Die natürlichen Verleumder der Armen

Montag, 3. Juni 2013

Die Schlagzeile, Ärztepräsident Montgomery hätte erklärt, armen Menschen gehe es in Deutschland aus medizinischer Sicht schlechter als denen, die nicht unter Armut litten, klang vielversprechend. Immerhin hatte der Mann tags zuvor klargestellt, dass er ein Gesundheitswesen, in dem alle dieselbe Versorgung erhielten, für "sozialistischen Einheitsbrei" erachte.

Letztlich kehrte Montgomery inhaltlich nicht um, sondern unterstrich seine elitäre Attitude. Denn es seien vor allem Tabak, Alkohol und Fettleibigkeit, die arme Menschen früher sterben ließen. Genau dort bestehe Handlungsbedarf. Es war also kein progressiver Impuls, der den Ärztepräsident anleitete, sondern die elitäre Überheblichkeit, bei Unterschichten würde es sich größtenteils um fette Säufer und dicke Raucher handeln.

Dass arme Menschen grundsätzlich rauchen und saufen ist die Wahrheit, auf die sich die Eliten in diesem Lande vereinbaren konnten. Auf dieser Grundlage stutzte man den Regelsatz der Sozialhilfe und vor einiger Zeit sprach sich Steinbrück gegen eine Kindergelderhöhung aus, damit dieses nicht in Zigarettenschachteln investiert würde. Die Enthaltungsbewegungen des 19. Jahrhunderts waren die Wegbereiter. Sie schrieben sich die Abstinenz aufs Panier; die Prohibition sollte dann ihr größter politischer Erfolg werden. Die Inszenierung war schon damals eine vom frömmelnden Bildungsbürgertum initiierte, die sich gegen die armen Geschöpfe aus dem Industrieproletariat richtete.

In einer medizinischen Wochenzeitschrift von 1848 schrieb Rudolf Virchow mal, dass "die Ärzte [...] die natürlichen Anwälte der Armen [seien]", womit "die soziale Frage [...] zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion [falle]". Schon zu Virchows Zeit waren diese Anwälte gut sozialdarwinistisch und von Malthus geschult - er selbst leugnete den Darwinismus generell, weil er eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellte, wenngleich er dessen Thesen für grundsätzlich richtig erkannte.

Welches Mandat hat Montgomery da für die Armen an sich gerissen? Es gleicht dem Weltbild eines progressiven Liberalen im Kaiserreich. Ein wenig helfen, ein wenig das Leid anerkennen, die Misere aber im gewollten und gewählten Lebenstil des Proletariats suchen. Dieses lebe nun mal in Sittenlosigkeit und dem aufgeklärten Bürger komme es zu, diese unmündige Gesellschaftsschicht gleich einem Kinde an die Hand zu nehmen, ihr Hilfestellung zu leisten. Woher sollen es diese ungebildeten und ungehobelten Menschen auch besser wissen? Das Know-How ist schließlich eine Leistung des liberalen Bürgertums. Helfen und gleichzeitig verachten: Das ist die große Benefizleistung der protestantischen Lebensart im "Geist" des Kapitalismus.

Die Ärzteschaft wähnte sich in deutschen Landen stets als radikale Speerspitze dieser Haltung, die jedoch jegliche menschliche Regung aufgegeben hat, um rein wissenschaftlich den Dienst an der Gesellschaft zu tun. Die Grundgedanken zur Sozialhygiene stammten von Ärzten und spätestens seit Hans-Henning Scharsach wissen wir, dass Ärzte zu den geistigen Wegbereitern und ersten Parteigängern des deutschen Faschismus zählten.

Montgomery soll jetzt nicht in diese Nische gedrängt werden, aber feucht ist der Schoss unterm Kittel immer noch, aus dem es kroch. Die sozialdarwinistischen Grundgedanken, die die Ärzteschaft dazu motivierte, sich für eine diktatorische Volksmedizin aussprechen, um die die Volksgesundheit gefährdenden Elemente zu bannen, sind immer noch präsent. Die von Standesdünkel triefende Andichtung und Verleumdung, mit der bürgerliche Eliten Menschen in armen Verhältnissen einschätzen, war schon mal der Nährboden einer selektiven und sozialdarwinistischen Medizin. Die "natürlichen Anwälte der Armen" sind in diesem Lande noch immer die traditionellen Verleumder der Armen gewesen. Montgomery Furcht vor dem Sozialismus und seine klassenspezifische Einordnung der Armut als Zustand voller Laster, machen das mal wieder deutlich.


10 Kommentare:

Anonym 3. Juni 2013 um 09:25  

ANMERKER MEINT:

Hinzu kommt noch, dass gerade unter Ärzten der Alkoholmissbrauch nicht unerheblich ist und so Montgomerys Zynismus noch deutlicher macht. Der gleiche Mensch, der immer wieder dafür sorgt, dass seine Klientel, die jan nun nicht gerade wenig verdient, bloß nicht arm dran sein muss, erdreistet sich den Armen unseres Landes mit der von Dir beschriebenen Attitüde zu kommen. Nicht zufällig wurde auf dem Ärtzetag Westerwelles Nachfolger, Herr Rösler, hofiert. Ist er doch ein würdiger Nachfolger von Herrn Westerwelle, der den HIV-Empfängern schon mal spätrömische Dekadenz ins Stammbuch geschrieben hat. Im Bashing der Armgehaltenen sind sie sich einig, die "Eliten" Deutschlands.

MEINT ANMERKER

Hartmut B. 3. Juni 2013 um 14:17  

Montgomery - dahinter versteckt sich ein elitärer Zynismus.

Ein befreundeter Arzt sagte mal zu mir, alle Ärzte, die nur noch hinter dem Schreibtisch sitzen, sind KEINE Ärzte mehr. Das war vor 25 Jahren - Da nannten sie sich noch Funktionäre - steckt wenigstens das Wort funktionieren drin.

Anonym 3. Juni 2013 um 19:57  

Es soll aber auch Ärzte geben, die anders ticken, und nicht jeder Arzt ist Mitglied beim Verband für den Herr Montgomery spricht.

Man kann hier nicht pauschalieren...

...ich denke bei den Ärzten hält man es wie mit der dt. Industrie, auch nicht jeder Betrieb ist Mitglied bei der INSM....

...ähnlich dürfte es wohl auch bei Deutschlands Ärzteschaft sein, und dies schreibe ich obwohl ich auch denke, dass der alte Ärztestand so langsam ausstirbt...

Welcher?

Der, der beim Patienten nicht zuerst an dessen Geldbeutel denkt....

Peinhart 4. Juni 2013 um 08:18  

Immer wenn sich Armut statistisch partout nicht mehr verstecken lässt, wird Malthus aus der Mottenkiste geholt. Mehr dazu hier.

Dr. med. Ilja Karl 4. Juni 2013 um 10:51  

Doch, doch, JEDER Arzt ist quasi Mitglied in Montgomerys Arbeitsgemeinschaft, der Bundesärztekammer.
Von "Monty", wie er zu seinen gewerkschaftlichen zeiten als Marburger-Bund-Chef liebevoll verkannt wurde, ist sozial nichts zu erwarten, was über die Litanei vom "sozialistischen Einheitsbrei" (Woher weiß er das ? Kennt er den ?) hinausgeht.
Schlimm ist nicht Montgomery, schlimm sind seine gedankenlosen Claqueure, die, zumindest gefühlt, die Mehrheit der Ärzteschaft in Deutschland repräsentieren.
Die Bevorzugung von Kindern aus gutem Hause beim Zugang zum Studium trägt hier ekelhafte Früchte. Empathie als zeitvertreib für Gutmenschen, soziales Engagement als linke Nostalgie - beim AbIGeLn der Kundschaft steht sowas nur im Wege.

klaus baum 4. Juni 2013 um 12:01  

Ich habe während der vergangenen Tage das Klischee von den saufenden und rauchenden Armen mit einem Freund diskutiert, der vor seiner Pensionierung so um die 4.5000.-- netto im Monat verdiente.
Mit der Angabe seines Gehalt will ich lediglich sagen, dass er nicht zu den Armen gehört, aber dennoch ist er der Meinung, dass bei Herrn Montgomery (der Name erinnert mich übrigens an einen englischen General) Projektion und Verdrängung sich aufs allerbeste paaren.
Das heißt: Wir kennen eine Reihe von Leuten aus der "besseren" Gesellschaft, die Alkoholiker und Nikotin-Addicts sind.
Montgomery projiziert das Übel seiner Klasse auf die Klasse der Armen. Und eines kommt noch hinzu: Geschichtliche Erkenntnis über die Verlumpung des Bürgertums, Erkenntnisse, die uns z.B. Bunuel und Chabrol durch ihre Filme vermittelt haben, werden einfach als nichtexistent ausgegeben. Und damit wird ein Weltbild erzeugt nach dem primitiven Modus: Die Bürger, das sind die Guten; die Unterschicht, das sind die Asozialen.

Anonym 4. Juni 2013 um 17:16  

sozialdarwinistisch zusammengefasst: der unter(schichts)mensch hat stromlinienförmig auf jeglichen lebens-genuss zu verzichten, denn sein einziger lebenszweck ist es, sich als möglichst billiger lohn-sklave glücklich zu fühlen, das gewinnstreben seiner herren zu befriedigen und zwar mit innerer freude, selbstlos, weil minderwertig, hat er nach der bildungs-mohrrübe zu schnappen, die ihm vorgehalten wird, mit dem ziele, selbst einmal, als psychpathischer kalfaktor maßregeln, befehlen, strafen, sich also herr(schaft)lich aufzuführen und zu fühlen, um, vom gefühl besselt, einer der oberen zu sein, nach unten sich abzugrenzen und nach oben sich zu ducken. dieser autoritäre charakter ist zu fördern, will man das uralte prinzip der herrschaft-knechtschaftsverhältnisse erhalten.
Zitat: "Die größten Feinde der Freiheit sind die glücklichen Sklaven."
Nur wer niemanden unter und über sich braucht, wird diese spielchen nicht länger mitmachen und eine andere gesellschaft fordern...

Anonym 4. Juni 2013 um 18:46  

"[...]Nur wer niemanden unter und über sich braucht, wird diese spielchen nicht länger mitmachen und eine andere gesellschaft fordern...[...]"

Seh ich ganz genauso, nur eine Bemerkung - eher als Frage gedacht:

Wieso hast du die vergessen, die zum "Proletenvolk" gehören, und zwar ein ganzes Leben lang, aber dennoch hecheln den Eliten ihrer jeweiligen Länder nachjagen als würden die, mal als Beispiel GB mit den Prinzen Harry und William bzw. dem Herrn Cameron eine ganz private, und persönliche Teestunde verbringen....

...das sind die schlimmsten Sklaven, die sich mit ihren Herren so verbrüdern, dass die gar nicht mehr merke(l)n wie die vera.... werden....

Anonym 4. Juni 2013 um 21:59  

sozialdarwinistisch zusammengefasst (2): zum erhalt verinnerlichter herrschaft-knechtschaftsverhältnisse ist, neben anderem, die erschaffung von sündenböcken und feindbildern im inneren wie im äußeren einer festgefügten gruppierung dringendst erforderlich, wird damit der zusammenhalt dieser gruppierung in abgrenzung von anderen gruppierungen oder individuen gestärkt, das einzelne gruppenmitglied seiner eigenverantwortlichkeit im sinne selbsttätigen denkens enthoben und findet damit die pseudo-geborgenheit in etwas größerem als ihm selbst, eine irdische erlösung quasi, die ihm eine über-individuelle (über)mächtigkeit verleiht und ihn selbst jeglicher moralischen verantwortung enthebt, die sonst sein handeln hemmen könnte.
so wie er in die masse eingeht, geht er in dieser masse unter und übersteigt gleichzeitig seine vereinzelung: er wird zu einem über-menschen, getragen von dieser masse, in die er jederzeit wieder eintauchen kann, nachdem er seine pflicht getan, seinen auftrag erledigt, seine mission erfüllt, seine sendung vollbracht hat.
so wie der feind und der sündenbock entmenschlicht als ungeziefer, parasit, schmarotzer am gesunden volkskörper angeprangert ist, gilt es, diesen zu vertilgen, um schaden abzuwenden.
dazu ist jedes mittel recht, so lange es billig ist: es gilt effizient zu vernichten.
denn. wir wissen es:
Alle sind gleich, nur manche sind gleicher...

Anonym 5. Juni 2013 um 09:59  

"Wieso hast du die vergessen, die zum "Proletenvolk" gehören, und zwar ein ganzes Leben lang, aber dennoch hecheln den Eliten ihrer jeweiligen Länder nachjagen als würden die, mal als Beispiel GB mit den Prinzen Harry und William bzw. dem Herrn Cameron eine ganz private, und persönliche Teestunde verbringen...."

dem "proletenvolk" wird jeglicher stolz von kind an genommen, so dass scham übrigbleibt und der "prolet" sich nach oben orientiert, sieht er doch, dass die upper class erfolgreich alles das besitzt, was ihm selbst vorenthalten wird, aber als erstrebenswert tagtäglich verkauft wird, so dass er davon träumt, auch so reich und schön und mächtig zu sein wie diese, spürt er doch, vielleicht auch wenig bewusst, seine ohnmacht und unfreiheit, die er nicht wahr haben möchte und die ihm, als eigentlich frei geborenem menschen zur last und zum leiden geworden ist.
deshalb versucht er sich dem anzupassen, was er als "gute manieren", als passenden lebens-stil verinnerlicht hat, einerseits um sein elend nicht mehr zu empfinden, andererseits weil er damit glaubt, auch zur upper class zu gehören, wie die mittelschicht es extrem für sich beansprucht eher zu den reichen gezählt zu werden, als zu den armen, von denen sie sich zur zeit immer massiver abwenden, aus angst, im falle eines scheiterns ihrer lebenspläne, selbst arm werden zu können.
es sind dieses die märchen und mythen
einer großen gemeinschaft, zu der wir allesamt gehören, dass der tellerwäscher zum millionär mutieren könne, passt er sich nur genügend an, bildet er sich im sinne des mainstreams, ist er skrupellos genug wie seine sozial über ihm stehenden vorbilder, lernt er deren umgangsformen und jargon.
der frosch wird zum prinzen...

peter wolf

As soon as you're born they make you feel small
By giving you no time instead of it all
Till the pain is so big you feel nothing at all
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be

They hurt you at home and they hit you at school
They hate you if you're clever and they despise a fool
Till you're so crazy you can't follow their rules
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be

When they've tortured and scared you for twenty odd years
Then they expect you to pick a career
When you can't really function you're so full of fear
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be

Keep you doped with religion and sex and TV
And you think you're so clever and classless and free
But you're still peasants as far as I can see
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be

There's room at the top they are telling you still
But first you must learn how to smile as you kill
If you want to be like the folks on the hill
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be

If you want to be a hero, well, just follow me
If you want to be a hero, well, just follow me

Working Class Hero - John Lennon

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