Ich ekle mich - also zappe ich

Freitag, 30. März 2012

Warum bin ich eigentlich so erkaltet? Ich meine, ich lese und sehe täglich Leid - nicht unbedingt unmittelbar, ich glotz' TV, wie das eine zerschminkte Schreckschraube mal grölte. Neulich, da in Toulouse, ich habe es nur am Rande mitbekommen, da muß wohl ein Polizist oder Soldat oder ein Soldatenpolizist von diesem Mehrfachmörder erschossen worden sein - ich glaube erschossen, sagen wir daher lieber: ... getötet worden sein. Ein Polizist oder Soldat, der eine hochschwangere Verlobte hinterließ. Einige Medien berichteten - sie schrieben, sie dürfe ihn posthum dennoch heiraten. Sarkozy, Fachmann für ans Herz gehende Rührseligkeiten, die ihn als Staatsmann sympathisch machen sollen, hat sein Einverständnis gegeben. Das ist eine tragische Geschichte, voreheliche Witwe mit erwarteten Nachwuchs - aber mich berührt das nur peripher. Ich sage das nicht stolz oder provokativ, denn das betrübt mich, enttäuscht mich von mir selbst. Ich erkenne doch, dass es Tragik ist, dass es zum Heulen wäre. Mir geht es komischerweise nicht viel anders, wenn es Katastrophen gibt, Unglücke, wenn irgendwo ein Anschlag Menschen in den Tod riss. Die Heimsuchung, die der Mensch zuweilen erdulden muß, die vermag ich sehr wohl zu erkennen, die politischen Dimensionen auch - klar, darüber schreibe ich ja. Aber mehr ist da nicht. Ich scheine in diese Richtung derart erkaltet, blättere weiter, zappe weg, zucke mit den Achseln.

Damals, als das World Trade Center sich in den Erdboden bohrte, war es noch leicht anders. Ich weinte nicht, aber ich fühlte mit. Damals war ich elf Jahre jünger, elf Jahre weniger erfahren, um elf Jahre leichter manipulierbar. Geschähe das heute nochmals, ich würde es sicherlich verfolgen, einige Minuten, würde die Sentimentalität mit der Bekloeppel berichtete, seine Leichenbittermiene und das geheuchelte Mitgefühl nicht sehr lange ertragen, dann zappen, switchen, Was gibt es sonst noch Neues?, emotional kühl genug sein, um mich davon nicht ergreifen zu lassen. Man verstehe mich mal nicht falsch, natürlich legte ich wert darauf, dass die Drahtzieher nach rechtsstaatlichen Normen verurteilt würden - aber mit Taschentuch teilnehmen, Rotznase und Warum nur? Warum? stammeln, das könnte ich nie, dazu bin ich zu eisig.

Die Medien sind, so ist es mein Eindruck, ohne Anspruch auf Richtigkeit, ein Hinterbliebenen- und Dabeigewesenen-Begleitservice. Keiner, der sehr herzlich und warm mit dieser Klientel umgeht, der aber da ist, in der schweren Stunde zur Seite steht und wahrnimmt. Vorallem die Exklusivrechte an einer Story. Ich habe so den Eindruck, dass das tägliche Programm, die tägliche Schreibe, nichts weiter ist, als das Ablichten und Inszenieren emotionaler Unverbindlichkeiten, von denen der Konsument ergriffen sein soll. Wenn da die junge Schwangere aus Toulouse weint, dann wirkt das auf mich nicht mehr realistisch. Es scheint so, als weine sie, weil das Drehbuch der Aufführung es vorschreibe. Das ist natürlich Unsinn, sie weint wirklich, ihr Schmerz ist echt. Der mediale Begleitservice aber, der sich auf die Hinterbliebenen stürzt, deren Harm ausweidet, degradiert die Wirklichkeit zur Daily Soap. So drängt sich mir, erfahren durch jahrelange Sozialisierung der Medien, das Kümmernis auf, dass diese Frau nur weint, um mich zu unterhalten, meine Emotionen zu wecken, mein tristes Dasein mit Entertainment erträglicher zu machen. Ich glaube Neil Postman war es, der mal irgendwo schrieb, dass es kein Problem sei, wenn das Fernsehen Unterhaltung biete - problematisch sei nur, dass es uns jedes Thema als Unterhaltung bieten wolle. Wobei ich Fernsehen durch Boulevard ersetzen würde.

Das ist selbstverständlich Quark. Das weiß ich auch. Die bald zur Witwe Verheiratete weint nicht für ihr Publikum. Aber so weit sind wir schon: wir könnten uns nämlich vorstellen, dass sie es tut! Das Gegeifere jener Medien, die sich der Abbildung von Elend und Kümmernis verschrieben haben, bedient sich nur ihrer, inszeniert sie nicht. Doch ihr täglicher Sturzflug auf Tränen, auf Trauer, auf menschliche Talsohlen erzeugt keine nachhaltige Kultur der Anteilnahme, sondern eine der Abstumpfung. Irgendwann ertrinkt man im Meer der Tränen. Eine Weile mag man selbst traurig werden, wenn man diesen Berichten folgt. Aber irgendwann, wenn das Weh, mit dem sie einen Tag für Tag zuscheißen, einen erstickt, wenn die Tränen, die sie einfangen, einen schier ersaufen lassen, dann wendet man sich ab, zuckt mit den Achseln und fragt sich, weshalb die Not anderer Menschen mein Problem sein soll. Diese Kälte, die auch mich, Kind dieser Mediengesellschaft, teilweise befällt, erschreckt mich stark. So bin ich eigentlich nicht, bin ich doch eher zu nah am Wasser gebaut - aber seit Jahren habe ich den Eindruck, jede vergossene Träne, die bei Katastrophen, bei Anschlägen, bei Unfällen und Unglücken, bei Amokläufen und Verbrechen und allerhand anderen Ereignissen, die Weinen machen - seit Jahren also habe ich den Eindruck, man will den Konsumenten der News ertränken im Unglück anderer Menschen.

Das war irgendwo immer das Metier von Print und Broadcast, könnte man einwenden - stimmt wahrscheinlich auch. Aber so boulevardesk waren die Zeiten nie zuvor, so schamlos hat man wahrscheinlich nie zuvor mit der Trauer hantiert, so ein dankbares Publikum, das die eigene Lebenslangeweile dankbar mit solchen Rührstücken bereichert, gab es möglicherweise zuvor auch noch nie. Die Vereinzelung des Menschen unter Menschen: die Anteilnahme integriert den Vereinzelten wieder in eine Masse, in gleichgesinnte Betroffene - eine Ansammlung vereinzelter Konsumenten, die erlesene und durch bewegte Bilder erzeugte Betroffenheit mit Trauer verwechseln. Darüber schrieb ich schon mehrfach, daher kein weiterer Ausflug dorthin. Am Ende steht die Abstumpfung. Das ist, mit Verlaub, man gestatte mir diesen Vergleich, wie im Krieg. Der erste Tote, den man sieht, erschüttert den eigenen Kosmos. Gut, was weiß ich vom Krieg, aber ich habe das mehrfach gelesen. Ein, zwei oder drei Tote waren noch irgendwie zu ertragen, auch wenn man betroffen war, wenn man weinte, es einem speiübel wurde und man final kotzte. Heute, in Zeiten der Massenmedien und des Massengeschmacks für ein Massenpublikum, in einer Zeit, da Klasse immer auch Masse bedeutet, heute würde man auch mit hundert, zweihundert oder dreihundert Toten seinen erbrochenen Frieden machen können. Irgendwann ist eine Grenze überwunden, man kotzt nicht mehr, man nimmt den Tod nicht mehr wahr, man riecht die Verwesung nicht mehr, beziehungsweise, man riecht sie schon, verwechselt sie aber mit dem Duft frischer Luft - der Tod schreckt nicht mehr, wird zum harten, zum groben Naturgesetz, man fängt an, über Tote nicht mehr zu weinen, sondern sie zu verscharren, sie nicht mehr ideell, sondern materiell zu sehen. Nicht mehr als verstorbenen Menschen, sondern als störenden Biomechanismus, der bald bestialisch stinkt, wenn er nicht zu den Würmen hinabgelassen wird. Kurzum: Man stumpft ab.

Der Verdienst der Medien scheint mir zu sein, dass sie die Abstumpfung, nicht aber die "mitfühlende Gesellschaft" forcieren. Die Erkaltung, die ich an mir spüre, meine emotionale Abschaltung ist der Dauerberieselung geschuldet. Natürlich weiß ich, dass es tragische Sequenzen hienieden gibt - mehr als mir lieb sein können. Und ich weiß auch, dass jedes dieser medial herausgeputzten Kümmernisse der Zusammenbruch einer Welt ist, für diejenigen, die direkt davon betroffen sind. Aber ich wische es weg, zappe weiter, gebe mich kühl, bin angeekelt von denen, die sich wie Aasgeier auf die Gefühlsregungen derer stürzen, die übermannt werden von den Fährnissen des Lebens. Ich nähme ihr Leid doch gerne wahr - aber nicht, wenn es der Boulevard ist, der darüber berichtet; ich bin ja dafür, dass ihnen geholfen wird - aber ich bin kein Psychologe, kein Bestatter, kein Polizist - wie kann ich also helfen? Ich ekle mich vor dieser Berichterei, die von der Salinität vergossener Tränen erzählt, die das Salz dissoziiert, um daraus den Grad des Leides zu ermessen. Ich ekle mich, also zappe ich. Dazu bin ich mittlerweile abgestumpft genug...



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Ridendo dicere verum

Donnerstag, 29. März 2012

"Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können: Das macht den Journalisten."
- Karl Kraus -

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Was muß denn noch passieren?

Mittwoch, 28. März 2012

Es herrscht Krise. Die Wirtschaft kriselt, der Euro und die Finanzen auch - und letztlich liegt die Demokratie krisengeschüttelt im Krankenbett. Öffentliche Kassen werden zweckentfremdet, ihre Erträge kommen der Rettung von Banken und Konzernen zu, unterdessen die Sozialsysteme trockengelegt und deren Anspruchsberechtigte, wenn nicht gänzlich kriminalisiert, so doch anrüchig gemacht werden. Das ist das Milieu, in dem eine linke Partei eigentlich gedeihen könnte - so ein Umfeld muß sie sich fast schon wünschen, wenn sie nach Jahrzehnten neoliberaler Beschulung der Massen, einen Stich machen will. Nun ist das Umfeld eingetreten - und eine linke, linksliberale, u-sozialdemokratische Partei gibt es wieder, nachdem man lange Zeit keine mehr in diesem Lande kannte. Und trotz klimatisch guter Bedingungen für ein solches Projekt: sie kariolt gerade so über der Fünf-Prozent-Hürde bundesweit, verliert bei Landtagswahlen und wird bei kommenden, die Prognosen tendieren dorthin, aus dem Landtag gekegelt.

Neoliberalismus zu tief eingepflanzt

Sie müht sich an einem Volk ab, das die Krise sieht und merkt - manche tun das schon seit Jahren, andere schlittern gerade hinein, wieder andere mühen sich, in Krisenzeiten nicht in persönliche Krisen zu geraten. Sicher ist, dass nichts sicher ist - das ist die Erkenntnis, die uns die mit der Globalisierung drohenden Neoliberalen seit nunmehr Dekaden lehrten. Seit Jahren sind sie die Lehrmeister der Parteien - und die "wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit", heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes. Die und die Medien, die auch belehrt wurden von denen, die das Laissez-faire zur Doktrin erhoben haben. Seit Jahren vernimmt man dieses eindimensionale, so entzückend einfache Weltbild, wonach der Markt über (Selbstheilungs-)Kräfte verfüge, die als ordnende Instanz fungieren, womit der schlanke Staat ein guter Staat sei, weil er diese Kräfte nicht lähme. Geklappt hat das in der Praxis nie - aber es klang so wohlig und die Legionen von Kuratoren und Botschaftern einschlägiger Think Tanks und Initiativen, die sich im Fernsehen und im Feuilleton lümmelten, erzeugten die Auffassung, dass die Doktrin auch dann stimmen könne, wenn sie gerade nicht stimmte.

Wie will eine linke Partei, die diesen Doktrinen, die ins Fleisch und Blut eines ganzen Volkes übergangen sind, in wenigen Jahren auflösen, was in Jahrzehnten verfilzte? Wie will sie ein Brot-und Spiele-Volk, diese hiesige Bespaßungsgesellschaft, die im Boulevard die höchsten Weihen des Journalismus ahnt, mit aufklärerischer Ernsthaftigkeit und seriösen Erklärungen fesseln? Wie soll man den Beißreflex, den man den Bürgern schon vor dem neoliberalen Zeitalter einpflanzte, nämlich den, alles was dem linken politischen Spektrum auch nur ansatzweise zu entsteigen scheint, als kinder- und schlimmer noch eigentumfressenden Kommunisten zu beziffern... wie soll man das aus den Köpfen schlagen? Es ist ja nicht so, dass man nicht kapitalismuskritisch wäre hierzulande - aber die Rezepte dagegen lesen sich vom Stammtisch bis zur Tageszeitung meist so: Wettbewerb, Anreize schaffen, Eigeninitiative, der Markt reagiert, vertraut oder ist je nachdem skeptisch...

Trotz Krise, die neoliberale Beackerung hat sich für das Wirtschaftsbaronat gelohnt

Es sind die Schlagworte der neoliberalen Heilslehrer, mit denen alles anders, menschlicher, besser werden soll - alles, was vormals schon nicht menschlicher, nicht besser geworden ist. Wer die nicht im Repertoire führt, der tut sich schwer bei den Menschen. Sicher, der Kapitalismus, die Spekulativwirtschaft, all diese Erscheinungen - aber es muß doch Wettbewerb in jeder Sparte geben, man muß doch Anreize schaffen, Lohnabstandsgebot und so. Wie soll man auch Narrative, die man täglich vernommen hat, die noch immer, wenn auch etwas beschämter als vorher, gedudelt werden - wie soll man diesen liebgewonnenen Soziolekt und seine Gedankengänge einfach so ablegen?

Ein Hoch hat Die Linke nie gehabt. Knapp acht Prozent bei der Bundestagswahl 2005 waren ein Anfang - vier Jahre später waren es knapp zwölf Prozent. Man lege nicht zu viel wert auf Prognosen. Betreten macht es allerdings schon, dass man bei fünf, sechs, optimistisch sieben fiktiven Prozent auf Bundesebene dümpelt - von den in Aussicht stehenden Landtagswahlen keine Rede. Und die Zeiten sind seit 2009 nicht besser geworden. Es sind eigentlich Zeiten für linke Parteien angebrochen - aber keiner wählt sie. Das kann nur bedingt am Personal liegen, wie man oft hört. Farblose Typen seien das, liest man zuweilen. Gut Gysi nicht und Lafontaine auch nicht - Wagenknecht naja, wer es spröde, humorlos wirkend mag. Aber Farblosigkeit ist doch nicht die Erklärung. Denn wo sind die Farbtupfer bei den anderen Parteien? Die Grünen sammeln eine immer größere Wählerschaft um sich - wer ist da farbig? Mal von der Garderobe Claudia Roths abgesehen. Und ob es nur die Kampagne ist, die man gegen Die Linke fährt, wie Jens Berger unter anderem in seinem "Stresstest Deutschland" nachzeichnet, kann man auch nicht glauben wollen.

Trotz wankendem Koloss, trotz Krisen, die diesen an Manchester angelehnten Kapitalismus in die Bredouille bringen - letztlich haben Konzepte, die das seit Jahrzehnten bekannte neoliberale System torpedieren, wenig Chancen. Vielleicht ist das irgendein Stockholm-Syndrom, vielleicht nur Desinteresse, vielleicht aber auch eine verinnerlichte Schizophrenie - Symptom für den Neoliberalismus! -, dass sich nur alles ändert, wenn sich nichts ändert. Also wählt man denselben hanebüchenen Quatsch, den man immer wählte, einen aus dem Bund neoliberaler Parteien. Oder man wählt innovativ, wählt die Piraten, eine Art FDP mit Computerausrüstung, deren Programm bei Lambsdorff bestellt scheint. Nur Die Linke, die bei aller Kritik, doch so anders ist, wie das, was sonst so kreucht und fleucht, die wählt man nicht...



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Wo die Gleichstellung noch hin muß

Dienstag, 27. März 2012

Folgende Zeilen zur Gleichstellung erschienen bereits am 29. Februar 2012 beim Lesebändchen. Der Inhalt des beschriebenen Buches passt thematisch ganz gut zu jenem Text, der hier vor einigen Tagen Einzug fand. Daher sei auch hier nochmal auf die fehlende Gleichstellung im Familienrecht verwiesen.

Ein Blick in deutsche Jugendämter. Dort wütet ein Familienrecht, in dem die Gleichheit zwischen Mann und Frau garantiert nicht garantiert ist. "Entsorgte Väter" nennt Katrin Hummel daher ihr Buch - wenn die Liebe aufhört, dann bleiben meist Männer ohne ihre Kinder zurück. Waren sie unverheiratet, so hatten sie so gut wie überhaupt keine Möglichkeit, weiterhin für ihren Nachwuchs da zu sein. Selbst nachdem eine Neuregelung der elterlichen Sorge im Jahr 2010 vom Bundesverfassungsgericht erwünscht wurde, hat sich nur wenig zugunsten von Vätern getan - sie sind der Laune der Mütter ausgesetzt, die bei Totalverweigerung nicht den Druck der Behörde oder des Familiengerichtes spüren, denen dafür aber nachgegeben wird, wenn sie nur stur genug stellen, was den Umgang ihrer Kinder mit den Vätern betrifft. Endstation für solche Väter ist dann nicht selten Arbeitslosigkeit, bedingt durch psychische Erkrankung - der gender mainstream macht daraus gerne die Legende der Drückebergerei, schimpft wütend über Väter, die gegangen sind (diese Ideologie lehrt, dass Männer nicht verlassen werden, sondern immer selbst gehen, selbst dann, wenn es die Frau war, die ging) und die hernach ihre Arbeit niederlegen, weil sie den Unterhalt umgehen wollen.

"Entsorgte Väter": das impliziert zweierlei. Sie werden entsorgt wie alte Schuhe, weggeworfen, von der Familie ferngehalten - das ist auch kapitalistisch, das ist vorallem konsumistisch sozialisiert. Die bekannte Wegwerf-Mentalität schlägt da durch. Was nicht mehr gebraucht wird, kann für immer aus den Augen, aus dem Sinn. Ein neues Modell soll dann den freien Platz einnehmen. Ein neuer Mann an der Seite der Frau, soll dann auch der neue Papa für die Kinder werden. Hier gestaltet sich die Entsorgung so, wie sie sich gemeinhin bei altem Hausgeräten oder Kleidungsstücken zeigt. Und entsorgt sind diese Väter auch, weil man ihnen das Sorgerecht vorenthält, sie von der Sorge um ihr Kind bringt, weil man sie ent-sorgt. Die Autorin beschreibt die Phasen der Entsorgung und das irrige Fehlverhalten vieler alleinerziehender Mütter, die glauben, ihr Kind sei ihr verlängerter Arm - und ihre Absichten und Wünsche seien deshalb auch immer die Absichten und Wünsche ihrer Kinder. Sie erklärt aber auch, wie aus Vätern verunsicherte, traurige, kränkliche, aber auch aggressive Männer werden - Zeitbomben, die von der Gesellschaft und der Justiz im Stich gelassen werden. Da werden Besitzansprüche auf Kinder erhoben, diese werden rechtlich nicht beanstandet, sondern unterstützt - und es gibt nicht mal Trost, kein Verständnis, nur die Empfehlung, möglichst pünktlich die Unterhaltszahlungen zu überweisen. Denn dass ein Kind zu seiner Mutter gehört, das weiß ja schon der Volksmund in seiner grenzenlosen Bierseligkeit.

Katrin Hummel schrieb dieses Buch, so läßt sie es den Leser im Vorwort wissen, weil sie dem erlittenen Unrecht zu Worten verhelfen will. Sie tut das exemplarisch, pickt Beispiele heraus und unterfüttert dieses doch sehr Subjektive mit Zahlen und Fakten. Kurz gesagt, ein journalistisches Buch; keine große Sprachgalantarie, was dem Thema aber durchaus zupass kommt. Hummel reißt die Blümchen-Tapete, die die Öffentlichkeit den Jugendämtern und den Familiengerichten zuweilen aufkleistert, gnadenlos von der Wand. Und das ohne moralischen Zeigefinger, einfach nur durch journalistische Arbeit.


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De omnibus dubitandum

Montag, 26. März 2012

Bei der Landtagswahl im Saarland wählten...
  • ... 38,4 Prozent aller Wahlberechtigten niemanden.
  • ... 21,3 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
  • ... 18,5 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 9,7 Prozent aller Wahlberechtigten die Linken.
  • ... 4,4 Prozent aller Wahlberechtigten die Piraten.
  • ... 3,0 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen.
  • ... 0,7 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
Die geplante Große Koalition hat einen Rückhalt von 39,8 Prozent in der wahlberechtigten Bevölkerung - sie ist damit unwesentlich größer als das Lager der Nichtwähler. Die Opposition setzt sich aus 17,1 Prozent zusammen. Die FDP ist zu einer marginalisierten Randgruppe geworden, die eine Handvoll mehr Wähler als die NPD, aber weitaus weniger Wähler als die Familien-Partei (1,1 Prozent aller Wahlberechtigten) aufweist.

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Eskalierende Sicherheit

Uhl wieder! Jetzt schlachtet er die Ereignisse in Toulouse aus, um das eigene Verunsicherungskonzept, das er als ein Sicherheitskonzept feilbietet, voranzubringen. Denn die französischen Behörden seien dem Mörder "unter anderem wegen einer von ihm genutzten Computer-Adresse auf sie Spur gekommen", wie der Spiegel schreibt. Diese kurze Beschreibung reicht Hans-Peter Uhl, auf Handy- und PC-Technik spezialisierter Trachtenjanker, um die Vorratsdatenspeicherung wieder ins Gespräch zu bringen. Denn nun sei klar, dass diese Leben retten könne, glaubt Uhl.

Die Fiktion von der Lebensrettung

Das ist das Imponiergehabe der Sicherheitspolitik ganz generell. Durch in Vorrat befindliche Daten sollen die französischen Behörden den Mörder gestellt haben. Haben die Daten aber Leben gerettet? Erst nachdem er tötete, konnten solche Daten verwertet werden - es wird demzufolge immer erst jemand zu Schaden kommen, bis eine solche Maßnahme greift, wenn sie denn überhaupt greift. Es ist von Uhl überhaupt, gemessen an der Wirklichkeit, arrogant, von Lebensrettung zu sprechen, wo doch Menschen starben - dies auch beim Stellen des Täters.

Es ist nämlich die große Sicherheitslüge, die uns dieser Schlag von Expertenpolitikern auftischen will. Mit ihren Maßnahmen, so erklären sie stets, würde Gewalt und Terror vermieden werden können. Das gelingt freilich nicht, denn wer sich dergleichen in den Kopf setzt, der wird seinen Plan irgendwie auch umsetzen können. Maßnahmen wie Daten auf Vorrat anzulegen wiederum, greifen lediglich - wenn sie überhaupt einen Sinn haben -, nach dem Akt selbst. Sie vermeiden nicht, sie retten keine Leben, sie werden erst nach dem Auslöschen diverser Leben aktiv. Die postulierte Rettung von Leben ist nur ein fiktiver Ansatz, der meint, der Täter würde bald schon wieder tätig werden und erneut morden - das ist aber nur eine Annahme, ein gedankliches Konstrukt. Gleich gut könnte er sich Wochen Zeit lassen, bis Gras über die Sache zu wachsen scheint und dann nochmals planen. In dieser Zeitspanne könnte die Polizei aber durch traditionelle Ermittlungsmethoden des Täters habhaft werden.

Terrormaßnahmen deeskalieren nicht - sie lassen es eskalieren

Mit Pauken und Trompeten ratterte die Polizei und das Militär stattdessen heran, anstelle erstmal ruhig und besonnen zu ermitteln und den Täter erst dann zu stellen, wenn man ihn auf den falschen Fuß erwischt. Kurz nach seinem Verbrechen war er noch in Alarmbereitschaft - doch in dieser aufgeheizten Phase wollte man ihn schnappen. Da waren Tote durchaus kalkuliert. Wir sahen polizeilichen Aktionismus, die vorrätigen Daten drängen ja zum sofortigen Zugriff. Diese sicherheitspolitische Maßnahme, wenn sie schon mal wirkt und greift, will sich schließlich beweisen. Die Zeitungen sollten doch hernach davon schreiben können, dass die Vorratsdatenspeicherung einen durchschlagenden Erfolg zu verbuchen hatte - Verhaftung in Windeseile! Innenminister stolz! Letztlich dann ein Blutbad, weil in einer Jetzt-und-gleich-Mediengesellschaft keine Zeit dafür aufgebracht wird, Entscheidungen zeitlich zu verlagern. Man hätte den Täter ja observieren können in dieser Zeitspanne. Irgendwann wäre der Augenblick günstig gewesen: kurzer, weil ihn überraschender Zugriff - Festnahme.

Doch diese vermeintlichen Patentlösungen gegen (terroristische) Gewalt gewähren kein Zeitpolster. Wenn man schon Daten im Vorrat hat, wenn man schon mal was findet, was verdächtig sei, dann wird es eilig. Denn diese Patentlösungen sollen nicht nur Gewaltvermeider sein, sondern auch die Gewalt in Windeseile vereiteln. Die Lebensrettung durch solche Gesetzespakete ist Hirngespinst und womöglich sind sie sogar eher dazu geeignet, die Situation zur Eskalation statt zur Deeskalation zu bewegen - weitere Leben die gefährdet und geopfert werden, im Namen einer vermeintlich allumfassenden Sicherheit.

Wobei bei aller Diskussion natürlich noch zu fragen wäre, ob der "Ermittlungserfolg" wirklich auf der Vorratsdatenspeicherung fußt - Computer-Adressen ermitteln oder Handys orten beispielsweise haben mit der nämlich wenig zu tun. Das spielt aber für die Befürworter des gläsernen Bürgers, und Uhl ist so einer, überhaupt keine Rolle.



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Dem Terror setzt man Zufriedenheit entgegen

Samstag, 24. März 2012

oder: die besten Anti-Terror-Gesetze sind solche, die das Glück der Menschen fördern und Perspektiven schaffen.

Der Mörder oder wahlweise Terrorist aus Toulouse ist ein Glücksfall für alle, die den rechten Terror in Deutschland, jetzt schnell wieder aus der Öffentlichkeit verbannen möchten. Das geschieht ja bereits seit Wochen, die Berichte hierzu werden immer dünner. Ein tötender Muslim kommt da gerade recht, um die Relationen wieder zurechtrücken zu können. Denn hinter diesem "politisierten Einzeltäter [...] steht (...) doch ein Milieu".

Das ist interessant, denn einerseits gestattet man ihm, ein Einzeltäter zu sein - aber vereinzelt ist er nicht, sondern nur mörderische Hand eines Milieus. Kein Einzelfall also! Bei denen, die hierzulande türkisch- und griechischstämmige Menschen töteten, wog man sich flinker in Sicherheit, dass es nur ein Einzelfall sei. Tragisch natürlich, man wollte die Taten ja nicht verharmlosen - aber doch Einzelfall. Dass die Mörder (oder Terroristen) aus einem Milieu stammten, scheint hier keinerlei Bedeutung gehabt zu haben.

"Die Politik sollte aufhören, solche Fälle zu verharmlosen", liest man weiter in der FAZ. Das tut sie doch gar nicht! Jedenfalls nicht, wenn der Mörder islamischen Hintergrund hat. Dann baut man riesige Komplexe auf, Terrornetzwerke werden ersonnen, die es in dieser Größenordnung gar nicht gibt, gar nicht geben kann - und man fordert Gesetze, führt sie teilweise ein, macht den Kontroll- und Polizeistaat zur teilweisen Wirklichkeit. Verharmlost wird überhaupt nichts, wenn der Mörder Moslem ist - er ist dann auch kein Mörder mehr, er ist Terrorist. Was noch bedeutungslos ist, denn die Justiz urteilt nach Bürgerstrafrecht, ein Feindstrafrecht gibt es noch nicht - vielleicht arbeitet man daran.

Verharmlosungen gibt es, wenn die Gewaltbereitschaft rechter Kameraden thematisiert wird. Wie gesagt: das seien nur Einzelfälle, überschaubar, habe man im Griff. Hat die Politik durchaus Interesse daran, den Terror islamistischer Herkunft dauerhaft in den Medien am Köcheln zu halten, so dreht sie das Gas ab, wenn der Terror nazistischer (Ab-)Art ans Tageslicht gerät. Eine Gedenkzeremonie, natürlich, die gestattet man, die ist auch gelungene PR - der Rest ist Verschweigen, Stillhalten, Entschleundigen.

Sicher, ein Milieu gibt es auch hinter Einzeltätern. Auch bei denen, die hierzulande töteten. In Frankreich mag es die Perspektivlosigkeit gewesen sein. Wird man von der Gesellschaft in Bannmeilen abgeschoben, ohne Aussicht, ein halbwegs erfülltes Leben auch nur je kennenzulernen, dann radikalisiert man sich letztlich. Das trifft auch für die Glatzköpfe zu, die in Deutschland mordeten. Wahrscheinlich rekrutiert sich das Milieu hüben wie drüben aus denselben Prämissen. Als Paria, ökonomisch unerwünscht, überflüssig, gemieden. Dieses "Milieu", das oberflächlich betrachtet gar nicht so verschieden ist, gehört tatsächlich trockengelegt.

Aber nicht mit harter Hand, nicht mit Überwachung, nicht mit Terrorhype. Gebt den Menschen Perspektiven - mehr Teilhabe, weniger Marktegoismen! Zufriedenheit fördern, nicht Tristesse - wir brauchen keine Gesellschaft, in der bespitzelt, ausgehorcht und das Misstrauen genährt wird, wir brauchen keinen Überwachungsstaat. Die beste Überwachung ist es, Zufriedenheit und Glück zu fördern...



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Langer Rede: kaum ein Sinn...

Freitag, 23. März 2012

Es war die Rede auf die man gewartet hat. Erwartungen erfüllt! Sie war unausgegoren, nicht konkret, idyllisch an der Wirklichkeit vorbei. Präsidiale gute Laune; "Demokratiewunder" nennt er diese Gesellschaft fröhlich - aber, so sagte er auch, dieses Land sei nicht perfekt, wir haben nur "nie ein besseres gesehen". Im gleichen Überschwang dichtete mal einer Deutschland, Deutschland über alles! Überhaupt sprach er viel von "unserem Land" und davon, es nicht im Stich zu lassen - und Seehofer lobte ihn passend, weil der nun Vereidigte damals das Wir sind ein Volk! hochhielt. Das passt - aus Wir sind das Volk!, der Klarstellung, wer Souverän zu sein hat, wurde einst das Wir sind ein Volk!, die nationale Agenda, die die Reformer und die Bürgerrechtler der ersten Stunde in der DDR gar nicht beabsichtigten. Unser Land: Welches meint er denn? Das Land der Wirtschaftsbosse? Oder das der Arbeitslosen? Als sei ein Land für alle unterschiedslos wahrnehmbar.

Soziale Gerechtigkeit hat er noch schnell in die Rede eingeflochten. Die war er bislang schuldig geblieben zu fordern. Nun macht er sie zur Säule der Freiheit. Allerdings, so betont er nachdrücklich, habe es der vorsorgende Sozialstaat zu sein - in neoliberalen Büros nennt man das Modell aktivierender Sozialstaat. Der geht von der Prämisse aus, dass man Menschen bedrängen und drangsalieren, stetigem Druck ausliefern muß, damit sie vom Leistungsanspruch keinen Gebrauch mehr machen. Keine Fürsorgepolitik, meint er, was notwendig sei ist ein Sozialstaat, der "vorsorgt und ermächtig". Ermächtigt? Wen? Tut er das nicht bereits, wenn er Arbeitslosen in die Unterhosen greift, um Vermögensverstecke im Eingriff zu erfühlen? Ist das, was als Hartz IV bekannt ist, nicht ein behördliches Ermächtigungsgesetz, das jeden noch so windigen Angestellten der Behörde dazu ermächtigt, Menschen zu verfolgungsbetreuen, in ihr Privatleben hineinzuschnüffeln? Welche Ermächtigungen will der Mann der Stunde denn noch? Postuliert er damit den wehrhaften Sozialstaat, der die Bedürftigen geheimdienstlich oder öffentlich bekämpfen soll?

Welches Europa hat er eigentlich gelobt? Spricht er von dem, das wir haben? Europa war mal Verheißung, sagt er. Und nun ist es endlich erfüllt und man soll deshalb dazu stehen. Aber es ist wie mit "unserem Land" - was ist denn Europa? Der Wirtschaftsverband, der sich auf für die Wirtschaft förderliche Maßnahmen einigen kann, nicht aber auch eine gemeinsame soziale Stoßrichtung? Das Europa der Konzerne? Dieses Europa, in dem man Griechenland ungeschoren empfehlen kann, einfach mal demokratische Wahlen ausfallen zu lassen? Die Verheißung für ein Europa der Bürger, für einen Raum, der nicht nur Wirtschaftsraum, sondern auch Bürgerraum ist, ist noch lange nicht erfüllt. Das europäische Parlament ist eine Inszenierung - Gesetze werden in Hinterzimmern Brüssels geschmiedet, in jener Stadt, die nicht nur Kapitale Belgiens, sondern auch des Lobbyismus ist. Das Parlament kann Entwürfe nur ablehnen oder verabschieden, aber an keinen expliziten Änderungen von Gesetzesentwürfen mitwirken - meint er etwa dieses Europa, in dem sich das "Demokratiewunder" nicht durchgesetzt hat?

Er bleibt unkonkret, er benennt keine Probleme, gibt keine Anstöße. Er lobt viel, er ruft zum Optimismus und zur Zuversicht auf. Gute Laune in allen Ehren - aber wer die wesentlichen Probleme und die kritischen Aspekte nicht nennt, wer sie ausblendet, der sollte einem launigen Karnevalsverein vorstehen, nicht aber einer Republik, die durchaus reformwürdig ist in vielen Bereichen, die umdenken muß, die das Hirngespinst von der marktkonformen Demokratie so schnell es geht begraben sollte. Das sind natürlich auch theologische Kniffe. Aber die kann man ihm nicht durchgehen lassen.

Da hat einer geredet und man wusste nicht, was er sagte. Welches Land meinte er? Welches Europa? Welche Ermächtigungen? Und auch: Welche Form von Integration? Als zugehörig, wie sein Vorgänger, hat er Muslime nicht benannt. Sie seien da, sprechen anders, pflegen eine andere Kultur - er werde das Erbe seines Vorgängers hochhalten. Aber Zugehörigkeit fiel in der Rede nicht. Die Fremden, sie sind da, war die Botschaft - Integration heißt ja in manchen Kreisen auch, Leitkultur durchboxen. Meinte er das? Langer Rede: kaum ein Sinn...



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Sit venia verbo

"Es ist so unerhört lächerlich, dass alle die Länder, die von sich behaupteten, sie seien die freiesten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo soviel von Freiheit geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein Volk von freien Menschen!, da will man nur die Tatsache verdecken, dass die Freiheit vor die Hunde gegangen ist oder dass sie von Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, Regelungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, dass nur noch das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben sind."
- B. Traven, "Das Totenschiff" -

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Der Altersarmut an den Kragen

Donnerstag, 22. März 2012

Der Altersarmut soll es nun an den Kragen gehen! Im Alter mit zu wenig Rente leben? Die Zeiten sind vorbei, Ministerin von der Leyen vertreibt die Armut - Ruheständlern winkt satter Zuverdienst!, wie es der Stern optimistisch verkündigt. Zuverdienst, nicht Zugewinn - richtig gelesen. Die Alten dürfen mehr arbeiten und damit mehr dazuverdienen zur Rente. Anpacken - nicht jammern, selbst machen - nicht auf Almosen warten! Wer jetzt noch sagt, er habe im Alter nicht genug, der hat selbst Schuld...

Keine Rentenerhöhung. Keine Stärkung des Umlageverfahrens um wieder das gesellschaftliche Vertrauen in die staatliche Rente aufzubauen. Keine kleineren Abschläge bei Frühverrentung. Nein, das liegt nicht im Trend der neoliberalen Zeit. Arbeit soll sich wieder lohnen - auch für die, die eigentlich gar nicht mehr richtig arbeiten können. Morsche Knochen auf den Arbeitsmarkt - Zubrot zur Rente verdienen! Bis 73 an der Drehbank - bis 79 sachbearbeiten. Die Debatte um die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist ein schaler Witz. Ausdebattiert! Einfach Renten klein halten und nebenbei die installierte und subventionierte Privatrente als Luxusartikel vertreiben - und zusätzlich die Verdienstobergrenze ausweiten: dann braucht es kein Geschwafel mehr, dann ist die Debatte erfolgreich weggewischt. Jeder kann dann zwar mit 67 in Rente - aber gearbeitet werden kann theoretisch bis Ableben; absichtlich verkleinerte Renten, aus einem Rentensystem, das man öffentlich verächtlich macht, garantieren antiquierte Arbeitskraft. Und die Option des Zuverdienst', setzt sie sich erstmal durch als mögliches Modell, hält die Rente künstlich am Boden.

Altersarmut darf man nicht subventionieren, lehrt uns der codex canum neoliberalum. Und weiter steht geschrieben: Lasset die Alten zu mir kommen und arbeiten - gebt ihnen nicht ohne Gegenleistung; Alter soll sich wieder lohnen. Gebt ihnen nur zu essen, wenn sie tun. Es ist unmoralisch, die Alten verhungern zu lassen. Aber sie zu unterfordern, ihnen die Happen nur so hinzuwerfen - das ist auch unmoralisch und asozial gegenüber den Jungen. Sozial ist, was Alter schafft. Und dass die Jungen dann im Arbeitsmarkt-Wettbewerb mit den routinierten Routiniers, mit den Rentenaufstockern stehen, gilt dann als sozialverträglich.

... winkt satter Zuverdienst!, schreibt der Stern. So, als käme der einfach ins Haus, so als klingelte er an der Türe. Als ob jeder Rentner einen Arbeitsplatz hätte, fände, bekäme. Als ob diese Frohbotschaft jeden Ruheständler ereile - auch die Oma, deren Einkaufstour samt Rollator ein tagesausfüllender Erschöpfungsmarsch ist?
... winkt satter Zuverdienst! Dass der alte Mensch dafür arbeiten muß, liest sich da nicht heraus. Dass sich die alte Haut zu einem Markte tragen muß, auf den sich ohnehin zu viele, viel agilere, viel jugendlichere, viel belastbarere Menschen tummeln, kann man auch nicht deuten. Dass die schnelle Abhilfe einer zu kleinen Rente nur begrenzt ist, wenn man mal annimmt, der Senior hat überhaupt einen Arbeitsplatz, weil früher oder später Alterserscheinungen hinzukommen, die ihn als Arbeitnehmer uninteressant machen, erkennt man in diesem Freudeschrei auch nicht.
... winkt satter Zuverdienst! Es gibt ja heute schon - traurig genug! - Rentner, die sich noch etwas dazuverdienen müssen. Für sie ist ein 400 Euro-Job das größte Glück - eine Teilzeit- oder Vollzeitstelle erhalten sie nicht; schon mit 50 waren sie für so eine zu alt. Was hat denn der normale Rentner, der mal Arbeitnehmer war, wenn er nicht gerade keine Arbeit genommen, sondern von ihr los war... was hat denn der normale Rentner von einer höher angesetzten Zuverdienstobergrenze? Bestenfalls hat er 400 Euro als zusätzlichen Lohn - und da liegt heute schon die Grenze. Ja soll er denn gleich mehrere Stellen antreten?

Eine humanistisch geschulte Sozialpolitik würde Fürsorge walten lassen - eine neoliberal beschlagene schafft Anreize, neue Impulse, setzt Höchstgrenzen höher. Eine humanistische Politik hilft denen, die sich nicht (mehr) helfen können - eine neoliberale macht die Hilflosigkeit zu einem persönlichen Makel. Keiner kann sich dann mehr beschweren, er könnte doch seiner alten Armut entfliehen, wenn er nur Arbeit fände, wenn er nur dazuverdienen wollte. So ein neoliberales Zeichen setzt von der Leyen...



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Mittelwege zwischen Kapitalismus und Sozialismus

Mittwoch, 21. März 2012

Die Definition des Nationalsozialismus in rechts oder links, kann nicht gelingen. Emotional würde man ihn unter das rechte Spektrum subsumieren. Rechtsextremismus ist auch das Schlagwort für die haarlosen NS-Nostalgiker, die heute in der Nachfolge dieses Phänomens stehen. Ganz richtig ist diese Einordnung wahrscheinlich auch nicht, einfach deshalb, weil links und rechts historisch überholte Labels sind. Es schickt sich daher, den Nationalsozialismus nicht nach der Sitzverteilung der Konstituante von 1789 zu rubrizieren, sondern nach der historischen Kontinuität.

Dass der Nationalsozialismus keine isolierte Epoche der deutschen Geschichte ist, dass Hitler nicht urplötzlich die Bühne bestieg und es sich nicht als zwölfjähriger Betriebsunfall abtun läßt, wird beständig ins Gedächtnis gerufen. Das ist allerdings nicht das offizielle staatliche Geschichtsverständnis - läßt sich doch mit der Abgeschlossenheit des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte, in eine epochale Unterscheidung in Vor und Danach, leichter umgehen. An der Kontinuität soll eine Einordnung stattfinden, wobei der Nationalsozialismus nicht zwischen den Zeiten davor und danach stehen soll, sondern als Beginn, als Vorgänger. Die provokante These wird sein:

Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft als Vorgänger des Sozialstaates

Der NS-Staat wird unter verschiedenen Aspekten beleuchtet und erklärbar gemacht. Seine Auswüchse werden manchmal als kontinuierliche Entwicklung, manchmal als Rückschritt ins Mittelalter verdeutlicht. Selten kommt es vor, dass er mittels seines spiritual leaders erklärt wird: dem Fascismo - dem italienischen Faschismus. Dieser entstand als Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Der agrarische und verarmte Süden Italiens, in dem das sozialistische und anarchistische Lebensgefühl blühte und nur mühevoll unterdrückt werden konnte, sollte mit dem industrialisierten und prosperierenden Norden, in dem der Kapitalismus Egomanie förderte, vereint werden - nicht nur als Gebilde auf der Landkarte, sondern auch geistig und moralisch. Der Fascismo im Ursprung - lassen wir mal all die Manierismen, die er gebar, beiseite -, er sollte die klassenkämpferische Diskrepanz der zwei Italien bannen und die Nachwehen des Risorgimento, des Vereinigungsprozesses der verschiedenen Gebiete auf dem italienischen Stiefel, endgültig ausmerzen. Ein korporatives Wirtschaftsmodell sollte kapitalistische und sozialistische Denkmodelle vereinen und die Nation befrieden - der Fascimo war als goldener Mittelweg angelegt; die Frage, ob denn nun Sozialismus oder Kapitalismus der richtige italienische Weg sei, sollte wegfallen, denn der Fascismo lag dazwischen und sollte der italienische Weg sein.

So jedenfalls will es die Theorie. Und an dieser Theorie ereiferten sich die deutschen Nationalsozialisten schon, als sie noch ein kleiner Männerzirkel in München waren. Mussolinis Marsch auf Rom beeindruckte sie und sie hielten sich mit einigen Abstrichen und Zusätzen für den deutschen Ableger des italienischen Fascismo, natürlich unter deutschen Vorzeichen (Roland D. Gerst vergleicht New Deal und Nationalsozialismus miteinander und beleuchtet, dass beide als Mittelweg gedacht waren - wenn sie auch in den Mitteln unterschiedlich waren). Die ideologische Begutachtung des Phänomens sagt nun vielerlei. Für Kapitalisten war der NS-Staat das Produkt von Massenbegeisterung, entstanden durch die Massen, quasi ein populistisches Resultat. Diese Einsicht ist so richtig wie jene, die Sozialisten vertreten, dass es nämlich der Kapitalismus war, der Hitler die Steigbügel hielt. Der NS-Staat beinhaltete beides. Er nutzte das Kapital und er baute auf die Massen, er nahm sich vom Kapitalismus und stieß in die sozialistische Szene vor. Kurz gesagt, er war auch als Mittelweg zwischen den Extremen gedacht. Beide Systeme, westlicher Kapitalismus und östlicher Sozialismus erschienen den Deutschen jener Tage, der nationalsozialistischen Kamarilla sowieso, wie zwei Pläne, die man den Deutschen überstülpen wollte, obwohl sie dem deutschen Wesen überhaupt nicht entsprachen. Etwas anderes musste her; etwas, das dem deutschen Gemüt entsprach, ein Mittelweg vielleicht, ein deutscher Sonderweg - und Hitler versprach ihn.

Der Popanz eines Sozialstaates, den es aber für rassisch Passende wirklich gab

Ein solcher mittlerer Sonderweg benötigte Einrichtungen, von denen beide Gruppen, Kapitalisten wie Sozialisten, profitieren konnten. Ein Staat, der zwischen den Polen lavieren wollte, so war man sich einig, musste seine Bürger versorgen und ihnen Sicherheiten bieten. Das war natürlich nicht die Menschenliebe des Nationalsozialismus - ohnehin gab es keine Liebe zu Menschen, nur zu Volksgenossen, wobei auch da die Liebe sehr eisig war. Der eigene Machterhalt drängte dazu; die Befriedung leicht korrumpierbarer Massen musste vorangetrieben werden, wollte man das Regime halten. Und so errichtete man sich eine Form von Sozialstaatlichkeit, die Nöte abfedern und volksrelevante Konstellationen, wie beispielsweise die Begünstigung von Familien mit Kindern, schützen sollte. Die neue Volksgemeinschaft sollte eine ohne Klassenschranken sein, sie sollten den Volksgenossen in Geborgenheit halten und ihm Wohlstand schenken. Die Wirklichkeit hinter dieser "Sozialstaatlichkeit" gestaltete sich mit Terror und Verfolgung und mit einem grenzenlosen Verfügungsanspruch über Menschen. Der nationalsozialistische "Sozialstaat" war einer, der rassisch schied - Volksgenossen hatten Ansprüche und Leistungsberechtigungen, volksfremde Subjekte waren ausgeschlossen.

Für Volksgenossen entstand nach den nervenaufreibenden Weimarer Jahren, in denen es Rudimente eines Sozialstaates gab, der aber durch den Druck der Krisenjahre und durch den Terror auf den Straßen endgültig in Nichtigkeit verschwand, ein stabiles Milieu. Das war natürlich nur Blendwerk, denn ein sozialstaatlich wirkendes Gebilde, das naturgemäß als humaner Vernunftsakt begriffen werden sollte, kann nur Wirkung erzielen, wenn es blind auf die Menschen blickt. Wenn es terrorisiert, gegen den Willen der Leistungsbezieher "Hilfe" erteilt, drangsaliert, Gruppen ausschließt, dann hat es keine dauerhafte Stabilität, dann suggeriert es nur eine stabile Lage - ja, es ist genauer gesagt nur in stabiler Seitenlage, bis dann der Notarzt eintritt. Diese Einsicht kann lehrreich sein, denn sie unterstreicht:

Die Gefahr, die jedes sozialstaatliche Gefüge bedroht, wenn man von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit abgeht

Der deutsche Ableger des Faschismus, der als Mittelweg gedacht war, entwarf eine Form von sozialstaatlichen Gefüge. Nach 1945 sollte auch die neu entstandene Bundesrepublik einen Mittelweg anstreben. Sie nannte den ihren Soziale Marktwirtschaft - die war fürwahr nicht nationalsozialistisch; sie war aber gleichwohl als System gedacht, das zwischen den Extremen, zwischen Kapitalismus und Sozialismus, angesiedelt sein sollte. Das Prinzip war bonapartistisch, wie auch jene der verschiedenen Faschismen - das aber humanitärer, menschlicher und freiheitlicher selbstredend. Kein Klassenkampf mehr, sondern Vermittlung zwischen den Polen - das übernahm nicht mehr der Staat, der wurde in einen Parteienapparat gebettet. Diese sollten die verschiedenen klassenkämpferischen Losungen volksparteilich auflösen oder wenigstens kanalisieren und eine nationale Einheit erzielen. Der Bonapartismus, der vom dritten Napoleón entworfen wurde, war schnell als Vorbote des Fascismo gefunden gewesen (Thalheimer) - dass er es in gewisser Weise auch für die modernen Sozialstaaten und ihrer Unterdrückung des Klassenkampfes ist, wird weniger gerne verkündigt. Der Sozialstaat, der in der Sozialen Marktwirtschaft entstand, er war nun nicht mehr nur für die Volksgemeinschaft reserviert - und doch steht er in der Kontinuität des Vorgängers. Anders könnte man sagen: Wenn sich wieder eugenisches Denken durchsetzt, sozialdarwinistische Lügen ihren Weg suchen, wenn die Unaufgeklärtheit auch ins sozialstaatliche Denken hineinstrahlt, wenn bei Leistungsberechtigten mit terroristischem Feuereifer verfolgungsbetreut wird, weil die herrschende Irrlehre erklärt, dass Druck der Schmierstoff der gesellschaftlichen Beweglichkeit sei, wenn sich kurz und gut also Tendenzen durchsetzen, die auch damals diesen tristen und extremen Mittelweg zwischen den Extremen begünstigten, dann wäre die Nachfolge des heutigen Sozialstaates, der aus der Sozialen Marktwirtschaft entstieg und der wiederum auf deutschen Boden schon vorher Verankerung in der nationalsozialistischen Sozialpolitik fand, für jedermann augenfällig.

Noch etwas anders gesagt: Wenn die Soziale Marktwirtschaft, in der wir angeblich noch zu leben scheinen, nach Lesart von Lobbygruppen und Wirtschaftspolitik, seine Maßhaltung verliert, weil Mitspieler innerhalb dessen sozialen Gefüges meinen, Maß zu halten, Rationalität walten zu lassen, sei irrsinnig, womit sie zu extremen Positionen greifen, dann wird aus dem Mittelweg das, was der Mittelweg hierzulande einst schon war: Eine segregative "Sozialstaatlichkeit", die nicht mehr dazu da ist, den Menschen zu helfen, sondern dem System die Menschen einzugliedern - auf Gedeih und Verderb. Es mag sogar sein, dass der Sozialstaat der Bundesrepublik gerade dabei ist, sich an Lehren zu modifizieren, die damals aktuell waren, jahrzehntelang nur subkutan gärten und nun wieder durchbrechen. Rassistisches Denken, Obrigkeitstreudoofheit - sie schlagen durch und verändern die Wirkungsweise des sozialen Denkens. Die Soziale Marktwirtschaft, sie könnte mehr und mehr zum Nachfolgemodell der NS-Sozialpolitik werden - fast nahtlos nahm sie die Stelle der einstigen "beschränkten Sozialpolitik" ein, war in Form der Bundesrepublik deren juristisch erklärter Rechtsnachfolger. Inhaltlich war man glücklicherweise nicht ganz so nahtlos, wenn man aber natürlich auf vielerlei Rezepte, die damals schon ausgestellt wurden, nicht verzichtete. Der Sozialstaat, den wir jetzt haben, er ist zwar zeitlich weit vom Rechtsnachfolger entfernt, aber inhaltlich prescht man zu Nahtlosigkeit vor.

Diese Gefahr ist zugegen - und auch aus diesem Grunde heißt es, dass der Nationalsozialismus ein deutscher Unfall ist, der von niemanden vorher gesehen wurde und der nachher endgültig getilgt wurde. Mit Rechts oder Links läßt sich der Nationalsozialismus nicht erklären. Nur mit der Kontinuität der bonapartistischen Mitte - als der war er gedacht. Würde man die Kontinuität der Bundesrepublik zum NS-Staat offiziell nennen, würfe das Fragen auf, die peinliche Antworten zur Folge hätten. Und auch das Sozialstaatsdenken unserer Tage würde in Frage gestellt werden müssen - nicht nach dem Ob einer solchen Einrichtung, sondern ob des Wie, nämlich wie sich manche Gestalten den neuen Sozialstaat vorstellen. Nur die Abgrenzung zum Nationalsozialismus ist es, die die Bundesrepublik und ihren einstigen Mittelweg blütenweiß hält - den einstigen Mittelweg, den es heute nur noch in der Theorie gibt, der heute auf Seiten des Kapitalismus so tut, als sei er noch mittig; der immer mehr in Schieflage gerät und Richtung Kapital ausschert. Der postulierte Mittelweg, er hat seine neue Mitte gefunden: ganz nah am Kapital...



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Eine Erklärung irgendeines Arbeitgeberverbandes

Dienstag, 20. März 2012

oder: wie so jeder seine eigenen Lehren aus Ereignissen zieht.

Der Konkurs des Schlecker-Konzernes hat uns alle betrübt. Eine über Jahrzehnte reichende Erfolgsgeschichte nahm sein trauriges Ende. Viel wurde in den Medien spekuliert, weshalb es ausgerechnet Schlecker war, der so unrettbar ertrank. Das Konzept sei veraltet gewesen, konnte man lesen. Linke Analysten meinten natürlich, es sei das schlechte Arbeitsklima gewesen, das die Kunden forttrieb - und natürlich, das Argument, das immer vorgebracht wird: Schlecker war zu teuer. Wir als irgendein Arbeitgeberverband aber sagen eindeutig: Die Gründe für die Pleite liegen im sozialen Unternehmertum Schleckers begraben. Die Rücksichtnahme und die Großzügigkeit, mit der Schlecker als Tarifpartner auftrat, haben ihm das Leben gekostet. Spendierfreudiges Patronatsgehabe passt nicht mehr in unsere Zeit!

Großzügige Löhne führen leicht zu maßlosen Forderungen. Schlecker gab und gab - uns als x-beliebiger Arbeitgeberverband sind Stundenlöhne bekannt, die um die 6,50 Euro lagen. Bereits als Einstiegslohn, muß man dazu sagen. Manche Mitarbeiter sollen sogar 9,00 Euro in der Stunde eingestrichen haben. Natürlich ist uns bewusst, dass jeder möglichst viel Geld mit möglichst wenig Arbeit erlangen möchte. Das sind die Gesetze des freien Marktes, die wir ausdrücklich schätzen. Aber es hat Grenzen zu geben - und Schlecker hätte gut daran getan, seine Rolle als sozialer Arbeitgeber nicht zu übertreiben, den maßlosen Stundenlöhnen Grenzen aufzuzeigen. Auch der Gesetzgeber ist hier aufgefordert, der skandalösen Praxis der Gewerkschaften, horrende Stundenlöhne zu erstreiken, Einhalt zu gebieten. Irgendein Arbeitgeberverband ruft daher die Regierung auf, weitere Schleckers zu verhindern und Grundlagen dafür zu schaffen, um Arbeits- und Personalkosten zukünftig in einem Rahmen zu halten, den man überblicken kann.

Seit Jahren warnen wir alle beteiligten Seiten, dass die Zeiten der Sozialromantik endgültig beendet sind. Schlecker hat eindrücklich bewiesen, dass man mit sozialem Unternehmertum auf den globalisierten Markt nicht mehr überleben kann. Irgendein Arbeitgeberverband sähe höhere Löhne auch lieber - alleine die Lage läßt es nicht zu. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, um den Menschen auch künftig Arbeit bieten zu können, braucht es Maßhaltung bei Löhnen und eine flexiblere Arbeitszeit. Schlecker hat uns bewiesen, dass unsere Leitlinie, Wettbewerbsfähigkeit vor sozialer Kompetenz zu stellen, richtig war.

Wir, ein x-beliebiger Arbeitgeberverband, rufen daher alle unsere Mitglieder auf, ab sofort weitere Schleckers zu verhindern. Wohin hohe Lohnkosten führen können, haben wir ja nun gesehen. Jetzt heißt es wieder gesund wirtschaften, keine sozialromantischen Experimente mehr betreiben. Niedrige Löhne, längere Arbeitszeiten, damit die Menschen auch morgen noch Arbeit haben: das ist sozial! Eine Gute-Mensch-Unternehmenspolitik ist es nicht...



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De auditu

Montag, 19. März 2012

Immer wieder begegnet einem in der Argumentation, persönliche Freiheit liege im bedingungslosen Grundeinkommen, ein messianisches Allheilmittel. Es soll hier darüber nicht befunden werden, ob dem so ist und ob es beispielsweise finanzierbar ist. Aber es soll auf die Wortwahl hingewiesen werden, die reichlich unkritisch erscheint und die demgemäß zu messianischen Gläubigkeiten passt - wo inbrünstig geglaubt wird, bleibt die dezidierte Sprache häufig auf der Strecke. So auch hier, wenn man Grundeinkommen für jedermann verteilen will.

Dies ist jedoch völlig unnötig. Ein Grundeinkommen auf bedingungsloser Basis soll jeden Menschen freie Entscheidungsmöglichkeiten schaffen. Niemand soll mehr gezwungen sein, gegen seine Überzeugungen jede zumutbare oder unzumutbare Arbeit anzunehmen. Die Idee klingt gut - vermutlich ist sie es sogar. Problematisch hieran ist nur, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht den Großteil der Gesellschaft ausgezahlt werden müsste. Weshalb sollte man auch ein Grundeinkommen an jene auszahlen, die von ihrer Arbeit leben können - oder gar gut leben können? Mit welcher Berechtigung sollten Vermögende ihr Salär mit diesem Grundeinkommen aufstocken dürfen? Jeder meint den Arbeitslosen wie Ackermann, jeder ist der Leiharbeiter wie Bohlen, jeder ist eine Familie mit nur einem Einkommen wie die Familie Jauch. Auf die Gefahr, ob mit jeder, jeder Deutsche oder jeder Mensch in Deutschland gemeint werden wird, soll hier nur hingewiesen werden.

Wie stets, wenn mit Feuereifer von Erlösungen geträumt wird, bleibt die sprachliche Genauigkeit auf der Strecke. Es kann eben kein bedingungsloses Grundeinkommen für jeden geben - das würde dem Sozialstaatsprinzip entgegenlaufen. Es kann aber wohl eine bedingungslose Lohnersatzleistung geben. Für all jene, die nicht durch ihre Erwerbstätigkeit zu Geld gelangen; für alle, die erwerbstätig sind, denen es aber nicht reicht - bedingungslos einen Ersatz für (nicht ausreichenden) Lohn erhalten: das sollte gemeint sein. Zynisch könnte man nun sagen: Hartz IV ohne Sanktionen, dafür aber angepasst in der Regelsatzhöhe - mit diesem Postulat kann man freilich nicht werben. Gleichwohl sollte man darauf achten, wie man Ideen sprachlich vorbringt.



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In eigener Sache

Sonntag, 18. März 2012

oder: ich nehme mir ein bisschen von der Freiheit, die er stets so gellend inhaltsleer postuliert.

Heute ist was geschehen! Etwas Wichtiges! Für dieses Land! Und für die Leute Wichtiges, die gerne Polit-Boulevard verfolgen. Auch für mich? Er ist auch meiner? Dieser Mann? Ja, wahrscheinlich irgendwie - man hat ja keine Wahl. So wichtig und ich schweige dazu? Sicher. Ich habe dazu schon genug gesagt, geschrieben, getönt. Heute wurde nur abgestempelt, was schon lange als Antrag vorlag. Ich will dazu nichts mehr erklären - Ärger genug, dass ich nachmittags ein Fitzelchen davon mitbekam. Schauspielerinnen und antiquierte Fußballtrainer, die einst Hellas und nun Herthas trainieren und die ihr Stimmchen in dieser Chose erheben durften, reichen mir.

Man kann ohnehin dazu nichts sagen, denn wenn man es tut, dann hat man ihn, dessen Namen ich heute nicht schreiben will, nicht heute, da er wie die Erlösung durch die Studios tingelt - wenn man also etwas über ihn erzählt, dann heißt es gleich wieder, man habe ihn falsch verstanden, verstümmelt, gekürzt und überhaupt komme es einer Sauerei gleich, dass man nicht sein Compañero sein will, nur ein Kampagnero gegen ihn. Da spare ich mir die Worte an diesem Tag, da diese Person die Würde des Amtes wiederherstellen darf - Würde, die ein konjunktiver Seufzer ist: ach, würde so ein Amt nur gleiche haben! Würde meint hier auch: Welche schöne Freiheit würde es doch sein, wenn ich ein Buch mit sechzig Seiten im DIN-A-6-Format auf den Markt werfe, es auf fünfzig Seiten groß mit Buchstaben bedrucken lasse und dafür zehn Euro verlange! Journalisten, die hin und wieder längere Artikel liefern, verdienen weniger üppig. Seine Würde des Amtes scheint zu sein, das Würde, Hätte, Könnte abstellen und sich wucherische Inhaltslosigkeiten als Freiheit nehmen...

Was soll man denn zu einem sagen, der immer gerade dann falsch verstanden wird, wenn man ihn ganz richtig verstanden hat? Der Mann ist gar nicht zitierbar. Und ich will nichts darüber schreiben müssen, weil das agenda setting meint, den heutigen Sonntag verunstalten zu müssen mit diesem geschmacklosen Apostel, der die kapitalistische Gefangenschaft in einer marktkonformen Demokratie mit Freiheit verwechselt. Heute war etwas Wichtiges? Was denn? Charaktermaske durch Charaktermaske ersetzt? Freiheit!, so ruft er, wie Mitte der Neunziger Mel Gibson als William Wallace, als Braveheart, auf dem Schafott - bis er seinen Kopf verlor und diese Freiheit, so laut er sie auch rief, über die Bretter kugelte. Freiheit! Und die nehme ich mir heute und ich meide freiheitlich seinen Namen und das Gewusel um ihn und die Arschkriecher, die seinen Darm füllen und die pathetische Rhetorik, die er kotzt und alles was mit ihm und seiner Inthronisierung zu tun hat. Ich nehme mir die Freiheit, das Theater eines sich einheitlich gebenden Ein-Parteien-Mehrparteiensystems, nicht weiter zu beachten. Nicht heute - morgen ist auch noch ein Tag...



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Der Zeitgeist: (todes-)sträflich unmenschlich

Freitag, 16. März 2012

Publizierte ich doch letzte Woche einige Zeilen zur Todesstrafe. Diese wolle nicht Strafe, sondern Straffung sein - nämlich der herrschenden Zustände. Der (ab-)geneigte Leser erinnert sich sicherlich. Und weil ich es so immer mache, suchte ich bei Facebook einige Gruppen, die sich gegen die Todesstrafe engagieren. Dort wollte ich meinen Text teasen. Solche Gruppen fand ich - eine Handvoll. Gegenteilige Gruppen, die die Todesstrafe fordern und für eine gute Sache erachten, gemeinhin für Sexualstraftäter, die fand ich in rauheren Mengen. Es gibt einfach mehr Engagement dafür als dagegen in diesem Land - oder die Befürworter sind einfach nur penetranter. Und überhaupt wäre der reaktionäre Geist, der sich in Facebook stärker durchsetzt als die Aufklärung, auch mal eines Themas würdig...

Es gäbe so viel zur Todesstrafe zu sagen - und ich denke, Gründe dagegen sind so oft veröffentlicht und aufgezählt und publiziert und erläutert worden, dass sie nur noch langweilen können. Jedenfalls ist die "vernünftige Absicht", Sexualstraftäter - man nennt sie in diesen sich aufgeklärt gebenden reaktionären Kreisen auch Kinderschänder - staatlich organisiert zu ermorden, das Eintrittstor in einen Staat, in dem man auch aus anderen Gründen hingerichtet werden könnte. Wenn sie erstmal erlaubt wäre, diese mordende Justiz, die als Klassenkampf von oben herab betrieben wird, dann wäre sie auch eine juristische Option für andere unliebsame Gesellschaftsgruppen.

Dass man so unkritisch mit der Todesstrafe umgeht, kann eigentlich auch nicht verwundern. Helden unserer Zeit, Leute wie der Schauspieler Schweiger oder die Guttenbergin, unterstützen die gezielte Desinformation. Sie plädieren nicht offen für die Todesstrafe - vielleicht nicht mal insgeheim. PR-Manager, die etwas von ihrem Job verstehen, flüstern ihren Schützlingen schon ein, nicht so derb todesstrafend zu stammtischisieren, zu bierzeltisieren. Dennoch destillieren sie Monstrositäten aus Menschen, die sich sexuell an Kindern üben. Es ist ein Verbrechen, was den Opfern solcher Menschen widerfährt - aber es ist auch, was man gerne wegwischt, eine unerträgliche Situation für die Täter, die zwischen Selbsthass und Selbstauflösung lavieren. Experten sagen immer wieder, dass die Mehrzahl pädophil veranlagter Personen freiwillig in Behandlung gehen, dass die pogromartige Stimmung, die über die Medien geschürt wird, der Aufklärung abträglich ist, womit ein adäquater Umgang mit diesem Phänomen verunmöglicht wird. Solche Personen brauchen Hilfe, nicht den vom Mob verordneten Tod.

Ein Rechtsstaat braucht einen kühlen Kopf, kein heißes Herz. Er braucht Bürger, die gegen das Meinungsmonopol einiger emotionalisierter Dummköpfe aufstehen - die bei der Ansicht bleiben, dass den Opfern sexueller Übergriffe mehr damit geholfen wäre, die Täter zu therapieren, sie notfalls mit Sicherheitsverwahrung von der Gesellschaft zu scheiden, wenn es keine Aussicht darauf gibt, dass er nochmals sozialisiert werden kann. Lebenslang sicherheitsverwahrt wohlgemerkt - nicht lebenslang im feuchten Kerker! Der Tod gibt keine Befriedigung. Des Menschen Inneres ist viel zu komplex, als dass er mit dem Tod des Delinquenten endlich befreit würde. Man braucht den Täter, um seinen Frieden machen zu können - wenn er tot ist, hat er seinen Frieden mit der Welt gemacht, nicht aber der Hinterbliebene. Vielleicht hätte dieser noch ein Wort zur Klärung benötigt...

Gegner der Todesstrafe in den USA erklären immer wieder, das die Befriedigung durch Tötung nicht eintritt. Im Moment, da der Täter gerichtet wurde, bleiben die Opfer zurück - als er wehrlos vor ihnen lag oder saß (je nach Hinrichtungsmethode), als das Gift oder der Strom floss (je nach Hinrichtungsmethode), als der Todeskandidat ruhig eindöste oder um sich schlug (ja nach Hinrichtungsmethode), da fühlten sie dumpfe, kurzzeitig befriedigende Rachegelüste. Jetzt leidet er, jetzt sieht er dem Tod ins Auge. Doch dann ist er tot, dann schwindet das Überlegenheitsgefühl der Gegenpartei und sie verschwindet aus dem öffentlichen Blickfeld. Die Öffentlichkeit nimmt keine Notiz mehr von denen, die hinterblieben sind - nicht von denen, die es vom Opfer sind; nicht von denen, die es vom Täter sind. Euch ist doch jetzt Gerechtigkeit widerfahren, sagen dann die Menschen den Hinterbliebenen. Grämt euch nicht weiter. Aber der Schmerz bleibt - denn eine psychologische Behandlung ist nur für die Bürger vorgesehen, die sich eine Krankenversicherung leisten können; viele US-Staaten leisten sich die Todesstrafe als Therapie für Hinterbliebene. Sie können sich den Luxus, mit einem Psychologen über den gewaltsamen Verlust eines geliebten Menschen zu reden, nicht leisten - lieber finanzieren die Vereinigten Staaten elektrische Stühle zum Ausgleich. Rache als Verarbeitung - daran scheitert die menschliche Seele, denn Rache deckt nicht das Bedürfnis nach Verständnis, Einfühlungsvermögen und Gesprächsbereitschaft ab.

In einem Land, in dem es die Todesstrafe (schon oder noch immer) gibt, da kann man gegen sie sein - in einem Land, in dem es sie (noch) nicht gibt, es sie aber nach Meinung einiger Hohlköpfe (wieder) geben soll, da kann man nicht gegen die Todesstrafe selbst sein, sondern nur gegen diejenigen, die sie wollen.

Ich habe überhaupt den Fehler gemacht, das Thema Todesstrafe mit Sexualstraftaten zu verquicken. Das ist ein Beißreflex, den jene erzeugt haben, die sich für diese Form der Strafe aussprechen. Sie vermengen sexuellen Gebrauch von Kindern mit Todesstrafe - diese Form der Straftat soll herhalten, um die Forderung als eine Variante edlen Handelns zu deklarieren. Der sexuelle Übergriff auf Kinder ist so pervers und geschmacklos, dass man eigentlich nicht als Verteidiger von Lebensrechten solcher Täter auflaufen möchte - man will sich nicht disqualifizieren und als Freund solcher Gesellen gelten. Das ist eine ganz infame Taktik, die die Todesstrafen-Befürworter sich da ersonnen haben. Und ehe man sich versieht, spricht man von Sexualstraftaten, nicht aber von der Todesstrafe und ihren gesellschaftlichen Folgen. Und wer das Leben solcher Täter schützt, der schützt die Sexualstraftat. Das ist die Dialektik der Tyrannei - das ist stalinistische Hosentaschenhitlerei!

Der andere grobe Schnitzer, den man sich erlaubt, den sie einen abnötigen: Darüber zu sprechen, wie ökonomisch oder unergiebig die Todesstrafe sei. Dann rechtfertigt man seine Gegnerschaft damit, dass der Todestrakt kostenintensiv ist - geschickt umgehen die Befürworter dieses Argument, sie würden schneller morden, damit es billiger bleibt, antworten sie; nicht mal Revisionsanspruch gibt es in diesem Weltbild. Die Decke der Zivilisation ist nicht nur dünn, sie ist an manchen Stellen schon herabgezogen. Du sollst nicht töten!, ist kein Argument in Zeiten, da alles geprüft und vermessen wird, da man Kosten erfragt und Nutzen errät. Ein kategorischer Imperativ ist heute undenkbar - er muß ökonomisch begründbar sein. Und damit ist er nicht ewiglich während, sondern von Zeit zu Zeit zu prüfen; was heute ökonomisch wertvoll ist, kann morgen schon falsch sein. Zu behaupten, man solle nicht töten, weil Gott es so will, der eigene Verstand es diktiert, weil man feuerbachianisch auf Homo homini deus! als Leitlinie setzt, ist undenkbar. Man muß gegen die Todesstrafe mit pekuniären Argumenten aufmarschieren, dann hat man eine Chance - dann nicken die Befürworter und sagen: Aber trotzdem...

Ich verstehe doch auch die Rache. Meine Güte, ich bin doch ein Mensch. Der Marquis de Sade hat mal irgendwo geschrieben, dass er die Tötungsmaschinerie des Staates nicht dulden könne, auch das Rachegefühl der Leidenden nicht - aber geschieht Rachsucht im Affekt, dann könne man Zugeständnisse machen. Das tut der Rechtsstaat auch. Tadel und Bestrafung, so weiß auch Sade, müssten dennoch folgen - das ist sinnvoll, auch um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Gesellschaft hat natürlich alles zu tun, damit so eine Affekthandlung nicht geschehen kann. Geschieht sie doch, eine Strafe unter Berücksichtung der persönlichen Befindlichkeit und Lage, muß geschehen. "Einen Menschen im Rasen der Leidenschaft zu töten, das kann man begreifen. Ihn jedoch durch einen andern töten zu lassen in der Ruhe des ernsthaften Nachdenkens und unter dem Vorwand eines ehrenwerten Staatsdienstes, das kann man nicht begreifen." So hat es mal der französische Schriftsteller Charles Nodier formuliert - und dem pflichte ich bei.

Derzeit noch bin ich nicht moralisch verpflichtet gegen die Todesstrafe in diesem Lande sein zu müssen; aber ich bin es, gegen die zu sein, die die Todesstrafe wollen. Und ich habe den Eindruck, dass es nicht weniger werden...



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Freundschaft als Feigenblatt

Donnerstag, 15. März 2012

Das liest sich wie ein Plädoyer für Interessenspolitik, was die FAZ, in persona Reinhard Müller, da publizierte. Denn niemand hat behauptet, so wie Müller schreibt, dass Politiker keine reichen Freunde mehr haben dürften - das ist auch nicht die Lehre aus dem Stück, dessen Hauptdarsteller Wulff war. Es geht nicht mal so sehr um Freundschaft, sondern viel eher um den Reichtum, der sich auf die politische Macht wirft, wie Fliegen auf noch dampfende Scheiße. Wobei Macht ein viel zu hohes Wort ist - noch entscheidet die Politik, noch geht die Wirtschaft den Umweg über diejenigen, die vom Gemeinwesen mandatiert wurden, die Ungeschicke zu lenken. Betonung auf Noch - und die Macht, von der die Rede war, ist nur das letzte Häuflein an Kompetenzen, das nach Deregularien und Entstaatlichung, nach Entschlankung und Entschlackung der öffentlichen Hand, verblieben ist. Auch hier schickt sich die Betonung an: Kompetenzen, die noch vorhanden sind. Von Macht sollte man hier nicht mehr reden.

Wenn Müller anführt, dass manche nun fordern, der Politiker sollte ein entfreundschaftlichter Mensch sein, einer, der schon gar keine reichen Freunde haben dürfe, dann bringt er das Problem nicht auf den Punkt, er umgeht es nur geschickt, indem er einen Popanz errichtet. Es geht nicht um einzelne Politiker und deren gutbetuchte Freunde - es geht darum, dass die gesamte Politik so nahe am dicken Geld sitzt, dass eine unabhängige Gestaltung des öffentlichen Lebens, eine, die Vor- und Nachteile von Entscheidungen abwägt und zum Wohle des Volkes fällt, gar nicht mehr möglich ist. Wulff war, sollten sich die Vorwürfe als justiziabel erweisen - was wahrscheinlich gar nicht der Fall sein wird -, nur ein kleiner Fisch.

Sich Geld auf Leihbasis zustecken zu lassen, um etwaiges Privatvergnügen zu finanzieren, gilt als Korruption - vielleicht ist es das auch, denn jemanden, der einen in seinen Kalamitäten hilft, wird man nicht im Wege stehen, wenn er sich anschickt, durch sein unternehmerisches Tun, dem Gemeinwesen zu schaden. Wenn aber jemand Gesetzesentwürfe von Rechtsanwälten diverser Unternehmen schreiben läßt und hernach auf Tingeltour im Namen eines Konzerns geht, der von diesem Gesetz profitierte, dann nennen wir es Marktwirtschaft - so einer riestert sich aber sicherlich mehr ein, als jemand, der sich einen freundschaftlichen Kredit einheimste. Denken wir doch nur an den Innenminister, der biometrische Pässe einführte und jetzt in einem Unternehmen sitzt, das solche Dinger herstellt. Ist das besser? Und wer sagt eigentlich, dass dieser Innenminister Freunde in diesem Unternehmen habe? Nein, man muß keine Freunde haben, um sich korrumpieren zu lassen - es reicht, wenn man jemanden zur Seite stehen hat, der Geld besitzt. Freundschaft wird da überbewertet.

Müller trägt da nicht zur Sichtbarmachung bei. Im Gegenteil, er glaubt, die Nähe der Wirtschaft und des Geldes zur Politik bedinge sich. Dazu braucht er die Freundschaft - sie ist der Trick, mit der er die Nähe des Geldes zur Politik rechtfertigen möchte. Denn Freundschaft aus gesellschaftlichen Gründen zu verbieten, kann niemand verlangen. Dabei geht es allerdings, wie schon erwähnt, nicht um Freundschaft - es geht um Interessen, die sich der Politik anbiedern. Und dieses Gebaren kann man sehr wohl verbieten - Freundschaften freilich nicht...



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Wir brauchen einen Weltunterdrücktentag...

Mittwoch, 14. März 2012

Der Weltfrauentag, diesen Eindruck lassen die Medien entstehen, wird mittlerweile als Feiertag begriffen. Wenn er auch in der Lebenswirklichkeit der Menschen kaum Beachtung findet, so wissen doch Zeitung und Fernsehen viel darüber zu erzählen. Und es ist ausgerechnet Die Linke, sie sich ansonsten kritisch äußert, die aber stets dann, wenn von Gleichstellung die Rede sein sollte, in dumpfesten Postfeminismus verfällt und dabei den gender mainstream bedient. Gleiche Standards, die sich nicht an primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen orientieren: das ist natürlich gar nicht zu kritisieren. Deshalb jedoch in einen ritualisierten Diskurs, der mit vorbereiteten Floskeln und halbgarer Geschlechterrhetorik hantiert, zu verfallen, das macht nachdenklich. Die Linke ist in diesem Bereich nicht Opposition, sie ist Mainstream.

Die Spaltung vor dem Kapital

Der Weltfrauentag wird mit postfeministischer Rhetorik untermengt. Die Betonung liegt darauf, Frauen als außerordentlich wichtig zu ehren - als ob je etwas anderes behauptet worden wäre von denen, die die das postfeministische Vokabular als "Männerwelt" bezeichnet. Diese wird gerade auch am Weltfrauentag als nebulöse Sekte definiert, als Gesellschaft, die keinen Zugang für Frauen kennt, die den aussperrt, der nicht an denselben Geschlechtsmerkmalen leidet. Den Männern, so wird am globalen Festtag der Frau festgestellt, geht Kreativität und Kompetenz ab, weswegen Frauen umso wichtiger sind - niedlich, wie sich die postfeministische Rhetorik über die Schwäche des Geschlechterfeindes definiert. Was am Weltfrauentag kein Thema ist: das deutsche Familienrecht, das in puncto Gleichstellung nach wie vor rückständig und frauen- bzw. mütterzentriert ist.

Am Weltfrauentag gedenkt man nicht der Emanzipation der Frau. Es wird dankbar aufgeatmet, dass es die Verfestigung der Spaltung klassenkämpferischen Potenzials ist, die man installiert hat. Männlein und Weiblein, vereint im Getrenntsein, im Divide et impera. Jedoch es gibt keinen Kampf der Geschlechter - der wird nur publiziert. Unter "normalen Menschen" findet er nicht statt. Da ist zwar oft Unverständnis; Mann und Frau streiten sich auch - aber das tun gleichgeschlechtliche Beziehungen auch. Die üblichen Geplänkel, die aber nicht als Politikum gesehen werden wollen. Wer aber die Gesellschaft auf Krieg zwischen Mann und Frau reduziert, der lenkt von den wirklichen Kriegsschauplätzen ab.

Der Weltfrauentag wird als eine Art Befreiungstag gefeiert - als Tag, an dem die Männerwelt Demut üben soll für ihre Verbrechen; an dem sie Dankbarkeit ausdrücken soll. Und es ist der Tag, an dem sich Frauen selbst beweihräuchern dürfen. So wie wir ihn in Deutschland kennen, soll der Weltfrauentag zudem sagen: Seht her, weit haben wir es gebracht! Unsere Gesellschaft ermöglicht, dass es allen besser geht, wenn man nur darum kämpft! Und genau hier ist er nichts weiter, als ein Ereignis von satter Staatsgetragenheit. Denn es geht nicht um Männlein und Weiblein - es geht um Kapital und dessen Verfügungsanspruch auf Menschen, Alltag, Kultur und soziale Errungenschaften. Und ob die Lebensumstände sich gebessert haben, das ist keine Frage des Geschlechts, es ist eine des Geldes.

Postfeminismus - auch so eine Säule der kapitalistischen Gesellschaft

Dass die Grünen so unoriginell in Frauen- und Männerbündlerei ticken - kein Wunder, denn von daher stammen sie ja ursprünglich. Dass die taz so ist, der BILD-Aktion, eine Ausgabe nur mit männlicher Arbeitskraft zu gestalten, um zu beweisen, dass es ohne Frauen nicht geht, auch nur Beachtung zu schenken - auch kaum verwunderlich, denn was wäre die taz, Zeitung der bürgerlichen Mitte, ohne ihren Diekmann? Die anderen etablierten Parteien zelebrieren denselben Stuss mit gender-Sprüchen, wie man sie nun seit Jahren kennt und erträgt. Anderes dürfte kaum zu erwarten sein -wer am Weltfrauentag, oder auch sonst, die Benachteiligung von Vätern im Familienrecht thematisiert, dürfte ein Problem mit der Öffentlichkeit bekommen. Die arme, verlassene, alleinerziehende Mutter steht unter Opferschutz - die Wirklichkeit kümmert nicht mehr, wenn man bequeme Stereotype im Kopf hat. Dass Die Linke sich aber dazu hergibt, ausgerechnet Die Linke, die sonst so kritisch sein will, so oppositionell, so andersdenkend, so gerecht und gleich, so brüderlich und freigeistig: das enttäuscht. Auch sie spielt mit im Divide et impera, die diesem Frauen-Männer-Trennungen zugrunde liegen.

Bei aller berechtigter Kritik an den Piraten: Der Umstand, dass sie wenig Frauen in ihren Reihen haben, ist kein Kriterium. Das verstehe man nicht falsch. Nicht, dass nur Männer in die Politik sollen - auf gar keinen Fall. Aber Quotierungen sind unerträglich, weil sie Geschlechtsmerkmale zum wesentlichen Motiv einer Einstellung, Berufung oder Kooption machen. Qualität sollte sich durchsetzen, nicht der Vorzug, bestimmte körperliche Voraussetzungen zu erfüllen. Dass sich die Piraten, eine junge Partei mit jungen Mitgliedern, nicht auf Männer- und Frauenpolitik trimmen, mag vorallem damit zu tun haben, dass sie einer Generation entstammen, der dieses Denken mittlerweile fremd ist. Geschlechterpolitik ist veraltet, ein Relikt aus den Siebzigerjahren, wo sie zweifellos Berechtigung hatte - heute ist sie mainstream geworden; gender mainstream.

Frauen sind besser, witziger, kreativer, führen umsichtiger - Männer können das alles auch, aber nicht, weil sie Qualitäten haben, sondern weil sie verbissener und aggressiver sind und von einer Welt, die auf Männer maßgeschneidert ist, profitieren. Solche Losungen hat der gender mainstream, der durchsetzt ist von genetischen Geschwafel über Mann und Frau, erzeugt. Junge Generationen können damit kaum mehr etwas anfangen - für sie war nie ersichtlich, dass es große Unterschiede bei den Geschlechtern gibt. Es wundert also nicht, dass die Piraten glauben, diesen Aspekt ganz bannen zu können. Zumal die Auswüchse des gender mainstreams die Gesellschaft, wie wir sie heute haben, nicht erschüttert, sondern stützt. Dass beispielsweise Springer-Zeitungen einen solch bissigen postfeministischen Stil pflegen, immerhin Produkte eines kapitalistischen, konservativen, gegenüber Politik und Wirtschaft unkritischen und marktkonformen Unternehmens, unterstreicht doch nur, wie staatstragend der Postfeminismus und seine Köpfe und Köpfinnen, die alle irgendwie wie die Schwarzerin (die ja auch Werbung für Springer machte) klingen, mittlerweile geworden sind.

Von wegen Weltfrauentag - ein Weltunterdrücktentag täte not

Eine ungerechte Welt verändert man nicht dadurch, Menschen, die Opfer und Verfügungsmasse der kapitalistischen Wirklichkeit sind, gegeneinander auszuspielen. Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft und Glauben, wie es im Grundgesetz auch steht, dürfen keine Scheidungskriterien sein. Frauen sind nicht nur Opfer von Männern - Männer sind es auch; Frauen sind auch Opfer von Frauen - und Männer von Frauen. Homo homini lupus - hier ist eine traurige Gleichstellung vollbracht. Männer und Frauen sind gleich: sie können ausgebeutet werden - und sie dürfen ausbeuten.

Gerade Die Linke sollte erkennen, dass Nebensächlichkeiten wie das Geschlecht, nicht dazu führen dürfen, Menschen gegeneinander aufmarschieren zu lassen. Wer das macht, der schwächt sie - der erzeugt ein Klima des Misstrauens, raubt gesellschaftsverändernde Energien und vertuscht, gegen wen es wahrhaftig gilt sich zu wehren. Dass der Diskurs zudem unfair ist, weil Männer ruchbar gemacht werden, zu tumben Machos, über die gespottet werden darf, während sie als Väter so gut wie immer als Elternteil zweiter Klasse ins Hintertreffen geraten im Trennungsfalle, setzt dem ganzen die Krone auf. Wie der Postfeminismus das männliche Geschlecht sieht, läßt sich am Geschlechterdiskurs sehen. Der wird immer öfter im Verbund mit Sexualstraftaten geführt, die Männer begehen und die von einer maskulinen Rechtssprechung angeblich entschuldigt werden. Der Mann ist eben ein potenzieller Verbrecher.

Die Linke sollte am nächsten Weltfrauentag einen Weltunterdrücktentag ausrufen...



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Ridendo dicere verum

Dienstag, 13. März 2012

"Ein Milliardär ist ein Mann, der auch mal ganz klein als Millionär angefangen hat."
- Jerry Lewis -

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Sakralisierte Politik

Montag, 12. März 2012

Das Amt des Bundespräsidenten nimmt die Rolle der personifizierten Moral ein. So jedenfalls will es die Theorie. Moral ist schließlich stets das, was man darunter verstehen will. Es gibt die Sklaven- und die Herrenmoral, Männer- und Frauenmoral, emotionale und ökonomische Moral. Der Bundespräsident soll aber mahnen, hinweisen, auf Entwicklungen hinstoßen - kurz: er soll eine päpstliche Rolle einnehmen, quasi-spirituelle Instanz sein, an die man sich wenden kann, von der aber keinerlei Wirkung ausgeht.

Wie der Papst im Zeitraffer

Das Papsttum hatte einst weltliche Potenz. Ein Kirchenstaat war in seiner Obhut - die europäischen Fürsten mussten mit ihm rechnen, ihn auf seiner Seite haben. Er war Kriegsherr und Gestalter. Und dann war es vorbei - jedes Imperium schwindet, so auch jenes, das dem Papst unterstellt war. Heute füllt das päpstliche Amt meist ein unfreundlicher älterer Herr, der Ratschläge erteilt und (für ihn) moralisch klingende Empfehlungen ausspricht.

Das Amt des Bundespräsidenten ist dem päpstlichen wie im Zeitraffer ähnlich. Von der Macht, die er im Weimarer Deutschland besaß, damals noch als Präsident des Reiches, verfiel er zum schwingenden Zeigefinger, der Verfehlungen tadelt und Mut zuspricht. Weil er aber keine Funktion hat - und wir leben in einer Welt, in der alles Funktionen haben muß, um als Wert akzeptiert werden zu können -, so sagen nun viele, soll das Amt abgeschafft werden. Nichts gegen moralische Instanzen - aber sie haben wahrscheinlich recht.

Von Profanie zu sakraler Instanz

Denn eine moralische Instanz kennt man in diesem Lande bereits - der Bundespräsident doppelt nur das Amt des politisierten Seelenhirten. Spirituelle Führerschaft, die mahnt, tadelt und lobt, sie ist hierzulande unter dem Wort Regierung bekannt. Das Primat der Politik, es ist nicht mehr vorhanden. Minister und Kanzler wirken wie päpstliche Nuntien, wenn sie aufgeschreckt von der Presse auf Missstände und wirtschaftliche Entwicklungen, auf Schweinereien und ökonomische Kriminalität aufmerksam gemacht werden. Wie päpstliche Delegierte verfallen sie in moralische Monologe, erklären, dass man dies oder jenes nicht mache, dass es unanständig, eine Verfehlung sei, dass man sich besinnen sollte. Das ist die Aufgabe, die deutsche Regierungen übernehmen - man ist spirituell, man gibt sich ethisch, man läßt seine Hände im Schoss.

Dort ruhen sie aber nicht, weil sie im Gebet zusammenstecken - sie scheinen gefesselt. Weshalb auch immer. Freiwillig oder unter Zwang? Vermutlich eine Mischung daraus. Jedenfalls folgen kaum taten - die Finanzkrise hat beispielsweise nicht dazu geführt, die Spekulativwirtschaft zu reformieren. Es gibt keine Umsatzsteuer auf Finanztransaktionen. Man hat es beim päpstlichen Tadel belassen. Verantwortungsvoller spekulieren, das Maß nicht verlieren - das sind die Ratschläge. Wie beim alten Mann zu Rom bleibt es bei Worten. Die Praxis, die moralischen Sentenzen wahr zu machen, die fehlt völlig.

In den letzten zwanzig Jahren ist man von weltlicher zu sakraler Macht geschlittert - das klingt toll: sakral, also heilig. Aber das ist eine Katastrophe, wenn Politik, die im Diesseits tätig sein sollte, verheiligt wird, sodass sie nicht mehr auf Erden wandelt. Ihr Primat ist ihr völlig abhanden gekommen. Was der Politik bleibt, was Regierungsaufgabe geblieben ist, das sind moralische Beteuerungen, Zurechtweisungen und ein bisschen eloquente Sittlichkeit.

Politikpriester: die letzte Nische, die die Ökonomie der Politik gestattet

Diese Zuständigkeit wird man ihr nicht aberkennen. Die Gemeinwesen, die mehr und mehr in die Hände multinationaler Konzerne geraten, werden sich die Politik und ihre Regierungen als Priesterkaste halten. Als theologische Dienststellen, die eine gekünstelte Mittlerrolle zwischen Wirtschaftsbaronie und Volk spielen werden. Die weltliche Kompetenz, das Leiten und Führen des Staates, erledigen dann noch mehr und viel direkter als heute, Delegierte aus Aufsichtsräten - die können sich die moralischen Aspekte der Staatslenkung sparen, dazu gibt es die politischen Priester. Schließlich leben wir in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Der Demokratie wird freilich Genüge getan: man darf seine Politikpriester wählen - die weltlichen Machthaber aber nicht.

Für was also das Amt des Bundespräsidenten weiterhin beatmen, wenn wir doch Kanzler und Minister haben, die seine Aufgabe mindestens genauso gut erfüllen. Deren Handlungsspielraum ist wie seiner: es gibt ihn nicht (mehr) oder jedenfalls immer weniger. Aber es klingt so schön, wenn sie der Moral nach dem Maul sprechen...



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Der bürokratische Typus

Freitag, 9. März 2012

Gürtner drängte auf die sofortige Einstellung. Die heimliche Tötung Geisteskranker musste ein Ende nehmen. Nicht irgendwann - jetzt gleich. Die Bevölkerung gab den Justizbehörden diesbezüglich Hinweise. Sie wussten ja auch nichts. Man weihte sie ja nicht ein. So erfuhr auch Gürtner, nicht weniger als Reichsjustizminister, von den Vorgängen. Diese Zustände schienen ihm unhaltbar, sie konnten nicht weiterhin aufrechterhalten werden. Bewirkt hat sein Protest nichts. Erst später, Gürtner war mittlerweile verstorben, hob man die heimliche Euthanasie auf und verfrachtete sie in eine noch heimlichere Heimlichkeit.

Gürtner - ein Name, mehr nicht. Zudem eine Parabel auf einen Typus, wie wir ihn heute, unter freilich doch sehr anderen, ja auch menschlicheren Umständen, immer noch kennen. Eichmännische Gemüter, die das jeweilige in Kraft stehende Gesetz als Gewissen melden. Denn Gürtner beunruhigte es weniger, dass da wehrlose Menschen, die eigentlich Schutzbefohlene der Gesellschaft sein sollten, in den Tod gespritzt und gehungert wurden - ihn beunruhigte das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage. Der heimliche Erlass, den Hitler einigen ausgewählte Ärzte - welche Ehre, ausgewählt geworden zu sein! - zukommen ließ, stellte keine gesetzliche Grundlage dar. Das war Mauschelei, waren nur Absprachen zwischen dem Ideologieklüngel - ein moderner Staat konnte so nicht sein.

Sonst war er doch auch nicht zimperlich, der Gürtner. Er wirkte bei der Außerkraftsetzung der Bürgerrechte der Weimarer Verfassung mit; diente juristisch dem "deutschen Blut und der deutschen Ehre", half also der Rassenschande in die Galoschen; sprach sich dafür aus, dass jüdische Männer Israel, jüdische Frauen Sara heißen sollten. Wobei er humanistisch geschult genug war, denn die Todesstrafe, wie man sie bis dato vollstreckte, nämlich mit einem Handbeil, wollte ihm nicht gefallen - er schlug dem Führer vor, künftig die Guillotine verwenden zu lassen.

Erschreckend ist vielmehr, dass Gürtner gar kein Nazi war. Der Mann wurde erst 1937 Mitglied der NSDAP - da war er schon fünf Jahre Reichtsjustizminister. Das war er schon im Kabinett Papens und Schleichers. Es geht auch gar nicht um Gürtner, er fungiert als Gleichnis, könnte man sagen. So wie man Eichmann gelegentlich als Allegorie verwendet. Der hat auch unschuldig beteuert, nur der Knecht seiner Herren gewesen zu sein. Pflichtgefühl und Gehorsam gegenüber dem Gesetz und den Gesetzgebern - so hat man es gelehrt bekommen. Den Platz einnehmen, den die Gesellschaft einen erteilt und dann gehorsam das tun, was gesetzlich verbürgt verlangt wird. Ohnehin ist es doch so, dass jemand anderes am Platz säße, wenn man selbst seinen Hintern nicht draufschöbe - es ändert sich also nichts, wenn man zu viel Gewissen zeigt; selbst entledigt man sich der undankbaren Aufgabe zwar, aber ein anderer Erfüllungsgehilfe fände sich ja doch immer.

Dieser bürokratische Typus, der nicht ideologisch ist, aber dennoch tut, was die Ideologen wollen, der mag die wirkliche Gefahr jedes Totalitarismus sein. Klar, die verbohrten Betonköpfe, die die Welt in ideologische Kategorien stürzen, die kann man nicht als ungefährlich einstufen. Aber was wären sie ohne den bürokratischen, den dienstbeflissenen Typus, der sein Gewissen hinter Paragraphen hält? Was wären sie ohne die Oberpriester der Dienstwilligkeit und des Gehorsams? Gürtner dient hier nur als Name - es gürtnert doch allezeit. Auch jetzt. Natürlich schicken sie niemanden unter das Fallbeil. Die Mittel sind perfider geworden. Sie haben einen menschlichen Anstrich erhalten. Das dürften auch die damaligen Erfahrungen gemacht haben - der faschistische Totalitarismus hat bewirkt, dass der Totalitarismus des ungezügelten und deregulierten Marktes etwas sanftmütiger daherkommt, etwas humaner tut, sich Floskeln des Mitfühlens erfunden und bereitgestellt hat. Die nationale Größe, in deren Dienst man terrorisierte, mordete und brandschatzte, hat als Begriff ausgedient - heute nennt sich das Wohlstand und meint, etwas weniger rassistisch konzipiert: dasselbe.

Gleichwohl zählt für die Erfüllungsgehilfen nicht das Gewissen. Es kann manchmal durchblitzen - das ist nur menschlich. Aber man muß wissen, dass zwischen Gesetz und Gewissen zu scheiden ist. "Das moralische Gesetz in mir", wie Kant es mal nannte, es ist irreführend, weil das kein Gesetz sein darf - es darf ein Gefühl sein, eine kleine Sentimentalität, aber bloß nichts Gesetztes. Gesetze stehen in Gesetzesbüchern, nicht in einem selbst, in seiner moralischen Gesittung. Das Gesetz hat "der Himmel über mir" zu sein, um nochmal kantisch zu reden. Gewissenhafte Bürokraten - das meint paradoxerweise Leute, die am Gesetz bleiben, nicht am Gewissen. Gewissenhaft ist er nur, wenn er gewissenlos ist. Gürtner war kein Nazi, die Tötung Geisteskranker mag ihn auch getroffen haben - aber Kriterium war nicht das Aufheulen der Nächstenliebe in ihm, durfte es nicht sein. Es gab kein Gesetz dazu und es musste eines geschaffen werden, was ihm wahrscheinlich menschlich nicht gefallen hätte, bürokratisch aber nicht zu beanstanden gewesen wäre. Die kleinen menschlichen Regungen im Griff zu haben: so wickelt man die Gesellschaftsgeschäfte ab, egal unter welchen Herren.

Natürlich braucht es die Bürokratie - ohne geht es nicht in einer Massengesellschaft. Man stelle sich vor, man betritt eine Behörde und dort würde das "moralische Gesetz in mir" wüten - mancher Kleingeist, der es in den Staatsdienst geschafft hat, würde seine kleinbürgerliche Moral austoben und Lebensumstände kritisieren und beschimpfen. Natürlich braucht es Menschen, die im Dienste der Gesellschaft "Bürokratie machen", ohne jeden vorstelligen Bürger in die moralische Mangel zu nehmen. Maul halten, Dienst machen, Gesetze abwickeln. Das hat schon auch seine Vorteile. Aber wo hat das Gesetz aufzuhören und das Gewissen zu beginnen? Kann das Gesetz noch Vorrang haben, wenn man den Menschen in den Hunger schickt, in die Obdachlosigkeit, ihn ohne Krankenversicherung in eine krankmachende Welt?

Die ethische Philosophie hat sich bemüht, zwischen der Notwendigkeit und der Unerträglichkeit zu vermitteln. Heute stirbt die Philosophie, ist eine Nischendisziplin - daher machen wir uns keine Gedanken mehr über Gesetz und Gewissen. Hin und wieder unkt es, dass mehr Gewissen ins Gesetz soll - die christlichen Kirchen können das ganz gut. Aber solange es noch nicht drin ist, soll das gewissenlose Gesetz befolgt werden. Widerstand wird nie empfohlen. Auch hier nur Gürtnerei. Mitmachen, wenn es sich nicht ändern läßt. Staatsdienstbeflissene malochen gewissenlos - es sei nochmals gesagt: sie reichen niemanden an eine Todesmaschinerie weiter. Was aber auch zu optimistisch gesagt ist. Lebt man innerhalb deutscher Grenzen, dann ist man davor sicher - aber was ist mit denen, die aus ihrer Heimat hierher flüchteten, die aber zurückgeschickt werden, auch wenn dort Folter und Tod warten? Die werden tatsächlich gehorsam in den Tod manövriert - Buchstabe für Buchstabe korrekt, weil es das Gesetz so sagt.

Gewissen ist in neoliberalen Zeiten eine gefährliche Angelegenheit. Wenn man zwei Jahrzehnte in Schulung war, dort gezeigt bekam, dass der Druck auf Menschen die gesellschaftliche Konstante sei, die man gar nicht als böse auffassen soll, sondern als aktivierende Kraft, als Anreize verteilende Größe, so schleift sich daran auch das eigene Gewissen. Irgendwann glaubt man, dass der ausgeübte Druck sinnvoll und richtig ist - und er läßt sich plötzlich mit dem eigenen Gewissen vereinbaren. Schlecht ist daran nichts mehr. Er ist schlicht notwendig und eigentlich auch fürsorglich. Er ist die Vereinbarung von Gewissen und Gesetzeskonformität. Wer unter dem Druck zusammenbricht, der hat sich der Fürsorge verweigert - man war doch gewissenhaft, aber es hat nichts genutzt.

Heute gleicht nicht dem Gestern. Aber es ging doch nie darum, das Gewissen aus den Gesetzeslage zu bannen - man wollte doch eh und je, dass die Menschen glauben, sie handelten gewissenhaft, wenn sie sich an das geltende Gesetz halten. Heute ist es der Druck, mit dem man den Mensch belegt, der aber verbrämt wird als heiligen Wächter des Wohlstandes - damals waren es die Ausbünde an Sozialrassismen, die für besonders gewissenhaft gegenüber der Volksgemeinschaft galten. Eichmann war nicht gewissenlos, wie man das oft zu vereinfachend liest. Sein Gewissen war nur anders sozialisiert - nicht an unverbrüchliche Moralinstanzen, nicht an "moralische Gesetze in ihm" gebunden, sondern an die Predigten seiner Zeit. Das moralische Gesetz, Gutes zu wollen, das ist nicht unbedingt genauso anerzogen, wie das Lebens- und Menschenfeindliche. Precht beschreibt das anschaulich - Kropotkin hat es als evolutionäres Prinzip entlarvt.

Im sozialen Wesen, das sich Mensch nennt, ist das Miteinander verankert, nicht nur anerzogen. Wir retten Menschenleben, weil es dem Überleben der menschlichen Rasse dient - so sagt es die Evolution; wir retten Menschenleben, weil wir auch gerettet werden wollten - so sagt es der Utilitarismus. Gute Gründe. Menschen zu töten - welches begründbare Motiv steht dahinter? Man muß sich welche schmieden, erfinden, den Menschen in den Kopf pflanzen - und es zu deren Gewissenslage machen. Dann kann das Gesetz auch Schrecken verbreiten, wenn der am Gesetz arbeitende Staatsbedienstete es als Gewissen anerkennt, dann lebt es sich damit ohne Gewissensbisse.

Mag sein, dass Gürtner nicht nur die fehlende gesetzliche Grundlage störte. Vielleicht war da auch was in ihm, dass das Ermorden von Menschen als Übertreten seiner moralischen Hemmschwelle definierte. Schlimmer als jene, die ihr Gewissen so modifizieren, dass das Töten zu einer gewissenhafte Aufgabe wird, sind solche, die ihr Gewissen unterdrücken und dennoch weitermachen. Der sinnbildliche Gürtner war so einer, bis zu dieser Schwelle. Bald darauf starb er - übrigens eines natürlichen Todes. Genug gibt es heute, die glauben, sie handeln mit reinem Gewissen, wenn sie Drangsal verordnen - genug gibt es, die sich Gewissen verbeißen und trotzdem mitmachen. Was für ein vergeudetes Potenzial, die Gesellschaft doch noch zu verändern...



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