"Springerpresse und Parteien schürten das Feuer weiter und mobilisierten für eine Kundgebung am 21. Februar 1968. Die BILD-Zeitung titelte Anfang Februar: "Stoppt den Terror der Jungroten jetzt! Und fügte hinzu: "Man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen."
Veranstalter dieser Kundgebung, die den hübschen Titel "Für Freiheit und Frieden" trug, war der Senat von Westberlin. Unterstützt wurde sie vom Abgeordnetenhaus, von den im Parlament vertretenen Parteien, dem Westberliner DGB und dem Ring politischer Jugend. Der Deutsche Beamtenbund mobilisierte ebenso wie der Interessenverband Westberliner Grundstücks- und Geschäftseigentümer (Ostgeschädigte) e.V. Arbeiter und Angestellte bekamen dienstfrei. Die Berliner Verkehrsgesellschaft richtete Sonderlinien ein. Im Radio wurde unaufhörlich zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen. Schließlich versammelten sich fünfzig- bis achtzigtausend APO-Gegner vor dem Schöneberger Rathaus.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Schütz (SPD) schimpfte: "Extremisten – politische Rowdys – Unappetitlichkeiten des vergangenen Wochenendes – Revoluzzer im Miniformat – Randerscheinungen". Der SPD-Landesvorsitzende Kurt Mattick bereicherte das Vokabular mit: "Außenseiter – Sonntagsmarschierer, die den Sieg der Kommunisten wollen". Der CDU-Landesvorsitzende Franz Amrehn sprach von "einer Schar anarchistischer Weltverbesserer – Extremisten – Straßenterror". Und auch der DGB-Vorsitzende Walter Sickert (SPD) war um Gezeter nicht verlegen: "eine Handvoll Halbstarker – politische Wirrköpfe – Randalierer".
Ungehindert konnten die Teilnehmer der Kundgebung Transparente und Plakate zeigen, auf denen beispielsweise stand: "Teufel zur Hölle, Dutschke über die Mauer", "Wir fordern harten Kurs gegen den SDS", "Dutschke – Volksfeind Nr. 1" und "Politische Feinde ins KZ".
Keiner der feinen Würdenträger auf dem Podium, die doch vorgaben, "Sitte und Anstand" zu verteidigen, ging gegen eines dieser Transparente vor. Der Mob durfte sich austoben. Im Aufruf zu dieser Kundgebung für "Freiheit" und "Frieden" stand: "Was die Berliner denken und wollen, werden sie [...] vor der Welt kundtun. Wir wissen, wer unsere Freunde sind. Wir lassen uns von ihnen nicht trennen. Wir wissen auch, wo unsere Gegner stehen." Was "die Berliner" am 21. Februar kundtaten, war eine gnadenlose Pogromstimmung gegen alles, was irgendwie links aussah."
Ein NPD-Verbot wäre nicht gegen, sondern ein Garant für Freiheit
Eine Demokratie kann auch eine rechtsextreme Partei vertragen. So lautet ein liberales Credo. Ein frommer Ansatz mit einem Makel: Wir leben in keiner Demokratie, sondern haben uns in die Postdemokratie verabschiedet. Und in der sehen sich Liberalismus und Extremismus ziemlich ähnlich.
Eine wirklich wehrhafte Demokratie, so belehrt man Befürworter eines NPD-Verbotes des Öfteren, ringe mit Argumenten und komme nicht mit Verboten. Die Demokratie könne rechtsextreme Parteien durchaus verdauen. Ein Verbot hingegen sei an sich schon nicht besonders demokratisch.
Die filmisch-revisionistische Aufarbeitung einer fanatisierten Generation mit Opferkomplex.
Dem ZDF sei da ein großer Wurf gelungen. Unsere Mütter, unsere Väter wurde unisono gelobt. Das sei Geschichtsstunde voller großer Gefühle gewesen. Das Band of Brothers des deutschen Fernsehens. Die Geschichte fünf junger Menschen während des Zweiten Weltkrieges war dabei vieles, historische Auseinandersetzung aber sicherlich nicht. Eher das Märchen heldenhafter Selbstaufopferung, das zwischen den Zeilen immer wieder zu flehen schien: Könnt ihr Nachkommen jetzt endlich verstehen, welche Opfer wir erbracht haben, wie wir um unsere Jugendzeit beraubt wurden?
Das Böse nicht banal, sondern augenscheinlich
Was eigentlich hat der Titel mit dem, was man da vorgesetzt bekam, zu tun? Unsere Mütter, unsere Väter wirkte falsch gewählt, hatte keinen Bezug zum Inhalt des Dreiteilers. Doch der Titel ist aber angesichts der Thesen, die der Streifen unbewusst platzieren möchte, gar nicht fehlplatziert. Er stellt anhand des gedoppelten Possessivpronomens eine Zugehörigkeit zwischen Betrachter und den Hauptfiguren her. Die suggerierte Elternschaft soll Nähe schaffen und die kritische Distanz zu Nationalstolz und -fanatismus auflösen.
Der Film erzählt von irgendwie verführten jungen Menschen, die irgendwie den Verführungen erlagen. Irgendwie, weil der Stoff nicht aufzeigt, wie genau die Propaganda arbeitete, wie genau die Hauptfiguren sozialisiert wurden und welchem geistigen Milieu sie entsprangen. Diese graue Masse an Hauptdarstellern landet im Krieg. Zwei von ihnen treffen auf einen SS-Standartenführer, der eine Fratze des Bösen führt, dem man sofort ansieht, er sei der Verbrecher schlechthin, der uniformierte Teufel - und just in dem Augenblick schießt er einem jüdischen Menschen aus nächster Nähe ins Genick. Unsere Mütter und unsere Väter, die Generation jener Jahre, die als fünf Lebenswege gespielt werden, sind also von offensichtlichen Gewaltmenschen verführt und beeinflusst worden, von teuflisch grinsenden Schlachtern, die keine Widerworte duldeten. Die Banalität des Bösen dürfte Stefan Kolditz, der das Drehbuch schrieb, noch nie begrifflich untergekommen sein.
Mussten diese SS-Leute und Wehrmachtsverbrecher vorher eine Gesichtskontrolle passieren, die prüfte, ob man derbe Gesichtszüge, böse Mimik und schergische Aura besaß? Oder waren es nicht diese banalen Familienväter und Ehemänner, die sonntags auf dem Teppich mit ihren Töchtern und Söhnen spielten, den Braten der Gattin lobten und humoriger Nachbar und Vereinskollege waren, die dann gefühllos töteten? Männer mit weichen Gesichtszügen, mit oberflächlich betrachtet sympathischem Auftreten, vielleicht sogar ein wenig geisteswissenschaftlich beschult aussehend?
Junge Leute werden dem Publikum gezeigt, die nicht frei leben konnten, weil der Krieg böse aussehender Teufel dazwischenkam. Unsere Mütter, unsere Väter eben, wie sie behindert wurden in ihrer Jugendlichkeit. Bemitleidenswerte Jugendliche, die nicht durften, wie sie wollten. Den deutschen Hegemonialanspruch in der Welt tasteten sie jedoch nicht an. Der war für sie selbstverständlich. Sie waren allerdings nicht Mittäter und Helfer, sie waren Opfer ihrer Zeit, des Krieges und später dann der Führergestalten, an die sie glaubten.
Eine zweite Dolchstoßlegende
Die Generation der Ostfront, die hier mit Possessivpronomen an den Zuseher gebunden wird, war eigentlich eine heldenhafte, bis sie versaut wurde von den Bestien, bis man sie verheizte und missbrauchte. Wir gingen als Helden und kommen als Mörder zurück, sagte ein Protagonist enttäuscht und mit pathetischem Selbstmitleid. Wären die Wehrmachtsverbrecher und SS-Mörder nicht in die Quere gekommen, so könnte man heute dem Landser noch Beachtung und Honoration schenken. Die beim Morden grinsenden Teufelsfratzen haben das alles verunmöglicht und "unsere Eltern" mit in die Scheiße geritten. Sie waren bis dahin nur unschuldige Soldaten beim Angriffskrieg.
All das darf und soll nicht als Frage über Zivilcourage verstanden werden. Ich mache nicht mit beim Krieg!, war ja keine Option, die man ziehen konnte. Anzumerken sei aber schon, dass sich Soldaten der Wehrmacht von Erschießungen freistellen lassen konnten und dass viele Soldaten auch psychisch erkrankten, wenn sie doch exekutierten, sodass das große Morden automatisiert werden musste. Dies war der Ursprung der Vergasungen. Ich mache nicht mit bei Exekutionen!, war wenigstens theoretisch eine Wahl, die man hatte. Davon las man in der historischen Literatur jedenfalls oft. Und warum Kolditz den Schöngeist zum Mörder werden ließ und warum nicht zum psychischen Wrack, das am Rande des Suizids über Schlachtfelder taumelt, kann man nicht beantworten. Ein Protagonist, ein Ex-Schöngeist, der nun zum passionierten Soldaten und Exekutoren geworden war, nimmt sich hernach trotzdem das Leben. Pathetisch und nicht von eigener Hand, sondern im letzten Aufbäumen gegen die Russen, in deren Feuer er absichtlich läuft und heldenhaft stirbt, weil er die Schmach nicht verkraften konnte, ganz umsonst und ohne Endsieg Zivilisten exekutiert zu haben.
Der Soldat erlebt hier die Dolchstoßlegende nochmals. Sein Führer erzählte von jener, die Deutschland 1918 den Sieg kostete, von den Juden, die den Krieg an der Heimatfront sabotierten - und nun erlebt der Soldat den Dolchstoß selbst. Ehrenvoll war er, bis ihn Führer und Entourage die Ehre nahmen. Heldenhaftes hatte man vor, bis die SS den Heldenstatus verunmöglichte. Für das Vaterland blutete man, aber der Fanatismus des Nationalsozialismus dezimierte das Vaterland fast stündlich. Wie einst die Juden und Sozialdemokraten dem Soldaten im Felde den Dolch in den Rücken gerammt haben sollen, so waren es jetzt die NS-Granden, die den Dolch in die Rücken der Soldaten und edlen Offiziere trieben.
Sind das Botschaften eines Filmprojektes, das zur geschichtlichen Aufarbeitung ein Beitrag sein will? Pathos und unbelohnter Mut als Indikator historischer Verantwortung? Ein Antikriegsfilm, dessen einziges Anti eigentlich nur ist, diesen Krieg als unmenschlich deswegen darzustellen, weil die Väter dieses Krieges gegenüber ihrem soldatischen Personal nicht den notwendigen Respekt an den Tag legten, weil sie es verheizten und nicht bescheidener und mit weniger ethnischen Säuberungen in den Osten schickten? Rückschritt in der Antikriegskultur
Dass Unsere Mütter, unsere Väter gleichfalls ein Antikriegsfilm sein soll, las man in den Kritiken mehrfach. Merkmal hierfür war die dort als schonungslos empfundene Brutalität des Dreiteilers. Dabei war diese im Vergleich zu wirklichen Kriegs- oder Antikriegsfilmen lediglich scheu und zurückhaltend. Weder schoss Blut aus Arterien, noch zerriss es Leiber. Wenn man nur an zwei, drei Szenen aus Der Soldat James Ryandenkt (der Handlungsrahmen dieses Films war allerdings durchaus auch pathetisch, nicht aber der darin gezeigte Krieg), so weiß man, was die filmische Darstellung kriegerischer Brutalität bedeuten kann. In einer Szene hängen dort einem Soldaten Gedärme aus dem Torso. In einer anderen versuchen die Kameraden eines Verwundeten die Blutungen aus den vielen Einschusslöchern mit Mull zu stillen, pressen ihre Hände auf die Fontänen, muntern ihn nebenher auf und sehen doch dabei zu, wie seine Augen verlöschen, nachdem er winselte und seine Mutter anrief.
Man muss nicht bis nach Hollywood schauen. Die Brutalität des Krieges wurde im deutschen Film schon massenhaft in Szene gesetzt. Exemplarisch hierfür mag Stalingradvon Joseph Vilsmaier genannt sein. In diesem Werk wird die Materialschlacht greifbar, wobei der Soldat nicht mehr als Material ist. Die Landser darin sind weder mutig noch besonders illusorisch, sind antirussisch getrimmt und dennoch keine ideologischen Monstrositäten, sondern einfach nur Kerle, die es nicht besser wissen. Sie scheißen sich in die Hose vor Angst und knallen alles ab, was sich in den Ruinen Stalingrads bewegt, selbst die eigenen Leute. Der heldenhafte Soldat, der die Situation stets im Griff hat, der wie ein Terminator registriert und auswertet, ist diesem Film fremd. An Blut wurde nicht gespart, schwarz eingefrorene Füße, die aus Stiefeln quillen bekam man inklusive. Der Ekel vor den Auswüchsen des Krieges war Hauptdarsteller. Der Soldat nur Statist.
Das Prädikat "Antikriegsfilm" setzt voraus, dass ein Film die Schrecken des Krieges deutlich zeigen will. Brutalität ist hierbei kein mögliches Mittel, sondern unabdingbares Sujet. Vom Standpunkt dieser Kultur der Abschreckung aus, war der Filmbetrieb in Deutschland schon mal weiter, wesentlich bereiter, die Warnung mit reichlich Kunstblut zu umspülen. Unsere Mütter, unsere Väter ist insofern nicht, wie man irrtümlich las, ein TV-Film mit Antikriegselementen, sondern ein romantisches Bilderbuch aus Liebe und Krieg, der aber wiederum nur wenig gegenständlich wird und nur an hellrot gefärbten Verbänden um Kopf und Bauch inkarniert ist. Unsere Mütter, unsere Väter in die Stilistik des Antikriegsfilms zu ordnen, dient auch dazu, die laue Story und die nicht zu ortende Tiefgründigkeit eines Stückes, das nur zufällig die Staffage des Zweiten Weltkrieges gewählt hat, aufzupolieren. Sie soll die suggerierte Tünche sein, die den Opfermythos kleidet und etwas verbirgt, um all den Kitsch und den romantischen Schund um den heldenhaften Soldaten etwas zu mäßigen und massenkompatibler zu machen.
Der relativistische oder reaktionäre Geschichtsfilm aus Gründen der Unterhaltsamkeit
Unsere Mütter, unsere Väter relativiert, schreibt eine Leidensgeschichte der Täter und fragt nicht nach den wirklichen Opfern, die so gut wie gar nicht erwähnt werden. So verschwinden die jüdischen Eltern einer Hauptfigur einfach. Wohin und unter welchen Umständen erfährt man nicht. (Man erfährt von einer hässlichen Berlinerin, die nun in der Wohnung der beiden Juden lebt, dass sie weg seien. Sie sagt das antisemitisch und sieht dabei natürlich aus wie ein Monster, runtergekommen und mit widerlicher Fratze. Das Böse war im Dreiteiler eben nicht banal.) Die Wehrmacht ist darin fein säuberlich von der SS getrennt - die Massenvernichtung von Russen und Juden war damit fast Sache der SS alleine. Zugleich ist er reaktionär, weil der Krieg zwar irgendwie abschreckend wirken soll, der Krieger aber darin eine charismatische und tapfere Gestalt ist. Er kultiviert den Opferkomplex einer fanatisierten Generation, die sich verführt fühlte und die froh war, dass man nach dem Krieg sagen konnte: Der Hitler war es! Wir sind unschuldig und waren auch Opfer - Opfer wie die Russen, Opfer wie die Juden.
Schirrmacher schreibt in seiner Kritik zum Film, dass alle Vorabkritiken mit Recht hervorgehoben hätten, dass eine neue Phase der filmisch-historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus eingeleitet sei. Das ist ein Irrtum. Die neue Phase der filmischen Bearbeitung des Nationalsozialismus verzichtet auf Historizität und setzt relativistische oder reaktionäre Impulse aus Gründen der Unterhaltsamkeit. Unsere Mütter, unsere Väter ist vermutlich nicht aufgrund eines Sendungsbewusstsein der beteiligten Filmschaffenden relativistisch und reaktionär geraten, sondern weil der Zuschauer deutscher Geschichte nur dann folgt, wenn darin Liebe und Heldenmut thematisiert werden, wenn die Akteure moralisch ihren Opfergang beschreiten. Die filmische Umsetzung des Nationalsozialismus arbeitet nicht mehr auf, sie will unterhalten. Das reaktionäre Element ist weniger eine Folge politischer Einstellung, als ein Effekt zur unterhaltsamen Abendgestaltung.
Müsste man nun ein Fazit schreiben, so wäre zu sagen, dass der Dreiteiler weder Aufarbeitung noch Antikriegskultur war, nicht historische Schau oder schonungslose Abbildung, sondern einfach nur der Versuch eines unterhaltsamen Spektakels, das zufällig in Kriegszeiten spielt und das dem aktuellen deutschen Drang, die Geschichte zu bereinigen und richtigzustellen zufällig auch noch zupass kommt.
Die Massen des Ostens waren stets die Furcht des Bürgers deutscher Landen. Die Tartaren waren es vor langer Zeit. Vor Jahrzehnten fürchtete man sich besonders vor den Ostjuden. Und die aktuelle Geschichte mit den Roma gleicht in vielen Facetten der Panik, die schon viele Jahre vor Hitler bezüglich dieser Ostjuden verbreitet wurde.
Gleichzeitig sind die wirtschaftlichen Absichten, die man mit der Forcierung der Osterweiterung der Europäischen Union befriedigen wollte, schon in jenem berühmten Drang nach Osten historisch angelegt. Der Lebensraum, der dazumal begehrt war, benötigt heute keine territoriale Absteckung mehr, es reicht die Eingliederung in die Handelsbilanz, also die Definition als gemeinsamer Wirtschaftsraum.
Insofern ist dieses Dilemma, das wir heute zwischen Zuzug von Menschen aus Osteuropa, speziell der Roma, und der willkommenen Handelszone in eben diesem Osten, kein Widerspruch dieser deutschen Gesellschaft, sondern nur die aktuelle Ausformung einer historischen Kontinuität.
Diese geschichtliche Stetigkeit gipfelte einstmals darin, dass selbst die Jüdische Nationalunion 1933 ein Einreiseverbot für Ostjuden befürwortete. Nebenher warb man für die neue Regierung unter Hitler, die dieses Verbot selbstverständlich gleichfalls für existenziell erachtete. Schon zuvor haben sich jüdische Eliten bei etwaigen Reichskanzlern wegen des Zuzugs aschkenasischer Juden beschwert. So berichtet zumindest John Toland von der typisch deutschen Angst vor dem Osten. Noch mahnen Roma-Verbände den Rassismus an, mit dem man osteuropäische Roma hierzulande begrüßt. Die ersten Roma, die vor ihren "Geschwistern" aus dem Osten warnen, werden sicher bald den Boulevard säumen.
Der Osten, der aus deutscher Sicht gleich nach Deutschland beginnt, war zeitgleich eine Ferne, nach der man sich sehnte, obgleich die Menschen aus diesen Gefilden, wenn sie Deutschland zu nahe kamen, stets als eklige Gestalten galten. Osteuropa ist für das deutsche Bewusstsein nicht erst seitdem der Eiserne Vorhang aufgerollt wurde eine Region der Verschlagenheit. Nicht erst seither gelten Osteuropäer als gewalttätig und kriminell. Das ist deutsche Tradition, antislawische Folklore, die egalitär alles aus dem Osten, ob slawisch oder nicht, abkanzelt. Man meint geradezu, es gehöre zum deutschen Erfahrungsschatz, irgendwann mal schlechte Erlebnisse mit dem Osten gehabt haben zu müssen.
Diese Diskrepanz zwischen Drang nach Osten und Ablehnung der Menschen des Ostens ist keine. Denn beides schließt sich nicht aus, sondern gegenteilig, bedingt sich. Weil der Osteuropäer so verschlagen ist, weil er keine Organisation kennt, keine Milde und keinen Fleiß, drängt es das Deutsche dorthin. Wenn man dabei pekuniären Gewinn einstreicht: Umso besser! Das nennt man heute Win-Win-Situation. Früher nannte es sich Deutschorden und trug ein schwarzes Kreuz auf der Brust.
Mit dem Kreuz kamen sie über den Osten und ein Kreuz sei es heute noch mit diesen Osteuropäern. Wenn man hierzulande von Polen, Tschechen oder Rumänen hört, rümpft man die Nase. Das sind nicht nur Ausländer, es sind Menschen spezieller Sorte. Man sagt nicht mehr Untermenschen und vermutlich meint man das auch nicht mehr, wenn man Osteuropäern eine Disposition zum gewaltsamen Raub und Mord attestiert. Aber dieses braune Theorem schwingt leise mit.
Der Osten sei rauh und kalt, die Menschen des Ostens Produkt dieser Zerklüftung. Ein Hauch Asien, Sibirien, Mongolei sei ist Osteuropa schon spürbar, sagt man noch heute. Vermutlich ein Ressentiment mit einem Erfahrungsgehalt, der so alt ist, das er nicht mehr wahr sein kann - denn die Tartaren wüten schon seit Jahrhunderten nicht mehr im Osten und Strukturen haben sie aufgrund ihres Nomadentums so gut wie keine hinterlassen. Die Steppe fange gleich hinter Pommern und Nieder- und Oberschlesien an, hat man zu Zeiten des RMVP behauptet. So ungefähr glaubt man das heute noch.
Man spricht vom Zarentum und der Ochrana, von Lenin, von Stalin, von der blutigen Geschichte Osteuropas, das bis nach Asien hineinragt und geistesgeschichtlich demnach mehr asiatisch, mehr osmanisch, als europäisch sei. Gnade sei keine osteuropäische Eigenschaft, die Historie belege das eindrücklich. So einseitig sind die Eindrücke, so ahnungslos!
Im Osten nichts Gutes, meinen wir zu wissen. Nur das Land, der Markt, kann gut genutzt und verwertet werden. Aber die Menschen? Den Osten irgendwie zu kultivieren, das ist das Sendungsbewusstsein so vieler Jahre schon. Mag sein, dass man sich dabei denkt, dass ein kultivierter Osten auch kultivierte Osteuropäer mit sich bringen würde, dass der Lebensraum oder wahlweise der Wirtschaftsraum im Osten unter Kuratel eines Kulturvolkes anständig sozialisieren würde. Die osteuropäischen Kulturräume und Geistesschulen, die es ja gibt, nimmt man hierfür beharrlich nicht zur Kenntnis.
Was wissen wir denn über die Menschen aus dem Osten Europas wirklich? Eine Annäherung an westliche Nachbarn hat es gegeben. Ihre Lebenswirklichkeit, ihre gesellschaftlichen Verknüpfungen akzeptiert man hierzulande mehr oder weniger. Dem Osten hat man sich so wenig gewidmet, dass man heute noch an Vorurteilen festhält, die schon vor Jahrzehnten überkommen waren. Das Untermenschentum schimmert noch immer hervor. Wenn jemand mit osteuropäischen Akzent Deutsch spricht, wird man schneller skeptisch und nestelt an der Gesäßtasche herum - fühlen ob das Portemonnaie noch da ist. Und zeigt uns Aktenzeichen XY nicht immer wieder Täter, die durch slawischen Einschlag im radebrechenden Deutsch auffallen? Ist das kein Beweis für die These?
Osteuropa als Gewaltregion voller Gewaltmenschen, die unter den Klängen von Klezmermusik und den tiefen Stimmen gigantischer Männerchöre wüten? Wie kommt man dazu, Menschen einer Sphäre derart kollektiv zu kriminalisieren? Welche Arroganz und welcher Chauvinismus müssen dahinterstecken? Jetzt fürchtet man die Roma, die so gar nicht "zu uns" passen. Vor Jahren waren es die Rumänen, etwas später die Polen und Tschechen. Alle haben nicht nach Deutschland gepasst, weil sie den Deutschen nicht gepasst haben. Rumänen, Polen, Tschechen, Roma: Alles eine Brühe für die deutsche Wahrnehmung. Wen kümmert es da noch, dass Polen eine Sprache sprechen, die mit keiner benachbarten auch nur ähnlich ist?
Die Roma sind nur die aktuellen Opfer dieser historischen Abneigung gegenüber den Osteuropäern - und die Osterweiterung der EU ist gleichzeitig nur die aktuelle Gestaltung der historischen Faszination für den osteuropäischen Raum.
Anruf von der Schule. Ihr Kind wurde bei einem gewaltsamen Übergriff erwischt, ein anderes Kind ist verletzt, sagte mir die Sekretärin. Daher wird ihr Kind nun den Unterricht verlassen und nach Hause geschickt, folgerte sie. Ob ich damit einverstanden sei? Ich war perplex genug ein Ähm, ja! und ein Ok! zu stammeln. Ich kenne mein Kind, kein Engel fürwahr - aber ist es infantiler Gewalttäter, der andere verletzt?
Aus den Augen, aus dem Sinn
Tatsächlich sieht das Hessische Schulgesetz Disziplinarstrafen wie das Heimschicken von Schülern vor. Pädagogische Maßnahmen nennt sich das dort. In besonders gravierenden Fällen ist die unmittelbare Suspendierung des Schülers für den Rest des Schultages möglich. Was jedoch besonders gravierend ist, findet sich natürlich nicht im Schulgesetz. Es liegt im Ermessen des Schulleiters. Um den reibungslosen Ablauf des Schulalltages zu gewährleisten, gibt es Schulen - wie jene meines Kindes -, die sich darauf einigen, dass alles mehr oder weniger schwerwiegend sein soll. Gewalt ist insofern gleichermaßen ein Schubser, dieses kindliche Allerweltsspiel, wie auch gezielte Prügel. Hier erfolgt eine straffe Gleichstellung von verschiedenen Gewaltgraden, die Gleichrangigkeit kindlicher Übermütigkeit mit groben Gewaltexzessen.
Die Schule meines Kindes hat sich da etwas Nettes einfallen lassen, um etwaigen protestierenden Eltern, die dieser Suspendierung aus windigem Anlass nicht zustimmen wollen, Grenzen aufzuzeigen. Man hat mit Einschulung den Kindern einen Vertrag unterbreitet, in dem sich das Kind einseitig verpflichtet, keinerlei Gewalt anzuwenden. Weder ist dort definiert, wo kindliches Unbenehmen aufhört und wo Gewalt beginnt, noch bietet die Schule als Vertragspartner eine Klausel an, in der Schlichtungsmethoden oder andere Mediationsangebote ausgebreitet würden. Auf diese Art von Vertrag mit noch nicht geschäftsfähigen Vertragsteilnehmern, ist man mächtig stolz - er erlaubt die Aufgabe der Betreuungspflicht und schiebt die Verantwortung innerhalb der eigentlichen Schulzeit den Eltern zu.
Kleinste Dinge mit Vertrag zu regeln ist ja so ein Faible der neoliberalen Weltanschauung. Die glaubt, man könne die Gesellschaft komplett auf Vertragsgrundlage gestalten. Die Welt sei demgemäß nicht mehr als eine Ansammlung potenzieller Vertragsoptionen. Sich zu vertragen heißt für sie, dass man einen Vertrag selbst auf Einhaltung von Schulordnungspunkten aufsetzt und zur Unterschrift vorlegt. Da, wir habe es doch Schwarz auf Weiß! Interventionen von Eltern, die behaupten, ihr Kind habe nur gerempelt und geknufft, werden so glattgebügelt. So fange Gewalt nämlich an; wehret den Anfängen! Mit der Arroganz desjenigen, der auf einen Vertrag pochen kann, begegnet man den Eltern dann. Kindliches Rudelverhalten wird auf Vertragsgrundlage sanktioniert, das Kind ist nicht mehr Kind, es steht im Kontrakt, ist Vertragspartner, von daher vom kindlichen Verhalten, das natürlich oft nervig und natürlich auch tadelnswert sein kann, entfremdet.
Das Kind hat zu funktionieren - ich berichtete ja schon mal darüber, ich schrieb: "Die Funktion des Kindes, die mit allen Mitteln hergestellt werden soll und falls das nicht gelingt, die Dysfunktion des Kindes auszumerzen, indem man das Kind suspendiert, aussperrt, es auf eine andere Schule überführt, ist die eine Säule neoliberalen Gedankenguts an Schulen." Die Suspendierung auf Vertragsgrundlage ist dabei besonders perfide, denn hier macht man aus einem Kind einen Geschäftspartner. Wenn da die herrschende Ökonomie mal nicht vollendet durchgeschlagen hat! Und was hat das eigentlich mit Pädagogik zu tun? Immerhin geschehen solche Bestrafungen im Rahmen "pädagogischer Maßnahmen".
Kurzer Statusbericht
Was war also geschehen? Mein Kind war ins übliche Geschubse zum Pausenende verwickelt und wurde inflagranti erwischt. Die anderen Teilnehmer haben sich gescheiter angestellt und haben sich nicht ertappen lassen. Die Verletzung war eine angestossene Nase. Kein ärztlicher Befund, da schon wieder vergessen. Rücksprache mit dem Klassenlehrer, der mit der Heimschickung nichts zu tun hatte: Alles halb so wild, sagte er. Das Herumgeschubse bringe man nie aus Kindern raus. Damit müsse man leben. Die Schule, ich vermute er meinte: der Schulleiter, wolle aber so vorgehen.
Man ahndet also rigoros, macht aus Mücken Elefanten. Die stören dann weniger den Betrieb. Die Tränen des Kindes, die Nervosität von Eltern, die während der Arbeitszeit angerufen werden: all das nimmt man in Kauf. Man hat scheinbar schon lange aufgegeben, pädagogisch vorzugehen, schickt lieber weg, bannt die nervenden Aspekte des Kindes ins Private. Ist das das Lehramt, das man heute lehrt? Kinder als der wunde Punkt der Pädagogen? Wäre das schön an Schulen zu lehren, wenn nur die Kinder und ihr Verhalten nicht wäre! Der behindernde Faktor namens Kind, dieser Störenfried mit Pausenbox - in Zeiten neoliberaler Effizientitis sind Kinder ein Affront.
Verhaltensnormen als Ausgrenzungskriterium
Als ich beim ersten Elternabend war, konnte ich nur schwer diese Neigung für eine Zensur erklären, die sich Sozialverhaltensnote nennt. Dergleichen gab es in Bayern nicht. Berichtigung: Es gab sie für einige Zeit, sie wurde aber wieder kassiert. Die Kritiker hatten sich durchgesetzt. Die meinten, damit durchleuchte man das Kind, mache den Charakter durchleuchtbar und erzeuge ein falsches Bild von der betreffenden Person.
Ob eine Person Persönlichkeit entwickelt, wenn sie sich dauerhaft an der Sozialverhaltennote orientiert, von den Eltern stets auf diese Note hingewiesen wird, würde ich als Kritik hinzugeben wollen. Begehr nicht auf, keine Widerworte, denk an deine Sozialverhaltensnote! Eltern machen sich verrückt um diese benotete Rubrik, Kinder fürchten den Furor der Eltern. Potenzielle Ausbilder würden wohl mit Argusaugen auf Sozialverhaltennoten starren, heißt es von Seiten dieser Pädagogik. Daher sei unbedingt eine gute Zensur notwendig. Was ist das für eine Pädagogik, die nicht gegen solche Noten ankämpft, sondern sie stützt? Was ist das für eine Pädagogik, die damit kenntlich macht, sie halte vom menschlichen Reifeprozess eigentlich wenig? Denn das Verhalten eines Achtklässlers muss doch nicht das Verhalten sein, das man dann als Schulabgänger oder noch später an den Tag legt. Und welche Rückschlüsse erlaubt Unpünktlichkeit auf charakterliche Eignung? Ist man nicht richtig sozial, wenn man aus Drang zum Humorigen immer wieder mit Flapsigkeit und lockeren Sprüchen auf sich aufmerksam macht? Welche Persönlichkeit entwickelt man, wenn man nahe am guten Sozialverhalten sozialisiert wird? Ist der Jasager und Abnicker nicht schon programmiert? Ist Geselligkeit, die dort negativ zu Buche schlägt, nicht auch häufig ein Attribut, das auf emotionale Intelligenz verweist?
Die Note im Sozialverhalten wird von Eltern und Lehrern gerne mit Tugendhaftigkeit verwechselt. Der gesamte bürgerliche Wertekanon fließt hier rein. Schwierig wird es dann für Kinder, deren Eltern nicht sehr stark an diesem Kanon orientiert leben. Ich meine das völlig schichtenunabhängig. Die von Eltern an ihre Kinder weitergereichte Egomanie und Ellenbogenzentriertheit zeitigt eher selten Abzüge in der S-Note. Das gehört zum guten Ton; wer sein Kind in der Gesellschaft etablieren will, muss geradezu sein Kind zum Ichling erziehen. Das kann man nicht negativ bewerten. Das ist nämlich elterliche Fürsorglichkeit. Eltern aber, die ihren Kindern erklären, dass man zwar durchaus Respekt vor Lehrern und Mitschülern haben muss, wie vor jedem Menschen, dies aber nicht Untertanengeist bedeute, dass man also beispielsweise zum Pinkeln gehen darf, auch wenn der Lehrer meint, das sei eine Aktion für die Pause, dann könne man getrost Verweigerungshaltung einnehmen und fröhlich zum Pinkeln abrauschen, dann wird das in aller Regel das Sozialverhalten negativ beeinflussen. Ich würde jedoch sagen, ganz im humanistischen Sinne, dass Courage nichts ist, was man als schlechtes soziales Verhalten bezeichnen könnte, sondern ein Ausdruck von persönlicher Freiheit, die Kinder dringend erlernen müssen, um irgendwann als Persönlichkeit ins Leben gehen zu können.
Die Noten im Sozialverhalten ziehen Duckmäuser heran, reibt den Keim der Persönlichkeit auf, erzieht teilweise sogar falsche Normen an. Freundlichkeit ist nicht verwerflich; wer aber in einem Elternhaus aufwächst, in dem die Freundlichkeit aus welchen Gründen auch immer, nicht besonders gepflegt wird, gerät ins Hintertreffen. Die verschiedenen Tugendmilieus erhalten als Meßzeug einen bürgerlichen Maßstab, der für die Nuancen der verschiedenen sozialen Herkünfte und Elternhäuser nicht sensibilisiert ist. Oder anders gesagt: Das beäugte Sozialverhalten rekrutiert sich aus bürgerlichen (Schein-)Tugenden und schließt Kinder aus Elternhäusern aus, die diese Tugenden nicht leben können oder wollen.
Charakterlosigkeitsschulung
Die Überforderung der Lehrer ist bemerkenswert. Mein Kind berichtete mir von einer Lehrkraft, die gezielt und stets neu den Stinkefinger als "pädagogisches Mittel" einsetzt. Ich glaubte das erst nicht, gratulierte mir zu einem Kind mit reger Phantasie. Aber irgendwann erzählten mir Kinder aus dem Fußballverein unabhängig davon. Sie zeige ihn einzelnen Kindern vor der Klasse oder gleich der ganzen Klasse und will natürlich nicht selbst gestinkefingert werden. Vorbildfunktion dürfe das nicht haben. Interessante Lehrmethoden und -logiken sind das! So sind sie nicht alle, die Lehrer, viele sind das Gegenteil. Aber diese Lehrkraft ist exemplarisch für eine Pädagogik, die nichts mehr ist als ernüchterte Berufung, als plumpe Karrieremöglichkeit für Menschen ohne Kinderbezug. Welche Charakterschulung erhält man an Schulen, in denen Pädagogik schwarz und Pädagogen fachfremd sind?
Als berufsvorbereitende Lehranstalt hat es geordnet und glatt zu gehen, nichts darf aufhalten, nichts behindern. Kinder sind aber nun mal nicht korsettfähig, jedenfalls sind sie es nur bedingt. Und sie sollten es auch nicht voll und ganz sein. Erwachsene mit sozialen Ansätzen, voller Originalität und Esprit, innovative Persönlichkeiten werden sie vorallem, wenn sie ihrer Persönlichkeit gemäß schulisch aufgehoben sind. Das meint nicht, irgendwelche Talente per Förderprogramm zu bergen oder auszubauen, sondern in erster Linie die Charakterschulung. Aber an Schulen, die immer weniger Charakter haben, kann man charakterliche Attribute nicht herauskitzeln. So ist zwar jede Kleinigkeit schon Gewalt, aber der Ellenbogen im Bezug auf das soziale Miteinander, als Durchsetzungskörperteil der Starken gegenüber den Schwachen ist erlaubt und gewollt. Ellenbogen sind aber keine Charaktereigenschaft, sondern ihr fahrlässiger Gebrauch ist die Metapher einer Charakterlosigkeit, die in Schulen mehr und mehr um sich greift.
"Der Mensch ist ein politisches Geschöpf, das am liebsten zu Klumpen geballt sein Leben verbringt. Jeder Klumpen haßt die andern Klumpen, weil sie die andern sind, und haßt die eignen, weil sie die eignen sind. Den letzteren Haß nennt man Patriotismus."
Der schmierenkomödiantische Slapstick über den copy & paste-Minister, der als Satire verkauft wurde.
Die Kommentarspalten waren sich vorher wie nachher darüber einig, dass Der Minister, jener Spielfilm, den Sat 1 kürzlich ausstrahlte, eine gelungene Satire sei. Die Doktorspielchen des Freiherrn, so lobte man, seien eindrucksvoll lustig gelungen. Dabei offenbarte die Sat 1-Produktion nur eines: Wie zurückgeblieben der politische Anspruch der Satire hierzulande ist. Die Satirekultur ist in Deutschland Stemmeisen und selbst Hollywood gelingen solche Produktionen wesentlich feinfühliger.
Voll normaaal?
Dieser Sat 1-Freiherr fungierte als Depp. Das sah man ihm auch sofort an. Er war so übertrieben lächerlich, dass es fast schon gefährlich ist, die Affäre um Guttenberg mit diesem Film in Verbindung bringen zu wollen. Wäre er als Typ eine solche Witzfigur gewesen, so hätte er einen anderen, einen schlechteren Eindruck auf die Bürger gemacht. Als er ertappt wurde, mag er sich blöd benommen haben, aber nicht wie ein völlig verblödeter Irrer, dem vorher noch einfiel, sich nackt auf den Teppich zu räkelt. Guttenberg war dämlich in seinem Dünkel, wortgewandt dämlich, mit feinen Umgangsformen ausgestattet dämlich, nicht aber wie ein übergroßer Junge, der weinerlich gewesen wäre.
Guttenberg war eine gefährliche Erscheinung, ein adliger Volkstribun ohne Qualitäten, der sich aber als Kompetenz verkaufte und eine PR-Maschinerie hielt, die diese blaublütige Mittelmäßigkeit zur Hochform puschte. Eine Witzfigur von so grobschlächtiger Idiotie war er nie - eine raffinierte, eine kultivierte schon eher. Braucht Satire, um in Deutschland erfolgreich zu sein, diesen Hang zur überdrehten Voll normaaal-Stilistik mit aufgesetzter Tom Gerhardt-Pudelmütze? Leise Töne voll nuanciertem Witz kommen in diesem burlesken Ballermannismus natürlich nicht vor. Ist Slapstick schon Satire? Warum flogen nicht gleich noch Torten als Krönung pseudosatirischer Tiefgründigkeit?
Vermutlich, denn auch die Karikatur dieser Kanzlerin war die eines kauzigen Muttchens, das selbst im Hosenanzug und darübergeworfener Schürze noch Brot schnitt und Ministerentscheidungen während der Hausarbeit aufdiktiert bekommt - bezeichnenderweise von einem auf Märklin-Züge abfahrenden Ministerpräsidenten Bayerns. Ohne Infantilisierung scheint Satire hierzulande nicht zu funktionieren. Und in diesem Geiste sind auch die phantasielosen Verballhornungen sämtlicher Nachnamen zu sehen, sie lesen sich wie die verzerrten Kopfgeburten von Kindern kurz nach der Vorschule.
Infantiler Parallelpolitbetrieb
Satire muss nicht zwangsläufig das exakte Abbild der Formate sein, die man in der Wirklichkeit findet. Sie verliert an Ausdrucksfähigkeit, wenn sie die Bilder, die man von Personen der Realität hat, beinahe identisch kopiert. Eine so überspitzte Abhandlung der Plagiatsaffäre sichert sich nicht nur Gelächter, sondern wertet die optischen Vorgaben aus der Wirklichkeit auf, macht, dass man sagt: Na, sooo schlimm ist die Merkel ja doch nicht. Was hätte dagegengesprochen, die Plagiatsaffäre mit anderen Protagonisten auszustatten, den Guttenberg nur anzudeuten, eine Eins-zu-Eins-Kopie Merkels zu unterlassen und die Ränkespiele der Macht dafür besser zu betonen?
Denn was bleibt von dieser Satire in Erinnerung? Eine Kanzlerinnenfrisur mit überspanntem Kanzlerinnengesicht, ein alberner Minister und allerlei Kopien von Politikern, die man entweder grotesk überstiegen dargestellt hat oder aufgrund der Übertreibung ihrer typischen Attribute veralberte. Es ist dieselbe zahnlose Form der kabarettistischen Aufbereitung, die man zu Kohls Zeiten kannte, da eine überdimensionale Birne schon für Schenkelklopfer sorgte und die Lächerlichmachung seiner politischen Inhalte zurückstellte.
Der Minister ist wie etwaige Folgen aus dem Star Trek-Universum, in denen die Protagonisten in ein Paralleluniversum gelangten, in denen alles was sie kennen, sie inklusive, bereits existierte - nur eben in gespiegelter Gestalt. Vereinfacht gesagt: Die Guten sind dort böse und andersherum. Das Drehbuch gibt hier einen infantilen Parallelpolitbetrieb wider, in der die Nuancen zwischen lächerlich und seriös so weitmaschig sind, dass man sie ohne viel Gespür sofort begreift. Wenn das die Realität wäre, dann wäre es herrlich einfach. Nun ist freilich Satire nicht Realität, aber wenn sie sich zu weit von ihr entfernt, dann gerät sie zur Schmierenkomödie. Und genau das ist Sat 1 gelungen.
Die versuchte Kopie der Wirklichkeit, die nur dezent entstellt und verfremdet, um sich nicht angreifbar zu machen für Unterlassungsklagen, birgt stets die Gefahr der Überspanntheit des Sujets. Das eigentliche Motiv verschwindet hinter den Showeffekten und soll durch bizarre Überspitzungen aufgefangen werden, was wiederum nur scheitern kann. Als Lehrstück politischer Satire im Film muss Wag the Dog angeführt werden: Keine billigen Kopien, keine Zoten durch Zurschaustellung übergroßer Attribute, keine total bizarr agierenden Rollen, sondern leise Töne des politischen Wahnsinns in natura. Die Story ist fürwahr bizarr, tritt doch die USA in einen Krieg ein, um damit eine sexuelle Affäre des US-Präsidenten zu einer Minderjährigen zu vertuschen. Mag die Storyline einer Satire auch einer Groteske entsprechen, solange die Akteure nicht wirken, wie manische Maskenträger aus einem Bühnenstück nach Gusto der Commedia dell'arte, erzielt das realistische Sequenzen, die dann als Satire wirken können.
Nicht ob, sondern wie man satirisch aufgreift
Kürzlich unterhielt sich die Bedenkenträgerei mal wieder darüber, was Satire wohl darf und was nicht. Es ging wie stets, wenn man darüber sinniert, um den humorigen Umgang mit Hitler. Dabei ist doch nicht die Frage, was Satire darf, sondern was sie nicht darf. Und das nicht mal im Hinblick auf Moral, sondern auf deren eigene Wirkungsweise. Die ontologische Grundfrage der Satire ist keine ethische Disziplin, sondern eine ästhetische. Die Frage des Ob ist zweitrangig, wenn die Frage nach dem Wie so beantwortet wird, dass sie eine gewisse Würde birgt. Ob man Hitler satirisch aufgreifen darf, stellt sich doch gar nicht als Frage. Wie man es tut, nach welchen Standards, ob als Clownerie, als Schmierenstück oder mit Raffinesse, das ist es, worüber man diskutieren kann.
Unabhängig von Hitler als Gegenstand gibt es eine ärmliche Vermischung von Satire und Possenreißerei in der Massenkultur Deutschlands. Eine Posse voller Bajazzos nennt sich schon Satire, obgleich der politische Sprengstoff so gut wie aus dem Schneider war. All die Hampel, all die Übertreibungen, die mimischen Taschenspielertricks, die überspitzte Verzerrung der Wirklichkeit ins dann von jeder Wirklichkeit abgelöste Phantastische - für Gehalt und für profunde Zusammenspiele politischer Macht- und Wirkungsweisen bleibt da kein Platz. Satire versucht das zumindest - guter Satire gelingt es zuweilen sogar.
Die absichtliche Grobmotorik von Darstellern entstammt der Theaterbühne. Dort mussten die Schauspieler übertrieben lachen oder lauter als im wirklichen Leben heulen, um auch den hintersten, den billigsten Plätzen die Emotion des Moments verständlich zu machen. Als es aber möglich wurde, das Schauspiel direkt vor das Auge des Betrachters zu bekommen, mit Erfindung des Films also, war dieses grobmotorische Mienenspiel mit gemütskrankem Duktus nicht mehr notwendig. Im Stummfilm sind die Darstellungen oft noch dergestalt überzogen, weil die Schauspieler noch das Theater im Kopf hatten und dachten, Schauspiel sei die Darstellung des Wirklichen mit übertriebener Betonung, weil sie meinten, es gehöre sich eben so. Bannt man dieses maßlose Mienenspiel trotzdem aus Gründen der Witzigkeit vor die Linse, so geht es um billige humoristische Abstauber, um die schnelle Lacherquote.
Kurzum, Satire ist nicht Komödie und jede gute Komödie hat Aspekte der Satire in sich. Dem einem Metier geht es um Witzigkeit als Ziel, das andere nutzt Witzigkeit als Weg zu einem Ziel. In der Komödie ist der Humor Syntax - die Satire missbraucht ihn zu höheren Zielen, zur Aufdeckung und Entblößung und überspannt ihn nicht, sondern gestaltet Humor mit der Groteske der Normalität. Der Minister war eine Komödie bestenfalls - vielleicht sogar eine mittelmäßige. Satirisch war dieses Stück allerdings nicht.
Was an den Vorwürfen dran ist, Bergoglio habe mit der argentinischen Junta zu tun gehabt, kann ich nicht beantworten. Falls es überhaupt jemand beantworten kann. In Südamerika, wie überall post dictatura, ist es allerdings nicht unüblich, jemanden aus welchen Gründen auch immer, mit einer Nähe zu den Machthabern auszustatten. Deutschland erlebt dieses Phänomen auf seine Art, wenn es darum geht, bestimmte Menschen zu StaSi-Mitarbeitern aus Leidenschaft zu erklären oder zu persönlichen Kumpanen irgendeines DDR-Bonzen.
Das ist nur der eine Kritikpunkt, den linke und "linke" Medien Papst Franz vorwerfen. Der andere ist seine Unnachgiebigkeit in Sachen Homoehe und Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Was hat man eigentlich erwartet? Einen Revoluzzer? Jemand, der alles was der Katholizismus bis jetzt für richtig hielt, umwirft und bei Null anfängt? Und selbst ich, der ich mich als links oder linksliberaler Mensch einstufe, bin mir nicht schlüssig in Fragen des Adoptionsrechts für homosexuelle Paare. Mag sein, dass da meine katholische Sozialisierung mitspielt, kann aber auch sein, dass es vielleicht doch vernunftbasierte Skepsis ist. Ob ich das biologistische Argument, wonach gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder zeugen können, hier anbringen soll, bleibt zweifelhaft. Andernorts lasse ich es ja auch nicht gelten. Der Mensch kann im Arrangement seines Lebens in der Gesellschaft nicht auf Biologie reduziert werden. Das lehrte mich der Existenzialismus. Sind es also folglich Ressentiments? Gegen Homosexuelle sicher nicht. Das ist aber hier nicht das Thema und ich habe zu wenig Ahnung von der Materie, um mir eine qualifizierte Meinung ausgestalten zu wollen.
Mich beschleicht das Gefühl, dass sich die Katholische Kirche jetzt mal jemanden vorgesetzt hat, der annehmbar ist, zwar durchaus konservativ, aber dies in gebotener Bescheidenheit und mit Anstand und Würde - und trotzdem (oder deswegen?) will man es dringend schlechtreden.
Und was hat denn eigentlich die ansonsten so unspirituelle, teils nicht mal katholische Öffentlichkeit für ein seltsames Interesse daran, ob beispielsweise Frauen ordinieren dürfen oder nicht? Mir persönlich sind diese innerkirchlichen Fragen völlig einerlei, ich halte sie nicht für weittragend genug oder gar für eine Angelegenheit der Gerechtigkeit. Das sind innerkirchliche Prozesse, die mich wenig betreffen und die auch all jene, die die Katholische Kirche für total mittelalterlich halten, kaum interessieren dürften - außer natürlich, um der Institution zu spotten. Wichtig ist mir, ob eine Weltkirche dazu bereit ist, die soziale Frage, als die brennendste Frage unserer Tage, immer und immer wieder zu thematisieren. Vielleicht ist dieser Papst hierzu sogar der richtige Mann. Mir kommt es vor, als schiebt man dieses Gerede von der innerkirchlichen Reform, die er nun eilig anschieben sollte, damit die Katholische Kirche wettbewerbsfähig (sic!) bleibt, nur dazu vor, um einen etwaigen sozialen Anspruch der Kirchenspitze ins Hintertreffen geraten zu lassen.
Ich glaube nicht an Gott und die Kirchen gehen mit vielen, was ich denke und annehme, nicht konform. Was mich wirklich ärgert ist dieses linke Lebensgefühl, das voller Arroganz gegen Religion auftritt. Ein Lebensgefühl, das einerseits den homo islamicus zu einem Menschen aus Mohammads Zeiten erklärt und andererseits die Katholische Kirche mit dem Begriff Kinderfickerbande entwürdigt. Bei aller notwendigen Kritik an Glaubensgebäuden, ein solches Glattbügeln ist dumm, lebensfremd und totalitär. Mir ist ein bescheidener Konservativer, egal ob jetzt dieser Papst oder ein Abgeordneter, viel lieber, als dieser Hardlinerei, die von Linken und "Linken" betrieben wird.
Dieser Mann hat sich noch nicht bewiesen. Was er jedoch spricht, klingt anders als alles, was man in den letzten Jahren von der vatikanischen Senilität gehört hat. Da spricht einer von armer Kirche und von einer Kirche für die Armen. Bergoglio ist von der Befreiungstheologie angehaucht, auch wenn er nicht zu einem expliziten Vertreter dieser exegetischen Schule gehört. Was er spricht, wie gesagt, klingt anders. Mit der Kurie hatte er bis dato kaum Kontakt, sodass man annehmen darf, dass er kein Apparatschik ist. Was er tun wird, bleibt gleichwohl freilich beschränkt, denn das Amt des Papstes hat keine globale Exekutivkraft.
Es ist, als sei der Kulturkampf Bismarcks vom protestantischen Konservatismus auf die atheistische Linke übertragen worden, als litte man links nun an denselben Affekten gegen das Ultramontane wie jenes protestantische deutsche Reich des 19. Jahrhunderts. Damals glaubte man, die Katholiken würden von einer fremden Autorität geführt, eine Parallelgesellschaft im Reiche betreiben. Diese fremde Autorität wittert man noch immer, wenn diese Kirche nicht Staats- und Bürgerkirche sein will, an konfessionellen Eigenarten festhält und an institutionellen Ansichten klammert, die man zwar nicht teilen muss, die man aber auch nicht unter Druck setzen kann, wenn sie einem nicht passen. Dass die Kirche modern werden muss, hört man oft als Anregung. Genau das will sie nicht, sie soll nach Ansicht ihrer Vertreter eben nicht angepasst sein an den Zeitgeist. Der Protestantismus hat das zuweilen ganz anders gesehen; unter Bischof Huber hat man sich zur ganz realpolitisch Agenda 2010 bekannt und die Verbetriebswirtschaftung des Seelenheils postuliert. Ist das der Plan, den eine moderne Kirche haben sollte?
Man kann vom Gepapste halten, was man will. Die Show, die darum gemacht wird, und gerade auch von kirchenfernen Medien gemacht wird, ist manchmal schwer erträglich. Der Papst ist ein Popstar. Ratzinger in Deutschland einst mehr, als es jetzt und künftig Begoglio sein sein wird in diesem Lande. Dennoch ist das Lapidare, mit der einige Linke und "Linke" Hand in Hand mit dem bürgerlichen Protestantismus auf den neuen Vertreter des Katholizismus reagieren, völlig unangebracht. Da gibt es Vorwürfe, er habe der Diktatur zugespielt, was nie bewiesen wurde - das alleine reicht aus um zu behaupten, man hätte schon wieder einen fadenscheinigen Charakter ins Amt gehoben. Vorher kannte man Bergoglio gar nicht, aber kaum hörte man von seiner möglichen Vorgeschichte, tat man schon so, als wisse man, mit wem man es zu tun habe. Mir schien, dass die Tickermeldungen bei Facebook schon voller Despektierlichkeit waren, als das Wort Militärregierung auch nur fiel.
Ratzinger war konservativ, was Franz angeblich auch sein soll. Aber was bedeutet das schon? Sind nicht auch Linke konservativ, wenn sie im Gegensatz zu den neoliberal angehauchten Konservativen darauf aus sind, den Sozialstaat zu erhalten, zu conservare? Ist es nicht auch konservativ, wenn man als Progressiver heiratet und einem Familienmodell anhaftet, von dem man vor vier Jahrzehnten schon sagte, es sei ein Modell der künstlichen Rollenverteilung und Unterdrückung? Ist eine Familienpolitik, die Kinder ermöglicht und Familienleben bezahlbar halten will, nicht auch konservativ?
Ratzinger konnte man leicht kritisieren, seine Positionen waren teilweise mittelalterlich, alleine wenn man nur sein Faible für die Exorzistenausbildung betrachtet. Den weltlichen Ermittlungsbehörden stand er eher im Weg. Gleichwohl war er nicht immer grundsätzlich falsch positioniert, nicht alle seine Werte waren rückständig, vieles war wertkonservativ im besten Sinne. Seine Rede im Bundestag, wenngleich ich damals dachte und noch so denke, es sollte dort kein spiritueller Führer sprechen, war anständig und ein Stachel im Fleisch des Selbstbetruges, wonach Mehrheitsentscheidungen immer mehr oder minder richtig seien. Und sein Rücktritt, bei aller Kritik, war doch etwas, wofür man Respekt aufbringen musste. Zu sagen: Ich kann nicht mehr, mir fehlt die Kraft - das ist nicht wenig mutig.
Die Vorwürfe mit der gespaltenen Ökumene kümmern mich persönlich weniger. Aus katholischer Sicht ist diese Haltung sogar nachvollziehbar. Der Protestantismus macht es sich zuweilen sehr einfach, wenn er sich an der realen Welt ausrichtet. Siehe Agenda 2010 und Huber; siehe etwaige Aussagen zur Gentechnik.
Vielleicht habe ich den Ratzinger-Papst oft zu harsch bewertet. Innerlich war ich mir immer darüber im Klaren, dass er zwar nicht auf einer Linie mit mir liegt, aber auch nicht der klassische "Feind" ist. Bei Franz ist mir das viel bewusster. Er wird, je nach Länge seines Pontifikates, viel Unsinn reden, nehme ich an. Bei der Homoehe wird er sich verbrennen, wird die Kritik auch derer kassieren, die die soziale Frage - wie er ja auch - für existenziell halten.
Die apriorische Kritik an einem Papst, der zwar konservativ ist, der aber die Nähe zu den Menschen in Not und Armut nie verloren hat, ist allerdings völlig unangemessen. Natürlich darf er kritisiert werden. Muss er sogar. Aber was ist das für eine Mentalität, ohne Kenntnis von einer Person schon seinen Charakter erkannt haben zu wollen? Man muss deshalb nicht gläubig werden, aber dieser Papst könnte ein spiritueller Verbündeter gegen Ausbeutung und Plünderung sein. Kein Anpacker, aber eine moralische Instanz.
Auch wenn mich sein dauernder Drang zum Gebet störte, so fand ich seinen ersten Auftritt bescheiden und angenehm. Manche nannten ihn daher einen Wolf im Schafspelz. Wie müsste ein Papst eigentlich auftreten, um auch in der linken Lebenswirklichkeit anerkannt zu werden? Ich glaube, er könnte machen was er will, man wird ihn nie anerkennen. Die intellektuelle Einstellung des Ratzinger wurde verachtet und die jetzt auftretende sympathische Schüchternheit ebenfalls. Ich halte das ganze Gezeter von links und "links" für selbstgerecht und arrogant.
Unterdrückung führt zu Solidarisierung führt zu Umstürzen. Das wissen vor allem Linke. Unsinn: Es ist eine romantischer Verklärung, Unterdrückung als Grundstein für Aufbegehren zu sehen, ein eschatologisches Überbleibsel aus der Zeit, da die Linken der Weltrevolution bei kühlem Bier harrten.
Neulich im Ersten: Heimkinder und ihre bitteren Erfahrungen in der bundesdeutschen Vergangenheit. Es gab einen Spielfilm und danach erzählten Betroffene vom Leid, das man ihnen antat: Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft über kaltes Abduschen und Kontrolle aller Lebensbereiche bis hin zum sexuellen Missbrauch. Es waren Berichte von Menschen jenseits der Fünfzig. Und es waren psychische Kraftakte, wiewohl man ihr Gebrechen, diesen Lebensballast deutlich spürte. Ich dachte mir indes: Mensch, hat sich die Meinhof damals getäuscht!
Rösler liegt richtig. Dummheit kann man nicht verbieten. So ähnlich steht es schon in der Präambel des FDP-Gründungspapiers. Und dieses Motto ist elitäres Lebensgefühl. Es ist die Quintessenz dieser politischen Eliten, die gezielt unfähig sind und der herrschenden Ökonomie süchtig anhaften, die aber zum Selbsttrost sagen können: Verbieten kann man uns ja nicht, denn Dummheit kann man nicht unter Verbot stellen.
Nehmen wir nur mal Gauck. Exemplarisch. Er spricht dieser Tage von einem Internet, das menschliche Abgründe birgt. Die Anonymität würde Hemmschwellen aufheben, meint er. Als ob fernab des Internets nicht die Anonymität Schutzmantel mancher hinterfotzigen Aktion, mancher kriminellen Handlung wäre. Eben das dumme Geplapper eines Mannes, der vom Internet keine Ahnung hat und daher zur übliche Diabolisierung neigt. Und trotzdem: Man kann das nicht verbieten.
Diese elitäre Dummheit spricht über Sozialromantik und den Islam als Bedrohung, bemüht die schwäbische Hausfrau als ökonomisches Prinzip, glaubt die Steuerlast für Unternehmen und Millionäre zu hoch und nennt den Krieg einen Friedensfürsten. Und nichts davon kann man verbieten. Denn es gibt ein vom Grundgesetz verbürgtes Recht auf Dummheit und auf die kompetente Ahnungslosigkeit als Mutter dieser Untugend.
Problem ist nur, dass die NPD, die Rösler hier als parteiliche Dummheit bezeichnet hat, gar nicht dumm im Sinne von ahnungslos ist. Sie hat ganz genaue Ahnung von dem, was sie da verbreitet und als Lösungsvorschläge anbietet; sie weiß ganz genau, dass sie mit ihren Radikalismus eine Klientel bedient, die ihr wiederum staatliche Gelder zur Parteienfinanzierung einbringt, wenn sie sie wählt. Das ist nicht dumm - das ist raffiniert und durchtrieben und das ist ein gewaltiger Unterschied.
Dummheit wie Gaucks Internetphobie kann man nicht verbieten. Steuern runter! und Mehr Netto vom Brutto! als Parolen kann man nicht verbieten, wenn sie auch noch so dämlich sind. Durchtriebener Radikalismus, auf Sozialverträglichkeit konditionierter Rassismus, abgefeimte nationalistische Winkelzüge sind aber keine Dummheit. Und Rösler ist eben auch nicht dumm, wenn er die NPD mit Dummheit abtut. Beihilfe zum Extremismus trifft es da besser.
Dumm ist der, der Dummes tut, hat Forrest Gump einst gesagt. Das ist nicht immer ganz richtig. Manchmal ist das, das Dummes tut und sagt, auch ganz einfach nur ein demokratisch legitimiertes Verbrechertum. Oder wie Rösler: ein komplizenhafter Ignorant gegenüber dieser fadenscheinigen Legalität. Die NPD mit Dummheit zu entschuldigen trägt zur Verdummung bei. Und diese Verdummung kann man leider auch nicht verbieten.
"Ich weiß nicht, woher die Demagogen das Recht nehmen, sich Liberale zu nennen", sagte er. "Sie haben das Wort gestohlen, nicht mehr und nicht weniger, wie sie alles stehlen, was ihnen zwischen die Finger kommt."
- Gabriel García Márquez, "Der General in seinem Labyrinth" -
Dass das gleich mal gesagt ist: Ich hätte mir keinen Anschlag auf Markus Beisicht, diesem Kopf aus dem Führungskader von pro NRW, gewünscht. Auch Rechtsextremisten darf man nicht fröhlich aus der Welt befördern. Mord ist Mord. Aber fragen muss sich schon, weshalb hier die Zugriffe gelingen und mögliche terroristische Angriffe vereitelt werden, während gleichzeitig jahrelang und trotz Involvierung von Geheimdiensten, zielgerichteter Terror nicht erkannt werden wollte.
Es gibt tatsächliche Terroropfer in diesem Lande und es gibt potenzielle. Ob jemand tatsächlich Opfer wird oder potenziell Opfer bleibt, ist eine Frage der Setzung von Prioritäten. Manche Gefahrengruppen sind ganz offenbar beschützenswerter als andere. Dazu zählen auch Rechtsextremisten. Türkische Mitbürger weniger. Die können Opfer einer Mordserie werden und deren Hinterbliebene müssen dann damit leben, dass das Tatmotiv in deren angeblichen Kontakten zur türkischen Unterwelt gesucht wird.
Obgleich diese Republik nun weiß, dass der Rechtsradikalismus keineswegs nur Rassismus predigte, sondern auch mindestens eine Mordbrigade unterhielt, kann man sich nur schwer durchringen, dem Rechtsradikalismus die Kanäle abzugraben. Innenminister Friedrich ziert sich da immer ein bisschen. Aber in salafistische Räumlichkeiten läßt er eindringen, findet dort scheinbar offen rumliegende Attentatspläne und meldet sich als Vereitler des Terrors zurück. Das potenzielle rechtsradikale Opfer hat das Glück, dass man seinen potenziellen Mörder für gewichtiger erachtet als jene, die schon tatsächlich Bürger ausländischer Herkunft getötet hatten.
Das ist die ganz besondere Prioritätensetzung, die das Innenministerium unter Friedrich für sich installiert hat. Erst werden Rechtsradikale und Linksextremisten gleichgesetzt, wobei die einen Menschen schlagen, anzünden und töten und die anderen vornehmlich Autos umkippen und Steine werfen - und dann kann man sich aber doch nicht zur Gleichsetzung von Rechtsradikalen und Salafisten entschließen.
Der pro NRW-Boss hätte es nicht verdient. Nicht mal er. Es gibt Grenzen, die einzuhalten selbstverständlich sein müssen. Aber dieses Engagement seitens der Behörden wünscht man sich vergeblich auch dann, wenn gegen rechtsradikale Kriminelle ermittelt wird. Da war man schon mal über Jahre hinaus blind - aber auf vagen Verdacht hin stürmt man die Räume religiöser Hardliner und hat - Zufallzufall! - einen Attentatsplan gefunden.
Und der pro NRW-Mensch darf sich nun als potenzieller und tatsächlicher Märtyrer feiern lassen. Er habe alles Recht der Welt, islamophob zu sprechen, wird es dann heißen. Die Moslems wollten ihn ja ermorden. Und die Hinterbliebenen der Opfer der NSU, die dürfen nicht mahnen, wenn einer wie Beisicht spricht und hetzt, denn Rechtsradikale reden zwar viel Unsinn, aber Taten folgen nur in seltenen Einzelfällen.
Jorge Maria Bergoglio gab sich, nachdem er bestätigt hatte, die Wahl anzunehmen, den Namen Fransiscus. Dieses Zeremoniell geschieht in lateinischer Sprache. Liefe es auf Deutsch ab, hätte er sich Franz genannt. Gleichwohl haben die Medien just in dem Moment, da der neue Papst gelüftet wurde, sich der latinisierten Form bedient. Das widerspricht den Gepflogenheiten deutschsprachiger Papstlisten.
Konsequent und richtig wäre, Bergoglio Franz zu nennen. Ratzinger war im deutschsprachigen Raum ja auch nicht Benedictus und Wojtyla und Luciani wurden auch nicht Ionnes Paulus geschrieben und gerufen. Auch in anderen Sprachräumen nutzt man ja jetzt wieder die landeskonforme Variante. In spanischen Sprachraum ist er Francisco, im englischen Francis und im französischen François.
Rausreden könnte man sich damit, dass Franz von Assisi im Deutschen schon mal - wenn auch eher selten - als Heiliger Franziskus gerufen wird. Keiner würde jedoch vom Kaiser Franziskus sprechen - und Georg Kreisler sang ja auch vom guaten alten Franz und nicht vom guaten alten Franziskus. Müntefering ein Franziskus?
Ehrlicher wäre es aber wahrscheinlich, wenn man einfach zugeben würde, dass einige Sender während der Live-Übertragung vom Kamin damit angefangen haben und dann nicht mehr davon ablassen wolltenoder konnten. Flugs war dieser Name in der deutschsprachigen Welt und schon fast allgemeingebräuchlich geworden. In der festlichen Stunde klang Franziskus aber auch viel hochtrabender als Fraaanz. Lingua franca schien da nicht passend.
Dass es keinen Franz mit der Nummer Eins geben kann, solange es keinen Franz Zwo gab, ist nun mittlerweile angekommen. Eine Eins schon zu vergeben, ehe es eine Zwei gibt, ist nicht nur für Papstlisten unüblich. Bei der Proklamation Benedikts wurde der Zusatz "der Sechzehnte" lateinisch genannt - bei Franz fiel keine Zahl zwecks Nummerierung. Die katholischen Kardinäle meinen viel zu wissen, aber Hellseher, die wissen ob es einen zweiten Franz jemals geben wird, sind sie dann doch nicht.
Es war schon seltsam und ein Ausdruck dieser "pluralistischen" Medien, dass überall unreflektiert von Franziskus I. gesprochen wurde. Mal sehen, ob man aus dem Franziskus nicht noch einen Franz macht. Vielleicht als Strafe, wenn er innerkirchlich festklebt...
Wer eine gerechte Umverteilung umsetzen möchte, der sollte vom Irrweg des Grundeinkommens wegkommen und sich für einen Mindestlohn stark machen. So schön die Idee dahinter ist, so sehr bauen die Apologeten des Grundeinkommens auf falsche Ansichten und bewirken das Gegenteil dessen, was sie eigentlich erreichen wollen. Heiner Flassbeck, Friederike Spiecker, Volker Meinhardt und Dieter Vesper machen deutlich, dass das Grundeinkommen in allen Varianten, die da so als Ideen herumschwirren, die Gerechtigkeitsfrage unterwandert und die Umverteilungsfrage auf Eis legt. Und sie nennen Gründe, weshalb das Grundeinkommen nicht halten kann, was es verspricht.
Ein berechtigter Einwand, den die Ökonomen aufzählen, ist: Wenn die Autarkie, die der Mensch einer Grundeinkommensgesellschaft genießt, weil er ja nicht mehr arbeiten muss, sondern kann oder darf, je nach Laune - wenn diese Autarkie also dazu führt, dass Arbeit nach eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen geleistet wird, dann mag das ein Aufschwung für Tätigkeiten sein, die man als Berufung wahrnimmt. Was aber geschieht mit Berufen? Wer schraubt Fahrgestelle zusammen und asphaltiert Straßen oder entertaint kleine Schreihälse? Autarke Erzieherinnen könnten sich ja auch nur die netten Kinder raussuchen. Eine unverbindliche Gesellschaft wäre das Resultat.
Seitdem Menschen der arbeitsteiligen Gesellschaft von Unabhängigkeit von der Erwerbsarbeit träumen, hoffen sie auf einen Typus Mensch, der freiwillig und aus rationalen Gründen arbeitet. Jeder hätte ja nun die Muße weniger zu arbeiten oder das zu tun, wonach einem der Sinn steht. Man führt dabei gerne Marx an, der über ein Ende der Arbeitsteilung sinnierte und meinte es sei irgendwann möglich "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." Diese Vorstellung der Autarkie ist führwahr sehr anziehend, aber undenkbar in einer Gesellschaft, die von so genannter Scheißarbeit abhängig ist. Von Arbeit, die keiner als Herausforderung sieht und die man als von der Erwerbsarbeit autarker Mensch niemals anpacken würde.
Das Wort Beruf kommt von Berufung. Luther soll es geprägt haben. (Im Zweifelsfall war es immer Luther.) Heute stehen Beruf und Berufung aber durchaus gegensätzlich da. Die Berufung käme vielleicht sogar gut weg, gäbe es ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Altenheime hätten plötzlich Personal, Vorleser oder Zuhörer. Das Grundeinkommen würde Zeit loseisen und der Berufung Zeit schenken. Aber den Beruf, wer würde den wählen? Bestimmte Berufe würden bestimmt weiter erledigt. Andere jedoch sicherlich kaum. Wer geht freiwillig in die Kanalisation? Wer wäscht Scheiße aus Altenheimbettwäsche? Wer reinigt Fenster oder pflastert Schnellstraßen bei Wind und Wetter?
Das alles bedeutet nicht, dass man das negative Menschenbild der Neoliberalen teilen müsste, die da meinen, alimentierte Menschen würden es bevorzugen auszuschlafen und sich auszuruhen. Natürlich arbeiteten die Menschen auch dort, zumal einige Grundeinkommensmodelle auch einen Mehrertrag für die Arbeitsbevölkerung vorsähen. Aber zu positiv darf man das ja auch nicht sehen. Es ist ja mitnichten so, dass der Mensch ein bedingungslos edles Wesen ist, das in einem Idyll zu den nobelsten Taten fähig würde. Die Scheißarbeit fällt immer unter dem Tisch, wenn man den Garten Eden auf Grundeinkommensniveau beschreibt. Man spricht von ihr nicht, so als fiele sie einfach weg, als hätten wir es nicht mehr nötig zu schrauben, zu putzen oder zu warten. Oder meint mancher ein glückliches Menschengeschlecht auf Grundlage technischen Rückschritts zu ermöglichen? Polpotismus etwa? Back to the stones? So würde es eventuell wirklich funktionieren. Aber wer möchte das schon?
Flassbeck, Spiecker, Meinhard und Vesper bringen noch mehr Einwände. Einer wäre, dass das Grundeinkommen nicht ökologisch ist. Denn bringt der Staat sämtliche Steuereinnahmen zur Umverteilung auf, so fehlen ihm die Mittel, einen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, in dem Klima- und Umweltschutz gestaltet werden kann. Wenn aber der Preismechanismus der Marktwirtschaft für eine nachhaltige Nutzung der Umwelt aufgehoben wird (d.h. umweltschädliches Produzieren steuerlich zu belasten und zu verteuern, um Verbraucher zu Alternativen zu bewegen), so wird ökologisches Wirtschaften nicht gelingbar gemacht.
Nun wird man einwenden, dass die Ökonomenriege den Arbeitszwang aufrechterhalten will. Und dass sie Interesse daran hat, dass ihnen jemand die Scheißarbeit erledigt. Letzteres mag stimmen. Denn jede Tätigkeit ist von gesellschaftlichen Nutzen. Es kommt aber darauf an, sie ordentlich zu entlohnen. Dass dies heute nicht immer, ja viel zu selten der Fall ist, leugnen die Ökonomen durchaus nicht. Sie sprechen sich dafür aus, dass in diesem System der Arbeitsbasiertheit dafür gesorgt sein muss, dass jeder sein Auskommen hat. Auch diejenigen, die in diesem System zeitweilig (oder aus welchen Gründen auch immer unbefristet) ohne Arbeit sind. Auch um Ideen, die anfangs attraktiv klingen, wie eben jenes Grundeinkommen, die aber ins Gegenteil weisen, nicht moralisch zu stärken. Hier kommt der Mindestlohn ins Spiel, als die weitaus bessere Alternative zu einem Modell, dass zwar versorgt, aber diese Versorgung zwangsläufig auf ein Niveau hinabdrückt, das nicht gewollt sein kann. Irrweg Grundeinkommen: Die große Umverteilung von unten nach oben muss beendet werden von Heiner Flassbeck, Friedericke Spiecker, Volker Meinhardt und Dieter Vesper ist im Westend Verlag erschienen.
Vor einigen Tagen musste sich die Bundesregierung mit der Kritik auseinandersetzen, dass ihr Armutsbericht geschönt sei. So die eine Lesart, der andere Teil des Journalismus kommentierte abfällig, dass in diesem Land niemand hungern müsse. Ist Armut in Deutschland vergleichbar mit Reichtum light - einem Luxusleben auf etwas niedrigerem Level?
Mir ist nicht ganz klar, an welchen Kriterien sich die Armut bemisst. Orientieren wir uns an den schlimmsten aller Knappheiten? Muss man mindestens Magenknurren, vergilbtes Weiß oder einen abgewetzten Kragen tragen, um sich arm zu nennen? Oder wäre das dann wiederum nur übertrieben, eine Zurschaustellung von Faulheit und Schlamperei? Hier weiterlesen...
"Wenn es um das Thema Volksentscheide geht, kommt schnell das Totschlagargument: Dann haben wir bald wieder die Todesstrafe. Unsere Umfrage beweist, dass zu derlei Misstrauen in die politische Reife der Deutschen kein Anlass besteht. [...] Volksentscheide bringen mehr Leidenschaft in die Politik. Was wäre daran verkehrt?"
- Michael Backhaus, Bildzeitung vom 10. März 2013 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Ob der Volksentscheid eine Frage politischer Reife ist, muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Mindestens ist es aber eine Frage einer Medienlandschaft, die unabhängig recherchiert und informiert. Und ob die Zeitung Backhausens ein Medium ist, welches zur unabhängigen Willensbildung eines Publikums beitragen könnte, das per Volksentscheid fast schon judikative Mitbestimmung erhielte, bleibt schon mehr als fraglich. Seit Gustave Le Bon wissen wir zudem, dass "die Sittlichkeit der Massen [...] je nach dem Einflüssen viel niedriger oder viel höher sein (kann) als die der einzelnen, die sie bilden". Es geht also weniger um Reife als um die "Erregbarkeit [...] (und) Leichtgläubigkeit des Massen", die eine "Angleichung der Gelehrten und des Einfältigen" bewirkt.
Wenn nun aber ein Medium wie die Bildzeitung, das ja eigentlich an einem chronischen Skeptizismus gegenüber dem Volkswillen leidet, wenn dieser Forderungen stellt, die mit den agendistischen Zielen des Verlages nicht konform gehen - wenn nun also die Bildzeitung eine Lanze für den Volksentscheid bricht, dann muss es ein günstiges Klima für Sujets geben, die wirtschaftlichen Vorgaben entsprechen. Oder man will einfach nur niedere Instinkt bedienen, die man einfach mal zum Zwecke der Ablenkung von "wichtigen Themen" vorschiebt. Es ist natürlich eine theoretische Frage, aber wie wäre das im derzeitigen Klima, da man Osteuropäer und namentlich Roma diffamiert und mit allerlei rassistischen Etiketten versieht?
Stellen wir uns eine Gesellschaft des Volksentscheides mal vor. Gespräch derzeit sind die Roma. 2002 lehnten 58 Prozent der Deutschen Sinti und Roma als Nachbarn ab, wie das American Jewish Committee ermittelte. In anderen europäischen Ländern sieht es ähnlich oder noch schlimmer aus. Besonders Rumänen, Tschechen und Slowaken äußern sich antiziganistisch. Was unterlegt, dass die nach Deutschland kommenden EU-Bürger mit Roma-Hintergrund vom Regen in die Traufe gelangen. Wie endete wohl ein Volksbegehren, das einen Volksentscheid zu Themen forderte, die mit den Roma zu tun haben? Vielleicht Stadtbezirke nur für Roma oder Ausweisung von Roma oder Sozialstaatsausschluss für Roma? Möglich, dass man auch "nur" den gläsernen Roma fordert, wie in anderen Ländern teilweise geschehen. Und was trägt die Bildzeitung eigentlich zum politischen Reifeprozess ihrer Leser bei, wenn sie als Wahrheit über Roma nur weiß, dass es sich weitestgehend nur um Kriminelle handelt, die im Dreck leben? Wie endeten solche Bekundungen des Volkswillens?
Natürlich rudert Backhaus zurück, er sagt ja, dass die Bildleser nur für sie wichtige Themen behandeln wollten. Fundamentale Sujets eher nicht, denn nur (sic!) 41 Prozent würden über die Todesstrafe verhandeln wollen. Aber schon 65 Prozent würden sich zutrauen, die Fiskal- und Wirtschaftspolitik kriselnder EU-Staaten zum Gegenstand eines Volksentscheides zu machen. Und überhaupt: Ein deutscher Volksentscheid, der die Innenpolitik Griechenlands oder Spaniens vorgeben soll? So weit ist der Bildleser schon!
Die Bildzeitung feierte wie keine andere des Ratzinger-Papstes Rede vor dem Bundestag. In der legte er dar, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht zwangsläufig immer richtig liegen müsse. Für Kriterien wie die "Würde des Menschen und der Menschheit" reichte das Mehrheitsprinzip nicht mehr aus, sagte er. Hätte man zur Hochzeit der Hartz IV-Hetze über einen Rückhalt im Volk zu noch härteren Maßnahmen, zur Absolutsanktionen zur Urne zitiert, wäre hier sicherlich nicht die Humanitas als Sieger hervorgegangen. Die Scheindebatte um Volksentscheide auf Bundesebene will weismachen, dass die Mehrheit ein unumstößliches Kriterium ist. Was das Volk will, ist quasi immer mehr oder weniger richtig. Und wenn es doch mal falsch ist, beeinflusst und manipulieren die Bildzeitung und Konsorten eben solange, bis es richtiger wird. Bahnhof: Ja oder Nein? Umgehungsstraße: Pro oder Contra? Diese kommunalen Befragungen klappen - über die politischen Richtlinien und über ethische Kategorien kann jedoch nie die Mehrheit als Legitimation dienen.
oder Gibt es keine rassistischen Motive und Erfahrungen in Backnang und Umgebung?
Durchaus denkbar, dass der Brandanschlag in Backnang, bei dem eine türkische Mutter und sieben ihrer Kinder umkamen, einem technischen Defekt geschuldet sind. Dass man von Seiten der Behörden stoisch auf nur diese Ursache hinwirkt, zeigt aber: Die NSU hat keine Sensibilität geschaffen.
Schon im März 2008 brannte es in Backnang. Anschlagsziel war ein vorwiegend von Türken bewohntes Haus. Zwei an die Wand geschmierte Hakenkreuze machten einen fremdenfeindlichen Hintergrund wahrscheinlich. Damals kam es lediglich zu einigen Rauchvergiftungen. In einer Studie der Universität Tübingen konnte man schon ein Jahr zuvor lesen, dass "die politische Kultur in der Region [Anm.: gemeint ist der Rems-Murr-Kreis, in dem Backnang liegt] ist durch eine rechtsgerichtete Stimmung geprägt."
Tatsächlich meldete man kürzlich, dass die NSU viele Kontakte im Rems-Murr-Kreis hatte. Und vor nicht mal zwei Jahren wurden in Winterbach im Remstal zwei junge Männer aus der rechtsradikalen Szene verurteilt, weil sie eine Gartenhütte anzündeten, in der türkische und italienische Männer sich vor den beiden Neonazis versteckt hielten. Schon im Jahr 2000 verübten drei Rechtsradikale einen Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Waiblingen, das nur zwanzig Kilometer von Backnang entfernt liegt.
Noch eine kurze Aufzählung in Stichpunkten: 2003, Übergriff auf einen indischstämmigen Fahrgast eines Regionalzugs bei Backnang; im selben Jahr, Brandanschlag auf einen Imbisswagen eines ausländischen Mitbürgers; abermals 2003, Molotowcocktails auf türkisches Vereinsheim in Murrhardt; 2005, Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Unterweissach. Die beiden letzteren Orte liegen keine 15 Kilometer von Backnang entfernt.
Man muss hier nicht künstlich beweisen wollen, dass der Rems-Murr-Kreis ein Flecken besonders deutscher Erde ist. Aber die jüngere Geschichte zeigt eindrücklich, dass es dort ein rechtsradikales Milieu gibt, das mehr als aktiv ist. Und nichtsdestotrotz entblöden sich im aktuellen Fall die Ermittler nicht, von einem technischen Defekt als Favoriten für die Ursache auszugehen. Vielleicht trifft er ja zu, man sollte da keine Panik entfesseln – aber mit gleicher Verve sollten sie sich auch der anderen Option widmen. Aus Gründen der Erfahrung im Kreis und mit der NSU bundesweit. Doch nichts davon scheint Sensibilität geschaffen zu haben. Und es verwundert nicht, dass man Ermittlern, die obgleich sie über regionale Erfahrungen verfügen und über überregionale Erscheinungen informiert waren, wenig Vertrauen entgegenbringen will seitens der türkischen Gemeinde in Deutschland.
Vor einiger Zeit berichtete eine bekannte Fernsehsendung zur Öffentlichkeitsfahndung von einem Täter, der in eine Runde von Jugendlichen mit Migrationshintergrund hineinschoss und dabei einen türkischen Jugendlichen tötete. Vielleicht sei das rassistisch motiviert, sagte man zwar, wollte diesen Ansatz aber nicht zu hoch bewerten. Das ist für diese Sendung durchaus ein Fortschritt, denn man berichtete einst von einigen der NSU-Morde, erkannte deren Zusammenhang aber nicht und schob alles auf das Milieu, in dem solche Migranten ja bekanntlich leben, schob also alles auf die Opfer. An eine zielgerichtete Mordserie wollte niemand denken. Wer sagt denn, dass es in Anbetracht der vielen kleinen und größeren Anschläge und Morde auf ausländische Mitbürger, nicht weiterhin ein Netzwerk des Todes gibt?
Die NSU-Geschichte sollte eigentlich gelehrt haben, immer zuerst von rassistischen Motiven auszugehen, um dann vielleicht doch auf "technischen Defekt" umzuschwenken. Und sie sollte aufgezeigt haben, dass die propagierte Einzeltäterschaft nur die Sedierung des öffentlichen Gewissens ist. Denn der rechte Terror ist vernetzt, was man gerade am oben genannten Rems-Murr-Kreis erahnen kann.
Die Aufdeckung der NSU sollte das Feingespür der Gesellschaft und speziell der Behörden endlich aktiviert haben. Das hoffte man wenigstens daraus gelernt zu haben. Man spricht aber weiterhin von technischen Defekten als Brandursache als ersten Lösungsansatz. Oder gilt es in einem Land, in dem rechtsradikale Gewalt alltäglich wird, schon als technischer Defekt, wenn man Ursachen ergebnisoffen behandeln möchte? Stört das den technischen Ablauf staatlicher Vertuschung?
Wie Deutschland Europa begreift, läßt sich an der Debatte um die Einreise-Sperre für Einwanderer aus dem europäischen Osten ablesen. Die Europäische Union wird nicht als Wertegemeinschaft verstanden, sondern als Selbstbedienungsladen der deutschen Exportwirtschaft.
Wie hat man doch damals die Osterweiterung angepriesen, gegen jede Kritik verteidigt! Sie berge große Chancen für die deutsche Wirtschaft, hieß es. Sie sei unbedingt notwendig, deutsche Unternehmen bräuchten einen Wirtschaftsraum im Osten, unkten die Jünger der Alternativlosigkeit theatralisch.
Kein europäische Wirtschaft hat dermaßen vom Euro und der Eurozone und von der Osterweiterung profitiert, wie die deutsche. Auch ein Aspekt der Krise im Euroraum - ein Aspekt allerdings, der hierzulande kaum thematisiert wird. Die Stärke der deutschen Volkswirtschaft wird nicht als Ursache der gegenüberliegenden Schwäche innerhalb einer Zone verstanden, die auf Gleichgewichtung konzipiert sein müsste, sondern als Musterbeispiel für alle Länder. So als könnte es ein Hausse für alle gleichzeitig geben.
Die Freizügigkeit deutscher Unternehmen im Osten des Kontinents war die elementare Basis einer florierenden deutschen Wirtschaft, die überdies die Früchte dieser sprießenden Flora nur zögerlich bis gar nicht an die Arbeitnehmer hier wie dort verteilte. Diese Freizügigkeit versteht die Deutschland AG nun allerdings als eine Autobahn mit Verkehr nur in eine Richtung. Die Freizügigkeit der EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien, besonders derer, die Romanes sprechen, soll nämlich nun beschnitten werden. Diese Freizügigkeit galt mitunter als Bestandteil der europäischen Idee.
Sie - die europäische Idee - soll aber nur noch einseitig funktionieren. Man hat freizügig Profite erwirtschaftet und tut es noch immer. In Rumänien und Bulgarien produzieren deutsche Unternehmen günstig, Personalkosten sind niedrig, Nebenkosten kaum vorhanden. Die notwendige Infrastruktur bringt entweder der jeweilige überforderte Staat auf oder die Europäische Union. Für die Sicherheit sorgt die dortige Polizei auf Kosten der rumänischen oder bulgarischen Allgemeinheit. Aber die Freizügigkeit von Osteuropäern sei es nun, die unser aller mitteleuropäische Existenz bedrohe! Hätten nicht die Osteuropäer diesselben Vorurteile aufbringen können, als reiche europäische Industrieländer, allen voran Deutschland, in die osteuropäische Hemisphäre hineinstießen, ohne sich dort einzupassen, sondern um dort in einer Parallelgesellschaft des Profitmaximierens zu leben?
Wie verstehen die politischen Marionetten der deutschen Wirtschaft diese europäische Idee eigentlich? Ist sie für sie wirklich nur ein Freifahrtschein für Profite? Oder war sie nie eine europäische, wohl aber eine profitmaximierende Idee?
Muss die liberale Gegenseitigkeit aufgegeben werden, wenn ein Vorteil vielleicht auch Nachteile mit sich bringt? Freizügigkeit für Firmen und Residenzpflicht für EU-Bürger, die man qua ihrer Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit zu EU-Bürgern zweiter Klasse herabmindert?
Welchen europäischen Gedanken meinen diese Damen und Herren eigentlich, wenn sie langatmig in Sonntagsreden von ihm sprechen? Er ist wohl nur das Feigenblatt ihrer Klientelpolitik, die sie als europäische Errungenschaft anmoderieren. Als sie die Freizügigkeit anpriesen, die nun von Ost nach West und West nach Ost möglich würde, da meinten sie die Freizügigkeit der Unternehmen und hofften, die Freizügigkeit von privaten EU-Bürgern würde sich bis dahin irgendwie erledigt haben.
Vielleicht meinte man, die Hungerlöhne, die deutsche Unternehmen dort bezahlten, würden Strukturen schaffen, die die Ausreise und das Verlassen der Heimat unattraktiv machten. So benebelt kann man im Rausch der Gewinnsucht zuweilen sein!
Die europäische Idee verstehen die politischen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands als eine Idee deutscher Leitwolfpolitik. Vorzüge sichern, Ungünstigkeiten abwenden! Die Kehrseite zum betriebswirtschaftlichen Profit wird europäisiert - nur der Gewinn darf deutsch bleiben. Die Regierung Merkel sei die Patrona Europea, liest man in der hiesigen Presse. Damit ist aber zweifelsohne kein Europa mit Partnern auf Augenhöhe gemeint.
"Wo Scheiße nicht mehr Scheiße ist, da ist auch Teilhabe nicht mehr Teilhabe, Frieden nicht mehr Frieden, Demokratie nicht mehr Demokratie. Wenn die Scheiße ausgeschissen hat, dann hat auch der Unterdrückte, der in der Scheiße sitzt, die nun nicht mehr Scheiße heißt, seine Möglichkeiten verspielt. Drastische Worte gibt es nicht! Es gibt nur wahre Worte, die freilich drastisch werden, wenn sie Besitz- und Machtverhältnisse antasten. Fäkalsprache gibt es ebenso wenig, es gibt nur unangenehme Tatsachen, die nicht ins bürgerliche Sprechritual eingearbeitet wurden. [...] Wenn sich Leute treffen, die alle miteinander in der Scheiße sitzen und dies auch konkret benennen, dann strampelt man sich gezielter aus dem Dreck frei. Treffen sich Leute, die in Nahrungsrückständen hocken, dann beratschlagen sie nur, ob man nicht auch von den Rückständen der Nahrung leben und satt werden könne."
Wenn jemand sagt, er habe Durchfall wie Wasser, ist es dann bald der Fall, dass dieses "wie Wasser" einen dekadenten Anklang findet, gleich dem Ausspruch, dass man über Geld nicht spreche, sondern es habe? Über Wasser spricht man nicht, man hat es - und wer so viel hat, es quasi sogar scheißen zu können, der schämt sich seiner Dekadenz offensichtlich nicht. Dem kommt der Luxus schier aus dem Arsch. Nobel geht die Welt zugrunde.
Im Dunst jenes Liberalismus, der sich neu nennt, der aber nur ökonomisch angewandt wird, sind stinknormale Redewendungen urplötzlich auch aus dekadenter Perspektive zu verstehen. Wer einem die Suppe versalzt: Wie kommt der an so viel Salz? Oder "zum Saufüttern": Der muss es ja haben! Noch kann man frei sagen, die Luft sei zum Atmen, was aber, wenn irgendwann ein Konzern auf die Idee kommt, dass Luft ein Rohstoff ist, der in seinen Bereich fällt? Wie in Cochabamba, wo man die Wasserversorgung privatisierte und das Konsortium Aguas de Tunari glaubte, auch das Regenwasser gehöre zum Betriebskapital, denn finge man es nicht in Fässern und Schüsseln auf, würde es im Boden versickern und Aguas de Tunari zur Verfügung stehen. Und genau das taten die Menschen in Cochabamba, sie fingen das Wasser auf, weil jenes Konsortium unter Beteiligung der Firmen Bechtel, Edison und Abengoa, den Wasserpreis schlagartig um den Faktor Drei erhöhte. Das Ende ist bekannt - oder sollte es wenigstens sein.
Dieser Liberalismus verwässert auch - und leider nicht ausschließlich - die Umgangssprache, macht sie zu einem herablassenden Duktus, zu einer hochnäsigen Sprechweise. Wenn fortan jemand etwas ausbaden muss, sollte er auch seine Wasserrechnung beglichen haben. Blut und Wasser schwitzen? Was kommt billiger? Stille Wasser sind tief? Und vermutlich nicht arm, denn tiefe Wasser muss man sich erstmal leisten. Und auf dem Schlauch zu stehen ist sodann nicht mehr Ausdruck von Begriffsstutzigkeit sondern von Sparsamkeit.
"Gehörte" der Himmel und die Wolken über Cochabamba dem Konsortium, so könnte doch der Rotz und Wasser heulende homo neoliberalis auch eine Gebühr dafür abdrücken müssen, dass ihm Wasser aus dem Körper rinnt. Wer Wasser zum Heulen hat, muss doch irgendwo auch Wasser konsumiert haben. Verbrauchssteuer auf Tränen? Wo Regenwasser Firmen gehört, kann auch ausgeschiedenes Körpersekret einer Gesellschaft gehören. Da wird es aber teuer, nah am Wasser gebaut zu haben.
Und wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, dann ist das nur in einer Gesellschaft, in der die Grundversorgung der Menschen nicht rein betriebswirtschaftlich geregelt ist, ein Zustand von Not, die schneller Linderung bedarf. Im Neoliberalia, in der alles privatisiert ist (oder sein sollte), ist derjenige, dem das Wasser bis zum Hals geht, ein wohlhabender Mann, der es sich leisten kann, den Wasserhahn aufzudrehen, bis ihm das Nass ans Kinn geht. Wasser predigen und Wein trinken ist hier als Verkehrung zu verstehen. Hieß es vorher, dass einer Sparsamkeit und Knappheit predigte, während er üppig lebte und soff, so predigt nun einer Wohlstand, volle Wasserreservoirs für jedermann, während er sich mit einem vergleichsweise billigen Schluck zufrieden gibt.
Wasser ist ein Gut, das so präsent in der Gedankenwelt der Menschen ist, dass es sich selbst in der Sprache niederschlägt. In jeder Sprache. Wir bestehen als Menschen aus 70 oder 80 Prozent aus Wasser. Wir sind Wasser, kommen aus dem Wasser und wir bauen Wasser mannigfach in unser Reden ein. Es scheint so selbstverständlich, so standardisiert in unseren Breiten, dass wir uns ein Leben mit unbezahlbaren Wasser gar nicht (mehr) vorstellen können. Was würde sich schon ändern, wenn kein Kommunalbetrieb mehr die Wasserversorgung sicherstellte, sondern ein vielleicht multinationaler Konzern?
Der Neoliberalismus schafft Luxus. Er produziert Luxusgüter für jedermann. Bildung wird zum Luxus; eine zahnärztliche Behandlung ebenfalls. Ärztliche Versorgung ganz generell. Vielleicht sogar anständiges Essen, nach dem, was man derzeit so liest. Der Neoliberalismus will, dass wir alle im Luxus leben. Dazu ist es nötig, Luxusartikel zu schaffen. Wasser könnte so ein Artikel werden.
Und obgleich - oder weil! - er Luxus erzeugt, benimmt er sich wie eine Großmutter, die die "schlechte Zeit" noch kannte und selbst Kartoffel mit Augen noch kocht, um sie noch zu verwerten. Oder wie eine arme Bäuerin, die selbst aus runzeligen Kartoffelschalen noch Kartoffelsuppe auf Wasserbasis kocht. Solange das Wasser noch bezahlbar ist. Alles ist noch verwertbar, alles kann noch aufgebraucht werden in der Luxuswelt des Neoliberalismus. Selbst wiehernde Lasagne. Die können noch Hartz IV-Empfänger fressen. Betriebswirtschaftlich denken, Reststoffe verwerten, alles kann zu irgendwas genutzt werden. Schöner neuer Luxus.
Sprichworte im Wandel: Macht doch kein Theater! - Kultur kostet, Kultur ist Luxus. Wer vom Theater spricht, der muss es aber dicke haben. Auf dem Zahnfleisch kriechen? Sie haben wahrscheinlich einen guten Zahnarzt, wie? Sprachlich macht uns der Neoliberalismus da reicher, wo wir real ärmer werden. Er schafft begriffliche Dekadenzien, weil er realiter Knappheit entwirft. Der Luxus ist fühlbar, endlich eine Ideologie, die messbaren Luxus schafft, die auch die kleinen Dinge des Lebens mit dem Flair luxuriöser Verschwendungssucht ausstattet. Und wenn man bedenkt, dass wir bis zu 80 Prozent aus Wasser bestehen, dann ahnen wir erst, für wie wertvoll der Neoliberalismus die Menschen wohl halten muss. Wenn man sie nur ausquetschen könnte - nicht umgangssprachlich, sondern ganz dem Wortsinn nach.
Wir hatten mal die optimistische Vorstellung, dass Sanitäreinrichtungen, der freie Zugang zu Wasser, eine Option für die gesamte Menschheit sein sollte; wir glaubten, es sei keine Zauberei, Wasseraufbereitung und die dazu nötigen Mittel und Strukturen überall dort auf der Welt zu schaffen, wo es das noch nicht gibt. Man glaubte nicht, dass es einfach würde, wohl aber machbar sei. Das Rad der Geschichte, so glaubten wir hegelgeprägten Mitteleuropäer irgendwie, würde den Fortschritt anwerfen. Nicht die Industrienationen würden zurückfallen, sondern die Entwicklungsregionen dieser Erde würden aufschließen zu uns. Mit der Privatisierung des Wassers geschieht nun die Verkehrung dieses optimistischen Glaubens.