Wasser bis zum Hals

Montag, 20. August 2012

Zwei Ereignisse jährten sich dieser Tage. Beide traten vor zehn Jahren in die Welt. Beide wurden in den Medien stark thematisiert. Beide wurden jedoch voneinander gesondert abgehandelt, nicht zusammengelegt.

Vor zehn Jahren war ein großer Teil des deutschen Ostens landunter. Vor zehn Jahren entschloss man sich, die Vorgaben der Hartz-Kommission, jene die die Nummern I bis IV trugen, in die Realität umzusetzen. Das sind zwei Geschichten, die sich voneinander geschieden ereigneten und doch miteinander verbunden sind. Während dieser Kanzler zum Anfassen mit Gummistiefeln durch den Osten watete, Siegerpose hier, Verständnis heuchelnd dort, während er für die Betroffenen präsent war, hemdsärmelig und mit einstudierten Sorgenfalten, während er einen guten Eindruck hinterließ, adelte man die Zielsetzungen einer Lobbyistengruppe, die man euphemistisch Kommission nannte, zu einem Gesetz. Fast war es so, als hätte man diese Sozialreform verdeckt unter Wasser gegurgelt, im Schutz der Brühe, die sich über Land und Felder, in Häuser und Geschäfte goss. Das Hochwasser umspülte den Sozialabbau etwas, machte ihn zur Marginalie, machte ihn zum Kritikpunkt für Pedanten, in einer Zeit, da doch offenbar so viel wichtigere Sorgen das Land quälten.

Der gummigestiefelte GröRaZ, der größte Reformer aller Zeiten, versprach im Hochwasser unbedingte Hilfe, uneingeschränkte Solidarität, wie er es knapp ein Jahr zuvor schon mal formuliert hatte - damals in einer anderen Angelegenheit. Es ist ein Hohn, denn ausgerechnet im Osten tat er dies, dort wo Hartz IV später einschlug wie nirgends, dort wo einige Zeit danach, als die Vorgaben der Kommission bereits ins SGB gemeißelt wurden, an den Menschen gespart werden sollte, versprach er nun keine Knauserigkeit, versprach er Großzügigkeit. Wenn das Wasser bis zum Hals steht, wird geholfen, war seine Botschaft - wenn es einem wirklich, flüssig, nass bis zum Hals steht, nicht metaphorisch. Dem Arbeitslosen aber, dem das Wasser sinnbildlich bis zum Hals steht, versagte man nun etwaige Ansprüche. Der Kanzler watete mit Solidaritätsbekundungen auf den Lippen durch die Lande; ein wenig später, das Wasser war schon lange wieder weg, da watete er durch Parteikundgebungen und entsagte dabei jeglicher Solidarität gegenüber Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft ernähren können oder dürfen.

Mythen haben beide Ereignisse geschaffen. Die Bundeswehr wusch sich rein im Dreckwasser, schleppte Säcke, machte Kriegseinsätze vergessen, Ist ja eigentlich ne hilfreiche und dufte Truppe!, wie man das damals so las. Arbeitslose wurden als faul und ungepflegt abgestempelt und man sagte ihnen nach, sie hätten ihre Situation selbst herbeigeführt. Ressentiments in dieser Richtung gab es immer, aber Hartz IV hat es zur Populärmeinung gemacht, zum Gegenstand von Vorabendserien. Hartz IV ist nicht lediglich Armut per Gesetz, es ist auch Vorurteil per Gesetz, denn dass der Bedürftige ein fauler Strick ist, läßt sich zwischen den Zeilen des SGB II immer wieder herauslesen. Denkt man an die Bundeswehr, so sieht man auch junge Säckeschlepper vor dem geistigen Auge; denkt man an schlecht bezahlte Säckeschlepper, so stellt man sich Hartz IV vor - und das ist eine progressive Haltung, denn normalerweise denkt die Öffentlichkeit bei Hartz IV nicht ans Schleppen, sondern ans Schlafen.

Es war, als habe der Kanzler bedürftigen Menschen damals ein letztes Mal Hilfe zugesprochen. Es sollte unbürokratisch Hilfe herbeieilen, auch finanzielle Hilfe - dem war nachher freilich nicht ganz so. Doch damals versprach er noch Geld, wenig später nahm er es diesen teils so strukturschwachen Gegenden per Gesetz wieder. Heute geplanter Zuschuss, morgen geplante Sanktionen; heute den Fleiß der Wiederaufbauer lobend, morgen die Faulheit der Langzeitarbeitslosen in derselben Region; heute Solidarität, morgen die Entsolidarisierung zum Thema der Kanzlerschaft erheben. Es war, als habe die im Hochwasser stampfende Richtlinienkompetenz geahnt, dass er einmal noch, nur noch einmal, solidarisch sein darf, einmal noch die Strukturschwachheit stützen darf, bevor er ihr die Stütze wackelig macht.

Hochwasser und Hartz. Beides sind Schlaglichter einer selbstgerechten Kanzlerschaft, die selbst heute, Jahre danach, nach vielen Jahren a.D., noch immer überzeugt davon ist, dass sie richtig gehandelt habe, dass sie es genau so gemacht habe, wie es sein sollte. Hochwasser und Hartz - beides gehört zusammen; das Hochwasser überspülte Hartz und Hartz wurde für viele zum nicht ablaufenden Hochwasser...



15 Kommentare:

Anonym 20. August 2012 um 08:29  

Ja, das ist in er Tat eine sehr traurige Geschichte. - Ich möchte behaupten die traurigste in der deutschen Sozialgeschichte.

Um es auf den Punkt zu bringen, die Arbeitslosenversicherung mit der Sozialversicherung zusammenzulegen war und ist ein Gesetz von IDIOTEN gemacht.

Allen Beteiligten gehörte heute noch ein strafrechtliches Verfahren angehängt.

ANMERKER 20. August 2012 um 09:00  

Guter Artikel, Roberto.
Wieder einmal zeigt sich, dass es sich lohnt, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Dieser Kriegskanzler hat halt nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, dafür gesorgt, dass die BW wieder hoffähig wird, er hat auch den Krieg im Inneren unseres Landes möglich gemacht: Was anderes ist Hartz IV als eine Kriegserklärung an die "Faulen" unserer Gesellschaft. Dazu passt doch bestens, dass die von Schröder und Co enttabuisierte Armee demnächst im Innern unseres Landes, außer bei Überschwemmungen, sogar miltitärisch zupacken darf - vielleicht sogar gegen Stütztempfänger. Dann hätte das GRÖRAZDesaster ja seine Vollendung gefunden!
Wie hat Max Liebermann angesichts der Nazifackelaufmärsche mal gesagt: Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.

Harzpeter 20. August 2012 um 10:05  

Im Gegenzug wurde dafür durch dieses "historische Reformwerk" nebst großzügigen Steuergeschenken an unsere "Leistungseliten" eine wahre Geldflut in deren Richtung ausgelöst.
Allerdings wird eine entsprechende Flutbekämpfung von dieser Seite aus strikt abgelehnt. Die wollen die Sandsäcke partout nicht annehmen...

Lazi 20. August 2012 um 12:06  

Und was hat die Linke damals für Schröder zur Ablösung von Kohl getrommelt! Aus allen Rohren! Dabei war Kohl eindeutig der sozialere Kanzler.
Warum sollte es um die Kompetenz der Linke heute besser bestellt sein? Ich jedenfalls vertraue ihren Empfehlungen nicht mehr.

Anmerker 20. August 2012 um 14:31  

Na ja, es war ja nicht d i e Linke; es waren Sozialdemokraten die nach 16 Jahren Kohl mal wieder an die Näpfe der Macht wollten. Und die grünen Realos waren voll mit dabei-bei jeder Schweinerei.

Anonym 20. August 2012 um 14:37  

Das hab ich mir letze Woche auch gedacht. Alle beide Sachen 10 Jahre. Hartz ist wie eine tosende Flut.

ad sinistram 20. August 2012 um 14:45  

Dass Kohl gegen Schröder und Merkel wie ein sozialer Kanzler aussah, habe ich vor einiger Zeit geschrieben. Ob da Linke getrommelt haben oder einfach nur die sozialdemokratische Mitte, bleibt natürlich fraglich. Wer linke Politik mit dem Schröderianismus diskreditieren will, hat eigentlich wenig verstanden.

ad sinistram 20. August 2012 um 14:46  

@ Anmerker

Genau. Ich denke, da will man die Linke, die politische Linke wie die Partei mit diesem Namen, einfach nur mit Schröder diskreditieren - auf diesen Unfug kann man eingehen, man kann ihn auch stehenlassen und für sich selbst sprechen lassen.

Stefan Rose 20. August 2012 um 17:38  

Ja, wohl wahr. Doch jähren sich nicht nur Jahrhundertflut und Hartz IV zum zehnten Male. Auch der Umbau der Universitäten a'la Bolognese hat Jubiläum. Und die Branndschatzungen von Rostock-Lichtenhagen sowie der so genannte Asylkompromiss haben dieses Jahr ihr Zwanzigjähriges. Wer mag, kann das alles rückblickend als Schritte zur Entsolidarisierung und Verrohung dieser Gesellschaft begreifen.

mann_von_nebenan 20. August 2012 um 17:49  

Ach Gott,
Schröder hat halt mit Erfolg das alte Sozialdemokratenverräterspiel
mit grüner Unterstützung erneut
durchgezogen.
So ziemlich jeder nicht ganz hirntote Wähler hatte den wandelnden Saumagen zum Vomitieren satt, diesen Aus- und Plattsitzer. Und weil man hierzulande leider binär/dual denkt, hatte der Hannovereraner Start-Up halt seine Chance und hat sie in seinem Sinne auch genutzt, so weh das auch getan hat und noch immer tut. Aber er sollte inzwischen die Mehrheit der Wahlbürgerschaft aus ihrer Flip-Flop-Schleife herausgerissen haben, sofern sie noch ein klein wenig selbstständig zu denken sich trauen. Spätestens seit Rot-Grün wissen doch selbst Gelegenheits(nach)denker um die Crux unsereres politischen Mainstreams – wenn da nicht diese eingefleischte Linksphobie immer zielführende Gedankengänge in mentale Sackgassen führte …

Karola 22. August 2012 um 13:33  

Den Menschen, die in einem abhängigen Beschätigungsverhältnis arbeiten, steht heute immer noch das Wasser bis zum Hals, denn es ist durch Hartz 4 nie abgelaufen.

Es bleibt zu erwähnen, wie ich in einem Link von nachdenkseiten las, dass der Kommission unter Hartz diese asozialen Gesetze als Kuckucksei von einem internen, nicht öffentich agierenden Kreis unter der Leitung von Bertelsmännern, untergeschoben worden ist.

Peter Hartz ansich hat damit nichts mehr zu tun.

Damit will ich sagen, dass Schröder eine ganz miese Nummer geliefert hat. Er hat gewusst, was hinter den Kulissen ausgeheckt wurde.

Es war seine Absicht, das Sozial- und Arbeitslosensystem in Deutschland zu zerschlagen zugunsten des größten Niedriglohnsektors in ganz Europa und der privaten Arbeitsvermittlung durch Leiharbeitsfirmen.

Schröder müßte aus der SPD ausgeschlossen werden. Das wäre nur konsequent und Peter Hartz rehabilitiert werden, damit alle wissen, dass es Schröder war und nicht Peter Hartz.

johann weber 22. August 2012 um 13:39  

Soviel Propaganda(Merkel freut sich) habe ich noch nie gelesen. HartzIV mit einer Hochwasserkatastrophe in Verbindung zu bringen, schlimmer geht ist nicht.
Es ist schon dreißt, die Notlagen vieler Menschen politisch auszuschlachten. Ein Hinweis: Ich noch nie einen Artikel gelesen, der sich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass Schröder für HartzIV 9 Monate Regierungsverantwortung hatte, und Merkel jetzt schon 7 Jahre. Wenn Schröder schon so ein "Unmensch" war, warum wendet ihr euch nicht an Merkel. Aber warum geschieht hier nichst? Antworten wären interessant.

ad sinistram 22. August 2012 um 15:07  

Ja, wirklich. Hochwasser mit Hartz IV vergleichen - so eine Frechheit - und dann auch noch die schönen Schröder-Illusionen zerdeppern. Mensch, das geht nun wirklich nicht. Es geschieht hier nichts - und es muß etws geschehen. Unbedingt. Sofort. Und Schröder war ein feiner Mann...

johann weber 22. August 2012 um 21:21  

Hallo Roberto, Klasse formuliert. Freut mich, dass ich einen "Mitstreiter" habe. Ich bin der gleichen Meinung wie Sie. Die Merkel muss man in Ruhe lassen,

Anonym 24. August 2012 um 00:21  

Was sagt man eigentlich mittlerweile hier zu dem aktuellen Schrödianischen Hoffnungsträger Hollande?

"Frankreichs Präsident François Hollande macht mächtig Schlagzeilen mit seiner WACHSTUMSagenda..."

"Mit Blick auf die wirtschaftliche Lage im eigenen Land sagte Hollande, es müsse erst einmal WACHSTUM geschaffen werden, auf nationaler und auf europäischer Ebene. Ohne diese Voraussetzung könnten die Schulden und Defizite nicht zurückgeführt werden."
www.tagesschau.de/inland/hollandemerkel102.html

Was soll das immer mit dem Wachs? Bis alle ganz wächsern werden?

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