliegen mit, nur der graue Alltag nicht« steht drüber. »Jetzt buchen!« Es gäbe ja auch Nachlass, »Sichern Sie sich den Frühbucherrabatt!« Der Mann stemmte seine Hände in die Jackentasche. Es war nicht sonderlich kalt, aber seine Körperhaltung war die eines Frierenden, der sich klein macht, sich zusammenkauert, um weniger Angriffsfläche für die Kälte aufzubieten. Nach einem Augenblick richtete er seine Augen wieder auf den Weg, den er gedachte zu gehen. Seine Jacke war fast noch stumpfer als sein Blick, zu dick für die Jahreszeit außerdem, zu allem Überluss hing die rechte Jackentasche zur Hälfte hinunter, seine Hand lugte halb aus der zerfetzten Höhle. Er schlurfte Richtung Discounter, musste vorbei an dem Plakat eines weiteren Reiseanbieters, der Sonne und Erholung versprach. Ob er dort allerdings auch kurz innehielt, vermag ich nun nicht genau zu berichten, denn ich bin ihm nicht gefolgt, musste in eine andere Richtung weiter. So kann ich also nur Mutmassungen anstellen und male mir folgend aus, wie er seinen Weg fortsetzt haben könnte.
Ich kenne die Strecke, die er zurückgelegt haben muss. Wenn nicht an jenem Tag, dann ist er sie wann anders gegangen. Kenne die Plakate, die Angebote, die man auf Passanten einwirken lässt. Auch vor Sonne und Erholung machte er Halt, da bin ich mir sicher, er schien sonst wenig zu tun zu haben. Glotzte die Leinwand an, so zusammengefallen von Kopf bis Fuss, wie es seiner Körpersprache zu entsprechen schien. »Eine Woche für 399 Euro p.P.« Er würde den Systemgastronomen links liegen lassen, »Der Klassiker für nur 2,09 Euro und 47 Prozent sparen!« lesen und nachrechnen. 2,09 Euro, das sind 4,18 D-Mark, - und falls er aus dem Osten kommen sollte - sind das über zwölf Ost-Mark oder eben 100 Öcken Ost, als der Laden schon zusammenfiel, je nachdem, aus welcher Zeit man kommt. Letztlich immer noch teuer, trotz rabattierter Halbierung, würde er sich gedacht haben. Etwas weiter sucht ein Laden seit einigen Wochen eine Hilfskraft, leider nur auf 450-Euro-Basis. Gegenüber suchen sie jemanden für die Kasse, 450-Euro Basis. Würde er die Parallelstraße entlanglaufen, fiele ihm vielleicht ein Schild im Schaufenster einer Autowerkstatt auf, ein optisch hübsch aufbereitetes mit €-Zeichen drauf, »Suchen dringend Mitarbeiter für Büro«, klein gedruckt drunter »auf 450-Euro-Basis«. Nirgends was zu holen.
Plakate. Anschläge. Zalando berechnet kein Porto. Amazon Prime günstig wie nie. Sky schenkt dir zwei Monate. Die Straßenbahn rattert vorbei, sie ist mit Angeboten bestrichen. »Komm ins Spa, Tageskarte ab 25 Euro!« Bestell dein Essen hier, bestell es dort. Jemand erleichtert das Leben seiner Kunden, wirbt damit, dass er dem Kunden eine Box mit den Lebensmitteln bringt, die er zur Zubereitung eines Abendessens benötigt. »Candlelight-Dinner ab 15 Euro pro Person!« Und immer wieder Urlaub, Strand, wogende Wellen, das Glück checkt ein. Warum in die Ferne schweifen, liegt der Mottopark so nah. »Kommen und staunen!« Kinder grinsen, die Eltern sehen verliebt aus, der Opa guckt lüstern vom Plakat herunter. »Übernachtung und Familienticket günstig wie nie!«
Ein Autohersteller wirbt etwas weiter hinten für sein neuestes Modell. Darauf die Karosse und eine blonde Durchschnittsschönheit mit dem Charisma einer Motorhaube. Vage Info: Auch günstig wie nie. »Informieren Sie sich jetzt über unsere attraktiven Leasingangebote!« Wäre der Mann stolzer Besitzer dieses Modells, ihm würden die vielen Plakate und Offerten gar nicht auffallen, er würde diese Angebote aus einer Welt, in der solche Werbeanzeigen auf Interesse stoßen, das es auch bezahlen kann, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Ebensowenig blieben ihm die Reklamesäule kurz dahinter fremd, die Anschläge des städtischen Kulturbetriebes, Konzerte und Stücke, Alice Cooper, der in die Stadt kommt, Billy Joel und wen es da alles noch so als Attraktion gibt. »Karten ab 36 Euro. Jetzt bestellen!« Kultur ist schon was Schönes. Das Schöne, das Gute und das Bare. Ich denke ihn mir als Joel-Kenner: »Well we're living here in Allentown / And they're closing all the factories down / Out in Bethlehem they're killing time.«
Vorbei an der Bank, die ihre Girokonten nur kostenlos anbietet, falls man es monatlich mit mindestens 1.700 Euro verziert. Vorbei an veralteten Wahlplakaten, feixende Politikergesichter, markige Sprüche, »Chancen für alle!«. Vorbei am Bauprojekt, neue Wohnungen, zum Kauf nicht zur Miete, »Für erfolgreiche junge Leute und Familen«, »Vereinbaren Sie mit uns einen Termin«. Zu Füßen des Betonkolosses Plakate, Irland lockt, »Schnäppchen buchen«, das Steakhaus erwartet seine Gäste, »Ein Softgetränk gratis!«, die Postbank berät, Versicherungen versichern »Weil Sie es uns wert sind«, Rundum-Sorglos-Pakete, Handyverträge, Wohlstand, Ausgabemöglichkeiten, Verlockungen, Sehnsüchte, Träume und eine aufgerissene Jackentasche. Tief darin vergraben die Hände. Die Fäuste? Und das nur auf dem Weg zum Einkaufen. Den Fernseher hatte er noch gar nicht an, das Internet noch nicht angeschmissen. Später würde es dort munter weitergehen.
Bis zu einem Drittel der Wähler der AfD sind arbeitslos. Eine unbekannte Größe dieser Wählerschaft arbeitet im Niedriglohnsektor, stockt auf. Diese Leute sind einer Welt ausgesetzt, in der an jeder Ecke die Symbolik eines Wohlstandes prangert, von dem sie ausgeschlossen werden. Sie sind wütend und verdammt nochmal, sie haben ein gutes Recht darauf so eine Wut in sich zu tragen, so wie man sie ökonomisch nicht mehr teilhaben lässt. Täglich begegnet ihnen ein Lebensstil, den sie sich vielleicht mal erhofft haben oder schon mal pflegten, den sie aber aufgeben mussten. Jeden Tag ein neuerlicher Spießrutenlauf, die Erinnerung daran, dass andere anders leben können, sich was leisten, sich das Leben was kosten lassen können. Auch weil wir uns die Armut im Lande nichts mehr kosten lassen wollen. Die Plakatierungen sind ikonologische Ausdrucksformen, aus denen man je nach gesellschaftlicher Herkunft verschiedene Aspekte herauslesen kann. Für die Habenichtse fühlt sich der zur Schau beworbene Reichtum an Möglichkeiten wie Zynismus an. Ja doch, die Wut ist völlig berechtigt. Wenn sie nur nicht die Falschen treffen würde ...
Ich kenne die Strecke, die er zurückgelegt haben muss. Wenn nicht an jenem Tag, dann ist er sie wann anders gegangen. Kenne die Plakate, die Angebote, die man auf Passanten einwirken lässt. Auch vor Sonne und Erholung machte er Halt, da bin ich mir sicher, er schien sonst wenig zu tun zu haben. Glotzte die Leinwand an, so zusammengefallen von Kopf bis Fuss, wie es seiner Körpersprache zu entsprechen schien. »Eine Woche für 399 Euro p.P.« Er würde den Systemgastronomen links liegen lassen, »Der Klassiker für nur 2,09 Euro und 47 Prozent sparen!« lesen und nachrechnen. 2,09 Euro, das sind 4,18 D-Mark, - und falls er aus dem Osten kommen sollte - sind das über zwölf Ost-Mark oder eben 100 Öcken Ost, als der Laden schon zusammenfiel, je nachdem, aus welcher Zeit man kommt. Letztlich immer noch teuer, trotz rabattierter Halbierung, würde er sich gedacht haben. Etwas weiter sucht ein Laden seit einigen Wochen eine Hilfskraft, leider nur auf 450-Euro-Basis. Gegenüber suchen sie jemanden für die Kasse, 450-Euro Basis. Würde er die Parallelstraße entlanglaufen, fiele ihm vielleicht ein Schild im Schaufenster einer Autowerkstatt auf, ein optisch hübsch aufbereitetes mit €-Zeichen drauf, »Suchen dringend Mitarbeiter für Büro«, klein gedruckt drunter »auf 450-Euro-Basis«. Nirgends was zu holen.
Plakate. Anschläge. Zalando berechnet kein Porto. Amazon Prime günstig wie nie. Sky schenkt dir zwei Monate. Die Straßenbahn rattert vorbei, sie ist mit Angeboten bestrichen. »Komm ins Spa, Tageskarte ab 25 Euro!« Bestell dein Essen hier, bestell es dort. Jemand erleichtert das Leben seiner Kunden, wirbt damit, dass er dem Kunden eine Box mit den Lebensmitteln bringt, die er zur Zubereitung eines Abendessens benötigt. »Candlelight-Dinner ab 15 Euro pro Person!« Und immer wieder Urlaub, Strand, wogende Wellen, das Glück checkt ein. Warum in die Ferne schweifen, liegt der Mottopark so nah. »Kommen und staunen!« Kinder grinsen, die Eltern sehen verliebt aus, der Opa guckt lüstern vom Plakat herunter. »Übernachtung und Familienticket günstig wie nie!«
Ein Autohersteller wirbt etwas weiter hinten für sein neuestes Modell. Darauf die Karosse und eine blonde Durchschnittsschönheit mit dem Charisma einer Motorhaube. Vage Info: Auch günstig wie nie. »Informieren Sie sich jetzt über unsere attraktiven Leasingangebote!« Wäre der Mann stolzer Besitzer dieses Modells, ihm würden die vielen Plakate und Offerten gar nicht auffallen, er würde diese Angebote aus einer Welt, in der solche Werbeanzeigen auf Interesse stoßen, das es auch bezahlen kann, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Ebensowenig blieben ihm die Reklamesäule kurz dahinter fremd, die Anschläge des städtischen Kulturbetriebes, Konzerte und Stücke, Alice Cooper, der in die Stadt kommt, Billy Joel und wen es da alles noch so als Attraktion gibt. »Karten ab 36 Euro. Jetzt bestellen!« Kultur ist schon was Schönes. Das Schöne, das Gute und das Bare. Ich denke ihn mir als Joel-Kenner: »Well we're living here in Allentown / And they're closing all the factories down / Out in Bethlehem they're killing time.«
Vorbei an der Bank, die ihre Girokonten nur kostenlos anbietet, falls man es monatlich mit mindestens 1.700 Euro verziert. Vorbei an veralteten Wahlplakaten, feixende Politikergesichter, markige Sprüche, »Chancen für alle!«. Vorbei am Bauprojekt, neue Wohnungen, zum Kauf nicht zur Miete, »Für erfolgreiche junge Leute und Familen«, »Vereinbaren Sie mit uns einen Termin«. Zu Füßen des Betonkolosses Plakate, Irland lockt, »Schnäppchen buchen«, das Steakhaus erwartet seine Gäste, »Ein Softgetränk gratis!«, die Postbank berät, Versicherungen versichern »Weil Sie es uns wert sind«, Rundum-Sorglos-Pakete, Handyverträge, Wohlstand, Ausgabemöglichkeiten, Verlockungen, Sehnsüchte, Träume und eine aufgerissene Jackentasche. Tief darin vergraben die Hände. Die Fäuste? Und das nur auf dem Weg zum Einkaufen. Den Fernseher hatte er noch gar nicht an, das Internet noch nicht angeschmissen. Später würde es dort munter weitergehen.
Bis zu einem Drittel der Wähler der AfD sind arbeitslos. Eine unbekannte Größe dieser Wählerschaft arbeitet im Niedriglohnsektor, stockt auf. Diese Leute sind einer Welt ausgesetzt, in der an jeder Ecke die Symbolik eines Wohlstandes prangert, von dem sie ausgeschlossen werden. Sie sind wütend und verdammt nochmal, sie haben ein gutes Recht darauf so eine Wut in sich zu tragen, so wie man sie ökonomisch nicht mehr teilhaben lässt. Täglich begegnet ihnen ein Lebensstil, den sie sich vielleicht mal erhofft haben oder schon mal pflegten, den sie aber aufgeben mussten. Jeden Tag ein neuerlicher Spießrutenlauf, die Erinnerung daran, dass andere anders leben können, sich was leisten, sich das Leben was kosten lassen können. Auch weil wir uns die Armut im Lande nichts mehr kosten lassen wollen. Die Plakatierungen sind ikonologische Ausdrucksformen, aus denen man je nach gesellschaftlicher Herkunft verschiedene Aspekte herauslesen kann. Für die Habenichtse fühlt sich der zur Schau beworbene Reichtum an Möglichkeiten wie Zynismus an. Ja doch, die Wut ist völlig berechtigt. Wenn sie nur nicht die Falschen treffen würde ...
2 Kommentare:
Schöner Text großer Text.
Sollte in die Schulbücher.
MfG M.
"Wenn sie nur nicht die Falschen treffen würde.."
Genau da liegt das Problem. Und was tun 'wir', das es endlich mal die Richtigen trifft?
Kommentare schreiben die von den Leuten nicht gelesen werden die es angeht! Auf beiden Seiten.
Ich weiß auch nicht, wie diese Menschen erreicht werden können und ob die das überhaupt wollen. Viele sind inzwischen soweit in die Resignation abgesunken das ihnen alles am Arsch vorbei geht. fertig.
MfG: M.B.
Kommentar veröffentlichen