Taksim ist überall!

Samstag, 29. Juni 2013

Zwei Polizisten aus Westerburg haben einen mit Handschellen fixierten Mann geschlagen. Einer der Polizisten benutzte seine Fäuste, der andere trat mit den Füßen zu. Der Übergriff wurde gefilmt und kann online abgerufen werden. Westerburg klingt nicht türkisch. Es liegt nicht zufällig gleich am Taksim-Platz? Und ich nehme ferner nicht an, dass die beiden deutschen Polizisten in der Türkei Deeskalationsunterricht genommen haben.

Nur zwei Wochen nachdem sich die deutsche Medienlandschaft über die Härte der türkischen Polizei entrüstete und danach lechzte, es möge vielleicht doch noch mehr geschehen als nur Tränengaseinsatz und Knüppelorgie, zieht man mal wieder auf Deutschlands Straßen nach. Das Echo im Medienbetrieb fällt hierzu aber eher spärlich aus. Einige kleinere Artikel gibt es zwar, die spannen aber allesamt nicht den Bogen zum Bericht von amnesty international, in dem es vor einigen Jahren schon hieß, dass die Polizeigewalt in Deutschland ein mehr als ungesundes Wachstum zeige.

Mir stellt sich die Frage erneut: Ei oder Henne? Wer betrat zuerst die Szenerie? Haben sich deutsche Polizisten die harte Tour in der Türkei abgeschaut? Oder hat man der türkischen Polizei empfohlen, so brutal vorzugehen, wie es der teutonische Primus Europas tut?

Wahrscheinlich war es eine parallele Entwicklung, so wie Frikadelle und Köfte sich ohne Kenntnis voneinander ähnlich entwickelten. Wenn man erstmal einen Batzen Hackfleisch hat, ist es bis zum gewürzten und portionierten Fleischgebilde nicht mehr sehr weit. Nur die Fleischart, die Gewürzsorten und die Portionierungsweise richten sich nach Präferenzen und Angebot. Der Polizist gleicht überall auf der Erde dem Hack. Wenn man erstmal junge Männer in Uniformen steckt und ihnen einbläut, Arroganz sei ein polizeiliches Vorrecht, dann kommt egal in welchem Teil der Welt, immer ein ähnliches Auftreten dabei heraus. Man muss sich nichts abschauen, die Grundsubstanz bringt am Ende immer irgendetwas heraus, was wie eine Frikadelle aussieht.

Man kann sein Waterloo oder sein Cannae erleben. Das sind Orte, die im Laufe der Historie zur Konnotation eines Zustandes wurden. Kann man einem nun auch sein eigenes Taksim beibringen? Das wäre unfair, denn der Stuttgarter Schlossgarten war früher da. Hat der Mann, der von den beiden Polizisten in Westerburg geprügelt wurde, nun sein Taksim oder seinen Schlossgarten erlebt? Die bessere Parole hatten die Türken. Die riefen: Taksim ist überall! Manchmal auch in Westerburg.

Taksim ist überall! Heute: Westerburg.
Jetzt wird irgendein Meier oder Huber besorgt einwenden: Aber die massenhafte Polizeigewalt in Istanbul ist doch nicht mit der Verfehlung zweier deutscher Beamter gleichzusetzen. Fehlt noch, dass der Meier oder Huber von Einzelfall spricht, dem bewährten sprachlichen Weichmacher, wenn mal wieder entkräftet und relativiert werden soll. Ich bleibe aber hart und behaupte: Doch, das ist vergleichbar - es ist dieselbe Seite der Medaille. Hier wie dort laufen Polizeiapparate aus dem Ruder, werden zu reinen Besitzstandswahrer-Armeen, die ihre gepflegte Menschenverachtung auch in kleine Fälle, bei Festnahmen und im polizeilichen Tagesgeschäft hineintransportieren. Wenn man beigebracht bekommt, die Prätorianergarde einer Gesellschaft zu sein, dann ist der Schritt zu Arroganz und Willkür nicht mehr weit. Das ist der Beginn, der direkt zu brutalen Handgriffen weist und Faustschläge bei Festnahmen normalisiert. Am Ende dieser Skala steht dann der hemmungslose "Bürger in Uniform", der auf Kinder und Greise einschlägt und die Leberwursttaktik anwendet: In die Mitte der Masse reinstechen, damit sie aufplatzt.

Abgehobenheit, Beamtenwillkür, lockerer Hang zum gewaltsamen Übergriff, Faustschläge und Tritte, Gummiknüppel und so weiter sind polizeiliches Lebensgefühl. Der Bürger in Uniform ist ein Snob in Uniform, der gegen das Fußvolk aufgestellt wird. Das ist in Istanbul so und in Westerburg. Und in Madrid, Athen und Rio wird es nicht anders sein. Die Polizisten aller Länder wissen heute mehr denn je, dass sie eine auserwählte Gemeinschaft sind. Warum einen kleinen Ganoven als Bürger auf Augenhöhe sehen? Nimm, du Hund! Steck ein! Was störst du auch unsere Kreise!

Über dieses kleine Taksim in Westerburg spricht man wenig. Polizeigewalt ist nach Verständnis der hiesigen Qualitätsmedien ein türkisches Problem. Und bleibt es auch. Übergriffe wie dieser sind nur Randnotiz, sind Einzelfall und nicht nennenswert. Würde die türkische Öffentlichkeit Polizeigewalt so galant thematisch umgehen, würde man das als die Auswüchse einer Despotie entlarven.


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Nur eine entspanntere Form von Arbeitszeit

Freitag, 28. Juni 2013

oder Für Unternehmen ist Freizeit nur Arbeitszeit, die fruchtbar gemacht werden muss.

Neulich berichtete der hessische Systemfunk vom Teambuilding. Im Extremfall - was Idealfall wäre! - würden hierbei die Belegschaften von Firmen zur Stärkung ihrer Teambelastbarkeit am Hochseil balancieren oder Steilwände emporklettern. Die "Expertin" für Arbeitswelt des hessischen Rundfunks beurteilte diese Extreme zwar zwiespältig. Aber wenn man regelmäßig mit den Kollegen sein Privatleben teilte, so beratschlagte sie ins Land hinaus, würde das die Teamfähigkeit immens steigern. Es reichten ja auch weniger extreme regelmäßige Unternehmungen. Man könne ja auch regelmäßig seine Abende miteinander verbringen oder so.

Kollegialität auch außerhalb der Arbeitszeit fördert die Produktivität.
Szene aus Moderne Zeiten

Nun könnte man mit den Schultern zucken und behaupten, dass in der vor- bis hin zur frühkapitalistischen Zeit, die Sphären von Arbeitszeit und Freizeit miteinander verquickt waren. Mit dieser neuen Form der Zusammenlegung kann dieses ursprüngliche Lebenskonzept, in dem das Familiäre am Puls der Arbeit lag, jedoch nicht verglichen werden. Die auf Effizienz getrimmte Lebens- und Berufsberatung, die sich unter dem Label von Work-Life-Balance sammelt, betreibt eine ganz andere Form der Zusammenlegung. Eine, die das Private nicht als gleichrangig erachtet, sondern als Ausgangsbasis für den Beruf. Familie ist für diese Lehre im optimalen Falle nicht mehr als ein Stimmungsstabilisierer. Sie hat die Laune für die Karriere zu heben - oder ist im gegenteiligen Fall nichts anderes als ein Hemmnis.

Mit der Work-Life-Balance, nach der man in seiner Freizeit mit Kollegen nur deshalb etwas unternehmen sollte, um damit dem Unternehmen zu dienen, um als Team zu wachsen, greift man nicht auf die früher übliche Vermengung von Arbeitszeit und Freizeit zurück. Die war zwangsläufig und aus der Raumnot geboren. Man arbeitete und wohnte meist unter einem Dach, konnte die Arbeitsphasen also nicht separieren. Heute will man, dass die Freizeit nicht zu doll separiert wird.

Der ideale Mitarbeiter ist demnach also Single oder hat einen Partner, der im selben Unternehmen tätig ist. Führungskräfte in großen Unternehmen sehen es tatsächlich nicht ungerne, wenn man seinen Lebenspartner im Kreise der Kollegenfamilie hat. Wenn beide Partner nämlich für denselben Arbeitgeber schuften, dann verbindet das ungemein, macht es möglich, dass das Paar sein Privatleben nach den Interessen der Firma ausrichtet. Eine solche Konstellation macht die beiden Arbeitskräfte kalkulierbarer.

Work-Life-Balance ist eine Industrie. Ihre Ware ist der warme Ratschlag, wie man es besser machen kann. Meist nicht für die, die arbeiten, sondern für die, die arbeiten lassen. In der Wahrnehmung dieser Industrie ist Freizeit nichts anderes als eine entspanntere Form von Arbeitszeit, ist Freizeit nicht nur die Zeitspanne zur Überbrückung zwischen Arbeitszeitsequenzen, sondern eine brachliegende Ressource für Unternehmen. Eine Freizeit, in der das Unternehmen im Hinterkopf präsent ist, weil darin Arbeitskollegen vorkommen oder Partner, die im selben Betrieb tätig sind. Sie ist demnach verlängerte Arbeitszeit, die nicht mal vergütet werden muss.

Diese Auffassung von Balance zwischen Arbeit und Privatleben ist ein softer Totalitarismus. In dem gilt freie Zeit nicht als individuell verfügbare Zeit, sondern als Phase, in der man sich praktisch zwar von der Arbeit fernhält, aber dennoch die berufliche Strukturen beibehält. Jede Freizeit ist eine unentgeltliche Arbeitszeit, in der man an seiner Teamfähigkeit feilen und seine Firmenloyalität schulen sollte. Der Angestellte bleibt Angestellter auch dann. Alle Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit sind für die Hausierer der Work-Life-Balance-Industrie die Aktivitäten einer temporär stillgelegten Arbeitskraft.

Nicht weit von meiner Arbeitsstelle gibt es ein Hotel, in dem zuweilen Teambuilding-Maßnahmen diverser Unternehmen abgehalten werden. Manchmal verlagern sie den ganzen Spaß in den Garten. Da stehen sie im Kreis, manchmal halten sie sich gegenseitig die Hand, ich habe sogar schon mal gesehen, wie man einzelnen Personen die Augen verbunden hat. Ich kann mir nicht helfen, aber dieser ganze Zirkus scheint mir doch eine arg esoterische Attitüde an den Tag zu legen. Dieser ganze Quatsch von Vertrauen und Zusammengehörigkeit, von verschweißter Schicksalsgemeinschaft und dergleichen, das ist die plumpe Esoterik von Kapitalisten, die einen reibungslosen Ablauf im alltäglichen Geschäft bevorzugen, die das zwischenmenschliche Kleinklein geringfügig halten wollen, indem sie erzählen, Teamfähigkeit sei die oberste Priorität im beruflichen Alltag.

Wieviel Zusammengehörigkeit und Schicksalsgemeinschaft übrigbleibt, wenn Arbeitsplatzabbau geplant ist, kann man dann ganz schnell erkennen. Letztlich kommt die Zweckgemeinschaft ans Tageslicht - und mehr war man ja auch nie. Eine Zweckgemeinschaft, in der man den Mitgliedern weismachen wollte, sie seien viel mehr. Das Teambuilding hatte die Aufgabe übernommen, aus einem Haufen einzelner Arbeitnehmer eine Gruppe zu stilisieren, die mehr ist als Zweckverband. Nicht einfach Belegschaft, sondern Familie.

Und dann kündigt man irgendwann doch den Bruder und den Cousin dieser Familienkonstellation und die Teambuilding-Delegierten schwärmen verstärkt aus, um die verunsicherten Familienmitglieder zu betreuen und sie in ihrer Treue zu bestärken. Geht miteinander essen, klettern, wandern, liebe Brüder und Schwestern. Zusammen. Bleibt ein Team. Und dann gehen sie geschlossen in eine Freizeit, in der sie am reibungslosen Ablauf ihres beruflichen Alltags, aber auch am reibungslosen Ablauf von Kündigungen, Lohnkürzungen und Mobbing arbeiten.


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Auch der Rechtsbruch kann Recht sein

Donnerstag, 27. Juni 2013

Edward Snowden mag zwar etwas schier Skandalöses aufgedeckt haben, aber dennoch hat er eine Handlung begangen, die strafbar ist. So sehen das jedenfalls einige Medien und viele Bürger. Aber auf welche Weise ist es denn sonst denkbar, dass etwas wie Prism ans Tageslicht kommt?

Die wichtigste Frage zuerst: Hätte es einen legalen Weg für Snowden gegeben? Hätte er vorher die Erlaubnis seines Brotgebers einholen sollen oder den Staatsanwalt über diese Interna informieren müssen? Welche Aussicht auf Erfolg hätte es gehabt, seine Behörde auf Transparenz zu verklagen? Kann man in einem Überwachungsstaat auf den Rechtsstaat hoffen?

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Aus fremder Feder

"Bei der heutigen Mißachtung des Denkens ist aber noch Mißtrauen gegen es mit im Spiel. Die organisierten staatlichen, sozialen und religiösen Gemeinschaften unserer Zeit sind darauf aus, den Einzelnen dahin zu bringen, daß er seine Überzeugungen nicht aus eigenem Denken gewinnt, sondern sich diejenigen zu eigen macht, die sie für ihn bereit halten. Ein Mensch, der eigenes Denken hat und damit geistig ein Freier ist, ist ihnen etwas Unbequemes und Unheimliches. Er bietet nicht genügende Gewähr, daß er in der Organisation in der gewünschten Weise aufgeht. Alle Körperschaften suchen heute ihre Stärke nicht so sehr in der geistigen Wertigkeit der Ideen, die sie vertreten, und in der der Menschen, die ihnen angehören, als in der Erscheinung einer höchstmöglichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit. In dieser glauben sie die stärkste Widerstands- und Stoßkraft zu besitzen."
- Albert Schweitzer, "Wie wir überleben können" -

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Lasst die Mörder meines Mannes nicht frei!

Mittwoch, 26. Juni 2013

Liest man diesen Satz, den die Witwe Schleyer mal als Appell an die Öffentlichkeit richtete, vielleicht auch in vielen Jahren von den Kindern der NSU-Opfer?

Wie ernst es diesem Lande mit der Aufarbeitung des rechten Terrors ist, wird man erst in vielen Jahren bewerten können. Sollten da noch die Angehörigen der Opfer ihre Geschichte erzählen dürfen, wie es heute noch im regelmäßigem Turnus die Angehörigen der RAF-Opfer tun, dann kann man von gewahrtem Andenken sprechen.

Bildzeitung vom 30. Januar 2033?
Die Bubacks erzählen uns nun schon seit Jahrzehnten, wie es ist, eine Familie zu sein, die ein Familienmitglied durch einen politisch motivierten Mord verloren hat. Mit den Bubacks geht das zeitungslesende Volk dieses Landes regelmäßig auf die Jagd nach dem Mörder. Die Schleyers gelten in bestimmten Teilen des deutschen Journalismus ohnehin als Opferfamilie. Neulich erst fragte man einen Sohn der Familie, was er von der "umstrittenen RAF-Ausstellung" halte und wie es wohl sei, den Mord an seinem Vater nochmals sehen zu müssen. Man ist einfühlsam und sorgt sich noch immer um posttraumatische Folgen. Terroropfer bleiben nicht alleine.

Im Archiv der Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeine finden sich 169 Einträge zwischen 1997 und 2012, die sich mit Buback befassen. Zu Schleyer sind es sogar 263, die zwischen 1996 und 2013 angesiedelt sind. Focus Online kennt 529 Artikel mit dem Namen Buback und 634 mit dem Namen Schleyer. Bei Bild.de finden sich 222 Artikel zu Buback und 207 zu Schleyer. Darunter finden sich Titel wie "Schleyers Söhne verzeihen Schmidt", "Die Kinder der RAF-Opfer klagen an" oder "Bubacks Sohn schreibt an seinen toten Vater".

Wenn wir im Jahr 2043 noch immer über die Sorgen und Nöte der Hinterbliebenen der NSU-Ermordeten lesen können, dann hat die Aufarbeitung erst geklappt. Wenn uns die Empörung der in die Jahre gekommenen Kinder der Opfer in publizierter Form begleitet, weil Wohlleben und Zschäpe (beide mittlerweile 68 Jahre alt) Gnadengesuche aus ihrer Sicherheitsverwahrung heraus an den Bundespräsidenten Mißfelder richteten, dann ist es diesem Land erst gelungen, die Erinnerung wachzuhalten.

Als sich der Brandanschlag in Solingen neulich jährte, rückte man die Familie der Opfer kurz in den Mittelpunkt. Man lobte sie, weil sie es geschafft hatten, dass sich ihr Opferstatus verflüchtigte. Das hat man den Schleyers oder Bubacks nie empfohlen. Wird man das den noch lebenden Opfern der NSU auch irgendwann empfehlen wollen? Man konnte die Geschichte der Schleyers gar nicht oft genug hören, die Frage der Bubacks, wer nun genau ihr Familienoberhaupt ermordet hat, nicht ausreichend genug thematisieren. Erleben wir das in Zukunft ähnlich mit anderen Namen und unter anderen Vorzeichen?

Das was im Rahmen des NSU-Prozesses an "Aufarbeitung" geschieht ist noch Tagesgeschäft. Wenn man noch in Jahren immer wieder darüber berichtet, dann geht das Tagesgeschäft in Aufarbeitung über. Sollte es noch in Jahren die Frage, wer genau dieses oder jenes Opfer erschossen hat, ins Agenda Setting schaffen, so kann man von Aufrichtigkeit sprechen. Mal sehen, ob die Yozgats oder Taşköprüs irgendwann die Schleyers oder Bubacks oder Pontos der Zukunft sein werden.

Bis dorthin ist es noch ein langer Weg. Die Presse, die nun das Geschehen rund um den NSU-Prozess verfolgt, um Schadensbegrenzung zu üben, nicht schon vorher erkannt zu haben, was da in Deutschland geschah, braucht sich im Moment nichts einbilden. Sie arbeitet nichts auf, sie rennt nur den eigenen Ansprüchen hinterher. Sprechen wir mal 2023 und 2033 darüber - und danach mal sehen, wer sich 2043 noch an die NSU erinnern kann und falls ja, wie man sich ihrer erinnert.


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Auch Morgenmagazin an Prism beteiligt

Dienstag, 25. Juni 2013

Von einer "diplomatischen Blamage für die USA" oder wahlweise einer "Blamage für Obama" konnte man allerorten lesen. China, Russland, Kuba und Ecuador hätten die Vereinigten Staaten düpiert, das Weiße Haus ziemlich dumm aussehen lassen, berichtete man. Der "Verräter" komme wohl um eine Verhaftung herum, unkte es aus dem Äther. Was für eine Sprache: Blamage, Verräter! Blamabel ist viel mehr dieser Verrat an objektiver Berichterstattung, dem sich die deutsche Medienlandschaft da ungeniert hingibt.

Im Radio des SWR argumentierte ein Experte sogar so: Snowden sei nur deshalb aus dem Schneider, weil er durch die Hilfe von Ländern abtauchen könne, in denen es die Freiheit und die Transparenz schwer hätten. Schon dreist, von Freiheit zu sprechen, während dieselbe hier bespitzelt, ausgehorcht und überwacht wird. Noch dreister, eine etwaige mangelnde Transparenz in Kuba zu kritisieren, während man Snowden zum Vorwurf macht, er habe Transparenz in eine Sache gebracht, die man gar nicht transparent haben wollte.

Dem Verräter hätten Länder geholfen, die "tradionell kein gutes Verhältnis zur USA haben", konnte man im Radio des HR hören. Der Verräter zu Gast bei den Bösen der Welt? Hier wird eine entpolitisierte und enthistorisierte Sprache bemüht, um Bezüge auszublenden. Denn wieso es ein zerrüttetes Verhältnis gibt, fällt unter den Tisch. Es ist einfach da und es scheint sich mit der Aufnahme eines Verräters zu bestätigen, zu bewahrheiten.

Im Morgenmagazin des ZDF schäkerte man schon zur frühen Stunde über diese kuriose Agentengeschichte. Der Verräter auf der Flucht - "fast wie ein Film, aber spektakuläre Realität". Dass Snowden ein Programm verraten hat, welches nur gegen den Terrorismus spitzelte, wusste man natürlich zu bekräftigen. Alle anderen, die man trotzdem so nebenher ausspähte, finden da gar keine Erwähnung mehr. Und dass Julian Assange seit einem Jahr in der Botschaft Ecuadors in London sitzt und sich nicht mehr frei bewegen kann, erwähnte man nebenher so, als sei das ganz selbstverständlich, dass sich jemand wie er verschanzen muss. Als sei dies das Normalste von der westlichen Welt.

Wie kommt man überhaupt dazu, diesen Mann als Verräter zu brandmarken? Hat die Öffentlichkeit kein Recht darauf, dass man ihr verrät, wie sie überwacht wird? Müsste kritischer Verstand nicht fragen, weshalb Snowden eigentlich flüchten muss, statt die Flucht mit der trockenen Sprache des Journalismus zu legitimieren und nachvollziehbar zu machen? Und warum wird die verunmöglichte Verhaftung als Blamage ins Licht gerückt, als eine Realität rechtsstaatlichen Scheiterns? Ist das Rechtsstaat, wenn man heimlich meine e-Mails liest?

Sind das die Meldungen eines verborgenen Propagandaministeriums, die man da an uns weitergibt?

Nicht Prism ist hier der Skandal, sondern dass es jemand entblößt hat. Und die Medien, für die Pressefreiheit immer mehr die gewerbliche Freiheit ist, die Presse anzuwerfen, um egal welchen Inhalt zu vertreiben, spielen munter dabei mit. Sie echauffieren sich zwar, dass China Ai Weiwei wie einen Banditen behandelt, kritisieren aber nicht das Vorgehen im Falle Assanges oder Snowdens.

Prism und Konsorten sind vor allem auch ein Produkt dieser Hofberichterstattung. Ohne sie, wären solche Maßnahmen kaum möglich. Zwar lieben die Schranzen im Vorzimmer zur Macht, die journalistischen Funktionseliten, den Verrat, wirft er doch eine tolle Story ab - aber den Verräter jagen sie wie ein ordinärer Geheimdienst. Auch das Morgenmagazin ist so gesehen an Prism beteiligt. Auch die Experten im SWR und HR und in allen anderen Legitimationsaußenstellen des Überwachungsstaates haben sich für die absolute Kontrolle entschieden, weil sie sich nicht dafür entscheiden können, gegen sie zu sein.


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Drei Mann in einem Boot

Montag, 24. Juni 2013

Die SPD strickt gerade mal wieder an einer weiteren Legende ihres Abgesangs. Sie läßt es jetzt nämlich so aussehen, als seien die ernüchternden Sonntagsfragen nichts weiter, als die verbockte Aktion eines Rudels Platzhirschen. Deren Uneinigkeit und Hinter-den-Kulissen-Zoff sei das Manko ihres Wahlkampfes. Mag sein, dass Gabriel und die zwei Steinigen sich nicht grün sind - dergleichen soll in der Parteipolitik ja schon immer vorgekommen sein. Aber dieses Triumvirat der gegenseitigen Ablehnung dürfte das wohl kleinste Übel der SPD-Misere sein.

Nunja, was soll diese Partei aber auch anderes erzählen? Soll sie kundtun, dass sie sich in den letzten 15 Jahren aufgerieben hat zwischen falschem Kurs und Schröder, zwischen Unschärfe des eigenen Profils und Schröder, zwischen klassistischer Grundhaltung und Schröder? Das Narrativ der drei Männer, die sich nicht mögen und sich gegenseitig im Wege stehen, läßt sich da bedeutend leichter ertragen. Gewährt es doch die Selbsttäuschung, dass es sich nicht um die Folgen eines parteilichen Niedergangs handelt, sondern um individuelle und personelle Randnotizen, die man in den Griff kriegen könne. Nur Allüren, mehr nicht! Die Partei bleibt der Star, sie ist intakt, sie bietet Lösungsansätze. Doch weil genau das nicht der Fall ist, benötigen sie dieses Scheingefecht dreier Männer auf diesem einen Boot.

Man hat sich über Jahre hinweg würdelos in ein Konzept verstrickt, das sich New Labour nannte, aber bloß ein Konservatismus mit flapsigen Sprüchen war und ist. Der wirkte irgendwie hemdärmeliger als das Original, weil das ausführende Personal populistischer und markiger geschult war. Diesen Kurs hält man noch immer wacker, erzählt aber natürlich das Gegenteil. Man habe sich von den Sünden der Ära Schröder gelöst, habe eingesehen, dass viel davon gut gemeint war, aber nicht gut gemacht wurde, liest man zuweilen. Aber die Sachzwänge damals!, schieben diese Einsichtigen dann nach und machen sich zu Opfern. Denn sie wurden zur Agenda 2010 getrieben, sie wollten sie ja nie.

Die SPD kriselt nicht, weil diese Kerle sich nicht mögen. Sie wird als Alternative deshalb nicht mehr wahrgenommen, weil sie schlicht keine Alternative mehr ist. Weil sie inhaltlich verödet ist, weil sie sich ausverkauft hat unter Schröder und weil dessen Nachwehen noch immer zu spüren sind. Die führenden Sozis von heute sind in einer Ära parteipolitisch sozialisiert worden, in der das New Labour Schröders als der neueste Clou galt, als etwas ganz außergewöhnlich Revolutionäres, weil man hier linken Geist mit Sachzwängen verband und pragmatische Entscheidungen traf. Das mit dem linken Geist glauben diese Sozis um Steinbrück heute noch immer tapfer.

Dieses Trium-verrat war maßgeblich am Niedergang seiner Partei beteiligt. Jeder auf seine Art und Weise. Alle drei haben die Agenda 2010 ohne Kritik mitgetragen oder sogar mitentworfen. In der Ära Schröder ist diese kleine Alternative, die die SPD zuweilen sein konnte, wenn sie mutig genug war, vor der eigenen Courage nicht zurückzuschrecken, eine kleine Option im Kapitalismus sein. Gabriel, Steinbrück und Steinmeier haben an der Alternativlosigkeit fleißig gefeilt.

Im Grunde will da nicht jeder Kapitän sein, wie manches Medium schreibt - es sind einfach nur drei hilflose Matrosen in einem kaum schwimmfähigen Boot. Um Verantwortung und Chefsein geht es doch gar nicht. Inszenierter Streit hat zu sein, damit verdeckt wird, wie unfähig diese Partei für die hohe See geworden ist. Da hat man lieber beschlossen, die scheiternde Kampagne um den Kanzlerkandidaten inneren Querelen in die Schuhe zu schieben und nicht der Entsozialdemokratisierung der Sozialdemokratie. Der Bankrott ist damit personell bedingt und nicht inhaltlich, was soviel heißt wie: wegen der Inhaltslosigkeit.

Haben diese drei Leichtmatrosen sich etwa gestritten, weil ihr Kanzlerkandidat sich einen Bildzeitungshetzer zum Sprecher machte? Davon ist nichts bekannt. Und genau das zeigt, dass es um das Inhaltliche schlecht bestellt ist. Und daran scheitert die Kampagne - an einen Kandidaten, der in einer ausgehöhlten Partei agiert, die er mit ausgehöhlt hat, unter freundlicher Mitwirkung seiner beiden Kollegen.

An Streit scheitert Demokratie nicht. Er ist das Wesen dieses Konzeptes. Hätten diese Männer mal mehr um Positionen gestritten in jener SPD, als das S noch für Schröder stand, dann müssten sie sich heute keinen Streit für die Öffentlichkeit erfinden.

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#Aufschrei der Dummheit

Samstag, 22. Juni 2013

Zunächst eine Information in eigener und des Lesers Sache und dann gehts zur Sache.

Ich habe mich für zweierlei entschlossen. Erstens: Ich führe eine neue Kategorie ein. Und zweitens: Meine Latein-Phase ist vorbei.

Das ehemals kleine Latinum wird eingedeutscht, wie die Kategorien dann heißen, erfährt man dort. Wer hochtrabende Label-Namen erwartet, wird enttäuscht sein. Die alten Kategorien werde ich einfach unter neuem Namen weiterführen.

Vielleicht ist es einigen schon aufgefallen, dass ich auch in den Seitenleisten das Lateinische herausgefischt habe. Mir sind die lateinischen Namen auf Dauer einfach zu unhandlich, zu statisch geworden. Fast wie Fremdkörper. Das war ich mal, bin ich aber nicht mehr. Ich will es weniger hochgestochen, etwas lockerer.

Die neuen Kategorie soll #Aufschrei der Dummheit heißen und sich mit Grafiken und Bannern beschäftigen, die mir in sozialen Netzwerken, vor allem bei Facebook begegnen. Die werde ich kommentieren und erklären, weshalb sie für mich Ausdruck von Dummheit sind. Ich tue das, weil die Segnungen der sozialen Netzwerke nur eine Seite der Medaille sind. Täglich begegnet mir bei Facebook auch die Gegenseite aufklärerischen und emanzipatorischen Bestrebens, begegnet mir die Brutpflege der Ahnungslosigkeit und die Kultivierung schwarzer Dialektik, die sich per Gefällt mir-Button auch noch gegenseitig stützt, gratuliert und in Gruppen hortet.

Und nun also der erste #Aufschrei der Dummheit. Weitere folgen nach Lust und Laune und Bedarf. Und wer will, darf mir gerne Hinweise schicken.


Hilfsbereites Volk, dem keiner hilft?
Seitdem die Springer-Presse ihre Anti-Griechen-Kampagne zu einer Art von deutschen Allgemeingut hat werden lassen, scheint sich die Ansicht, bei den Deutschen handele es sich um ein hilfsbereites und edelmütiges Völkchen, tief eingeprägt zu haben. Bei Facebook finden sich einige Grafiken hierzu. Die Grafik rechts gehört zu den beliebteren dieser Sorte.

Sie baut natürlich auf der falschen Prämisse auf, Deutschland würde Geld an die Bürger Europas verteilen. Quasi vom Fiskus direkt in die Hände von Konstantinos, Jannis oder Georgia. Dass die Milliardenpakete der EU zur Stabilisierung der Staatswesen gedacht sind, um die Verbindlichkeiten der Krisenländer gegenüber den so genannten Geberländern zu erhalten, kommt nicht mal als Gedankensplitter vor. Deutschland ist hier einfach nur naiv hilfsbereit und selbstaufopfernd großherzig, erbarmt sich in Mitleid ohne auf das eigene Wohl zu blicken. Während dieses Land Geld an die Europäer verteilt, spenden aber die Europäer nicht für die Deutschen, die in den Fluten ihr Hab und Gut verloren haben. Die Nachbarn Deutschlands sind egoistisch und undankbar. Wir sind umzingelt von ignoranten Völkern.

Gelder, die nun in der Vorstellung dieser Ahnungslosen nicht mehr dem griechischen Ladenbesitzer oder der Putzfrau aus Thessaloniki zugesteckt, sondern für Deutsche zurückgehalten werden sollen, möchte man "irgendwo gebunkert" wissen. Irgendwo! Bunkern! Man hat in Deutschland wohl ein Faible dafür, sich vor den Zugriffen von Außen in einem Bunker zu verstecken. Bunkern für den Bedarfsfall am "eigenen Volk". Das ist völkische Sprache, die ganz offensichtlich viele Befürworter hat, wie man an den "Teilhabern" bei Facebook erkennen kann.

Volkswirtschaftlich ungebildete Menschen, die vom "Geld bunkern" quatschen, als könne man Katastrophenvorsorge auf Basis von Kapitaldeckung betreiben, "organisieren" sich gegen ein Deutschland der Gefühlsduselei. Und das natürlich auf völkische Weise. So baut man den immer knapper werdenden Handlungsspielraum der öffentlichen Kassen um, blendet das Reservoire der Milliardenvermögen aus, an dem Handlungsspielräume geknüpft werden könnten und personalisiert die Gelder der Rettungsfonds, um der eigenen desinformierten Einfältigkeit eine Angriffsfläche zu gewähren. Da sind einerseits die schaffenden Deutschen und andererseits die raffenden Ausländer und irgendwo dazwischen sind solche, die mit dem Teilen und Gefälltmiren solcher Grafiken in Intelligenzdumping üben, sich gegenseitig an Dummheit unterbieten.


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Auf unentdecktem Land

Freitag, 21. Juni 2013

Der Spott, der sich aufgrund der Neuland-Äußerung in eben diesem "Neuland" über Merkel ergoss, hat letztlich bewiesen, dass die Internet-Gemeinde zuweilen eine arrogante Parallelgesellschaft ist, die sich an einzelnem Partikel einer Aussage aufgeilt, aber die ganze Quintessenz von Aussagen gar nicht erst thematisiert.

Jeder hatte während des Obama-Besuches das Recht, seinen Hohn in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten - so oder ähnlich formuliert man im Internet zuweilen den Meinungsfreiheit-Artikel um. Als die Kanzlerin von Neuland sprach, entfaltete sich wieder mal shitstormgleich ein Strauss bunter Häme. Doch alle Blüten wiesen denselben Grundtenor auf. Er lautete: Wir Menschen im Internet haben Qualitäten und Kompetenzen, schon seit Jahren, die die Kanzlerin nicht hat. Es handelt sich, vereinfacht gesagt, um die Arroganz des Könners gegenüber den Nichtkönner.

Auch wenn man sich natürlich fragen kann, wo die Kanzlerin die letzten Jahrzehnte verbrachte, so geht diese Skandieren des Spotts am wesentlichen Gegenstand der Neuland-Äußerung vorbei. Dieser Einschub vom Neuland will nämlich suggerieren, dass man Boden betritt, den man nicht kennt, auf dem man sich zuweilen blind vorantastet, fehlerhafte Schritte macht. Auf Neuland weiß man nicht, was einen erwartet und man weiß nicht, wie man sich verhalten soll. Prism ist also nichts anderes als das unabwendbare Resultat, wenn man sich auf unbekanntem Boden vorantastet.

Das Skandalöse war demnach nicht die lächerliche Einsicht, dass die Kanzlerin unter Umständen keine Ahnung vom Internet haben könnte, sondern der Umstand, dass sie Prism bagatellisiert, indem sie es zur Expedition in einem unentdeckten Land verklärt.

Das ist neben der technologisch versierten Arroganz gegen Nichtkönner des Internets der andere Wesenszug der Leute von Neuland. Sie greifen ein Schlagwort auf, isolieren es von der Gesamtaussage und schaffen sich eine Parallelwelt, in der der Skandal auf ganz andere Prämissen baut, als man das bei der Betrachtung der Äußerung und des Rahmens, in der sie fiel, eigentlich erwarten könnte.

Die Bürger Neulands mögen zwar wissen, wie man twittert, was ein Hashtag ist, wie man Inhalte in sozialen Netzwerken teilt - aber die Verschleierungstaktiken einer Sicherheitspolitik, die sich zum unschuldigen Wanderer im finsteren Tal macht, der sich schon mal im privaten e-Mails verhaspeln kann, weil er so orientierungslos ist, die durchschauen Neuländer ganz offenbar nicht.


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Die Ökonomie organisierter Kriminalität

Donnerstag, 20. Juni 2013

Der Kampf gegen die Neoliberalisierung des Gemeinwesens ist mehr als die Bekämpfung einer Ökonomie, in der selbst das Private zur verwertbaren Ware wird. Es handelt sich hierbei um die Auflehnung gegen ein mafiös strukturiertes Konzept.

"Die Logik des kriminellen Unternehmertums ist identisch mit radikalstem Neoliberalismus", schreibt Roberto Saviano in seinem Buch "Gomorrha". Dieser sei es, der die Regeln des Geschäfts, des Profits und des Sieges über alle anderen Konkurrenten in der Schattenwirtschaft diktiere.

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Die Freiheit, kein Fenster zu öffnen

Mittwoch, 19. Juni 2013

Fenster zu und geschlossen halten! Wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung tagt, dann muss man sein Fenster schon mal zu lassen. Auch wenn es heiß ist. Was ist denn ein frisches Lüftchen schon gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung?

Man hat von all denen, die ihre Fenster ausgerechnet an den Weg bauten, auf dem Obama durch Berlin fuhr und ging, verlangt, sie mögen ihre Fenster geschlossen halten. Das war eine Anordnung zur Sicherstellung der Sicherstellung des US-Präsidenten. Eine Anordnung in der Grundordnung. Und der ist Folge zu leisten. Ja, wo kämen wir denn da hin, wenn in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung jeder sein Fenster aufmachte wie er es gerade wollte!

Als vor Jahren der US-Präsident in Form eines Mannes namens Bush nach Mainz kam, hat man auch schon Fenster verrammelt und das Öffnen unter Strafe gestellt. Balkone wurden zur Sperrzone. Und ein Mainzer hat sein Fenster gekippt gehalten und einen Zettel von Innen angebracht, auf dem stand "Bush go home!" - dem haben sie die Türe eingetreten und ein Verfahren angehängt. Den Köpfen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die in Mainz tagten, war es zu viel, dass sich da jemand Freiheiten in seinen eigenen vier Wänden nahm.

Man kann für die freiheitlich-demokratische Grundordnung schon mal schwitzen. Kann schon mal Miete für eine Wohnung bezahlen, deren Fenster man im Namen der Freiheit phasenweise nicht öffnen darf. Kann schon mal als Herr im eigenen Haus polizeiliche Lüftungsanweisungen befolgen.

Gleichzeitig sprach die Kanzlerin davon, dass sie die Spionage des US-Geheimdienstes für kritisch im Bezug auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung halte. Die lebte nämlich davon, dass die Freiheit für ihre Bürger immer gewährleistet sei, sagte sie der Presse. Einige Meter weiter schwitzten Leute am Arbeitsplatz, weil sie sich die große Freiheit des Fensteröffnens nicht nehmen durften.

Wer meint, er müsse Widerstand leisten und lüftet, dem treten sie die Türe ein, dann hat er genug Durchzug. So wie man auf Durchzug stellt, wenn man diesen eklatanten Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung kritisiert.

Und so brachten Funk und Fernsehen lediglich Anwohner und Leute, die dort arbeiten, die sich zwar über das Lüftungsverbot ärgerten, aber es stoisch hinnahmen und irgendwo auch verstehen konnten. Leute, die froh sind, in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben zu dürfen und die es trotzdem für selbstverständlich erachten, dass man ihnen Frischluft vorenthält.


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Frontabschnitte voller Einzelfragen

"Gesundheit ist ein sozialer Begriff, genau wie das organische Dasein der Menschen, als Menschen, insgesamt."
- Ernst Bloch -

Das Manifest einiger Prominenter, von dem man kürzlich las, leidet wie so viele gutgemeinte Aufrufe an einem Denkfehler. Oder sagen wir besser: Es leidet an einem Kategorienfehler. Denn die Vereinzelung der darin erwähnten Sachthemen ist nicht angemessen.

Man kann nicht Punkt für Punkt aufzählen, sagen, Das muss noch gemacht werden und dies und, ach ja, bevor wir es vergessen, das hier auch noch beachten! Die soziale und die ökologische Frage stehen nicht nebeneinander, voneinander isoliert, sie sind verschwistert, sind die abfallenden Früchte nur eines Baumes, nicht zwei an verschiedenen Bäumen gewachsene.

"Es gibt eine lange Tradition von Linken, auch wenn sie nicht die Mehrheitslinie bildeten und bilden, die begriffen haben, dass die soziale nicht von der ökologischen Frage zu trennen ist, weil die Wurzel der Ausbeutung des Menschen und der Natur dieselbe ist: die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Profitlogik und ihrem Verwertungszwang", hat Jutta Ditfurth in ihren Buch Entspannt in die Barbarei geschrieben.

Das griff der Ökosozialismus, den sie in den Anfangsjahren der Grünen vertrat und von dem sich diese Partei dann entfernte, als Ansatz auf. Diese grüne Realo-Haltung, Ökologie einerseits weichzuspülen, sie zum Umweltschutz mit anerzogenen Mülltrennungsaffekten zu degradieren - und andererseits das Soziale davon zu scheiden, um es hernach ganz fallen zu lassen, geben Auskunft über diese tief in der Gesellschaft verankerten Anschauung, wonach Ökologie und Soziales etwas seien, was separat voneinander anzusehen und herzustellen ist. Diese Denke ist so tief in die gesamte Gesellschaft verkeilt, dass selbst Linke "hinter diesen Erkenntnisstand zurückgefallen sind", wie Ditfurth das im oben genannten Buch formulierte. Sie beklagt sich zudem, dass "linker Druck auf die Ökologiebewegung ... fast völlig [fehle]".

Das Soziale vom Ökologischen zu trennen, verlegt Lösungsansätze ins Nirvana, wirft beide Aspekte derselben Frage ins Fatalistische. Gegen das kann man sich zwar auflehnen, so wie es die Leute des Manifestes zu tun meinen, wird dabei allerdings künstlich ins Scheitern gelotst. Die historische Revolte wurde so durch eine metaphysische Revolte ersetzt, um es mit Camus zu sagen. Also folglich durch eine Auflehnung gegen das Unabwendbare, gegen das Unüberaschaubare. Die Trennung von Ökologie und Sozialem ist als Verewigung brennender Sorgen einzustufen, als das divide et impera der Interessen, um den Kampf gegen den Kapitalismus zu schwächen, zu einem aussichtslosen Begehren werden zu lassen.

Wie ist die individuelle ökologische Verantwortung bei Menschen machbar, die kaum Geld haben, um sich für ökologischere Varianten zu entscheiden? Strategische Konsumentscheidungen können Bürger des gehobenen Mittelstandes praktizieren, keine Geringverdiener oder Erwerbslose. Gäbe es die strukturelle Armut in der Dritten Welt nicht, wäre die dortige Bevölkerung nicht für einen ökologisch verheerenden Raubbau an den örtlichen Ressourcen zu gewinnen. Schon hier zeigt sich, dass beide Fragen nicht voneinander zu scheiden sind. Wer sich eine ökologisch ausgeprägtere Welt wünscht, muss sich zwangsläufig Gedanken zur sozialeren Gestaltung der Menschheit machen.

Nochmal Jutta Ditfurth: "Wer die ökologische Frage lösen will, ohne die Lage der Menschen zu berücksichtigen, wird sich auf Seiten einer Diktatur wiederfinden. Wer auf der anderen Seite die soziale Frage "lösen" will, ohne die ökologische zu berücksichtigen, hat auch nichts begriffen. Was nützen Arbeitsplätze, an denen Menschen Krebs bekommen? Was nützt eine bezahlbare Wohnung, wenn Baustoffe die Atemwege lähmen? Was nützt eine Hütte, wenn das Meer sie mitnimmt?"

Die Differenzierung zwischen sozialer und ökologischer Frage erschwert es, die Gesamtheit der (kapitalistischen) Welt zu erfassen. Neil Postman nannte das eine Kultur des Und jetzt! Fortlaufend kategorisiert der moderne, von den Massenmedien sozialisierte Mensch. "Und jetzt Nachrichten! Und jetzt Werbung! Und jetzt das Wetter! Und jetzt der Sport! Und jetzt Komödie! Alles nacheinander, alles durcheinander. Wenig aber in- und miteinander, weil dieser ganze Sud aus Reizen penibel unterteilt wird [...] Keine Chance zur Orientierung, keine Möglichkeit, optische und akustische Reize zu erfassen, zu begreifen. Wer fortlaufend damit zu hat, die Gebirge von Eindrücken zu sortieren, dem fehlt der Überblick, dem geht die Gabe verloren, verschiedene Sujets zueinander in Relation zu stellen", schrieb ich in Auf die faule Haut. So ähnlich ist das ebenfalls im Falle der Zerlegung des Ökologischen vom Sozialen.

Das in einzelne Frontabschnitte zerpflügte Kampffeld ist überschaubar, bleibt beherrschbar. Die Auflösung der Kapitalismuskritik in einzelne Fragen ist die Unterwanderung derselben.


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De dicto

Dienstag, 18. Juni 2013

"Wer in unsicheren Zeiten Jobs schafft, gibt vielen Menschen die Chance zum sozialen Aufstieg.
Jetzt sind die Arbeitslosen am Zug. Die Jammer-Ausrede „Ich finde einfach keinen Job“ zieht nicht mehr!
Denn: Die Firmen suchen Zigtausende Mitarbeiter auch für „einfache“ Stellen: Bauarbeiter, Putzhilfen, Verkäuferinnen, Wachleute. Alles Jobs, für die man keinen Doktortitel oder Studium braucht."
 - Jan W. Schäfer, Bildzeitung vom 14. Juni 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Wer jetzt nicht sozial aufsteigt, der ist selber schuld, will Schäfer hier ausdrücken. Arbeitslose, die sich in Ausreden üben, die jammern: Es ist mal wieder Bashing-Zeit. Interessant ist dabei eigentlich nichts. Das war ja alles schon mal da; wahrscheinlich gibt es keine Widerlichkeit mehr, die man nicht schon den Arbeitslosen anhängte. Interessant ist dabei einzig, was man in der Redaktion der Bildzeitung so alles als sozialen Aufstieg begreift.

Bauarbeiter: Wer heute auf dem Bau anheuert, darf sich auf mickrige Stundenlöhne bei vollem körperlichen Einsatz einstellen. Die Baubranche greift lieber auf scheinselbstständige Mitarbeiter aus Osteuropa zurück, die für wenig Geld arbeiten und die Unkosten für Arbeitsausfälle (aufgrund von Unfall oder Krankheit) auf ihre eigene Kappe nehmen. Freiberufliche Maurer erhalten halt keine Lohnfortzahlung. Man muss schon günstig arbeiten, um dort überhaupt eine Anstellung zu bekommen. Zeitverträge sind deshalb nicht unüblich. Der soziale Aufstieg als Bauarbeiter liegt irgendwo zwischen Zeitarbeit und Aufstocken.
Putzhilfen: Ist das der klassische Einstiegsberuf zum Aufstieg? Putzen wurde ja nie gut bezahlt, war nie besonders angesehen. Seit dem politisch gewollten Ausbau des Niedriglohnsektors wird diese Tätigkeit noch mieser entlohnt - das Ansehen sank dazu proportional. Wer heute putzt, der putzt als Angestellter einer Zeitarbeitsfirma die Räumlichkeiten eines Unternehmens, das vorher eine fest angestellte Kraft eingestellt hatte. Längere Krankheit wird in der Zeitarbeitsbranche nicht selten mit temporärer Kündigung überbrückt. Sicherheiten gibt es keine. Die Putzhilfe, das sagt ja schon der Name, ist nur eine Hilfskraft und wird deswegen zumeist lediglich als Geringverdiener eingestellt. Trotz geringfügiger Beschäftigung sind Arbeitszeiten von 25 Stunden in der Woche durchaus denkbar. Bei geringem Stundenlohn dauert es eben länger, bis die 450 Euro-Grenze erreicht ist. Die meisten offenen Stellen für Putzhilfen schließen von Beginn an aus, dass man je überhaupt bis an diese Grenze stößt. Aufstiegschancen gibt es für Putzhilfen nur, wenn ihr zu putzendes Objekt ein Obergeschoss hat.
Verkäuferinnen: Sie arbeiten immer mehr und zu den schlechtesten Uhrzeiten. Die Auflösung diverser Ladenschlussgesetze hat das Familienleben erschwert und nebenher nicht mal sichere Arbeitsstellen bewirkt. So köderte man damals die Leute noch, als man diese Gesetze kippen wollte. Sie ahnten durchaus, dass sie die Opfer der deregulierten und liberalisierten Öffnungszeiten würden. Da sagte man ihnen einfach, dass mit dieser Maßnahme die Umsätze steigen und schlussendlich die Arbeitsplätze gesichert würden. Nicht nur die Discounter schmeißen heute ihren Laden mit einem Heer an Minijobbern, die überdies viel länger arbeiten, als sie vertraglich mit dem Arbeitgeber vereinbart haben. Ein schöner sozialer Aufstieg ist das, zu familienfeindlichen Zeiten und zu kleinem Lohn sein privates Glück gefährden zu müssen.
Wachmänner: Hat Schäfer je eine Stellenanzeige hierzu gelesen? Nachtarbeit und Stundenlohn auf niedrigsten Niveau sind dort Usus. Häufig über den Umweg von Zeitarbeit, die den Lebensunterhalt nicht abdeckt. Wie sozial aufgestiegen muss man sich eigentlich vorkommen, wenn man den Besitz reicher Leute nachts bewacht, um dann trotzdem übernächtigt auf dem Amt seinen Anspruch auf Aufstockung belegen zu müssen? Auch bei Wachmännern läuft der soziale Aufstieg stets über die monatliche Anpassung des Regelsatzes an den Verdienst.

Ist das alles sozialer Aufstieg? Das Herumkrebsen in den Niederungen des Niedriglohnsegments? In einem Segment, in dem man wenig verdient und nebenher die Verachtung der Gesellschaft spürt? In dem die vollkommene Prekarisierung verwirklicht wurde, in denen die Reduzierung des Menschen zur absoluten Arbeitskraft schon vollbracht ist? Wieviele Geringverdiener erhalten schon Urlaub oder Lohnfortzahlung bei Krankheit?

Die von Schäfer genannten "Bauarbeiter, Putzhilfen, Verkäuferinnen, Wachleute" sind keine Aspiranten auf sozialen Aufstieg, sondern Branchen, in denen man wenig verdient, wenn man arbeitet und nichts verdient, wenn man ausfällt. Wer nicht arbeitet, der soll auch nichts essen - dieses neutestamentarische Sprüchlein ist dort im Rinnstein der schönen neuen Arbeitswelt Realität. Was Schäfer da predigt ist nicht Aufstieg, sondern die Aufopferung des letzten Funkens von Würde, die man vielleicht im Leib hat. Das sind Berufe, die Leute mit goldenen Löffel im Mund nie ergreifen würden, die sie aber brauchen und möglichst günstig erledigt bekommen wollen. Alle diese genannten offenen Stellen waren nie besonders angesehen, aber heute sind sie es so wenig wie nie. Heute sind sie Stellen, in denen man am eigenen Leib erfährt, für wie minderwertig die moderne Standesgesellschaft einen erachtet. Sie sind nicht mehr Stellen im klassischen Verständnis von Arbeitsmarkt, sondern Möglichkeiten, sich als Gesinde zu verdingen.

Sozialen Aufstieg machen vielleicht Leute, die vom sozialen Aufstieg via Gosse schreiben. Leute wie Schäfer. Nie und nimmer Erwerbslose, die in den Niedriglohn hineinstolpern. Für diese Menschen ist ein Aufstieg auch gar nicht geplant.


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Stimmen von der rechten Basis

Montag, 17. Juni 2013

Die im Alltag üblich gewordene Bedenkenträgerei, man könne mit "diesen aggressiven Türken" oder "unangepassten Negern" als Gesellschaft nicht zusammenleben, geschieht nicht parallel zum Thema NSU – sie war und ist ihr Substrat.

Neulich ein Gespräch mit einer Bekannten, einer Verkäuferin. Den NSU-Prozess und die NSU fände sie schlimm. Punkt. Nächster Satz: Aber manche Ausländer sind auch selber schuld, dass man sie nicht möge. Auf Arbeit habe sie oft Ärger mit Ausländern, schlussfolgerte sie. Die seien frech und hätten keinen Respekt.

Das kam mir sehr bekannt vor, auch die Nationalsozialisten sagten ja bekanntlich, dass die Juden am Antisemitismus schuld seien, weil sie so seien, wie sie nun mal sind. Nicht der Antisemit musste demnach seine Positionen überdenken, sondern der Jude. Ein Prinzip, das heute scheinbar unter anderen Vorzeichen weiterexistiert. Nicht der Ausländerhasser muss sich fragen, ob sein Hass nicht auf seine eigene Borniertheit baut, sondern der Ausländer muss es sich gefallen lassen, als Ursache dieses Hasses genannt zu werden. Dabei handelt es sich um ein vulgäres Konzept der Rechtfertigung, das man in vielen Varianten findet. So entkräftete man schon manchen Vergewaltiger, indem man provokant fragte, warum das Opfer auch unbedingt einen aufreizenden Minirock tragen musste.

Ähnliches erlebte ich kurz danach, zwei Bekannte glaubten mir mitteilen zu müssen, dass die meisten Menschen aus dem islamischen Teil der Welt minderwertig wären. Diese Leute erachtete einer der beiden nicht mal als Menschen. Auf Nachfrage, welche Menschen - die ja keine seien - er meinte, lavierte er zwischen Salafisten und Ausländern. Er konnte nur so ein vages Gefühl definieren, sprach dauernd von "diesen Leuten", wusste aber offensichtlich nicht mal, wie er sie abgrenzen sollte.

Da stehen also die NSU und daneben diese kleinen Rassisten-Sprüche aus dem bundesdeutschen Alltag. Sie stehen da so, als gehörten sie nicht zusammen. Aber sie tun es. Dieser "gute Umgangston", der sich ganz seriös über das Zusammenleben mit Ausländern ausläßt, ist das Fundament von solchen Gruppen wie der NSU. Vereinfacht gesagt: Die sehen als ihre eigene Sendung an, das dumpfe Gefühl der murrenden Mehrheit durchzusetzen.

Ich jedenfalls möchte nicht wissen, wie oft Mundlos und Böhnhardt mit einem Anflug von Zweifel ihren Alltag bestritten. War es richtig, was sie da planten und umsetzten? Jeden Menschen plagen solche Gedanken, selbst ideologisch unzugängliche Menschen zweifeln zuweilen. Das ist nur menschlich - und da Terroristen nicht Teufel sondern Menschen sind, schlagen auch sie sich mit dieser menschlichen Eigenschaft herum. Ich stelle mir vor, wie die beiden einkaufen gingen, im Hinterkopf die Zweifel verarbeitend, aber im Supermarkt manchem Gespräch anderer Kunden lauschten. Oder im Bus oder der Bahn. Gespräche, in denen man die Gesellschaft als von Ausländern befallen befand, in der die Unerträglichkeit der Überfremdung gebrandmarkt wurde, Multikulti für pervers erachtete - diese typischen Alltagssprüche, die mir meine Bekannten gelegentlich auch unter die Nase reiben.

Flugs waren alle Zweifel bei Mundlos und Böhnhardt verflogen, der Auftrag im Untergrund für die Massen unterjochter Deutscher wieder definiert. Man tötete ja für diese deutschen Menschen, die sich da beklagten. Diese verächtlichen Kommentare des Alltags waren gewissermaßen die Auftraggeber.

Lapidare Sprüche und mörderischer Rassenhass bedingen einander. Sie sind nicht voneinander trennbar. Man kann nicht über die NSU moralisch urteilen und gleichzeitig vom Joch der Überfremdung sprechen. Die Paradoxie der von der oben genannten Verkäuferin, die NSU und Leben mit Ausländern in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen thematisierte, ist nur das kleine Beispiel. Das große Paradoxon sind Medien, die einerseits den NSU-Prozess mit Argusaugen verfolgen, sich eine Bestrafung erhoffen und gleichzeitig vom Roma-"Problem" berichten. Oder die die Islamkonferenz als eine Einrichtung des Innenministers, in der Moslems generell der Aggression verdächtigt werden, unkritisch begleiten.

Die NSU mag keine Terrorzellenbasis gehabt haben. Diese Leute waren insofern rechte Avantgarde, die sich arrogant über die Bewegungslosigkeit von Politik und Masse hinwegsetzten. Dennoch ist es jene Masse an Menschen, die sich immer wieder flüchtig zum Ausländer-Problem in Deutschland äußern, die als Fundament der NSU wirkten. Jede neue Terrorzelle aus dem rechtsextremistischen Lager hätte insofern stets eine neue Basis, auch wenn diese Basis natürlich strikt leugnen würde, mit jeglichem Terror etwas zu tun zu haben.


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Willkommen in der EU!

Freitag, 14. Juni 2013

Die deutsche Öffentlichkeit glaubt nun, dass die türkische Europauntauglichkeit nachdrücklich unterstrichen sei. Das ist mutig für die Öffentlichkeit eines Landes, in dem in der jüngsten Vergangenheit Kapitalismuskritiker und Bahnhofsgegner mehrfach krankenhausreif geprügelt wurden.

Na ja, mutig - oder einfach nur betriebsblind. Vielleicht handelt es sich ja auch im besten psychoanalytischen Sinne um die unbewusste Verlagerung eigenen Versagens auf ein anderes Objekt. Mit freundlicher Unterstützung der Polis natürlich. Es ist in jedem Falle ein Gutteil Chuzpe dabei, die Ereignisse in der Türkei als Feigenblatt zu verwenden.

Mir war nämlich so, als habe amnesty international vor einigen Jahren erst erklärt, dass ausgerechnet im europatauglichen Deutschland die Polizeigewalt floriere. Von Schlägern in Uniform schrieben manche Zeitungen damals. Schläge und Schikane wären demnach üblich - und tödliche Ausgänge hätte es schon mehrfach gegeben. Die Berichte der letzten Jahre, aus Heiligendamm, Stuttgart und Frankfurt, haben doch zudem belegt, dass dieses Land ein Expansionsfeld für aggressive junge Leute ist, die sich im Öffentlichen Dienst zum Wohle der Allgemeinheit austoben wollen. Gut, ist ja wahrscheinlich nicht weiter schlimm, denn amnesty international hat dieses Phänomen der gesamten EU attestiert. Ist halt ein Trend - was will man da machen?

Was ist jetzt eigentlich der große Unterschied zwischen türkischen und deutschen Knüppeln? Mancher wird nun sagen, dass die Gewalt in der Türkei unvergleichlich sei. Das sag' mal einer dem erblindeten Typen aus Stuttgart, der weiß was über Unvergleichlichkeiten zu berichten. Platzwunden sind immer unvergleichlich, keine sieht aus wie die andere. Überhaupt so ein dämliches Wort - wie auch dieses "unverhältnismäßig", das einige moderaten Kritiker des Frankfurter Straßenterrors in den Mund nahmen. Was soll denn das sein, unverhältnismäßig? Welches Verhältnis und in welcher Relation dazu ist gemeint?

Ob wohl der Typ aus Bellevue schon mit dem hessischen Innenminister telefoniert hat? Mit seinem türkischen Amtskollegen hat er das ja. Wusste gar nicht, dass der Türkisch spricht, geschweige denn Englisch.

Dieselbe deutsche Empörung wegen des Referendums, das Erdogan vorgeschlagen hat. Vermutlich hat der in Stuttgart gespickt. Dort hat man begriffen, dass Proteste schnell mittels dem Desinteresse der Massen erstickt werden können. Das Desinteresse ist der Machtfaktor des Weiter so! Spätestens wenn Erdogan den Geißler ins Spiel bringt, ist die Zermürbungstaktik vom Neckar bestätigt.

Selbstverständlich kann man sich empören. Das was in der Türkei läuft, ist ja nicht hinnehmbar. Aber wo bitte ist dieselbe Haltung, wenn in Deutschland Proteste niedergeprügelt werden? Oder wenn die deutsche Polizei Menschen, die in ihrem Gewahrsam sind, über die Klinge springen läßt? Zumindest im ersteren Falle gibt es freilich Aufregung. Einen Diktator hat man Mappus aber nie genannt und der hessische Innenminister bekam auch kein Hitlerbärtchen angeleimt. Und nach der ersten Aufregung kommt die Verklärung, mästet man die Einsicht, es sei alles nicht so dramatisch gewesen, wie es die TV-Bilder zeigten. Erdogan wird aber den Titel eines Diktators nicht mehr los werden.

Dass man hierzulande den Protest zu einem antiislamischen umdeutet, ist die typische westliche Idiotie, der Wunschtraum einer Gesellschaft, die den dunkelhäutigen Moslem fürchtet, wie einst den langnasigen Juden. Ich habe jedenfalls nichts davon gelesen, dass die Proteste zu Stuttgart 21 auch antichristliche Motive beinhalteten, weil man mit der christlichen Regierungspartei unzufrieden gewesen wäre.

Und die Europauntauglichkeit ist ganz sicher nicht bewiesen. Im Gegenteil. Polizeigewalt in Madrid und Athen, bei so gut wie jedem G8-Gipfel und auch in Deutschland immer wieder - Willkommen in der EU, liebe Türkei! Eure Polis ist mit dem Leitgedanken der modernen europäischen Polizei schon vertraut. In dieses Europa der Schlagstöcke würdet ihr euch blendend integrieren.


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Der Kniff mit dem Rücktritt

Donnerstag, 13. Juni 2013

Nach einem Skandal den Rücktritt des verantwortlichen Ministers zu fordern, ist beliebte Übung. Dass Parteisoldaten da mitspielen, verwundert weniger. Verwunderlich aber ist, dass systemkritische Linke in diese Kultur des Rücktrittforderns einstimmen.

Jetzt also Thomas de Maizière. Die Opposition und die parlamentarische Linke fordern seinen Rücktritt. Auch mancher, der sich als systemkritisch und links erachtet, hätte nichts gegen den Abgang des Verteidigungsministers einzuwenden.

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Papiernes Nichts und binärer Code

Mittwoch, 12. Juni 2013

Quelle: Westend Verlag
In Gefechtsstellung mit einer generalstabsmäßig nicht-exakten Wissenschaft.

Wolfgang Hetzer definiert in seinem Buch Finanzkrieg, das eigentlich als eine Sammlung mehrerer Essays angesehen werden sollte, die Ökonomie als eine nicht exakte Wissenschaft und stellt sich dem ökonomisierten Zeitgeist entgegen. Er analysiert apriorisches Wissen über so Selbstverständlichkeiten wie Geld und regt damit ungemein zum Nachdenken an. Nicht, dass er sich für ein Ende allen Geldes ausspricht - als Äquivalent wurde bis dato nichts besseres erfunden. Aber ob das Finanzielle wirklich einen solchen Verehrungs- und Ausschließlichkeitsstatus erhalten sollte, wie es in dieser Gesellschaft der Fall ist, darüber sinniert Hetzer durchaus.

Die exakte Vermessung wirtschaftlicher Betätigung von Menschen und der Wirkungsweisen des Geldverkehrs, hat sich einen wissenschaftlichen Überbau entworfen, der aber regelmäßig an der Wirklichkeit scheitert, glaubt Hetzer. Das Primat dieser Form der Vermesserung der Welt, nennt er den Finanzkrieg, der nebenher natürlich auch in die Sprache Einzug findet mit allerlei Militaria.

Doch was ist diese Weltsicht schon wert? Hetzer stellt die Vertrauensfrage und erklärt so, dass die einzige Grundlage des Geldes eben das Vertrauen aller ist. Das sei gewissermaßen die Natur des Geldes, der wir mehr oder minder unterworfen seien. Zwar sei das heutige Geld, das nicht mehr "vom Metallwert des Goldes akkreditiert" ist, nicht mehr als "papiernes Nichts und binärer Code" (Dieter Schnaas), aber alle vertrauen wir auf dieses "hexerische Versprechen der Selbstvermehrung". Das sei der "esoterische Kern unserer Wachstumsdoktrin" und "die Triebkraft unserer Finanzmarktgläubigkeit". Zwischen Psychiatrie und gängiger Ökonomie, wie man sie heute lehrt, scheint es nur wenig Unterschiede zu geben - der Finanzmarkt ist eine Tummelwiese esoterisch gläubiger Jünger, die an die ewigliche Potenzierungskraft des Geldes aus sich selbst zu glauben.

Hetzers Finanzkrieg bringt nicht die Klarheit des verwissenschaftlichen Überbaus zur Sprache. Wie sollte er das auch können? Die Prozesse der Wirtschaft lassen sich nur sehr vage in langen Zahlen ausdrücken - die der Vergangenheit leichter als die in der Zukunft. Aber genau das ist das Problem der Ökonomie, sie will gleich noch Kaffeesatzleserei sein, nennt das aber Wirtschaftspsychologie und fischt damit meist nur im Trüben. Rückgriffe auf andere sehr unpräzise Lehren wie die Demographie verschlimmern die Misere noch. Es ist letztlich wie im Krieg, meint Hetzer. Wahrheiten gibt es dort auch nicht - daher nennt er die Finanzmarktlastigkeit unserer Gesellschaft und Öffentlichkeit, in der nichts mehr Vorrang hat - außer vielleicht irgendwelche Indizes - folgerichtig einen Finanzkrieg.

So bietet Hetzer keinen Überblick, aber einige essayistische Denkanstöße. Ein weiteres "wissenschaftliches" Buch zur Krisenanalyse hätte die Welt auch nicht benötigt. Deswegen ist es auch verzeihlich, dass Hetzer manchmal die Krise des Kapitalismus eine Staatsschuldenkrise nennt. Damit irrt er, weil nicht die Staatsschulden die Krise verursachten. Aber wer die Welt ausdeutet, kann auch manchmal verkehrt liegen.

"Finanzkrieg. Angriff auf den sozialen Frieden in Europa" von Wolfgang Hetzer erschien im Westend Verlag.


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Sit venia verbo

Dienstag, 11. Juni 2013

"...  denn wenn eine Geschichte mit Blut, Niedertracht und Ungerechtigkeit getränkt ist, dann die Geschichte Europas.
[...]
Also seid nicht mehr so freundlich uns zu sagen, was wir zu tun haben. (...) Versucht uns nicht beizubringen, wie wir sein sollen, geht nicht davon aus, daß wir euch gleichen müssen, und erwartet nicht, daß wir in zwanzig Jahren all das richtig machen, was ihr in zweitausend Jahren falsch gemacht habt.
[...]
Laßt uns bitteschön, verflucht noch mal, in Ruhe unser Mittelalter durchmachen!"
- Gabriel García Márquez, "Der General in seinem Labyrinth" -

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La Boum - Die Fete säuft Tee

Montag, 10. Juni 2013

oder Die Streiter gegen die Diktatur der Gutmenschen.

Die auf Frankreichs Straßen ausgefochtene Homo-Ehe ist mehr als der brutale Übergriff des rechten und konservativen Mobs auf einen gegen ihn und seinen Lebensstil gerichteten Affront. Es ist die Hysterie einer konservativen Reaktion, die meint, sie lebte in einer totalitär linken und gutmenschlichen Welt, in der alle ursprünglichen Werte und Ideale untergraben werden und in der ein neues Menschengezücht nach gutmenschlichen Aspekten geplant sei.

Der linke Gutmenschen-Totalitarismus

Es ist die Paranoia jener Bürgersleut', die sich im multikulturellen Staat ebenso unwohl fühlen, wie im bunten Allerlei möglicher Lebens- und Partnerschaftsentwürfe, die da nun demonstrativ und teils gewaltbereit gegen einen Zeitgeist stehen, von dem sie in der Zeitung gelesen haben, er sei links. Sie glauben die Märchen der neoliberalen PR-Ökonomie, wonach die Früchte des modernen Wohlstandes stetig der Gefahr eines Linksruckes ausgesetzt werden. Hollande, bestenfalls ein gemäßigter Linksliberaler, wird so zum Gesicht des linksextremistischen Politikers, der sich in der Gefühlsduselei linker Lebenslügen eingenistet hat.

Ist es für den rechten Mob in irgendeiner Weise existenziell wichtig, wer mit wem legal zusammen ist? Treibt ihn nur die Sorge um das traditionelle Familienmodell auf die Straße? Es handelt sich schließlich um ein Modell, in dem viele dieser Chaoten vermutlich selbst kaum leben.

Die auf Paranoia bauende Fete, die sich in den Vereinigten Staaten unter dem Label der Tea Party formierte, erlebt auch in Europa immer wieder durchschlagende Momente. Die Fete, la Boum kommt auch hier in Schwung, richtet sich auch hier an das Abstraktum eines angeblich linken und intellektuellen Zeitgeistes. Sie wähnt sich als Auslaufmodell des anständigen Bürgers und Menschen, der noch naturverbunden lebt, schön sortiert in Völker und Rassen, der Partnerschaft zwischen Mann und Frau als natürlich ansieht, der nun aber vom linksextremistischen Zeitgeist abgewickelt, in ein unnatürliches Stadium überführt wird.

Eine sehr kurze Geschichte des Antimodernismus

Fürwahr ist La Boum und Tea Party nicht identisch. Wie auch? Aber beides sind Reaktionen, die auf Massen von ungebildeten oder schlicht ideologisch versauten Fußtruppen bauen, die sich als Widerstand gegen die Diktatur der Gutmenschen betrachten und der Unnatürlichkeit und Gottesferne von aufgeklärten und toleranten Gesellschafts- und Weltbildern den Krieg erklärt haben. Es sind Affekte eines Antimodernismus, der nicht begreifen will, dass sich Biologismus und Rassismus nicht mehr als Grundlage des Zusammenlebens halten lassen. Jedenfalls nicht auf der Ebene der individuellen Privatheit - auf wirtschaftlicher Ebene haben die Eliten weiterhin rege Freude an beiden, benötigen sie zur Aufrechterhaltung ihrer ökonomischen Prädestinationslehre.

Das Antimodernistische kennt jede Zeit. Die Faschismen des letzten Jahrhunderts waren solche Bewegungen. Ihr Clou: Sie gaben ihre reaktionäre Kraft als Fortschritt aus, als Notwendigkeit einer von ihnen verkündeten neuen Zeit. Fascismo und Nationalsozialismus, Acion française und Pfeilkreuzler richteten sich allesamt gegen einen Zeitgeist, den sie für zu progressiv, für geradezu linksextremistisch erfüllt, hielten. Sie bemühten alle auf ihre spezielle nationale Weise, aufbauend auf jeweils nationale Mythen und Eigenheiten, eine Rückschau, die Vorausschau sein sollte. Die neue Zeit sollte an die vernünftige Ordnung der alten Zeit neu anknüpfen. In dieser Form waren diese Antimodernismen antikommunistisch und antikapitalistisch zugleich. Sie waren Bekenntnisse des fortschrittlichen Rückschritts oder andersherum. Es war die massenhafte Paranoia einer Zeit, die mit dem Tempo der Vermassung nicht zurechtkam.

Die Vermassung war das Schlagwort jener Jahre. In ihr erkannten viele (meist elitäre) Intellektuelle die Wurzel des Antimodernismus. Besonders José Ortega y Gasset, ein spanischer Soziologe und Philosoph, behandelte dieses Phänomen. In La rebelión de las masas schrieb er: "Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht 'wie alle' ist, wer nicht 'wie alle' denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden." Auch wenn er hier aus der Warte des elitären Soziologen schreibt, so spricht er hier den Mechanismus der Ausgrenzung an, der antimodernistischer Usus ist. Dies war die Wurzel des Antimodernismus seiner Zeit, glaubte Ortega y Gasset. Welche Vermassung treibt heute die Antimodernisten an? Bedarf es einer Analyse der Massenkultur, die sich durch die sozialen Netzwerke manifestiert hat?

Der Rausch des Tees

Diese Auswüchse rabiaten Reaktionismus', den man in den Nachrichten erblicken kann, die Massen von Bürgern, die gegen Multikulturalismus und Gleichstellung, die gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und Umverteilung zugunsten ökonomisch aussortierter Menschen ... all diese Auswüchse sind antimodern und insofern immer auch Basisbewegungen hin ins Faschistoide. Sie kippen ihren Sud, ihren ungenießbaren Tee über Gesellschaften, die mehr und mehr von demokratischen und liberalen Wertvorstellungen abgeschnitten sind, weil in ihnen das Ökonomische nicht nur Primat, sondern mittlerweile auch Ideal geworden ist.

Der Tee, den dieser Antimodernismus braut, berauscht allmählich immer mehr Gesellschaften. Er macht die Trinker rabiat, in jeder Gesellschaft auf andere Weise. Dort will man den reinen Kapitalismus zurückerobern, in Frankreich wehrt man sich gegen homosexuelle Partnerschaften und in Deutschland ist man gegen Multikulturalismus und Schmarotzer, für Richtersprüche voller Härte und ein Ende der Resozialisierung.


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Von Deutschland lernen

Samstag, 8. Juni 2013

Darf man denn als hessischer Polizist keine Meinung mehr haben? Hat man als Vertreter einer halsstarrigen Staatsmacht nicht auch "das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern"? War die Brutalität gegen die Demonstranten in Frankfurt, die unter dem Namen Blockupy liefen, nicht auch ein Beitrag zur Meinungsfreiheit?

Die Meinung muss ja niemanden gefallen, aber die Beamten, die zufällig derselben Meinung sind, wie die Kapitalisten dieses Landes und wie die politischen Vertreter der Ideologie, müssen auch die Möglichkeit haben, ihre Meinung nachhaltig zu vertreten. Und sie waren eben der Meinung, dass Blockupy nicht vor die EZB marschieren muss. Seine Meinung aufrecht zu verteidigen ist doch ein Grundrecht!

Die OSZE macht es sich zu einfach, dieses Land im Herzen Europas mit der Türkei gleichzusetzen. Die Verteidiger von Erdogans System sind nicht mit den hessischen Beamten gleichzusetzen. Bei den türkischen Polizisten war es nicht die Meinungsfreiheit, sondern der islamistische Diktator, der den Gummiknüppel vorgab. Die hessischen Verantwortlichen, Innenminister, Polizeipräsident und Sicherheitsbeauftragte, haben nichts vorgegeben. Sie sind nur einfach Schirmherren einer meinungsstarken Truppe.

Was da in Frankfurt geschah war nicht einer Demokratie unwürdig, sondern das genaue Gegenteil. Es war gelebte Meinungsfreiheit. Die Freiheit von Polizisten, ihre Meinung zu ertreten. Was können denn die Verantwortlichen und die Leute von der EZB dafür, dass die Polizei derselben Meinung ist wie sie selbst?

Und wer jetzt noch kleinlich bekundet, dass die Polizisten eben nicht in Wort und Schrift ihre Meinung vertraten, der muss einfältig oder einfach nur defätistisch sein. Der will sein kapitalistischen Vaterland böswillig beschmutzen. Denn wenn sie auch nicht Wort und Schrift nutzten, so doch die Macht des Bildes.

Sie generierten unvergessliche Bilder, um ihrer Meinung Nachdruck zu verleihen. Und seine Meinung darf man nach Grundgesetz auch in Bildern frei äußern. Auch wenn es sich um bewegte Bilder handelt. Bilder, die uns allen gezeigt haben, dass die Polizei die besseren Argumente vorbrachte. Bilder, die deutlich machten, dass die Argumente der Demonstranten leicht wegzuwischen waren.

So funktioniert Demokratie, liebe OSZE. Wer die besseren Argumente hat, der obsiegt. Hör also damit auf, die offen vorgebrachte Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik zu einem Demokratiedefizit zu verklären. Was kann denn die Regierung dafür, dass auch die Polizei mit ihr konform geht? Die Straße ist in Deutschland ein Ort freier Meinungsäußerung. Und wenn auf dieser Straße die Polizei argumentativ gewinnt, dann muss die Gegenmeinung anerkennen, dass sie demokratisch ausgeknockt ist.

Die Türkei muss lernen, dass eine EU-Mitgliedschaft nur denkbar ist, wenn sie Meinungsfreiheit nicht so gnadenlos unterdrückt. Da gibt es für sie Nachholbedarf. Erst wenn ihre Polizisten im Namen des kapitalistischen Systems Meinung durchboxen, ist sie ein Kandidat für unsere Wertegemeinschaft. Solange möge sie aber nach Deutschland blicken und von uns Demokratie lernen.


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Kein Wort zum Hochwasser

Freitag, 7. Juni 2013

Aber bis September bin ich sicherlich in der richtigen Stimmung für Katastrophenzustände.

Komm, es muss doch was gehen, irgendein Text zum Hochwasser werde ich mir doch aus dem Hirn leiern können. Aber was? Es wird so viel darüber berichtet, gesprochen, geschrieben und gezeigt, dass nichts Neues mehr denkbar ist. Aber ich muss doch das Agenda Setting bedienen. Alle schreiben sie was. Nur ich nicht.

Ich wollte ja eigentlich fragen, ob der Adelsschlag Jahrhunderthochwasser für 2002 überhaupt so ohne weiteres aberkennbar und übertragbar ist. Ist das rechtens? Und was wird aus einem Jahrhunderthochwasser von einst, wenn es durch ein anderes Hochwasser nicht mehr das Hochwasser des Jahrhunderts schlechthin ist? Heftet es sich ein a.D. hintendran? Bekommt es Ehrensold?

Oder ich hätte schreiben können, dass ich mir statt der aktuellen Berichterstattung ein Video von 2002 eingelegt, die Berichte von damals angeschaut habe - und trotzdem umfassend informiert war, weil schon damals dasselbe berichtet, gesprochen, geschrieben und gezeigt wurde. Schon damals wateten Reporter durch die Flut und fragten mit fast seelsorgerischer Betroffenheit nach, wie es nun weitergehe; schon damals fragten sie das nicht abstrakt, sondern ganz konkret, hielten Leuten, die eben die Wohnzimmereinrichtung oder gleich das ganze Haus verloren hatten, ein Mikrofon ins Gesicht und fragten diese idiotische Frage.

Ich hätte mich sodann gefragt, ob sich die Bilder - ja alle Bilder überhaupt - nicht zwangsläufig für Menschen gleichen, die ein gewisses Alter erreicht haben und demgemäß schon einige Ereignisse an sich vorübergehen sahen. Und ich hätte festgestellt, dass man früher vielleicht Sechzig werden musste, um das gesehen zu haben, was heute jemand durch freundliche Mithilfe von NTV und N24 schon mit Fünfunddreißig zu "erleben" vermag.

Ich hätte beim Betrachten der Archivbänder von 2002 vielleicht nicht mal bemerkt, dass die Kanzlerin im dunkelolivgrünen Parka eigentlich ein Kanzler ist. Schröder, Merkel - Merkel, Schröder - Möder, Schreckel - da gibt es ohnehin keine Kluft. Widerlich, wie sich dieses Kanzlerpack da anbiedert. Dort, wo ich unbedingt für einen Ortstermin war, hat Merkel ihn aber sausen lassen. Na ja, so ein Flug nach Fukushima wäre eventuell auch zu zeitaufwändig gewesen.

Während ich so sinnierte, was ich vom Hochwasser schreiben könnte, was nicht schon irgendwo seinen Niederschlag fand, betrachtete ich so einen Wichtel von einem Wirtschaftsverband vor der Kamera, wie er sich wegen der Strafzölle gegenüber China aufführte. Er sprach von Handelskrieg und von Vergeltungsschlägen der Chinesen, die noch nicht absehbar seien. Hm, die sind schon im Krieg, dachte ich mir. Da quatschen alle vom Wasser - und die deutsche Wirtschaft macht derweil schon mal sprachlich mobil. Hätte ein besseres Thema abgeworfen als dieses Wasser. Na ja, habe keine Lust dazu gehabt.

Für diese Bande, die uns da so infotainmentet ist ja eigentlich immer Hochwasser. Ständig steht uns die Brühe mindestens bis zum Hals. Wegen zu hoher Steuern, die man Leistungsträgern auferlegt oder weil die Arbeitslosen uns die letzten Haare von der Glatze puhlen. Der Unterschied zum aktuellen Hochwasser ist nur, dass es sich jetzt um ein wirklich wässriges Hochwasser handelt, nicht um eine metaphorische Flut.

Ich könnte mich ja auch mal textlich fragen, was man für ein Mensch sein muss, um Menschen, die eben Wohnraum, Möbel und letztlich Erinnerungen verloren haben, so dreist zu befragen. Wie kann man sich nur so, wie sich normalerweise nur ein geiler Dackel an die Wade seines Herrchens klemmt, an Menschen in Not heften? Braucht es besondere Perversion dazu? Oder reicht die übliche bürgerliche Boshaftigkeit aus, die sich am Leid anderer ergötzt, weil dies ja auch eine besondere Form des evolutionären Kampfes ums Dasein ist? Denn immer wenn da so ein Reporter fragt, was man jetzt mache nach dem Verlust, höre ich ihn nur für mich vernehmbar flüstern: Also, wenn ich daheim bin, im Trockenen, lege ich erst die Füße hoch und dann schiebe ich 'ne Nummer. Und ihr?

Natürlich lebt dieses Disastertainment immer auch davon, dass der Zuschauer sagen kann: Scheiße hey, wie gut, dass uns das nicht passiert ist! Die Frage ist nur, wie man mit diesem egoistischen Impuls umgeht, ob man ihn journalistisch kultiviert und voyeuristisch ködert - oder ob man verantwortungsvoll damit umgeht, was so viel heißt wie: Jeder weiß doch selbst, was man tut, wenn man sein Dach über dem Kopf verliert, oder nicht? Das muss man doch nicht extra erfragen. Schon gar nicht so lasziv und sensationsgierig. Und wenn man es nicht weiß und man es sich nicht mal vorstellen kann, dann geht es einem vielleicht doch ein wenig zu gut, dann ist das Hochwasser nicht hoch genug angestiegen, um diese Insel der Ignoranz zu überspülen.

Über das Hohelied der Hilfsbereitschaft schreibe ich an dieser Stelle aber sicher ebenfalls nichts. Mir kommt gleich das Kotzen, wenn ich weiterhin hören muss, wie nett die Menschen zueinander seien, wie sie sich gegenseitig stützen und helfen. Deutschland rückt zusammen, schwadronierte RTL in einer Sondersendung. Da wird mir gleich nur schlecht, wenn ich das auch nur wiederhole. Klar, die Aussicht, gleich im eigenen Wohnzimmer angeln zu können, macht potenzielle Helfer erst flott. Morgen ist jedoch alles vergessen und dem alten Sack, der seit DDR-Zeiten in einem heruntergekommenen Häuschen an der Elbe wohnt, aber keine Arbeitsstelle mehr findet und schon seit Jahren arbeitslos ist, hilft keiner mehr. Den macht man dann mit dafür verantwortlich, dass uns als Gesellschaft das Wasser bis zum Hals steht. Heute schleppen sie ihm die Säcke, morgen kriegt er eine auf den Sack.

Und gelehrte Sprüche über die Ursachen des Hochwassers? Das wäre doch ein Thema, oder nicht? Dazu ist doch auch alles gesagt. Man muss mit ihm leben, alles andere ist menschliche Herrschaft-über-die-Natur-Ideologie. Ein Kommentator der taz schreibt gar, dass die "Tücken der Natur [...] irgendwie auch tröstlich" seien. So weit will ich nicht gehen. Ich sage einfach: So zwischen Flussläufen zu leben ist wie einen Beutel voller Scheiße über den Kopf schweben zu haben, der zu platzen droht. Irgendwann platzt das Ding. Das ist zwangsläufig. Man kann nur den Platz darunter verlassen. Tröstlich ist das sicher nicht - tröstlich wäre es, wenn solche ökologisch-menschenverachtende Gelehrsamkeit im Hochwasser verschwände.

Als ich zuletzt vom Hochwasser schrieb, hat mich ein Mann angeschrieben. Meine despektierliche Art gefiel ihm nicht. Ich hätte kein Recht so über die Opfer des Wassers zu schreiben, wie ich es damals tat. Wasser bis zum Hals zu haben, sei eine Katastrophe, Arbeitslosigkeit hingegen relativ erträglich. Ich gab ihm keine Antwort. Die gebe ich ihm heute: Du kannst mich mal, Kumpel. Ich schreibe worüber ich will und ich schreibe wie ich will. Nur heute fällt mir dazu wenig ein.

Es ist alles gesagt, ich muss nichts an Senf draufklatschen, kein Wort zum Hochwasser von meiner Seite. Weniger ist oft mehr. Ich schreibe dann was vom Hochwasser der nächsten Woche - irgendwas wird sich da schon finden. Ich habe mir vorgenommen: Die nächste Katastrophe, von der ich schreiben werde, wird die Katastrophe vom 22. September diesen Jahres sein. Bis dahin bin ich vielleicht in der richtigen Katastrophenstimmung.


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Die blamable Demokratie

Donnerstag, 6. Juni 2013

Wenn sich Ausschüsse, Konferenzen oder Parteitage nicht einigen können, spricht der Journalismus häufig unbedacht von einer Blamage. Das ist jedoch nicht weniger als die Sprache der Postdemokratie.

Zuletzt sprachen einige Radio- und Fernsehanstalten von einer Blamage für die europäischen Außenminister, weil sie keine Einigung im Hinblick auf das Waffenembargo gegen Syrien erzielen konnten. Und schon vor vielen Jahren schrieb die taz mal, dass sich die Linke blamiert hätte, weil es ihr nicht gelänge, die Positionen von WASG und PDS zu vereinigen. Der Spiegel schreibt indes regelmäßig zu SPD-Parteitagen, dass sich diese Partei nachhaltig blamiere, weil sie die Forderungen des linken Flügels nicht mit den Seeheimern zu einer Einheit verschmelze, sprich: mundtot macht.

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Völkisch-Rock bald auf Deutschland-Tournee

Mittwoch, 5. Juni 2013

Die Bild am Sonntag begleitete Andreas Gabalier "ein kurzes Stück auf seinem Weg". So liest man von einem erfolgreichen Jura-Studenten, dem die Anhänger von am Reißbrett durchpopularisierter Volksmusik, Slips auf die Bühne werfen. Und man ist überdies sichtlich bemüht, den jungen Mann als fleißigen und urwüchsig galanten Kerl ins rechte Licht zu rücken. Oder eher genau das nicht. Denn vom rechten Licht will man eher ablenken.

Ein Hakenkreuz aus Fleisch und Blut

Gabalier wurde schon mehrfach der Kritik ausgesetzt. Er selbst schweigt sich dazu aus. Vorallem das Cover seines Albums Volks-Rock 'n' Roller, auf dem er körperlich ein Hakenkreuz andeutet, empörte nachhaltig. Dass sich "Italiener, Deutsche und Japaner" in einer Textzeile grüßen, ist schon ein komischer Zufall mit den Achsenmächten. Und dass er meint, die Freundschaft "prägt [ein Männerleben] wie ein eisernes Kreuz", ist noch so ein zufälliger Wink mit dem Zaunpfahl.

Überhaupt geht es bei Gabaliers angepassten Alm-Folk-Rock immer auch um Kameradschaft, die Heimat und die Verbundenheit mit Land und Leuten. Er ist temporeicher Schmalz auf Blut-und-Boden-Basis und er reichert den ganzen Sud um einige Sentenzen an, die wie Bodenständigkeit klingen, die aber nicht weniger als völkische Romantik sind. Nebenher läßt er sich gerne als gestählten und schön gegelten Kerl ablichten, ein wenig Riefenstahl-Optik einfließen, um die Geschichte vom jungen Studenten, der die Welt der Volksmusik erobert und Hallen füllt, als seinen ganz persönlichen Triumph des Willens hinzustellen.

Blut-und-Boden-Ideologie meint, dass das Blut für Abstammung und der Boden für Nahrungsgewinn und Lebensraum steht. Und so singt Gabalier vom Steirerland und von Obersteirer. Andere Titel nennen sich Heimatburschen oder Meine Heimat. Im Lied Bergbauernbuam singt er Unsa Buttabrot ess ma mit Pfeffa und Soiz / Sten auf Speckknedl, Schweinsbrotn und Grammlschmoiz - was der Boden halt so hergibt. Andere singen auch vom Essen, sicherlich - aber die romantische Verklärung vom Essen und Abstammung, sie ist der romantische Rückgriff auf das, was Blut und Boden ausmacht. Gabalier gibt sich hier als singender Blubo-Poet und feiert den Lebensraum in Partymusik.

Die Stilistik, mit der sich das Völkische zum Sonntagsbrötchen vorstellt

Auch in dem Artikel, den die Bild am Sonntag brachte, wiederholt sich manches hiervon. Gabalier spricht von Heimat, von Wiesen, in die er sich setzt und von Bergen. Sein Mädel, so sagt er ungeniert, "muss von daheim kommen". Diese "Bodenständigkeit" mag der unbedarfte Leser, er glaubt, da sei einer auf den Teppich geblieben, wolle nicht abheben. Im Arrangement seiner Botschaft klingt dieses "... von daheim kommen ..." freilich etwas anders. Das Völkische wird zur Naturburschenschaft umgedeutet, zu einem eigentlich erstrebenswerten, weil natürlichen Zustand, die Grenze zwischen ökologischem Bewusstsein und Öko-Faschismus verschwimmen. Andrea Berg nennt diese Haltung "so authentisch" und nimmt so die Brisanz heraus, macht ihn zu einem "ehrlichen Makler" völkischer Ansichten.

Er wirkt keck, erzählt aber dennoch die Geschichte von seinem Vater und seiner Schwester, die sich das Leben nahmen. Das kommt an, das heizt Mitleid an und macht jeden völkischen Ansatz verzeihlich. Dass er nicht schwul aussehen mag, scheint ihm wichtig zu sein. Womöglich ist das Schwule auch etwas, was dem "Naturburschen" nicht sonderlich natürlich vorkommt.

Der völkische Rock 'n' Roller und seine ihn entpolitisierenden Anhänger

Kritik an diesem Rock 'n' Roller erntet so folgerichtig Empörung. Seine Anhänger halten es für ein Politikum und für Gesinnungsterror, wie man mit ihrem Andi umspringt. Man kenne ihn ja schließlich gar nicht persönlich. Und die Vorwürfe seien allesamt an den Haaren herbeigezogen. Es sei der pure Neid, weil da jemand Erfolg habe. Wahnwitzig nennen sie es, dass man ein Hakenkreuz aus seiner Körperhaltung herausdeute - und seine Texte sagten nicht das aus, was man ihm vorwirft. Mit "Italiener, Deutsche und Japaner", das ja im Lied Biker vorkommt, meine er lediglich verschiedene beliebte Maschinentypen. Doppeldeutigkeit ist seinen Anhängern scheinbar völlig fremd, der Andi sagt es ja immer so, wie er es meint. Und so ehrlich singt er vermutlich auch.

Volkes Stimme erhebt sich zur völkischen Stimme. Und so entpolitisiert sie Gabalier. Es sind nicht nur seine Anhänger dabei, sondern auch solche, die tunlichst betonen, ihn nicht zu hören, die aber von der linken Hetzjagd angewidert seien. Auch sie entpolitisieren diesen völkischen Tiefgang, erklären Heimatverklärung und Blut-und-Boden-Metaphorik zum Songtext, der ja nichts weiter bedeute, als gute Laune erzeugen zu wollen. Er heize nur zur Party ein, trommle aber keine Parolen. Die Stimmungskanone erhält Flankenschutz und wird zum unbescholtenen Musiker erklärt. Dass dieses völkische Gekuschel ein durchgängiges Konzept bei ihm ist, dass er also im weitesten Sinne völkische Konzeptalben auf den Markt bringt, wird strikt geleugnet und als Verfolgungswahn der Kritiker diffamiert.

Hintertürchen der völkischen (Tanz-)Bewegung

Der fröhliche Botschafter dieser völkischen Bewegungsübung tritt Ende September seine Deutschland-Tournee an. Dieses Hintertürchen zum Völkischen ermöglicht RTL. Die Bild am Sonntag poliert diese fröhliche Stimmungskanone pflichtgemäß auf - die übliche Kooperation zwischen RTL und Springer.

Natürlich ist Gabalier kein politischer Redner, natürlich sind seine Texte keine Programme. Aber mit diesem lausigen Romantizismus, bereitet er die völkische Denkweise auf, macht den Boden fruchtbar, erzeugt bei seinen Zuhörern den Eindruck, es sei ja nichts dabei, so zu ticken. Diese völkische Inspiration wird nicht nur zur irgendwie peinlich zu versteckenden Denkart, sondern gleich zur Tanzbewegung, zu einem lustigen Ausgelassensein, also eine offen zur Schau getragene Weltsicht. Natürlich reißt man mit musikalischer Botschaft keine Schneisen, aber man trägt die Sensibilität ab, macht es für den politischen Alltag leichter, sich einer neuen Völkelei zu verschreiben. Denn am Völkischen kann nichts Schlechtes sein, wie es ja schon dieser Naturbursche aus Österreich, dieser Gabalier, vorlebt und vorsingt.


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Ridendo dicere verum

Dienstag, 4. Juni 2013

"Die Weltgesundheitsorganisation hat aber mit ihrer alten absurden Definition von Gesundheit viel zu einer unrealistischen utopischen Sicht von Gesundheit beigetragen. "Völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden" dekredierte sie dazumal. Das ist natürlich unerreichbar. Und utopische Begriffe laden ein zur grenzenlosen Verehrung. So ist eine absurde Gesundheitsreligion entstanden, in der Menschen nur noch vorbeugend leben, um dann gesund zu sterben. Diese Gesundheitsreligion ist eine einzige Anleitung zum Unglücklichsein. Wenn nämlich Gesundheit in Wirklichkeit niemals erreicht werden kann, dann müssen alle sich irgendwie krank fühlen. "Gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde", hat ein renommierter Internist einmal gesagt. Und Karl Kraus unkte: "Die häufigste Krankheit ist die Diagnose."

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Die natürlichen Verleumder der Armen

Montag, 3. Juni 2013

Die Schlagzeile, Ärztepräsident Montgomery hätte erklärt, armen Menschen gehe es in Deutschland aus medizinischer Sicht schlechter als denen, die nicht unter Armut litten, klang vielversprechend. Immerhin hatte der Mann tags zuvor klargestellt, dass er ein Gesundheitswesen, in dem alle dieselbe Versorgung erhielten, für "sozialistischen Einheitsbrei" erachte.

Letztlich kehrte Montgomery inhaltlich nicht um, sondern unterstrich seine elitäre Attitude. Denn es seien vor allem Tabak, Alkohol und Fettleibigkeit, die arme Menschen früher sterben ließen. Genau dort bestehe Handlungsbedarf. Es war also kein progressiver Impuls, der den Ärztepräsident anleitete, sondern die elitäre Überheblichkeit, bei Unterschichten würde es sich größtenteils um fette Säufer und dicke Raucher handeln.

Dass arme Menschen grundsätzlich rauchen und saufen ist die Wahrheit, auf die sich die Eliten in diesem Lande vereinbaren konnten. Auf dieser Grundlage stutzte man den Regelsatz der Sozialhilfe und vor einiger Zeit sprach sich Steinbrück gegen eine Kindergelderhöhung aus, damit dieses nicht in Zigarettenschachteln investiert würde. Die Enthaltungsbewegungen des 19. Jahrhunderts waren die Wegbereiter. Sie schrieben sich die Abstinenz aufs Panier; die Prohibition sollte dann ihr größter politischer Erfolg werden. Die Inszenierung war schon damals eine vom frömmelnden Bildungsbürgertum initiierte, die sich gegen die armen Geschöpfe aus dem Industrieproletariat richtete.

In einer medizinischen Wochenzeitschrift von 1848 schrieb Rudolf Virchow mal, dass "die Ärzte [...] die natürlichen Anwälte der Armen [seien]", womit "die soziale Frage [...] zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion [falle]". Schon zu Virchows Zeit waren diese Anwälte gut sozialdarwinistisch und von Malthus geschult - er selbst leugnete den Darwinismus generell, weil er eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellte, wenngleich er dessen Thesen für grundsätzlich richtig erkannte.

Welches Mandat hat Montgomery da für die Armen an sich gerissen? Es gleicht dem Weltbild eines progressiven Liberalen im Kaiserreich. Ein wenig helfen, ein wenig das Leid anerkennen, die Misere aber im gewollten und gewählten Lebenstil des Proletariats suchen. Dieses lebe nun mal in Sittenlosigkeit und dem aufgeklärten Bürger komme es zu, diese unmündige Gesellschaftsschicht gleich einem Kinde an die Hand zu nehmen, ihr Hilfestellung zu leisten. Woher sollen es diese ungebildeten und ungehobelten Menschen auch besser wissen? Das Know-How ist schließlich eine Leistung des liberalen Bürgertums. Helfen und gleichzeitig verachten: Das ist die große Benefizleistung der protestantischen Lebensart im "Geist" des Kapitalismus.

Die Ärzteschaft wähnte sich in deutschen Landen stets als radikale Speerspitze dieser Haltung, die jedoch jegliche menschliche Regung aufgegeben hat, um rein wissenschaftlich den Dienst an der Gesellschaft zu tun. Die Grundgedanken zur Sozialhygiene stammten von Ärzten und spätestens seit Hans-Henning Scharsach wissen wir, dass Ärzte zu den geistigen Wegbereitern und ersten Parteigängern des deutschen Faschismus zählten.

Montgomery soll jetzt nicht in diese Nische gedrängt werden, aber feucht ist der Schoss unterm Kittel immer noch, aus dem es kroch. Die sozialdarwinistischen Grundgedanken, die die Ärzteschaft dazu motivierte, sich für eine diktatorische Volksmedizin aussprechen, um die die Volksgesundheit gefährdenden Elemente zu bannen, sind immer noch präsent. Die von Standesdünkel triefende Andichtung und Verleumdung, mit der bürgerliche Eliten Menschen in armen Verhältnissen einschätzen, war schon mal der Nährboden einer selektiven und sozialdarwinistischen Medizin. Die "natürlichen Anwälte der Armen" sind in diesem Lande noch immer die traditionellen Verleumder der Armen gewesen. Montgomery Furcht vor dem Sozialismus und seine klassenspezifische Einordnung der Armut als Zustand voller Laster, machen das mal wieder deutlich.


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