Rückschrittlichkeiten

Montag, 30. Januar 2012

Westliche Beobachter wissen: die arabische Revolution ist so gut wie gescheitert. Der Islamist ist nämlich ihr Profiteur - er landete trotz freier Wahlen im Parlament, erzielt dort gar Mehrheiten. Die annäherndfreiheitlich-demokratieähnliche Grundordnung, die nach der Beseitigung der Despoten ersehnt und im Westen als Patentrezept hochgehalten wurde, scheitert am politischen Islamismus, geben sich nun westliche Experten konsterniert.

Die eurozentristische Arroganz

Selbst Emmanuel Todd, eigentlich unverdächtig dafür, den Mediensprech undurchdacht zu wiederkäuen, läßt sich dazu hinreißen, die Werte des Westens für universell zu erklären. Die arabische Welt ist viel moderner als wir glauben, meint er. Das macht er daran fest: die muslimische Welt will schon seit Jahren die Werte des Westens für sich in Anspruch nehmen - und der arabische Frühling sei als der Befreiungsschlag zu sehen, der diesen Anspruch erfüllen soll. Richtig ist sicherlich schon, dass westliche Werte in die muslimische Welt hineinstrahlen, mit welchem Absolutheitsanspruch man allerdings diesen Umstand mit Modernität in Verbindung bringen kann, bleibt Todd hier als Erklärung schuldig. Wenn selbst Todd so überzeugt ist von der Überlegenheit westlicher Werte, wie kann man dann von Herrn Omnes, vom normalen Bürger, erwarten, dass er dieses Überlegenheitsgefühl zunächst überdenkt?

Das Gefühl der Überlegenheit ist es, mit dem wir auf die arabische Welt nach der Revolution blicken. Für uns sieht es nun so aus, als würde die muslimische Welt nach der Despotie wiederum ein Stück von der angeblich modernen Welt abrücken, weil sie die Islamisten in die politische Verantwortung manövriert. Die lehnen angeblich Individualismus, die Gleichheit der Geschlechter und politische Transparenz ab. Man folgt Leuten, für die Politik religiös und Religion politisch ist. Der Westen ist sicher daher sicher: Rückschritt! Enttäuschung! Mit Mubarak und Ben Ali lehnte man sich wenigstens am Westen an.

Die Denkweise dahinter

Mubarak und Konsorten waren das arabische Aushängeschild des Westens. Fragte man nach westlichen Werten, würde den Menschen dieser Weltregion einiges einfallen: Korruption, Klüngelei, Folter, Geheimpolizei, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Ausbeutung der Ressourcen. Das was der Westen als große Errungenschaften in die Waagschale wirft, ist für die Menschen dort überhaupt nicht fassbar. Sie kennen eine westliche Politik, die Menschenrechte predigt und Lynch-, Rache- und Geopolitik parlamentarisch verabschiedet. Die Muslime erlebten und erleben den Westen als eine Idee - der Westen ist ja tatsächlich Idee, nicht Weltregion oder Kultur im klassischen Sinne -, in der es entweder gar keine oder nur brutale, weil materielle Wertvorstellungen gibt. Als eine paradoxe Idee, die so sagt, aber anders macht. Und sie lernten die westlichen Paradedisziplinen kennen: Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit. Überspitzt könnte man sagen: der arabische Frühling war nicht die Manifestation einer modern nach Westen blickenden muslimischen Welt - es war das Bekenntnis, von Despoten, die im Namen des Westens den Westen hofierten und ins Land holten, endgültig die Schnauze voll zu haben.

Wir haben so wenig von diesem Kulturkreis, der an unserer Peripherie existiert, begriffen, dass wir die Unruhen im arabischen Raum falsch interpretiert haben. Wir meinten, die Moslems wollten westlich oder europäisch werden, sich Ideen bei uns abholen - in Wahrheit ist es das glatte Gegenteil. Es war eine Abkehr von einer Machtelite, die man als durch und durch (pro-)westlich, als im Bunde mit den wutentbrannten Barbaren des Westens, die weder Anstand noch Moral kennen, am eigenen Leib empfand. Die Islamisten - was sind Islamisten denn überhaupt?; was soll der Begriff aussagen? - sind nicht hintertückischen Nutznießer der Revolution, sie sind in gewisser Weise durchaus logisches Resultat. Der Westen hat nun genug Marionetten gespielt...

Der Rückschritt des Westens aus Sicht des Islam

Natürlich fällt es aus westlicher Sicht schwer, Politik und Religion als eine Einheit zu akzeptieren. Wir tun das lediglich, wenn der Dalai Lama spricht - wir revoltieren auch nicht, wenn ein texanischer US-Präsident seine Außenpolitik evangelikal verbrämt. Da haben wir ein dickes Fell. Der Islam jedoch darf sich seine historische Verwebung von religiös untermauerter Politik nicht leisten. Die Säkularisierung sei das Mindeste, was man von der muslimischen Welt fordern könne, ist man sich fast unisono einig. Keine Rede davon, ob das die Menschen dort überhaupt wollen - selbst für den Westen aufgeklärte Muslime, nehmen wir mal Schirin Ebadi, die dem religiösen Fanatismus ihres Heimatlandes entflohen ist, spricht sich nicht für eine Entislamisierung der Politik aus, nur für mehr religiöse Toleranz. Die Säkularisierung des Westens hatte historische Gründe - die müssen für die muslimische Welt nicht zwangsläufig auch auftreten; die Säkularisierung ist keine geschichtliche Notwendigkeit, nur weil sie in den westlichen Industrienationen halbwegs stattfand.

Die politische Gestalt des Islam wird im Westen als rückschrittlich empfunden, weil Religion für westliche Gemüter bedeutet, dass Eiferer am Werk sind. Religion heißt jedoch auch - auch im Falle des Islam! -, ethische Imperative dem pragmatischen Sachzwängen der Politik aufzuzwingen. Das sich der Westen kein ethisches Absolutum bewahrt hat, ganz schlagwortartig hier mal Gottlosigkeit genannt, empfindet die muslimische Welt als rückschrittlich, als archaisches Schauspiel, in dem die menschliche Gesellschaft von allerlei gottlosen, weil unethischen Handlungsweisen, belastet war. Erst die Schaffung eines religiösen Systems hat mehr oder weniger annähernde Ordnung erzeugt. Der Westen hat dieses Ordnungssystem aufgegeben, allerdings ersatzweise keine laizistische Ordnung entworfen. Zwar würde der Westen da widersprechen und auf Verfassungen und verbürgte Rechte zeigen, aber das würde man als Menschenwerk, also nicht für die Ewigkeit bestimmt abtun. Und das was die muslimische Welt vom Westen gezeigt bekam in Sachen Ewigkeitsanspruch und Verbindlichkeit humanitären Denkens, gibt dieser Einschränkung durchaus recht.



11 Kommentare:

potemkin 30. Januar 2012 um 08:24  

Der Westen hat im nahen Osten immer schon das Prinzip 'teile und herrsche' angewandt. Die arabischen Kunststaaten werden ebenso gnadenlos gegeneinander ausgespielt wie die beiden islamischen Religionsrichtungen. Wenn es dem 'rückständigen Islam' gelingen sollte, all diese Gegensätze zu überwinden, hätten die 'westlichen Demokratien' nichts mehr zu sagen...

Anonym 30. Januar 2012 um 08:40  

Herr De Lapuente, vielen Dank für diesen inspirierenden Text. Ganz große Klasse! So etwas liest man in den Mainstream-Medien nicht. Da wird immer nur herumgefaselt, wie toll doch die Demokratie ist. Aber Demokratie heißt theoretisch z.B. auch, das 51% der Bevölkerung die restlichen 49% ausplündern dürfen (Mehrheitsentscheidung), wenn sie es denn beschließen würden. Demokratie wird bei uns im Westen beinahe vergöttlicht. Man lese Hans-Hermann Hoppe ("Demokratie. Der Gott der keiner ist" - sehr anregendes Buch. An meine Kritiker: Aber auch hier gilt, wie bei Blankertz, dass ich nicht alles toll finde, was er schreibt.), um von dieser Krankheit kuriert zu werden. Man kann den Islamisten nur recht geben, die Demokratie ist bei weitem nicht so toll, wie es uns, im Westen, durch Schule und Medien eingebläut wird. Die Demokratie ist eine Art Götze. Da betet sich der Mensch gewissermaßen selbst an.

Anton Reiser

Anonym 30. Januar 2012 um 11:22  

"der arabische Frühling war nicht die Manifestation einer modern nach Westen blickenden muslimischen Welt..."

Diese Menschen wollen keine Demokratie, schon gar nicht nach westlichem Muster. Der Westen will in diesen Ländern Demokratie, denn nur in einer Demokratie kann man durch bewährtes Lobbying die Abhängigkeiten und Verschuldung in die Höhe treiben und plutokratische Strukturen vorantreiben.

der Herr Karl

Anonym 30. Januar 2012 um 12:44  

genau so habe ich die arabische revolution erkannt.

Anonym 30. Januar 2012 um 14:19  

„Die Säkularisierung ist keine geschichtliche Notwendigkeit, nur weil sie in den westlichen Industrienationen halbwegs stattfand“ – wer Derartiges behauptet, sticht gerade in akademischen Kreisen in ein veritables Wespennest, handelt sich doch vermeintlich um das Essential wissenschaftlicher und damit allein vernünftiger Weltsicht.

Dass diese nur halbwegs stattfand, wie sich etwa anhand Max Webers (durchaus in die Sozialwissenschaft eingemeindeten) protestantischen Ethik als Geist des Kapitalismus zeigen lässt, wird genauso durch Sprachlosigkeit überspielt, wie „wenn ein texanischer US-Präsident seine Außenpolitik evangelikal verbrämt“ und damit die behauptete Säkularisierung ad absurdum führt.

Im Gegenteil: Die unbedingte, d.h. durch keine Empirie irritierbare (rechts-)hegelianische Überzeugung, die Menschheitsentwicklung sei objektiv in der säkularen Gesellschaft kulminiert (bei Hegel noch konkret in Preussen, heute aufgrund der „transatlantischen Freundschaft und Zusammenarbeit“ in den USA) wird als unabdingbare Grundlegung vernünftigen Denkens a priori unerbittlich verteidigt.

Gegen solche Illusionen anzurennen ist für autochthone Bewohner ein erfahrungsgemäss aussichtsloses und deprimierendes Unterfangen, zumal der bestimmte Dissens kausale Ursache für das Verbleiben am unteren Ende bzw. kompletten Ausschluss aus der Machthierarchie ist. Vielleicht ist die „arabische Revolution“ aber gerade nicht gescheitert, weil dieser simple Ausschlussmechanismus dort nicht funktioniert, vielleicht könnte sogar das sogenannte Abendland irgendwann erneut auf die Höhe der Zeit gehoben werden, wie damals, als unsere autochthonen Vorfahren von der allochthonen arabischen Null überrollt wurden und so überraschend das Rechnen lernten. Es wäre längst nicht das erste Mal, dass wir nordeuropäischen Rüpel die transmediterrane Freundschaft und Zusammenarbeit von Null auf neu erlernt gehabt hätten…

Anonym 30. Januar 2012 um 15:20  

Das westliche Demokratie- und Menschenrechtsgeseiere ist unerträglich. Der Westen ist heulerisch und verlogen bis ins Mark (siehe Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen"). Man bekommt das Kotzen.
Tatsächlich geht es dem Westen um Öl, Macht und strategische Positionen für den "Kampf um Armageddon" (Entscheidungsschlacht am Ende aller Tage gegen Rußland und China - viele US-"Christen" glauben tatsächlich an diese Scheiße! - es könnte eine satanische "Selffulfilling Prophecy" werden). Zunächst wurden Irak und Afghanisten dämonisiert, dann Libyen, nun Syrien und Iran. Es läuft immer nach dem selben Muster ab. Diese herrschende Klicke ist völlig phantasielos. Phantasie braucht sie auch nicht zu haben, da die durch RTL & Co. dumm-blöd gemachte Masse, ohnehin jede Scheiß-NATO-Lüge schluckt.
Warum der Hass auf den Islam? Ich denke, dass das auch mit der UMMA und den Familienzusammenhalt (den ich keinesfalls in den Himmel heben will. Da gibt es auch genug Tragödien - "Ehrenmorde") und dem Zinsverbot (auch wenn das durch Tricks umgangen wird) zu tun hat. Das Kapital will sich den Islam gefügig machen. Dazu benötigt man natürlich die Propagierung eines hemmungslosen Individualismus, so dass am Ende jedes einzelne Individuum dem anonymen Markt gegenübersteht.

Hier etwas über die Lage in Libyen:
http://www.ef-magazin.de/2012/01/30/3392-libyen-folter-und-mord
Die Mainstream-Hetzer können natürlich jetzt nichts mehr über Libyen berichten, da sie mit der Kriegshetze gegen Syrien und Iran beschäftigt sind.

Anton Reiser

Anonym 30. Januar 2012 um 15:50  

@Anonym 30. Januar 2012 14:19

Sehr interessanter Kommentar (nur eine kleine Ergänzung: Die NULL-SUNYATA haben die Inder "erfunden" - die Araber "nur" nach Europa gebracht. Ein Europa das mit den römischen Zahlen "rechnen" musste - auf Befehl der katholischen Kirche. Die Null war des Teufels! Erst mit Adam RIESE setzte sich das Rechnen mit den arabischen/indischen Zahlen durch.).
Vorschlag:
HEGELs "Aufhebung" des "säkularen" (was ist mit Gott MAMMON?) Kapitalismus:
These: westlicher, dekadenter (d.h. "Nach mir die Sintflut"-Denken) Kapitalismus
Anti-These: autokratische Islam eines Mubarak
Synthese: Kapitalismus mit kleinen Gemeinschaften auf lokaler Ebene. Dazu ein metaphysischer Überbau (Allah, Nirwana, Gott-Vater usw.). Gott MAMMON ist entthront.

Anton Reiser

flavo 30. Januar 2012 um 16:06  

Trotz allem gibt es eine große Homologie zwischen Westen und Islam: die Männerherrschaft.
Das ist das Dritte, das auch hier fehlt und man kann sie die ganze Welt vorstellen, wie sie sich um den Pol Geschlecht organisiert und ihn ihn maskulinen Schaumblasen verhüllt und über Markt und Religion schwadroniert.
Die Männerherrschaft oder Frauenbeherrschung ist im Islam weit gediegen, nicht weniger weit als im Westen und zweifellos wirken hier noch zahlreiche korporale Reaktionen, die die Frau aus ihrem Körper heraus in die Knie zwingen und der Vergötzung des Kalifenpenis anheimfallen lassen. Despotismus und Patriarachat sind die homologen Herrschaften par excellance. Der Minkalif alias Vater kann im Familienheim mit voller Lust disziplinieren, er kann raunzen, schnauzen, knurren, schimpfen, schlagen, wichsen, verachten, zwingen, knebeln, loben, tolerieren, einsperren, befehlen, lachen und dergleichen Tätigkeiten. Das beherrschte Weib vollzieht die Passiva dieser Aktiva. In der Öffentlichkeit muss der Miniklaif in Konkurrenz treten mit anderen Minikalifen, manche Solokalifen übertrumpft er vielleicht, weil sie kein Familiencamp zum trainieren haben. Der Kalif, der Beherrscher, der Despot steht höher und übertrumpft die Masse an Minikalifen, die ihm die ganzen Passiva vollziehen, die sonst von den Frauen vor den Minikalifen vollzogen werden.
Diese patriarchophile Welt rankt sich in Konglomerate mit dem Westen ohne gröbere Interferenzen. Auch hier, von der anderen Seite, tanzen maskuline Schlipsträger, Rechtshänger-CEOs und technische Gehilfen, die ihre Steuerungsfähigkeit in der Familien nicht mehr unumbunden operieren können, aber noch immer genug, damit diese Kompetenz nicht verloren geht. Das Heraustreiben der Existenz in ihre Effekte folgt hier dem Gewinnstreben, etwas, was der Minikalif auch kennt im Besorgen des Unterhaltes für sein Häusliches Kalifat. Hier wie dort gibts die Gran Madames, CEO- oder Kalifatsweiber, die ihre Hobbys als autonome Tätigkeiten zur allgemeinen Entwicklung der Unabhängigkeit der Frauen betreiben. What else? Der Kalif ist nicht anders als der CEO auf seine Wirkung in der Öffentlichkeit bedacht. Beide würden schonungslos Gewinne auspressen, hier wie dort ist es das träge Volk oder Teile des Volkes, die an Wertvorstellungen hängen und wenn schon nicht aufmüpfig, so doch unruhig und stichelnd werden. Das Risiko der vollen Gewinnschöpfung ist manchmal zu hoch. Der CEo ist dem Kalif hier sicher hinterher hinkend. Die druchgreifenden zentralistischen Kompetenzen hat er nicht. Aber man versteht sich. Am Abend wird den Weibern gefröhnt, zur Entspannung, auch mit der Hand, werden perverse Geschichten erzählt und wird von neuen Geldquellen phantasiert. Gesoffen und gepudert, um am nächsten Tag sich der größenwahnsinnigen Ding- und Menschensteuerung zu widmen. Mehr Masse, mehr Menschen, größere Steuerungsräume, größere Zahlen, höhere Häuser. Und ewig das Weib als Anhängsel.

Systemfrager 30. Januar 2012 um 19:43  

>>> Die Säkularisierung des Westens hatte historische Gründe - die müssen für die muslimische Welt nicht zwangsläufig auch auftreten; die Säkularisierung ist keine geschichtliche Notwendigkeit, nur weil sie in den westlichen Industrienationen halbwegs stattfand.

So ist es:
Der Dreißigjährige Krieg als die Bruchstelle der zivilisatorischen Entwicklung
http://www.forum-systemfrage.de/Aufbau/ba/30k/ba30k.php?df_name=baDF30&tbch=ba&schp=fruelib&ordner=30k

Anonym 31. Januar 2012 um 10:27  

Hier ist Kultur im Ansinnen der gefragten Revolution, von Science Teheran und mir, Morgen Wurde:
http://soundcloud.com/morgenwurde/kodak-to-graph-he-basement

Anonym 2. Februar 2012 um 11:31  

Tribalistisch organisierte, ethnisch zerklüftete und religiös fixierte Gesellschaften müssen - wie jede andere Gesellschaft auch - sich selbst überlassen werden. Wenn etwas dann doch einmal _alternativlos_ ist, dann dies.

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