Der Mond wird aufgegangen

Freitag, 31. August 2012

Auf der Regierungsbank und in Ausschüssen geht es zu wie bei Hinz zu Kunz nach drei Bier: Du, was is'n eigentlich näher - New York oder der Mond? Worauf Kunz nicht lange fackelt: Der Mond natürlich! Den kann ich von hier aus sehen! Nach dieser Logik argumentiert die Regierung unter Merkel und jene fiktive unter Gabriel, Steinmeier oder Steinbrück, die in einer Krise harte Sparauflagen und Beschränkungen auferlegt, um sie in den Griff zu bekommen. Der Schuldenabbau durch Sparmaßnahmen ist jener Erdbegleiter, der angeblich viel näher sein soll, weil man ihn ja sehen kann. Wer spart, der hat am Ende mehr Geld: Das kann man sofort erkennen, denn man sieht ja, dass es für Privatpersonen genau so funktioniert.

Du, was is'n eigentlich zielführender - Sparen oder Inverstieren?, fragt Merkel solchen Experten, die bei der schwäbischen Hausfrau und ihrem in der Schürze versteckten Haushaltsbüchlein in Lehre waren; fragt sie Betriebswirtschaftler, die auf Volkswirtschaft machen, weil sie glauben, eine Gesellschaft sei nichts weiter als ein aufgeblasener Betrieb. Investitionen ohne Geld, so erzählen die, hätten noch nie etwas eingebracht, da habe Keynes nur romantische Vorstellungen verbreitet. Das ist nicht mal betriebswirtschaftlich, denn auch ohne liquide Mittel kann man investieren; Kredit nennt sich dieser Zauber. Nur hätten sie noch nie gesehen, dass Investitionen des Staates in Krisenzeiten etwas einbrächten. Mond oder New York? Diese Experten waren noch niemals in New York - sie haben es nie gesehen, sie können es sich nicht vorstellen, den Weg dorthin auch nicht. Aber wenn sie abends auf der Terrasse sitzen, dann greifen sie hinauf, fast sieht der Mond wie ein Taler aus, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger klemmen können. Es ist also offensichtlich, dass der Erdtrabant näher ist als die Trabantenstadt.

Man investiert nicht mehr so viel in Mondfahrten wie noch vor Jahrzehnten; dafür ist die fehlende Investitionsbereitschaft, das Sparen bis aufs Blut, sowas wie der metaphorische Mond geworden, den man von überall aus sehen kann. New York taugt als Parabel weniger, denn es ist austauschbar. Die Befürworter der "Ankurbelung durch Sparen" sehen schon die Vororte jener Städte nicht, in der sie in Büros residieren. Als Herren der Stadt und des Erdkreises scheint ihnen der milchige Taler näher, als irgendwelche Siedlungen am Stadtrand. Es muss nicht New York sein, es kann alles sein, was hinter der Krümmung der Erde verschwindet. Und wo diese Krümmung beginnt ist Ansichtssache. Was dahinter liegt, ist so viel weiter als das, was Hunderttausende von Kilometer über uns schwebt. Aus den Augen, aus den Sinn - aus den Augen, hat kein' Sinn. Die Dialektik von Menschen, die nur glauben, was sie sehen oder was sie zu sehen glauben.

Sie meinen ja, gesehen zu haben, dass Sparsamkeit saniert. Als bei den Eltern der Geldbeutel ausgetrocknet war, sparte man sich hier einige Happen, dort einige Blatt Papier, lief noch eine Weile in durchgelatschten Schuhen herum, ließ den Schwimmbadbesuch sausen und trank einige Tage oder Wochen Leitungswasser - der Engpass konnte mit diesen Maßnahmen überbrückt werden. Sie haben es ja mit eigenen Augen gesehen; vielleicht hat auch Merkel sowas empirisch erfahren, vielleicht musste Vater Kasner hin und wieder theologisch sachgerecht zu kleine Brotlaibe brechen und teilen und hatte den Wein durch Saft auszutauschen, um die Klammheit dergestalt nach einer Weile zu vertreiben. Und weil es damals so schön klappte, ist das auch der Lösungsansatz für eine ganze Volkswirtschaft. In der sollen alle rationieren, geizen, knapsen, in der soll jeder mit weniger noch weniger kaufen, mit nichts nichts investieren, mit Luft Luft konsumieren - und dann soll es bald wieder aufwärts gehen...

Bei den Kasners funktionierte das womöglich so unkompliziert, weil die eigene Solvenz durch die Liquidität anderer Marktteilnehmer aufgefangen wurde; in einem liquiden Markt, kann sich der einzelne Solvente gesundsparen - temporär gelingt das jedenfalls. Für die griechische Wirtschaft ist das kein Modell, denn dort ist die Solvenz Massenspektakel und das Sparen des einen, ist das Knapsen des anderen, ist das Rationieren des Dritten, ist die verschärfte Solvenz des Vierten, ist das Hungern des Fünften und seiner Kinder. Wenn Geld so knapp ist, dass es nicht zirkulieren kann, dann erliegt der Kreislauf. Warfen die Kasners kein Geld in die Zirkulation, so erlag nicht gleich der gesamte Kreislauf - er hielt es einfach aus.

Hätte Vater Kasner damals einen Kredit aufgenommen, hätte er investiert, Theologen für sein Kolleg eingestellt, neue theologische Features eingebaut, teureren Wein gesegnet, was alles natürlich Quatsch ist und irrational zudem, so hätte zunächst auf der Sollseite ein dickeres Minus gestanden. Aber wer sagt, dass die Kasners letztlich nicht besser aus der Misere gekommen wären? Theoretisch jedenfalls, die Praxis jener Tage an jenen Orten hätte dies nicht zugelassen. Hätte er das aber hypothetisch damals zu gehandhabt, so wäre die Investitions- und Konjunkturpolitik von seiner Tochter Regierung womöglich nicht dermaßen geächtet. Sie würde New York, würde den Vorort wählen, den man aufgrund der geographischen Prämissen, der naturgesetzlichen Vorgaben zunächst nicht sehen kann, der aber so viel näher liegt als der Satellit hoch oben.

Der Mond ist aufgegangen - ein sparsamer Trabant, der die Sternlein golden prangen lassen soll. Man schweift in die Ferne, denn dort liegt das Gute doch so nah, scheint es. Ein Europa dieses sonderbaren Mondscheines steht in den Startlöchern, ist teilweise schon Wirklichkeit. Experten, die Sparsamkeit verordnen, leben auf dem hier metaphorisch benutzten Erdtrabanten - und das leider auch nur metaphorisch. Sie dorthin zu schießen wäre schön - aber wie gesagt, in bemannte Mondfahrten wird nicht mehr so viel investiert, als dass man ganze Cliquen verladen könnte. Oder man zieht einfach hinter die Gesteinskugel, verschanzt sich dahinter, in der Hoffnung, seine innere Ausgeglichenheit zu finden; hinter dem Mond fällt einem nicht gleich der Himmel mitsamt Sparsamkeitsengel auf dem Kopf. Biedermeier nannte man das zu Zeiten, da der Mond noch Ausleuchter etwaiger Romanzen war...



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Es gibt keine Missstände

Donnerstag, 30. August 2012

Man darf jetzt nicht Alarm schlagen... nur sachte, nur ruhig. Der Missstand ist keiner - es gibt ihn nicht, es gibt nur falsche Vorurteile, falsche Prämissen die Missstände konstruieren, erfinden, erdichten und herbeidelirieren. Es gibt zwar Rentner, die noch in Lohn und Brot stehen, es gibt zwar 120.000 Mini-Jobber jenseits des 75. Lebensjahres, es gibt ferner mehr als 150.000 sozialversicherungspflichtig arbeitende Rentner, aber das ist kein Zeichen für irgendetwas. Schon gar nicht für eine Fehlentwicklung oder für Altersarmut oder zu kleine Renten - wenn es wirklich irgendein Zeichen sein soll, dann dafür, dass man heute im Alter noch fit ist, dass man als älterer Mensch noch unbedingt arbeiten möchte.

Sagt jedenfalls der Neoliberalismus, der diesmal in corpore Institute der deutschen Wirtschaft (IW), in corpore eines gewissen Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte des besagten Instituts, auftritt. Außerdem weiß der, dass Menschen im hohen Alter arbeiten, weil sie hoch qualifiziert sind - das erklärt zwar gar nichts, denn warum ausgerechnet Hochqualifizierte keine Lust auf einen Lebensabend haben sollten, den sie qua ihrer hochqualifiziert begünstigten Rentenbeiträge sogar finanziell sorglos gestalten könnten, ist kaum erklärbar. Es erklärt höchstens, dass die Deputierten des Neoliberalismus' nicht mal besonders gewitzt lügen können. 120.000 Mini-Jobber, die weit, die sehr weit, eine Dekade und mehr über dem Renteneintrittsalter liegen; Mini-Jobber, das sind solche, die sich für 400 Euro oder weniger den krummen Buckel nochmal eine Idee krummer machen - und die sollen hoch qualifiziert sein? Sind das also die Konditionen, unter denen hoch qualifizierte Menschen im neoliberalen Utopia arbeiten sollten?

Nein, es gibt keinen Missstand im Lande Neoliberalia - es gibt nur Umstände, die man jederzeit zuversichtlich, optimistisch und zukunftsfreudig umschreiben muss, damit sie zu erträglichen Sachverhalten verbrämen. Fehlt Geld im Bildungswesen, so ist es kein Missstand, denn irgendein geschwätziger arbeitgebernaher Instituts-Beschwichtiger wird gleich fröhlich davon berichten, dass das den Wettbewerb anfeuere und dass das nötig sei, um Kinder zu guten Arbeitskräften auszubilden. Gehen mehr Leute trotz Krankheit zur Arbeit, weniger Leute zum Arzt, dann nur keine Panik, denn gleich kommt der Stimmungsaufheller, gleich hören wir, dass dies ein Zeichen erhöhter Volksgesundheit sei und der durchschlagende Erfolg von Tabletten, die schnell wirkten und einen Arztbesuch unnötig machten. Leider wüssten das aber immer noch zu wenig Menschen, gingen daher immer noch zu viel zum Arzt, wo es doch so wirksame Pillen gäbe...

Alarmismus ist die Sache des Neoliberalismus nicht - nicht wenn es um seine Grundpfeiler geht, um seine Säulen. Nicht wenn seine Fassaden und Träger im grauen und erdrückenden Brutalismus mitten in die Gesellschaft gepflanzt werden; wenn sein Baustil für seine nüchterne Art, für seinen béton brut ins Gerede kommt, dann gilt es, den Alarm zu unterbinden. Wenn es allerdings darum geht, die Grundfeste anderer Weltauffassungen zu erschüttern, wenn er die Stelen der Fürsorge und Teilhabe, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit abtragen will, dann kann der Alarm für ihn gar nicht schrill genug sein. Aber was sind schon 270.000 alte Menschen, die ihren Lebensabend mit Erwerbsarbeit verbringen, wenn doch gleichzeitig der Sozialstaat die Staatsschulden steigert und die Krise verstärkt, wenn Hartz IV die Faulheit fördert und zu hohe Renten die Jungen ausblutet?

Keine Panik, denn schon vor Monaten hat die Anpack-Ministerin erklärt, dass sie der Altersarmut an den Kragen gehe - indem sie die Zuverdienstmöglichkeiten für die working old ausweitet. Nicht hadern, nicht schimpfen, es wird ja was gemacht! Für all die vielen Rentner, die noch so fit sind, dass sie ihre welke Haut zu Markte tragen wollen. Sie sollen belohnt werden, Leistung muss sich doch wieder lohnen - es kann nicht sein, dass faule Rentner genausoviel haben, wie die, die arbeitsam sind. Missstand wäre, wenn Zuverdienstgrenzen den Fleiß mit der Faulheit gleichstellten - aber dem ist ja so nicht. Es gibt also keinen Missstand...



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Omen non est omen

Heute: Marketing

Ein Gastbeitrag von Markus Vollack.
"Unternehmen wollen schließlich kein passiver Spielball des Zufalls sein. Sie wollen aktiv Einfluss auf das Marktgeschehen nehmen und durch einen gezielten, wirkungsvollen Einsatz der Marketing-Instrumente die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen."
- Uwe Engler, Ellen Hautmann, "Grundwissen Marketing", Cornelsen 2010, S. 9 -
Marketing bezeichnet die pseudowissenschaftliche Kunst und Möchtegern-Philosophie des Verkaufens. Demnach ist die ganze Welt ein Produkt und alle Menschen haben unendlich viele Bedürfnisse, die durch den Gott-Markt-Leviathan befriedigt werden sollen. Die Fähigkeit menschliche Bedürfnisse erst gezielt zu konstruieren, um dann genau diesen Bedarf mit einem Produkt zu befriedigen, das ist Marketing.

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Aktenzeichen XY... aufgelöst!

Mittwoch, 29. August 2012

Als Kind machte Aktenzeichen XY... ungelöst großen Eindruck auf mich. Die Sendung kam mir vor wie ein Ausbund an Seriosität, auch wenn ich damals natürlich kaum wusste, was gemeinhin als seriös zu bezeichnen ist und was nicht. Aber die getragene Miene Zimmermanns, die unaufgeregten Zwischenstimmen aus Wien und Zürich, dazu Einspieler, die wie ein sachliches Polizeivideo wirkten - all das festigte schon einen gewissen seriösen Ruf, den die Sendung bis heute hat. Ohne Zweifel ist Aktenzeichen XY auch heute noch ein seriöses Format, vergleicht man es mit dem, was uns das Fernsehen sonst so schenkt. Aber der nüchterne Ton der Sachlichkeit, die trocken auf Fakten aufgebauten Filme und der unaufgeregte Eifer der Personen im Hintergrund sind verschwunden - heute gestaltet sich die Sendung weniger rational und objektiv. Dieser Verlust des Spartanischen ist auch ein Verlust an Qualität und rüttelt am eigenen Sendungsbewusstsein.

Ein Studio in Betriebsamkeit

Teilweise könnte man den Eindruck erlangen, dass Aktenzeichen XY mit einem Ermittlungs- und Aufklärungsformat wenig zu tun hat. Das früher so farblos getragene Konzept, das sich auf Inhalte versteifte, das Fakten und Indizien lieferte, stand dem Rahmen der Sendung gut zu Gesicht. Das ocker gefärbte Studio, so muß man schon zugeben, wirkte nie besonders freundlich - aber das Motiv der Sendung war ja auch nicht Freundlichkeit, sondern die Aufklärung von Verbrechen, daher passte das auch farblich. Jetzt plötzlich turnen Ermittler und Stichwortgeber durch das Studio, im Hintergrund rumort es stetig und neulich beschloss Rudi Cerne seine Sendung, indem er einer im Studio anwesenden Polizistin mitteilte, sie habe Anrufe von Verehrern erhalten. Letzteres war auflockernd gemeint, aber es schien doch wenig angemessen und raubte der Sendung abermals die Getragenheit, die ihr einst Seriosität verliehen hat.

Man wird auch den Eindruck nicht los, dass die Telefonzentrale im Hintergrund weniger wirkliche Funktion hat, als sie Suggestion sein soll. Da werden womöglich weniger "sachdienliche Hinweise" als Rührigkeit und Fleiß der Polizei vermittelt. Man soll als Zuschauer das Gefühl nicht loswerden, dass der heiß errötete Draht nie abkühlt, dass wie im Sekundentakt Fälle in die Nähe von Aufklärung rücken. Dieser Mensch vom Bayerischen Landeskriminalamt, der in jeder Sendung Zwischen- und Endstand verkündigt, wirkt stets sachgerecht außer Atem gesetzt und wie Wild gehetzt - wie souverän doch Peter Nidetzky und Konrad Toenz waren, die trocken aus ihren Studien in Wien und Zürich verlasen, was an Hinweisen hereinkam. Sie wirkten wie Technokraten, das stimmt schon - lächelten nicht, waren unerbitterlich humorlos, steckten in billigen Anzügen. Doch genau diese Grauheit kam dem Format zupass; Selbstdarstellung wurde pfleglich vermieden. Aktenzeichen XY war einst die stoische Trotzburg gegen das Verbrechen im Fernsehen - heute ist sie die in Bildern festgehaltene Hektik, die man dem Verbrechen entgegensetzt. Dieser unbeteiligt wirkende Gleichmut vergangener Tage entsprach der Agenda der Sendung - da waren kühle Analytiker und Hinweisverwerter am Werk, die nicht durch Show, sondern durch eifriges Sammeln und Auswerten zum Fahndungserfolg beitragen wollten. Die nervöse Betriebsamkeit von heute führt sicherlich auch zu Erfolgen, wirkt jedoch eher wie das wilde Herumschwirren eines provozierten Bienenschwarms als wie die nüchterne Arbeit von polizeilichen Fachkräften.

Diebe auf den ersten Blick

Die Einspieler heute unterscheiden sich eklatant von denen, die vor vielen Jahren noch Aktenzeichen XY ausmachten. Natürlich sind die laienhaft motivierten Dialoge geblieben. Die gab es auch damals. Bevor in den Filmen heute das Verbrechen geschieht, vermittelt man einen Eindruck über ein privates Idyll, in welches gleich das Unglück einbricht. Die Opfer erleben das ja auch sicher so, ob allerdings das Malen von Weiß und Schwarz notwendig ist, um dem Zuschauer den Sachverhalt nahezubringen, bleibt dahingestellt. Diese Betonung von Gegensätzen ist heute ausgeprägter als vormals; es ist auch zu vermuten, dass man hier gezielt die emotionale Schiene bedient, wie man das heute gerne tut und die bei Aktenzeichen XY in frühen Tagen nicht befahrbar war. Kurios ist manche filmische Darstellungsweise. Zu Zimmermanns Zeiten wurden die unbekannten Täter zwar auch filmisch dargestellt, nur sah man weitestgehend das Gesicht des Mimen nicht. Man wollte die Zuschauer nicht vorprägen und konditionieren, abrichten auf das Gesicht eines Darstellers, der zwar vielleicht Ähnlichkeit mit dem wirklichen Täter aufweisen konnte, aber eben doch nicht der Täter war. Anfang 2012 wurde erstmals ein Aktenzeichen XY-Darsteller dingfest gemacht; festgenommen von der Stuttgarter Polizei  - man hatte ihn in der Sendung gesehen und sein Gesicht hatte sich als das des Täters festgebrannt. So macht man Diebe auf den ersten Blick - denn dieser erste Blick ist es, der jede ergebnisoffene Fahndung entweder weiterführt oder verhunzt; einmal gesehen - und sei es falsch gesehen - und ein Bild setzt sich in Gedanken fest.

Nicht minder kurios, wenn auch vielleicht mit weniger drastischen Folgen, sind Filme, in denen man als Zuschauer plötzlich den Blickwinkel eines Mordopfers einnimmt, kurz vor dem Sturz zu Boden oder schon am Boden liegend, mit den Augen des Sterbenden zusieht, wie der Täter abzieht, wie er vielleicht noch die Taschen leert oder das blutige Messer abwischt. Grob verfälschend mag das nicht sein, aber makaber und effekthaschend ist es dennoch. Der Zuschauer von Aktenzeichen XY soll eigentlich Informationen und Fakten erhalten, um daraus vielleicht Hinweise zu rekrutieren. Was die Verschiebung des Blickwinkels, die ja nichts als Spekulation ist, an Hinweisen ergeben soll, kann nicht sinnvoll beantwortet werden.

Blut, Sitzkreis und Tränen

Das Plot von damals würde heute langweilen. Insofern ist eine Modernisierung der Sendung natürlich nicht zu beanstanden. Gewisse Neuerungen sind aber mehr als gewöhnungsbedürftig. So ist es nun Sitte, dass gelegentlich Hinterbliebene von Mordopfern ins Studio eingeladen werden. Dort formen sie einen Sitzkreis, einen Halbkreis und berichten über die Qualen der letzten Monate, die in ihr Leben einbrachen. Bei allem nötigen Respekt vor diesen Leidenswegen: Welchen Erkenntniswert, welche Fakten sollen dem Zuschauer so geliefert werden? Eine unglückliche Mutter mag Herzen berühren, hilft aber bei der Verbrechensaufklärung wenig. Die Trübung durch emotionale Anteilnahme hemmt Ermittlungen und beeinträchtigt Zeugen. Und immerhin sind die Zuseher von Aktenzeichen XY nicht weniger als potenzielle Zeugen - und dementsprechend sollte man einige Standards, die im Umgang mit (möglichen) Zeugen zu berücksichtigen sind, einhalten. Zugunsten der Emotion, die heute offensichtlich auch in einer seriösen Sendung nicht mehr fehlen soll, trübt man den klaren Blick, manipuliert man die Objektivität, die ja im Erinnerungsvermögen von Zeugen ohnehin nur sehr porös ist.

Unlängst präsentierte Rudi Cerne einen Fall, der auch mittels Film vorgestellt wurde. Im Anschluss fand sich kein polizeilicher Mitarbeiter ein, um die Ermittlungen zu belegen und um Mithilfe zu bitten, sondern eine Psychologin, die in einem kurzen Gespräch erläutern sollte, welche seelische Grausamkeit das im Film gesehene Opfer zu ertragen hatte und wie man nun therapiert. Dass das weder besonders spannend noch aufklärerisch war, bedingt durch die Kürze der Zeit, ist die eine Sache - was eine solche Aufarbeitung des Falles in einer Sendung zu suchen hat, die sich der Aufklärung von Verbrechen verschrieben hat, kann wahrscheinlich niemand beantworten. Auch hier überwiegt die emotionale Komponente, auch hier verweigert man die Nüchternheit, die dem Sendeformat eher zupass kommen sollte.

Banale Crimetime

Verbrechen thematisch zu behandeln heißt für die Medien heute auch, Worte des Trostes und der Anteilnahme zu spenden, und eine inhaltliche Verlagerung auf Gefühlsebene zu begehen. Ohne Emotionalität ist die Behandlung von Verbrechen nicht mehr denkbar, nicht mal in einer Sendung, die Ermittlungen vorantreiben und wiederbeleben will, die sich also qua Konzept mehr dem Täter als dem Opfer widmen sollte. Zudem braucht das Verbrechen heute ein Gesicht, da läßt sich Aktenzeichen XY neuerdings von Vorabendserien des Privatfernsehens inspirieren; der gut durchdachten Ansatz von früher, den Täter im Film anonymisiert und gesichtslos vorgehen zu lassen, um etwaiges Erinnerungspotenzial zufällig zuschauender Zeugen nicht leichtfertig zu zersetzen, zu zerstreuen oder zu beeinflussen, ist endgültig in der Mottenkiste gelandet.

Aktenzeichen XY war lange Jahre eine nüchterne, eine stoische Sendung. Man hatte den Eindruck, es ging tatsächlich um Aufklärung, um effektives Vermitteln von Tatbeständen, die der Zuschauer ergänzen soll - man glaubte, es sei keine Unterhaltung im eigentlichen Sinne, sondern es wird ohne Rücksicht auf das, was der Zuschauer gerne sehen möchte, um sich zu unterhalten, gesendet. Das machte den Charme der Sendung aus - und es formte die Seriosität, die man dieser Sendung attestierte. Dass es denen von Aktenzeichen XY um Wahrheit gehe, konnte man glauben - und vermutlich war das auch ein Motiv. Heute ist nicht auszuschließen, dass es den Beteiligten immer noch darum geht, aber sie tun viel dafür, dass man das nicht mehr ganz so blauäugig glauben darf. Die Sendung gleitet ab, sie wird zur banalen Crimetime, die durch lästige Faktenlagen und Polizeiberichte gestört werden. Vielleicht ist es zu viel, vom Niedergang einer Sendung zu sprechen. Die Tendenz weist aber dorthin.



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Pop, Aktion und Überlegenheitskult

Dienstag, 28. August 2012

Was den aufrührerischen Mösen widerfahren ist, kann man natürlich moralisch nicht akzeptieren. Zwei Jahre Straflager für ein Vergehen, das doch relativ belanglos erscheint, sind nicht nur übertrieben, sondern normal für eine politisch motivierte Justiz – nicht das Strafmaß ist demnach unerträglich, sondern der Umstand, dass es von einem unfreien Gericht beschlossen wurde. Überhöht scheint es dennoch. Gleichwohl ist der Aufruhr, den Pussy Riot weltweit erregte, an popkulturellem Einheitsbrei und ritualisierter Anteilnahme kaum zu übertreffen.

Die Unterstützer geben sich popkulturell...

Richtig ist, dass das Gerichtsurteil nicht unabhängig gefällt wurde und dass das Strafmaß in keiner Relation zur Tat stand. Richtig ist es natürlich durchaus auch, dass man sich solidarisch zeigt und eine solche Praxis verurteilt. Warum aber nur Verurteilungen gen Moskau? Solidaritätsbekundungen nach Sibirien? Wieso nicht nach London, wo man erwägt, eine Botschaft zu stürmen? Wo haben sich einst junge Männer solidarische Bärte stehen lassen, um auf die politische (Selbst-)Justiz einer USA zu verweisen, die islamische Männer ohne Prozess für Jahre in einem Straflager verschwinden läßt? Rund um die Welt setzen sich Menschen nun Kapuzen auf; solidarischer Mummenschanz, der massenkompatibel aufgezogen wird, der Eventcharakter birgt, der einfach gut ankommt, weil er spaßig wirkt, originell und verspielt – das ist vieles, sicherlich aber nicht kritisch oder hochgradig politisiert, wohl aber Popkultur, mit all ihren konformistischen Attributen. Sie gestaltet sich schrill, schräg und bunt – und ist somit prädestiniert für einen Geschmack, der die Breite trifft. Wie die Kulturindustrie, frei nach Adorno und Horkheimer, eine Popkultur, Popliteratur, Popkino schafft, so verankert sie auch pop politics, installiert sie Popsolidarisierungen. Das sind relativ entpolitisierte, inhaltslose, dafür aber ästhetisch konzipierte Solidaritätsbezeugungen, die einen konformistischen Zwang zur Ästhetik und zu Schlagworten, die ja nichts anderes sind als verbale Harmonisierungen, nicht aber auf inhaltliche Bereicherung und Einbringung neuer Aspekte und Sichtweisen, ausüben.

Dass selbst Leute wie Westerwelle und Merkel den Namen Pussy Riot in den Mund nehmen, verdeutlicht mit welcher populärkultureller Verbrämung, ja mit welchem Populismus hier hantiert wird – glaubt man ernsthaft, eine deutsche Band nennte sich Mösen in Aufruhr, man würde den Namen aus Politikermund hören? Eher rümpften sie sich die Nasen, wenn sie überhaupt irgendwas dazu sagten. Man würde sie eine Anarchoband nennen, ohne konkrete Namensnennung, und man würde verurteilen, dass sie im St.-Paulus-Dom zu Münster gotteslästerliche Texte anstimmten. Und just in dem Moment, da diese Zeilen hier formuliert werden, kommt zu Ohren, dass Nachahmer im Kölner Dom ein Happening starteten und dafür verhaftet wurden. Hatten die zwei Männer und die Frau zu Köln keinen Namen? Sie sind nur einige Nachahmer. Wäre es denkbar, dass sich Westerwelle für eine fiktive Band stark machte, die sich Regensburger Domfotzen nennte, die in eben diesem Dom ein provokantes Happening abhielten? Wie oft käme ihm der Name über die Lippen?

... die Band baute auf Happening und Aktionismus...

Von mancher Seite vernahm man, dass künstlerische Freiheit nicht vor Gericht gehörte - auch Westerwelle diktierte das so in ein Mikrofon. Das ist nicht falsch, hat aber mit den aufrührerischen Mösen wenig zu tun. Gleich dazu mehr; zuerst aber: Was die Frauen in Moskau taten erinnerte an Happening, an die Aktionskunst, wie sie vor fünfzig Jahren Wiener Künstler begingen. Daher auch der Name Wiener Aktionismus - neu ist also Pussy Riots Auftritt nicht; und besonders radikal war er auch nicht. Oswald Wiener, Vater einer heute bekannten Fernsehköchin, verrichtete im Gegensatz dazu beispielsweise im Hörsaal der Wiener Universität seine Notdurft, masturbierte und schmierte sich mit Scheiße ein und trällerte dabei die österreichische Nationalhymne - all das auf einer ausgebreiteten Nationalflagge Österreichs. Kunst und Revolution nannte sich die Aktion. Wiener wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, ein Verfahren wegen Gotteslästerung war anhängig, als er aus Österreich floh.

Aktionskunst richtet sich in seiner politischen Spielart provokativ und bewusst übertrieben gegen gesellschaftliche Zustände, die als erdrückend und autoritär verstanden werden. Sie sucht die Konfrontation. Betont unflätige Ausdrucksweisen und Tabuverletzungen sollen gesellschaftliche Zusammenhänge blanklegen und perverse Entwicklungen entlarven. Aktionskunst will schocken und versteht sich als Impulsgeber eines heilsamen Schocks; Aktionskunst ist Avantgarde, dass sie im aktuellen Fall popkulturell flankiert wird von ihren Unterstützern rund um die Welt, ist eher kurios. Oswald Wiener war seinerzeit nicht ganz konsequent, sollte zynisch angemerkt werden. Denn die Bestrafung und die juristische Zurschaustellung der Aktionskünstler ist ja für die Aktionisten selbst keine Überraschung, auch gar nicht so sehr ungewollt. Gerade ein überhöhtes, ein lächerlich übertriebenes, von lächerlichen Systemvertretern angestrebtes Urteil zeigt ja auf, dass die angebrachte Kritik, die im Happening lag, nicht herbeiphantasiert war, sondern realistisch eingeschätzt wurde. Wer auf die Nationalflagge scheißt, um die nationalistischen Impulse zu veralbern, und hernach für die Verletzung nationaler Symbole verurteilt wird, bestätigt nur, dass er richtig lag. Wer Putin einen Gott nennt und die Orthodoxie der Nähe zur politischen Macht bezichtigt, danach wegen Gotteslästerung verurteilt wird, der unterstreicht, dass er mit seiner Einschätzung nicht so ganz falsch gelegen haben muß. Gerichtliche Konsequenzen sind damit nicht Angriff auf die künstlerische Freiheit, wie eben unter anderem jener Westerwelle meinte, sondern gehören der Aktionskunst an – gerade das Urteil soll ja aufzeigen, soll bekräftigen, soll attestieren. Insofern ist die Aktion gelungen - und sieht man den jungen Frauen ins Gesicht, auch diesem Gatten einer dieser Frauen, der durch Interviews und westliche Reportagen gereicht wird, so meint man durchaus, eine gewisse Zufriedenheit erkennen zu können. Dass das Strafmaß unter formalen Gesichtspunkten überzogen ist, dass eine Geldstrafe ausgereicht hätte, ist natürlich eine andere Geschichte.

... und der Westen setzt auf kulturelle Überlegenheit.

Pussy Riot wird zweifellos instrumentalisiert; die jungen Frauen sind die nützlichen Idiotinnen eines Westens, der vorlaut davon selbstüberzeugt ist, die altertümlichen Rituale einer Diktatur, die Atavismen der Willkürherrschaft, schon vor langer Zeit gänzlich abgelegt zu haben. Aber grundsätzlich unschuldig sind sie nicht, grundsätzlich als Mädchenstreich, wie das namhafte Politiker hierzulande runterspielten, war die Aktion nicht gemeint. Wer das als Streich abtut, tut den Frauen auch keinen Dienst, denn er entkräftet damit die Ernsthaftigkeit, die hinter dem Happening stand; aberkennt den künstlerischen Impetus der Aktion. Natürlich war die Aktion eine provokante politische Manifestation, natürlich wurde beleidigt, natürlich hat man die Ausübung von Religion gestört und religiöse Gemüter erschüttert und gekränkt. Für all das geht man auch in der Kultur der Überlegenheit, im Westen, zumindest theoretisch, in den Bau. So schlimm, dass jemand in ein Straflager muß, war die Aktion freilich nicht - aber unjustiziabel ist sie eben auch nicht. Und wie erläutert, darf sie gar nicht sein, wenn sie als ernsthafte Manifestation begriffen sein will.

Die Anhänger von Pussy Riot plädieren ganz pop culture für Straffreiheit. Auch sie tasten damit das Werk an; nebenher stützen sie die These, dass der Westen kulturell überlegen sei. Die Strafe ist qua vorhandener Gesetze aber nicht einfach zu erlassen. Solche Gesetze kann man richtig oder falsch finden - sie finden sich aber nicht nur im Putins Rußland. Die Form, wie man verurteilte, das ist der Skandal - nicht, dass es eine Strafe gab. Sie ist gesetzlich vorgesehen und soll vor Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen abschrecken - was nicht ganz unvernünftig ist, denn dieser Schutz ist auch ein Aspekt der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Nicht nur, dass man zu keiner Religion gezwungen werden kann, steht dort auf der Agenda, sondern eben auch, dass man Religionsausübung respektieren muß. Dass nicht alles respektlos ist, was religiöse Menschen und Glaubensgemeinschaften so alles meinen, versteht sich natürlich von alleine. Und letztlich ist die Bestrafung nicht das bittere Ende eines Happenings, sie ist die Vollendung - sie schafft Märtyrer, sie macht sichtbar, was man schon vorher wusste. Die Bestrafung außer Kraft setzen zu wollen bedeutet unter künstlerischen Gesichtspunkten auch, die Aktion der drei Frauen gar nicht vollumfänglich begriffen zu haben - wenn Aktionskunst mit pop culture beantwortet wird, dann ist so eine Unbegreiflichkeit vermutlich folgerichtig.



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Die große Nacht des deutschen Sports

Montag, 27. August 2012

Nun also doch! Seine zweiten Plätze, die man in diesem Lande als zu wenig Leistung, als Produkt seines Übergewichts, als Fabrikat seiner mangelnden Quälbegabung - Quäl dich, du Sau! - erklärte, werden nun doch gefeiert werden können. Nicht, weil sie Zweiplatzierung sind, sondern weil sie es waren, weil sie nun das Entree dafür sind, in den Tour-Palmares gründlich nach oben zu rücken. Nun einer der erfolgreichsten Touristen aller Zeiten zu werden. Nach dem Tour-Sieger 1997 auch noch 2000, 2001 und 2003 - und einen Armstrong hat es nie gegeben. Wie hieß noch gleich der Fahrer, der auf Ullrich, den sie dann wieder Jan oder Ulle nennen, gewartet hat, als dieser in den Graben fuhr? Nur ein Schatten, nur ein Phantom, den gab es nie! In Jahren wird man von der Ära Ullrich sprechen, vom viermaligen Sieger, von einer Legende, von den goldenen Jahren des deutschen Radsports. Ein wenig suspekt war es dazumal schon, suspekt war Ulle zwar, aber das waren andere auch schon; da kommt einem der zwielichtige Anquetil in den Sinn...

Der deutsche Blätterwald wird ihn nicht feiern, wird nicht laut Hurra! rufen - Ullrich selbst wird ohnehin nicht in Überschwang ersaufen. Auch die Presse wird es nicht tun. Aber man darf Wetten darauf abschließen, ob man den Mann, der medial so gut wie tot ist, der verspottet und nicht verstanden wurde, wie kaum ein anderer Sportler zuvor, nicht doch wieder rehabilitiert. Dezent und wortkarg, sehr bedachtsam und einsilbig. Aber sollte der Fahrer, der siebenfach die Tour de France gewann, von der Abteilung Miniwahr der amerikanischen Anti-Doping-Agentur einer damnatio memoriae, einer Verdammung des Andenkens unterstellt werden, so ist damit zu rechnen, dass der bescheidene Bub aus Rostock und Merdingen, der schüchterne Schlacks, zaghaft wieder "der Jan" wird, der er schon mal war - nicht überstürzt, wahrscheinlich wird der Jan auch weiterhin der Ullrich sein, aber man wird lesen "... der viermalige Tour-Sieger..." oder so. Und alles nur, weil dieser Fahrer, dieser... wie hieß er noch?... weil er ausgelöscht wurde. Wobei mit der Löschung eines Delinquenten auch die Löschung gelöscht ist, denn was nie war, konnte auch nie gelöscht werden!

Nun könnte man einwenden, dass es schon ein starkes Stück ist, einen schmutzigen Sportler durch einen schmutzigen Sportler auszuwechseln. Das kann man nachvollziehen, ist aber nicht Gegenstand dieser Zeilen, soll er auch nicht sein. Der Zynismus des Publikums, einerseits sein Herz auf sauberen Sport zu setzen, während man andererseits ständig auf spektakuläre Momente, auf Klettermaterialschlachten und Show-Downs in den Alpen hofft, wurde hier schon mehrfach thematisiert. Doping ist nicht die Sünde einiger Fahrer - es ist die Folge einer Erwartungshaltung, die der Verbraucher und Konsument an den Sportler richtet, die er ihm aufnötigt und die er ihm argwöhnisch unter die Nase reibt, wenn die Erwartung unerfüllt bleiben. Dann wird die Liebe entzogen und die Journaille schüttelt sich entrüstet darüber, dass einer wie Ullrich nur Zweiter wird; nur Zweiter im schwersten Straßenrennen der Welt - nur Zweiter, erster Verlierer also.

Lassen wir das Dopinggeschwätz beiseite. Da reden schon zu viele mit, machen schon zu viele den Mainstream zur Tummelwiese nur einer Meinung, die nicht angetastet werden kann, ohne als Häresie unter Verdacht gestellt zu werden. Den Ullrich, den sie traten, den sie verspotteten und für den größten Verlierer aller Zeiten erachteten, werden sie nun zurückführen in die Mitte der Leistungsträgerschaft. Erfolg macht sexy - und sei er am grünen Tisch erfolgt, sei er nur das Produkt von Streichung anderer Teilnehmer. Erfolg stammt nicht irgendwie von Sieg, von Gewinnen, es kommt von Erfolgen: Tour-Siege am Tisch erfolgt - daher kommt das Wort; dem Ulle nun einen späten Erfolg nachzusagen, ist begrifflich nicht mal gelogen.

Diese große Nacht des deutschen Radsports, diese Nacht des 23. August 2012, während wir alle schliefen, während Ullrich schlief, beschert einen Deutschland einen Pedaleur, der nicht nur begabt war, wie kein anderer, sondern auch erfolgreich - reich an erfolgten Titeln. Nach Indurain, nach Hinault, Merckx und Anquentil, allesamt fünfmalige Champions in Paris, steht da Ullrich, vier Titel auf dem Polster; drei davon hat er sich im Schlaf gesichert - auch so eine Legende für das Jahr 2063, wenn man Ullrichs neunzigsten Geburtstag feiern wird. Als wir schliefen, gewann er dreifach die Tour de France - man wird Schlafen in Erinnerung haben, man wird Siegen konnotieren und schreiben, dass "... in der Ära Ullrich kein Kraut gewachsen war, um den Champion zu schlagen; er gewann wie im Schlaf..." Und in dieser Ära, in der Frankreich vom deutschen Radsport besetzt war, da gab es noch einen deutschen Sieger, einen gewissen Klöden, der 2004 die Rundfahrt gewann. Zur Jahrhundertwende, so schreibt man 2063, "... sei der Radsport eingedeutscht worden..." Armstrong? Was hat ein Astronaut mit Radsport zu tun? Armstrong? Der Mann mit den Mordsbacken, der von der Wunderful World sang? Trompetete der etwa damals in Paris die deutsche Hymne?

Überhaupt so ein seltsames Wochenende; sehr armstrongunfreundlich. Da wird Lance Armstronug entstattgefundet, also getilgt, und gleichzeitig findet auch der Armstrong nicht mehr statt, den ich oft versehentlich nannte, wenn ich Lance meinte -  ich meine damit den, der kleine Schritte für die Menschheit machte, ich meine damit den Neil. Und just an diesem Wochenende finde ich meine Platte Satchmo at Symphony-Hall nicht mehr... aber das nur als kurzer Einwurf.

Es wäre doch schade um die schönen Titel. Und als Zweiter ist man doch nicht erster Verlierer - man ist Gewinner auf Abruf. Nicht alle Tour-Helden müssen viel Gelb tragen. Radsport ist der Sport, bei dem man auch als Sechzigjähriger noch Siege einfahren kann; entwickelt man in dreißig Jahren noch stichhaltigere Dopingkontrollen, so sind vielleicht alle Sieger von heute ein Fall für die Löschung aus dem kollektiven Gedächtnis. Dann gewinnt ein Sechzigjähriger rückwirkend die Tour de France. Nie war ein Sport so seniorenfreundlich; nie war ein Sport so spannend und abwechslungsreich...



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Sit venia verbo

Sonntag, 26. August 2012

"Mit seinem 1902 erschienen Buch Mutual Aid: A factor of evolution (Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt), wollte er den sozialdarwinistischen Tendenzen seiner Epoche entgegentreten. Kropotkin berichtet darin von Insekten, Vögeln und Säugetieren und ihrer Hilfsbereitschaft untereinander. Gemeinsames Jagen, gemeinsames Aufziehen von Jungtieren, gemeinsame Pflege kranker Artgenossen, gegenseitiger Schutz in Herden, erlernte Konfliktvermeidung - die "Gegenseitige Hilfe" war für Kropotkin eine bewiesene und damit eine erfolgreiche Überlebensstrategie. Er entlarvte sie als wesentlichen Evolutionsantrieb. Die Sozialdarwinisten hätten nicht verstanden, dass "Survival of the Fittest" nicht bedeute: der Stärkste, der Rücksichtsloseste, der Gierigste überlebe, sondern dasjenige Wesen, das am besten angepasst sei. Dass manche Spezies dennoch wie Sieger eines Kampfes aussehen, sich also hemmungsloser vermehren, während andere verschwinden, habe mehr mit Klimaschwankungen und Krankheiten zu tun - nichts aber mit Sieg oder Niederlage beim "Kampf ums Dasein".
Kropotkin überträgt die "Gegenseitige Hilfe" im Verlauf seines Buches auf die Menschen. Aufbauend auf Clangesellschaften, Dorfgemeinschaften und Zünften landet er in der modernen Welt - sich zu helfen, es ist demnach kein christlicher oder moslemischer oder jüdischer Kodex, auch keine profane ethische Haltung, sondern dem Wesen des Menschen so immanent, wie jedem natürlichem Geschöpf. Der Mensch sei daher nicht gut, weil es Religionen gelegentlich empfehlen, es ist umgedreht: Religionen lehren hin und wieder ethische Grundsätze, weil sie im Menschen a priori verankert sind.
Der "Kampf ums Dasein", zum alleingültigen Naturgesetz erklärt, später zum Kulturgesetz der kapitalistischen Welt gekrönt, war in Augen Kropotkins nichts weiter als die Rechtfertigungsgrundlage der Sozialdarwinisten. Die "Gegenseitige Hilfe", wenn schon nicht zu leugnen, sie doch als Aspekt auszuklammern und zu verschweigen, gehöre letztlich zum Konzept der Rechtfertigungslehre."
- Roberto J. De Lapuente, "Auf die faule Haut: Skizzen & Essays" -

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Weil ich es mir wert bin

Freitag, 24. August 2012

Ich will günstig einkaufen, billig Dienste geleistet bekommen, will jeden Tag neue Schnäppchen. Ich will, dass das, was heute billig ist, morgen noch ein klein wenig billiger wird. Ich bin ja nicht für niedrige Löhne und Personalabbau, damit billig verkauft werden kann - aber ich bin dafür, nicht zu viel Portemonnaieabbau betreiben zu müssen. Ich selbst will ja auch einen ordentlichen Lohn, ich habe ein Anrecht darauf, ich leiste ja gute Arbeit, ich bin loyal und engagiert. Ich bin es wert, ich bin es mir wert - denn unterm Strich zähl’ ich.

Ich will freundlich umworben werden, begrüßt und empfangen, egal wohin ich auch komme. Was schert es mich, dass die Empfangsdame unterbezahlt ist. Das kann sie ärgern, aber nicht an mir ablassen. Denn ich bin Kunde und der Kunde ist König - ich bin König. Ich habe ein Recht darauf, bevorzugt behandelt zu werden. Ich bin doch zu mir selbst auch nett. Ich will Freundlichkeit erleben, Aufmerksamkeit erfahren, ich will umgarnt und versorgt sein. Das ist mein Anspruch als Kunde. Letztlich zähle nur ich, denn ich bezahle die Rechnungen derer, die mein Geld wollen. Ich sorge dafür, dass sie essen, ich bin ihr Arbeitgeber. Da ist es recht und billig, dass man mich hegt und pflegt und liebevoll umsorgt.

Ich will versorgt, ich will im Alter abgesichert und behütet sein. Ich will nicht, dass mein schwer erarbeitetes Geld im Staatsrachen landet, ich möchte mein Geld behalten, ich möchte es privat anlegen, denn ich möchte hohe Renditen erwirtschaften. Solidarität ist ein tolles Wort, ich bin dafür - aber nicht auf meine Kosten. Ich sehe das gar nicht ein. Was habe ich denn davon, wenn man Fremde von meinem Geld durchfüttert? Es ist nur gerecht, wenn ich mein Geld für mich behalte, um es dann für Sozialprojekte auszugeben, die ich bevorzuge. Am sozialsten ist es immer noch, Arbeit zu schaffen, ist es immer noch, wenn ich mein Geld in Discounter trage, damit mein Geld dort Arbeitsplätze sichert.

Ich will Spaß, ich geb' Gas. Ich will laute Musik hören, trinken, speisen, tanzen. Ich will günstig in den Urlaub fliegen, günstig tanken, ein günstiges Auto. Drei, zwei, eins - meins! Ich will Freude am Leben, will erstklassig bedient werden, will herausragende Events für kleinen Preis. Auf Kosten meiner Mitmenschen? Was kümmert es mich denn? Ich bin mir selbst Mitmensch genug, ich habe es mir verdient, mich in die Spaßindustrie zu werfen, dort billig und tüchtig liebkost zu werden. Schade, dass dort Menschen ausgebeutet, Niedriglöhne ausbezahlt werden, aber ich kann darauf keine Rücksicht nehmen, wenn ich Zerstreuung und Erholung suche. Ich muß doch auch mal an mich denken!

Ich will nicht warten, ich will mich nicht in einer Reihe anstehen, ich will nicht schweigen, wenn eine Kassiererin offensichtlich zu langsam tippt. Ich lebe doch im Jetzt, nicht im Später. Ich plärre dann, ich schreie durch den Laden. Dieses Recht habe ich, denn ich bin es dem Unternehmen wert, zufriedengestellt zu werden. Ich will keine Wartezimmer von Innen sehen müssen, ich will nicht erst der Vierte sein, der drankommt. Ich will auch nicht der Dritte oder Zweite, ich will Erster sein, immer Erster sein, egal wo. Das ist mein Anspruch, ich bin mir wichtig genug, immer ganz vorne landen zu dürfen. Notfälle hin oder her, Schmerzpatienten so oder so, der schlimmste Notfall bin immer ich, gleichgültig, was mir fehlt. Habe ich einen harmlosen Schnupfen, bin ich schlimmer dran, als ein fremder Krebskranker. Seine Krankheit ist nicht meine. Mein Leid ist mein Leid, meine Not geht mir ans Herz. Ich habe ein Recht darauf, sofort und kompetent behandelt zu werden - ich zuerst, ich vor allen anderen.

Ich will den besten Lebenspartner, schön muß er sein, intelligent, humorvoll, ein geiler Zahn, immer bereit für Sex, wenn ich Befriedigung brauche. Ich habe mir ein Musterexemplar als Gegenstück verdient. Er muß zu mir passen. Solange er passt, passe ich gerne zu ihm. Aber ich muß die Freiheit haben dürfen, mich auch trennen zu dürfen, wenn es mir nicht mehr passt. Dann sondiere ich wieder den Markt. Ich gehe mit jeder zweibeinigen Möglichkeit ins Bett, wenn es mir danach ist. Ich will Spaß haben, ich will Orgasmen, ich will hemmungslos stöhnen und fauchen, ich will Befriedigung. Wenn ich dann einen Rohdiamanten finde, dann schleife ich ihn, poliere ihn mir zurecht, damit er detailgenau zu mir passt. Ich erziehe mir meine Partner, ich trimme sie, schneidere sie mir zu, wie ich sie brauche. Schlechte Angewohnheiten und unnütze Hobbies gewöhne ich ihnen ab, ich entwerfe mir die Liebe so, wie sie mir gefällt.

Ich spreche gerne von mir, das gönne ich mir. Ich habe ein Recht darauf, von mir reden zu dürfen. Ich finde mein Leben spannend genug, ich will mich nicht zu viel mit den Leben anderer Menschen abgeben. Ich schätze ihre Privatsphäre sehr, denn so behelligt mich ihr Leben nicht zu stark. Ich habe mit mir genug zu tun, genug zu erzählen. Ich habe kaum Zeit, mich um andere zu sorgen. Ich sorge mich um mich schon genug. Wenn jeder auf sich selbst achten würde, anstatt bei Mitmenschen rumzustochern, mehr Eigenverantwortung zeigen würde, dann würde ich auch in einer besseren Welt leben. Wer sich um seinen Mitmenschen kümmert, tut manchmal Gutes, aber viel zu oft Böses. Ich nicht! Ich tue alles was ich tue für mich. Ich tue mir oft Gutes, manchmal versehentlich Böses. Nur so läßt sich das Böse ausmerzen, indem jeder auf sich sieht, sich selbst um sich kümmert. Das ist der einzige Weg, den die Menschheit in der Zukunft gehen kann. Jeder für sich, jeder friedlich für sich alleine. Nebenbei ist es ein schöner, angenehmer Weg, das kann ich bestätigen. Nie hatte ich einen so guten Draht zu mir, zu meinem Körper, nie vermochte ich es, so verständig in mich hineinzuhorchen, nie fand ich meine Mitte so punktgenau.

Dieser Text erschien schon mal, in etwas anderer Form, im Oktober 2009.



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Erst lesen, dann schießen

Donnerstag, 23. August 2012

Gefahren, "die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen", so mahnte das Bundesverfassungsgericht neulich, dürften allerdings nicht mit einem inländischen Waffeneinsatz der Bundeswehr abgewendet werden. Das ist eine Einschränkung, die man einem etwaigen Inlandseinsatz mit auf dem Weg gab. Die Angst, die viele Bürger nun über Jahre insgeheim hegten, dass eben die Bundeswehr gegen Bürger aufmarschiert, scheint richterlich ausgetrieben. Dabei muß man fürchten, dass nun hitzig bürokratische, das heißt, kühl spitzfindige Diskussionen darüber angestellt werden, wann eine Menschenmenge eine Menschenmenge ist und wie man das Wort Gefahr definieren kann.

Dass demonstrierende Menschenmengen von der Bundeswehr nicht angetastet werden dürfen, heißt das nicht auch über Umwege, passiv sozusagen, dass Menschenmassen, die sich per definitionem nicht demonstrierend zeigen, sondern vielleicht einfach nur mahnwachend, schon bundeswehrlich behelligt werden dürfen? Es sind ja Gefahren aus so einer Menge, die nicht Gegenstand eines Einsatzes sein dürfen. Ist aber die Gefahr nicht außer Kraft, wenn beispielsweise ein linker Mob randaliert und Autos umwirft. Dann ist die Gefahr gewissermaßen schon überstanden, dann ist die Gefahr schon zur Tat geworden, droht nicht mehr nur, sondern wütet als Werk. Wenn die Menschenmenge nicht mehr nur gefährdet, sondern schon tut, schon die Stufe der Gefahr durch die Handlung ersetzt hat - kann man dann nicht doch die Bundeswehr dazuholen? Und 500 Menschen sind ja schon eine Menge Leute. Hat damit nicht eine Versammlung von 1000 Menschen die Menge schon überflügelt? Sind 1000 Menschen nicht schon Masse statt Menge? Kann man das nicht von der Mengenlehre ableiten? Und gegen Menschenmassen gibt es doch keine Einschränkung seitens der Verfassungsrichter!

Man braucht etwas Phantasie, um der Büchse der Pandora, einmal aufgesperrt, auch den Deckel hochzuklappen. Spitzfindigkeiten, besondere Auslegungen, exegetisches Lesen, kommentierte Sinndeutungen - so schafft man sich aus Einschränkungen Befugnisse, filtert sich aus Vorbehalte Freibriefe, modelliert sich aus Begrenzungen Vollmachten. Man muß nur besonders richtig, man muß nur gewieft lesen können, ein ausgesprochenes Auge für die Feinheiten haben. Und das haben Bürokraten und Juristen und Juristenbürokraten gemeinhin ganz besonders. Genau deshalb sind Einschränkungen, wie jene des Bundesverfassungsgerichts, so sinnlos, so nichtig - nur das absolute Verbot, das keinen Schlupfwinkel kennt, kommt dieser Auffassung, diesem Verständnis zuvor. Womöglich ahnten die Verfassungseltern, was die Verfassungsrichter nicht fähig sind zu erahnen, zu erwägen, und klammerten die Bundeswehr aus dem Inland kategorisch aus.

Nur Mut, ihr Konservativen, die ihr seit Jahren an der innerländischen Bundeswehr feilt. Die Einschränkung ist keine, sie ist eine Herausforderung, ein Wortspiel, eine Definitionssache. Und darin seid ihr doch herausragend. Ihr nennt euren Chauvinismus einfach Leitkultur und schon klingt es anders; ihr sagt Selbstverantwortung zu eurer Ignoranz gegen die Nöte mancher Menschen - warum nicht einfach die demonstrierende Menschenmenge umwerten, deklinieren, beugen und neu kategorisieren? Die Grenzen des Anstandes waren doch nie Schranken für den Konservatismus, sondern stets Ermunterung, über die Grenzen zu stoßen, ohne zu schroff gegen die Schranken zu donnern. Einschränkungen sind damit auch nie einschränkend, sondern immer einfallend - Einschränkungen, wie jene aktuelle des Bundesverfassungsgerichts, sind Einfalltore, nicht Abriegelungen.



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Bußgeld für Minister, die ohne profunde Kenntnis Bußgelder fordern?

Mittwoch, 22. August 2012

Das Menschenbild der Arbeitsministerin war nie besonders positiv. Das dürfte schon mehrfach aufgefallen sein. Dass es aber so plump und illusionslos ist, das konnte man ja nicht ahnen. Schuleschwänzen ist aller Laster Anfang, weiß sie nämlich. Langzeitarbeitslosigkeit beginnt dort, wo Jugendliche nicht mehr in die Schule gehen. Ist diese Verallgemeinerung schon ein Schaufenster des leyenschen Menschenbildes, so ist ihr Lösungsansatz von der Totalität des neoliberalen Disziplinierens geprägt. Nicht Gesellschaft und staatliche Institutionen haben sozialarbeiterisch hinzuwirken, um Schulschwänzer wieder in den Unterricht zu integrieren. Nein, deren Eltern sollen in die Pflicht genommen werden - um den Druck auf sie zu erhöhen, sollen sie nun schneller mit einem Bußgeldbescheid rechnen müssen.

Elternbashing

Grundsätzlich haben Eltern natürlich die Pflicht, ihre Sprösslinge zur Schule zu schicken. Bildung ist ja nicht nur Pflicht, die man leisten muß, sondern ein hohes Recht. Es aber nun so hinzustellen, als würden die Eltern jugendlicher Schulschwänzer partout stillhalten, wenn ihr Nachwuchs sich verweigert zur Schule zu gehen, ist eine infame Verallgemeinerung, die zeigt, dass da jemand von der Realität nichts weiß. In der kämpfen nämlich Eltern mit Jugendlichen, die desillusioniert genug sind, den Schulalltag nicht mehr erleben zu wollen. Verneint ein Pubertierender den Schulbesuch, kann man sicherlich eine Weile elterlichen Druck auf das Kind ausüben - eine Dauerlösung ist das jedoch nicht. Die Praxis zeigt durchaus, dass Eltern von notorischen Schwänzern bemüht sind, ihr Kind in den Unterricht zu bringen. Sie wissen, dass es hierzulande eine Schulpflicht gibt, sie wissen auch, dass Bußgelder blühen können, sollte der Schüler mehrfach unentschuldigt fehlen. Was aber tun, wenn keine Drohung, keine Bestrafung, keine Lockung mehr fruchtet? Die Zeiten, da man seinen Spross körperlich anpackte, um ihn gefügig zu machen, sind endlich vorbei - welchen Druck sollen Eltern, die ihrer Pflicht nachkommen möchten, an ihren verweigernden Nachwuchs weiterreichen?

Neoliberale Lösungen lösen gar nichts

Weshalb es Jugendliche gibt, die sich des Schulbesuchs verweigern, ist kein Gegenstand des von der leyenschen Vorstoßes. Erkenntnisse lassen sich aber nur erzielen, wenn man begreift, wo die Wurzeln einer Problematik stecken. Demgemäß stimmt man Lösungen ab, zieht aus Jugendämtern Fachpersonal heran, um Familien, in denen Schulverweigerer leben, zu unterstützen. All das ist zeit- und kostenintensiv; wie jede vernünftige und durchdachte Lösung, so ist auch die Reintegration von Schwänzern nicht schnell und gratis zu haben. Dem neoliberalen Dogma ekelt es freilich vor Lösungen, die Zeit und Geld kosten. Daher verlagern neoliberale Lösungsansätze stets die Verantwortung, sodass die Kosten- und Zeitfrage ins Private abgezwackt wird; sie errichten repressive Mittel, die meist zulasten derer gehen, die eigentlich nur bedingt verantwortlich sind. Von der Leyens Forderung nach schnellerem Bußgeld an Eltern ist die typisch neoliberale Art, mit Problematiken umzugehen. Probleme werden damit nicht aus der Welt geschafft, nicht mal sonderlich gelindert - aber man hat etwas getan, hat es versucht und man kaschiert damit die gesellschaftliche und politische Weigerung, sich der Angelegenheit sachlich anzunähern.

Die Liberalisierung hat Kindern und Jugendlichen mehr Autonomie beschert. Das ist nur zu begrüßen, auch wenn diese Autonomie in der Realität, in der man diese jungen Menschen oft in ein starres Konzept, in eine Schablone presst, oft wenig einbringt. Gleichwohl soll aber die Verantwortung für das Schuleschwänzen nicht dem "befreiten" Jugendlichen aufgelastet werden, sondern den Eltern. Erkennt man an, dass der jugendliche Mensch selbstverantwortlich (bis zu einem gewissen Grade) ist, so ist auch er der Ansprechpartner, um sein Fernbleiben zu erklären. Finanzieller Druck ist auf einen jungen Menschen nicht anwendbar, wohl aber pädagogischer. Und genau hier kämen die Jugendämter ins Spiel.

Von der Leyen greift auf elterliche Exemplare zurück, die es durchaus gibt; auf solche, die auf die Bildung ihres Nachwuchses keinerlei Wert legen. Die sind jedoch nicht das zu diskutierende Problem, weil sie a) ohnehin jetzt schon mit Bußgeldern konfrontiert werden und weil sie b) nicht der Standard sind. Es sind Extremexemplare, die man heranzieht, um eine generalisierte Gruppe, die Eltern nämlich, haftbar machen zu können. Unbesehen auf den Einzelfall; kollektives Bußgeld für alle, auch für bemühte Eltern. Das gibt es auch heute schon, nur in der Praxis wird es nicht strikt angewandt - auch weil man weiß, dass in einer Familie, in der die Eltern mit dem Kind täglich um jeden Schultag feilschen müssen, ein weiterer Krisenherd kontraproduktiv wäre. Das ginge zu Lasten der Familie und der Kinder. Erst wenn es unabwendbar wird, greift das Bußgeld - diese kulante Regelung ist vorausschauend und praxisbezogen; sie aufheben zu wollen, durch ein rigoroses Anwenden von Bußgeldern, zeigt letztlich nur, dass von der Leyen vom wirklichen Leben in einer Familie wenig Ahnung hat...

Bußgeld für solche, die die Kenntnisaneignung schwänzen?

Sich Kenntnis anzueignen, um zu erkennen, dass in solchen Fragen von Einzelfall zu Einzelfall zu entscheiden ist, um zu erkennen, dass mit Sozialarbeitern und Pädagogen, die in die Familien hineingehen, mehr anzustellen ist, als dadurch, finanzielle Androhungen in den Raum zu stellen, sollte man von jemanden, der einen Ministerposten inne hat, schon erwarten dürfen. Sich Kenntnisse anzueignen: das ist auch eine Form von Bildung. Die verweigert aber von der Leyen immer wieder gerne. Sie fühlt sich gebildet genug, weil sie den neoliberalen Maßnahmenkatalog, der ja nicht sehr umfangreich ist, intus hat. Sie schwänzt folglich jene Stunden, in der sie Kenntnisse vermittelt bekommen sollte. Mit einem Bußgeld wäre aber auch ihr nicht zu helfen - sie bräuchte wahrscheinlich schon pädagogische Anleitung.

Und von ihrer Sichtweise, dass Schuleschwänzen zur Langzeitarbeitslosigkeit führt, reden wir hier erst gar nicht. Ein so statisches Weltbild ist indiskutabel und immer auch ein Anzeichen neoliberaler Weltanschauung, in der Mehrdimensionales und Vielschichtiges nicht vorkommt. Und wer meint, man könnte die Langzeitarbeitslosigkeit, die in diesem Lande herrscht, mit mangelder Bildung im Vorfeld erklären, der ist nicht nur pauschalisierend, der ist gemeingefährlich - der verunglimpft Menschen, die keine Arbeit mehr finden können, unterstellt ihnen, dass es ein angeblich schlechter Bezug zur Bildung gewesen ist, der ihres Lasters Anfang war.



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De dicto

Dienstag, 21. August 2012

"Aber nur die Gemeinschaft von Mann und Frau ist auf die Hervorbringung von Kindern angelegt. Sie ist Keimzelle der Gesellschaft. Daher wird sie als Institution geschützt."
- Reinhard Müller, Frankfurter Allgemeine vom 13. August 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Lassen wir mal beiseite, dass es durchaus richtig ist, die Familie als Institution zu schützen - und lassen wir auch beiseite, wie wir als Gesellschaft den Familienbegriff interpretieren wollen, ob nun homosexuelle Paare mit oder ohne Kinder Familien sein sollen oder nicht. Es soll hier um etwas Grundsätzliches gehen: Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu benennen ist nämlich ein beliebtes Vorurteil, das sich wissenschaftlich nicht bestätigen läßt.

Die Anthropologie und die Evolutionsbiologie geben durchaus nicht vor, dass Mann und Frau als Keimzeile aller Gesellschaft zu sehen sind. Der Blick auf vom Menschen artverwandte Spezies läßt Rückschlüsse zu, dass die Erziehung und Anleitung der Jungen, einst nicht einem Paar, sondern der Gruppe übertragen wurde. Die Paarung ergibt zwar den Nachwuchs, aber die Kinder gehörten letztlich nicht Mann und Frau, modern gesagt: das Sorgerecht lag nicht bei den Eltern, sondern wurde vergesellschaftet. Die Kinder hatten auch keine explizite Bindung zu den Erzeugern, schliefen nicht abends selbstverständlich in deren Nestwärme und wurden nicht ausschließlich von jenem Weibchen gestillt, das die Mutter war, sondern von einem mehrerer Weibchen, die nicht abgestillt hatten. Richard David Precht schreibt, dass dies mit dem Einzug der Liebe zwischen Männchen und Weibchen einen Abbruch fand, weil Liebe immer auch Absonderung von anderen und damit Exklusion von lästigen Dritten bedeutet. Damit ändert sich an der Keimzelle, die Müller ja zitiert, nichts. Nicht die klassische Familie nach dem Schema "Mann, Frau und Kinder" ist Keimzelle, sondern der archaische "kommunistische Impetus", Fürsorge als Gesellschaftsauftrag zu leisten.

Auch diese These ist natürlich nicht hundertprozentig sicher; sie ist auch nur eine Vermutung. Eine jedoch, die im Hinblick auf Beobachtungen schlüssiger erscheint und die nicht sehr gut in ein Lebenskonzept passt, in dem Eigenverantwortung und soziale Vereinsamung wesentliche Stützpfeiler sind. Hätte nämlich der Mensch ursprünglich Erziehung als Verantwortung für die gesamte Gesellschaft begriffen, wäre er also in seiner Keimzelle ein Kommunist, so würde das bedeuten, dass der homo neoliberalis in einem nicht artgerechten Zustand weilte, kein richtiges Leben im falschen finden könne. Der Mensch ist freilich flexibler, existenzialistisch gesagt, kann er das sein, was er sich einzubilden meint; als Wesen, das sich selbst reflektiert, ist ihm die Selbstdefinition gegeben und die kann in alle Richtungen ausschlagen. Niemand will heute seine Kinder vollauf der Gesellschaft übertragen - denn der heutige Mensch definiert sich (auch) über seine Kinder. Das muß kein künstlicher Zustand sein, sondern ist dieser Gabe zur Selbstdefinition geschuldet.

Dass aber kommunistische Impulse nicht per se ideologisch sind, sondern der conditio humana entsprechen, das reicht aus, um dem konservativen Leitbild von der Keimzelle der Gesellschaft immer wieder Auftrieb zu geben. Denn es darf nicht sein, was nicht sein soll. Mit der Familie aus Mann, Frau und Kindern läßt sich die Hierarchie einer Gesellschaft sauber und ein wenig naturalistisch erklären. Richtig muß dieses Konstrukt aber deswegen noch lange nicht sein. Und ist es vermutlich auch nicht...



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Wasser bis zum Hals

Montag, 20. August 2012

Zwei Ereignisse jährten sich dieser Tage. Beide traten vor zehn Jahren in die Welt. Beide wurden in den Medien stark thematisiert. Beide wurden jedoch voneinander gesondert abgehandelt, nicht zusammengelegt.

Vor zehn Jahren war ein großer Teil des deutschen Ostens landunter. Vor zehn Jahren entschloss man sich, die Vorgaben der Hartz-Kommission, jene die die Nummern I bis IV trugen, in die Realität umzusetzen. Das sind zwei Geschichten, die sich voneinander geschieden ereigneten und doch miteinander verbunden sind. Während dieser Kanzler zum Anfassen mit Gummistiefeln durch den Osten watete, Siegerpose hier, Verständnis heuchelnd dort, während er für die Betroffenen präsent war, hemdsärmelig und mit einstudierten Sorgenfalten, während er einen guten Eindruck hinterließ, adelte man die Zielsetzungen einer Lobbyistengruppe, die man euphemistisch Kommission nannte, zu einem Gesetz. Fast war es so, als hätte man diese Sozialreform verdeckt unter Wasser gegurgelt, im Schutz der Brühe, die sich über Land und Felder, in Häuser und Geschäfte goss. Das Hochwasser umspülte den Sozialabbau etwas, machte ihn zur Marginalie, machte ihn zum Kritikpunkt für Pedanten, in einer Zeit, da doch offenbar so viel wichtigere Sorgen das Land quälten.

Der gummigestiefelte GröRaZ, der größte Reformer aller Zeiten, versprach im Hochwasser unbedingte Hilfe, uneingeschränkte Solidarität, wie er es knapp ein Jahr zuvor schon mal formuliert hatte - damals in einer anderen Angelegenheit. Es ist ein Hohn, denn ausgerechnet im Osten tat er dies, dort wo Hartz IV später einschlug wie nirgends, dort wo einige Zeit danach, als die Vorgaben der Kommission bereits ins SGB gemeißelt wurden, an den Menschen gespart werden sollte, versprach er nun keine Knauserigkeit, versprach er Großzügigkeit. Wenn das Wasser bis zum Hals steht, wird geholfen, war seine Botschaft - wenn es einem wirklich, flüssig, nass bis zum Hals steht, nicht metaphorisch. Dem Arbeitslosen aber, dem das Wasser sinnbildlich bis zum Hals steht, versagte man nun etwaige Ansprüche. Der Kanzler watete mit Solidaritätsbekundungen auf den Lippen durch die Lande; ein wenig später, das Wasser war schon lange wieder weg, da watete er durch Parteikundgebungen und entsagte dabei jeglicher Solidarität gegenüber Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft ernähren können oder dürfen.

Mythen haben beide Ereignisse geschaffen. Die Bundeswehr wusch sich rein im Dreckwasser, schleppte Säcke, machte Kriegseinsätze vergessen, Ist ja eigentlich ne hilfreiche und dufte Truppe!, wie man das damals so las. Arbeitslose wurden als faul und ungepflegt abgestempelt und man sagte ihnen nach, sie hätten ihre Situation selbst herbeigeführt. Ressentiments in dieser Richtung gab es immer, aber Hartz IV hat es zur Populärmeinung gemacht, zum Gegenstand von Vorabendserien. Hartz IV ist nicht lediglich Armut per Gesetz, es ist auch Vorurteil per Gesetz, denn dass der Bedürftige ein fauler Strick ist, läßt sich zwischen den Zeilen des SGB II immer wieder herauslesen. Denkt man an die Bundeswehr, so sieht man auch junge Säckeschlepper vor dem geistigen Auge; denkt man an schlecht bezahlte Säckeschlepper, so stellt man sich Hartz IV vor - und das ist eine progressive Haltung, denn normalerweise denkt die Öffentlichkeit bei Hartz IV nicht ans Schleppen, sondern ans Schlafen.

Es war, als habe der Kanzler bedürftigen Menschen damals ein letztes Mal Hilfe zugesprochen. Es sollte unbürokratisch Hilfe herbeieilen, auch finanzielle Hilfe - dem war nachher freilich nicht ganz so. Doch damals versprach er noch Geld, wenig später nahm er es diesen teils so strukturschwachen Gegenden per Gesetz wieder. Heute geplanter Zuschuss, morgen geplante Sanktionen; heute den Fleiß der Wiederaufbauer lobend, morgen die Faulheit der Langzeitarbeitslosen in derselben Region; heute Solidarität, morgen die Entsolidarisierung zum Thema der Kanzlerschaft erheben. Es war, als habe die im Hochwasser stampfende Richtlinienkompetenz geahnt, dass er einmal noch, nur noch einmal, solidarisch sein darf, einmal noch die Strukturschwachheit stützen darf, bevor er ihr die Stütze wackelig macht.

Hochwasser und Hartz. Beides sind Schlaglichter einer selbstgerechten Kanzlerschaft, die selbst heute, Jahre danach, nach vielen Jahren a.D., noch immer überzeugt davon ist, dass sie richtig gehandelt habe, dass sie es genau so gemacht habe, wie es sein sollte. Hochwasser und Hartz - beides gehört zusammen; das Hochwasser überspülte Hartz und Hartz wurde für viele zum nicht ablaufenden Hochwasser...



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Man wird doch nochmal halten dürfen

Freitag, 17. August 2012

oder: das Politische im Unpolitischen.

Ich habe niemals die Ansichten meines Lebensgefährten geteilt. Nein, wirklich nie. All die Jahre habe ich sie nicht geteilt. Sie sind mir allerdings auch nicht zuwider, gebe ich ganz offen zu. Er hat halt seine Ansichten - alle Menschen habe ihre ganz eigenen Ansichten. Das muß man respektieren. Aber ich habe meine eigenen Ansichten.
Sie wissen aber, dass er Ansichten hat, wie Sie dazu sagen, die weniger Ansichten, als Volksverhetzung, die Vorstufe zu verbrecherischen Maßnahmen sind. Er ist Mitglied oder war Mitglied einer Partei, die Moslems für minderwertig und dessen spiritus rector, ein Mann namens Horst Mahler, Juden als Entwicklungsstufe hin zum Menschen bezeichnete.
Ich sag ja, jeder hat seine Ansichten, ich teile sie nicht. Man muß das respektieren. Toleranz ist auch in einer Beziehung sehr wichtig.
Sie respektieren es also, dass er einer Ideologie nachläuft und nachäfft, die Menschen dazu bringt, andere Menschen mit Raupen zu vergleichen, wie es eben dieser Mahler getan hat? Teilen Sie diese Ansichten, wie Sie es nennen, denn überhaupt?
Jeder hat so seine eigenen Ansichten. Ich teilte nie alles, was er so sagte und erzählte. Ich las ja auch nie seine Bücher; Mahler sagt mir jetzt nichts, aber Broder kenne ich und Sarrazin; den ersten Autor mochte er nicht, der sei kriecherisch. Ich habe die nie gelesen, ich lese nur Liebesromane. Wir lesen abends immer zusammen; er seine Philosophen, wie er immer sagt, und ich meine Schnulzen. Da kann ich am besten abschalten.
Teilen Sie seine Ansichten?
Nicht so wie er. Ich habe andere wie er. Dass ich aber so wissenschaftliche Aufsätze wie Sarrazins nicht für ganz falsch finde, kann man mir nicht vorwerfen. Ich kenne ja nicht alles von dem, aber was ich so gelesen habe, war doch sehr schlüssig. Habe ich in Tageszeitungen gelesen und die fanden das ja auch gut, was der geschrieben hat. Aber ich teile seine Ansichten nicht, ich kenne sie noch nicht mal ganz genau.
Man munkelt, Sie seien auf Kundgebungen oder zumindest bei einer Kundgebung dabeigewesen. Stimmt das? Wenn ja, warum waren Sie dort?
Ich habe ihn begleitet. Wir sind doch ein Paar, man muß doch miteinander was unternehmen. Das gehört sich so. Ich habe ihn begleitet und er ging dafür abends mit mir in eine romantische Komödie mit Jennifer Lopez; Beziehung ist ein Geben und Nehmen. Ich war da nur dabei, aber ich teile nicht seine Ansichten. Und er war im Kino dabei, aber er teilt meinen Filmgeschmack nicht. Das ist doch dasselbe irgendwie.
Sie hielten sich demnach abseits, während er marschierte - verstehe ich das richtig?
Meistens ja, zwischendrin hielt ich mal ein Transparent für ihn fest; er hatte doch noch Schmerzen, Bänderdehnung vom Sport in der Kameradschaft. Man wird doch nochmal halten dürfen! Man wird doch seinen Lebensgefährten noch mal stützen, sein liebevoll gebasteltes Transparent hochhalten dürfen! Ich habe es ja nicht mal richtig gelesen, ich hielt es ja nicht aus Überzeugung sondern aus Fürsorge hoch.
Stellen Sie sich nur mal vor, da wäre eine Parole wie "Deutschland den Deutschen!" draufgestanden - komische Fürsorge, nicht wahr?
Ich weiß echt nicht, was er da draufgeschrieben hat. Keine Ahnung. Ich teile ja seine Ansichten nicht und da kümmert es mich wenig, was er da schreibt. Wenn das draufgestanden hätte, wäre es blöd gelaufen, aber auch nicht so schlimm. Deutschland ist ja das Land der Deutschen - es wäre also nicht mal gelogen gewesen, sondern eher sowas wie plausibel.
Lassen wir das mal so stehen. Was, wenn Sie eine rassistische Parole hochgehalten hätten? Fühlten Sie sich dann nicht ausgenutzt?
Nein, weil ich kann ja nichts für das, was er denkt und glaubt. Ich finde nicht, dass man Menschen rassistisch begegnen darf. Wenn man Nationalitäten nicht mag, sollte man ihnen einfach gar nicht begegnen. Das gehört sich so. Aber wenn er sowas denkt, dann ist das seine Ansicht und ich respektiere das.
Ist man nicht ein wenig für seinen Partner verantwortlich? Für die Wahl desselben ebenso wie für das, was er so tut und macht? Wenigstens moralisch?
Ich sagte doch oft, "Hör mal, das finde ich nicht so!" Und er hörte zu und vertrat seinen Standpunkt. Das tat er zwar immer schlüssig, aber ich finde das natürlich trotzdem falsch, weil ich das nicht so sehe. Wir haben Standpunkte diskutiert und ich finde, wenn man Standpunkte diskutiert, dann ist das sehr demokratisch ausgeführt.
Sie halten es für demokratisch, wenn ein Antisemit mit jemanden, der nicht antisemitisch eingestellt ist, eine Diskussion führt? Es dient also der Wahrheitsfindung, wenn jemand mit Menschenverachtung mit Menschen diskutiert, die er verachtet?
Jeder darf doch denken, was er will. In der Demokratie ist das so.
Eine Demokratie, die Antidemokraten zu Wort kommen läßt, die das demokratische Klima zu vergiften trachten, halten Sie weiterhin für eine Demokratie?
Aber diese Leute, die aus dem Umfeld meines Freundes kommen, die reden doch nur. Keiner hat jemals einem anderen Menschen was Körperliches angetan. Man darf Worte doch nicht überbewerten. Es wird so viel geredet den ganzen Tag. Und man kann doch letztlich über alles reden.
"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal." Kennen Sie das? Es ist aus dem Talmud. Etwas, das Ihr Freund mit Sicherheit nicht liest oder überhaupt kennt. Ich glaube nämlich nicht, dass Worte nur Worte sind.
Das ist Ihre Ansicht und Sie dürfen eigene Ansichten haben.
Als einer der Autoren, die Sie vorher nannten, ein Buch veröffentlichte und viel Entrüstung stattfand, da verteidigten ihn auch unpolitische Menschen mit den Worten, "Man wird doch nochmal sagen dürfen!" Sie gleichen denen.
Dazu kann ich nicht viel sagen. Vielleicht fanden die Leute nur, dass der Mann etwas gesagt hat, was nicht schlimm sein kann, weil es viele so denken oder sehen.
Wenn viele den Pogrom denken, dann ist er nicht falsch? Pluralitätsprinzip bis in den Tod?
Aber in der Demokratie ist es doch so, dass Mehrheiten entscheiden...
Ist es nicht so, dass es Qualitäten von Ansichten gibt? Es gibt zum Beispiel die Ansicht, dass Mord etwas ist, das es zu bestrafen gilt - und es gibt die Ansicht, dass der Mord nicht falsch sein kann, einfach deshalb, weil der Mensch dazu fähig ist, ihn zu begehen. Sind das Ansichten gleicher Güte, auf Augenhöhe?
Ich kann für die Ansichten meines Freundes gar nichts. Es ist nicht fair, mich dafür verantwortlich zu machen. Dass ich das Transparent hochgehalten habe, beweist gar nichts. Ich finde es nicht korrekt, wenn man Menschen für ihre Ansichten verurteilt, an den Taten sollen sie gemessen werden. Ich finde es ja auch nicht richtig, wenn man jemanden ausgrenzt, weil er bei einer linken Partei ist zum Beispiel.
Sie werden lachen: Ich auch nicht. Ich finde auch nicht richtig, wenn man jemanden verurteilt, wenn er bei einer linken Partei ist. Ich finde es aber wohl richtig, wenn man jemanden verurteilt, weil er bei einer rechten Partei ist. Die einen predigen Verbrechen, die anderen wollen soziale Teilhabe. Das ist ein Unterschied, das kann man nicht vergleichen. Aber wir kommen vom Thema ab; ich würde gerne wissen, ob Sie nicht der Ansicht sind, dass man durch Schweigen und Ignoranz gegen gewissen Ansichten, sich mitschuldig macht?
Sie fragen nur immer; ständig fragen Sie nur. Es sind doch nicht meine Ansichten, Mensch! Jetzt frage ich Sie was. Was halten Sie denn von Leuten, die mit einem Mörder liiert sind? Es gibt Frauen, die verlieben sich in Männer, die im Todestrakt auf die Vollstreckung warten. Machen die sich nicht mitschuldig?
Das ist etwas anderes. Erstens, weil ein Mörder im Trakt sühnt, was jemand, der in einer rechtsextremistischen Partei oder in einer Partei der bürgerlichen Mitte, der gegen Bevölkerungsgruppen hetzt, ja eben nicht tut. Und es ist etwas anderes, weil der Mord keine ideologische Tat ist, die sich auf den generellen Hass gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen baut, sondern aus etwaigen anderen Motiven heraus begründbar ist.
Er hat jemand getötet, die Verfechter von Ansichten, die Sie verurteilen, haben das nicht!
Nicht in der Tat, aber die Ansicht ist der Schlüssel dorthin; sehen Sie diesen Norweger an, der sich radikalisierte, weil er diverse Verfechter solcher Ansichten las und für geistige Wegweiser hielt. Er gab das selbst zu. Ansichten, die rassistisch sind, die antisemitisch begründet, die nationalistisch aufgefächert werden, sind nicht der Mord, das stimmt. Sie weisen allerdings dorthin. Sie sind nicht die Bombe oder das Messer, aber sie sind der Grund, warum man Bombenzubehör kauft oder sein Springmesser wetzt.
Sie unterstellen Menschen Straftaten, bevor sie diese überhaupt begehen.
Ich unterstelle nicht, ich zweifle nur an ihren Ansichten und ich zweifle an Ihrer Ansicht, jede Ansicht sei eine Ansicht. Wachhaft bleiben - das ist auch so ein demokratischer Wert.
Für mich ist demokratisch, denken und sagen zu können, was man mag. Für Sie ist es seltsamerweise demokratisch, nicht denken und sagen zu lassen, was jeder für sich selbst möchte. Komisch, wie man Demokratie umwerten kann.
So sehe ich das leider auch...



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Ein Organ des ewigen Lebens

Donnerstag, 16. August 2012

Letzte Woche war im Hause Springer großer Organspende-Tag. Selten hat man so viele Menschen erlebt, die so voller Entzücken und auch Freude dem eigenen Ableben entgegenfieberten. Fast alle lächelten sie, fast alle trugen sie ihre Überzeugung in ihren Lachfältchen herum. Mancher Philosoph, nicht zuletzt mancher Theologe, mokierte schon vorher, dass wir in einer Kultur des Todes lebten. Eine Kulturleistung mag wohl sein, den eigenen Tod galant zu überspielen, Thanatos in die Gesellschaft einzuführen. Die Pop-Kultur hat schon lange auch von sensiblen Aspekten des Lebens Besitz ergriffen; das war und ist gar nicht immer negativ, dies hat auch vormals tabuisierte Themen entweiht und zugänglich gemacht, Einsichten geschaffen. Nur so poppig, so bunt und verzerrt, haben sich bislang selten Menschen dem eigenen Ableben gestellt. Dem Fatalismus, dem sich jedes menschliche Leben, endlich in seiner Konzeption, gegenüber sieht, trotzig die Stirn zu bieten, nicht zu verzagen, sondern die Begrenztheit, die Flüchtigkeit der eigenen Körperlichkeit wegzulächeln, gleicht beinahe schon jener metaphysischen Revolte, die Camus in seiner Essay-Sammlung "L’homme révolté" benennt.

Eigentlich ist diese Revolte noch viel fundamentaler, denn sie lächelt nicht nur über den Tod hinweg, sondern auch über den persönlichen Sterbensweg. Der potenzielle Organspender muß im Schoße einer Intensivstation sterben, was voraussetzt, eine sehr schwere Krankheit erlitten zu haben, um dort betreut worden zu sein. Nur so tritt der Tod bei lebendigem Leibe ein, wie Vera Kalitzkus dies in ihrem Buch nennt. Dieses im Springer-Medium postulierte Selbstbewusstsein gerät somit zur mutigsten metaphysischen Revolte, die man sich denken kann. Hier rebelliert man gegen die Unumgänglichkeit jeden Erdenlebens, erhebt sich gegen die Sterbenskrankheit, macht man sich zum Organ des ewigen Lebens der Menschheit, nicht des Menschen. Es ist nicht nur der eigene Tod, den man weglächelt, den man sich zivilcouragiert wegengagiert - man schmunzelt sich über einen "Leidensweg hin zum Tode" hinweg. Der fehlende offene Umgang mit der Transplantationsrealität legt vermutlich den Verdacht nahe, dass viele der lächelnden Rebellen gegen das Unabwendbare, gar nicht ahnen, wie ihr Sterben gestaltet sein muß, um als Organ in einem Fremden Dienst tun zu können. Aus dem Mut, sich in dieses aussichtslose Gefecht zu stürzen, wird so Naivität, unaufgeklärter Aktionismus, lachhaft in Pop-Art geschwungene Einfalt.

Die Komplikationen, die eine Kultur der routinierten Organspende aufwerfen, finden kaum Gehör. Die Debatte ist radikal, in ihr ist die Spende das Gute; die Weigerung, seinen Körper posthum als Biomaterial zur Verfügung zu stellen, versteht sie als Anzeichen von Boshaftigkeit. Wir sprechen wenig über das Leid nach dem Empfang eines Organes, über die dauerhafte Angst vor der Abstoßung, die beeinträchtigende Medikation, darüber, wie man sich fühlt, etwas Fremdes in sich zu tragen; etwas, das einem in Fleisch und Blut übergeht, das aber dennoch fremd und undefinierbar bleibt. Es ist ein Unterschied, ob einem eine Herzklappe eingesetzt wird, die in einem Unternehmen für Hospitalbedarf gefertigt wurde, oder ob das einzusetzende Objekt etwas ist, das in einem anderen menschlichen Körper gereift und gewachsen ist.


Es ist dieser fehlenden Auseinandersetzung geschuldet, dass sich hierbei fast schon witzige, weil in ihrer Einfalt tragische Sequenzen ergeben. Da werben Männer an der Schwelle zum Greisenalter mit Slogans wie "Jetzt erst recht!" - er will doch sicherlich noch ein, vielleicht zwei Jahrzehnte leben, er will dann doch sicherlich friedlich einschlafen, schnell sterben, im Kreise seiner Familie, zuhause vielleicht sogar. Was sind die verwelkten Organe eines Greises denn wert? Außer für ihn selbst, er liebt sie ja, denn es sind seine, sie haben ihn begleitet, mit ihm erlebt und gelitten. Solche Motivationen sind entweder schrecklich lachhaft und satirisch oder sie sind von Unwissenheit gezeichnet. Vielleicht ist es aber auch mehr, vielleicht ist diese seltsame metaphysische Revolte nicht nur dafür geschaffen, der Menschheit ein längeres Leben leerzuversprechen, sondern dem jeweiligen Organspender auch. Vielleicht ist die greisenhafte Bereitschaft, seine ausgemergelten Organe wenigstens theoretisch zur Verfügung zu stellen, so zu erklären: Um einen Teil des eigenen Lebens zu übertragen, um weiterzuleben, obgleich man eben nicht mehr lebt, gerade jetzt, wo der eigene Tod immer denkbarer wird, das ist der Strohhalm weiterhin nützlich, weiterhin lebendig zu sein. Das ist natürlich rational betrachtet blanker Unsinn. Aber welche irrationalen Impulse treiben den Menschen nicht alle dazu, sich dem Unausweichlichen nicht stellen zu müssen.

Ob nun richtig, ob nun falsch, das wird eine persönliche Frage bleiben. Der gesellschaftliche Umgang damit, die popularisierte Aufklärung, die den Menschen zum Biomaterial macht, die alle anderen Aspekte ausblendet, das ist aber zweifellos falsch. Die Verteufelung derer, die nicht spenden wollen, auch derer, die sich keine Gedanken dazu machen möchten, ist falsch. Es gibt, so hart das für Organbedürftige klingen mag, keinen Anspruch auf eine medizinische Hilfe, die sich auf den Tod anderer Menschen stützt - es gibt wohl die Möglichkeit, nicht aber den Anspruch. Aus dieser falschen Anspruchshaltung heraus treten Beißreflexe, die demjenigen, der nicht spenden möchte, zusetzen. Und diese Anspruchshaltung und die hieraus resultierende Belehrungsmoral sind ebenso falsch.



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Ridendo dicere verum

"Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: Denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohl tut."
- Friedrich Nietzsche, "Morgenröte" -

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Ein Streich gegen die Kunst

Mittwoch, 15. August 2012

oder: ein Aufruf gegen die Streichung des Künstlers aus unserer Gesellschaft.

Das Vorhaben des Bundesarbeitsministeriums, aufstockendes Arbeitslosengeld II für Selbstständige zu streichen, ist nicht nur ein Akt gegen die Grundsicherung kleinunternehmerischen Engagements - es ist gleichwohl ein gezielter Anschlag auf die Kunst.

Etwas über 14.000 Euro nehmen Künstler im Schnitt ein. Sagt die Künstlersozialkasse, die sich auf Zahlen derer stützt, die bei ihr versichert sind. Dabei ist zu konkretisieren, dass Künstler, die jünger als dreißig Jahre sind, durchschnittlich etwas mehr als 10.000 Euro einnehmen. Das sind wiederum Zahlen, die alle Künstler umfassen, in den jeweiligen Sparten sieht es anders aus: junge Musiker nehmen jährlich nicht mal 9.500, junge darstellende Künstler nicht mal 8.500 Euro ein. Großkotze der Kunst sind jene aus dem Bereich Wort - das sind Schriftsteller, Dichter, Bühnen- und Filmautoren, Lektoren, (Bild-)Journalisten und einige andere Berufe mehr. Im Durchschnitt nehmen sie jährlich 17.500 Euro ein, wobei die U30 des Bereiches Wort auch lediglich auf etwas mehr als 14.000 Euro kommt.

C. Spitzweg, Armer Poet in der Dachkammer
Wir sprechen hier vom Einkommen, nicht vom Gewinn - wir sprechen quasi vom Brutto des Künstlers. Und es ist der Gewinn, nicht das Einkommen, der auch für das Jobcenter maßgeblich ist, wenn der Künstler dort vorstellig wird, um seine Bezüge aufzustocken. Die Zahlen der KSK lassen ahnen, dass dort nicht wenige vorsprechen. Will man die Abdeckung der Grundsicherung mittels Arbeitslosengeld II für Selbstständige streichen, so betrifft das besonders die Künstler. Gestrichen werden nicht die Leistungen nach SGB II für Künstler, gestrichen wird die Kunst, wird der Künstler selbst. Denn der meldete dann seinen Freiberuf ab, um Existenzsicherung beziehen zu können. Von was soll er sonst leben?

Aufträge aus dem Ärmel schütteln kann er sich nicht - so funktioniert eine künstlerische Laufbahn nicht. Und was, wenn er doch mal Einnahmen erzielt, trotz Abmeldung als Künstler? Wenn er die seinem Jobcenter vorlegt? Unterstellt man ihm dann, wieder selbstständig zu sein? Streicht man ihm den Regelsatz zusammen? Der Künstler soll schweigen, soll ruhen - wer Arbeitslosengeld II bezieht, so will man dem Bezieher begreiflich machen, der hat keine Kunst zu fabrizieren. Nach dem Bewilligungsbescheid ein Gedicht zu schreiben, ist gefährlich!

Man könnte frech behaupten, dass dieser geplante Steich von der Leyens auf die Medienkampagne gegen Johannes Ponader, Geschäftsführer der Piratenpartei, zurückzuführen ist. Der ist Schauspieler und Theaterpädagoge und gab vor einiger Zeit zu, sein wenig üppiges Salär mit Hartz IV aufzustocken. Ein Aufschrei ging durch das Feuilleton. Einen Schmarotzer nannte man ihn; soll er halt mehr Aufträge annehmen, hieß es zynisch. Gerade so, als lägen die auf der Straße herum. Oder besser noch, er solle richtiger Arbeit nachgehen, etwas Gescheites tun, körperlich - Blut, Schweiß und Tränen. Nützlich sein... Die übliche calvinistische Verächtlichkeit gegenüber Schöngeistigkeit und Ästhetik, die keinen pekuniären Wert abwirft - jedenfalls keinen großen, keinen vermögenden pekuniären Wert. Eine Einstellung, die sich immer latent gehalten hat, die aber nun irgendwie zum Abschluss kommen soll.

Sicherlich, kürzlich noch schrieb unter anderem die geschätzte Julie Zeh, dass es in diesem Land eine extreme Künstlerfreundlichkeit gibt; sie sprach von Stipendien, von der Künstlersozialkasse und etwaigen Fonds. Alles richtig. Aber die Grundhaltung zur Kunst ist damit doch nicht erklärt. Man schätzt sie ja, man findet sie wichtig - aber der, der sie macht, der sie formt und singt, der soll verdammt nochmal so davon leben können, dass die Allgemeinheit für ihn nicht einspringen muß. Die Künstlerfreundlichkeit ist hierzulande doch bestenfalls die Freundlichkeit gegenüber Künstlern, die es geschafft haben, von ihrer Kunst zu leben; es ist die Freundlichkeit gegenüber gutsituierten Künstlern, die Freundlichkeit gegenüber Künstlereliten. Wie man Ponader angriff, hat doch gezeigt, wie man den Kunstschaffenden sieht, wenn er nicht von seiner Arbeit leben kann; hat gezeigt, um wieviel schlimmer man es wertet, wenn dazu noch politisches Engagement kommt. Von der Leyen will der Selbstständigkeit generell ans Leder - sie trifft damit aber verstärkt die Kunst. Haben Sie schon mal den mitleidigen und oft despektierlichen Blick gesehen, den man zugeworfen bekommt, wenn man auf die Frage, was man denn tue, mit Schreiben! antwortet? Und davon kann man leben?

Es gibt ein kulturelles Bedürfnis des Menschen. Künstler befriedigen dieses. In Zeiten geilen Geizes ist es Usus, allerlei Bedürfnisse möglichst billig, vielleicht sogar gratis befriedigt bekommen zu wollen. Den Künstler trifft diese Sparwut eher als den Metzger. Aber irgendjemand muß diese kulturelle Arbeit doch trotzdem leisten. Sie ist existenziell für den Menschen, für seine eigene Wahrnehmung, für die Verarbeitung der Welt, wie sie sich ihm zeigt. Kunst schafft Reize, Impulse, bildet die Welt in verdichteter, komprimierter Form so ab, dass sie wahrhaftig und manchmal sogar wahrhaftiger wird, dass sie auf einen hin und wieder ästhetischen Kern geschrumpft wird, auf einen, der Erklärungen liefert. Das muß doch jemand tun! Ist die Forderung, man solle sich richtige Arbeit suchen, nicht ein Hohn? Ist das etwa keine richtige Arbeit, etwa keine wichtige Arbeit?

"Ich bin oft arbeitslos und weiß dann nicht, wovon ich die Miete bezahlen soll. Ich bin froh, überhaupt noch Arbeit zu bekommen, muss nehmen, was ich kriegen kann. Es ist schwer, davon zu leben", sagte die Schauspielerin Silvia Seidel in einem Interview. Zugejubelt haben sie ihr in den Achtzigerjahren; mittlerweile ist sie tot - Freitod, nachdem sie vorher regelmäßig ihren Frust in Alkohol konserviert hat. Das war eine Frau, die schon früh ganz oben war - und dennoch war sie oft arbeitslos, dennoch hatte sie Existenzängste. Das ist das Los so vieler Künstler - und das soll nun noch verschärft werden, setzt sich die Absicht von der Leyens durch. Ganz schön bezeichnend, wenn zeitgleich in Zeitungen zu lesen ist, dass der Selbstständigkeit, eben auch der künstlerischen Selbstständigkeit das Aufstocken verboten werden soll und dass eine Schauspielerin, die von Existenzängsten getrieben war, die ihre oftmalige Arbeitslosigkeit beklagte, sich das Leben nahm. Makaber ist das! Und eigentlich paradox - diese Paradoxie immer wieder herauszuarbeiten, das ist die Aufgabe der Kunst. Der Journalismus schafft das nicht, kann er nicht, ist nicht seine Aufgabe - schon gar nicht, wenn er zum Schönalismus wird, der publizistisch zu schönen hat, was so unschön ist.

Es trifft ja nicht nur Künstler!, wird man nun einwenden. Stimmt. Auch um die anderen Kleinunternehmer ist es schade - schade um sie als Menschen, deren Vision dahinschmilzt oder sie selbst, wenn sie dennoch Kleinunternehmer bleiben, der zu wenig zum Leben hat, der also Existenzsicherung bräuchte, die er nicht mehr kriegt. Aber Künstler trifft es überproportional - und es trifft sie nicht nur persönlich, sondern es trifft uns gesellschaftlich, trifft uns kulturell, macht nicht nur den Selbstständigen arm, sondern uns alle, läßt uns alle geistig, kulturell und schöngeistig verarmen. Vielleicht ist die Absicht nicht direkt, den künstlerischen Müßiggang, den die bürgerliche Mitte immer schon kritisierte, einzudämmen. Aber er ist so ein schönes Nebenprodukt der Forderung von der Leyens. Endlich bringt man sie weg von ihrer Berufung und steckt sie in einen Beruf. Endlich werden sie nützlich, können wir sie allgemein monetären Gründen wegen verzwecken.

Was hier geschieht, ist die Gleichschaltung des Menschen vor kapitalistischen Interessen. Die Kunst hat in einer Dystopie, wie sie die gleichgeschaltete Gesellschaft ist, keinen Platz - nur wenn sie satte Märkte erschließt. Dann kann der Künstler ja auch davon leben - dann ist er zwar immer noch ein suspekter Mensch, aber doch wenigstens ausreichend mit Geld ausgestattet, um seine Seltsamkeiten nicht alimentieren zu lassen. Von der Leyens Forderung ist so viel mehr - sie ist ein Mordanschlag auf freie Kleinkunst!



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