De dicto

Donnerstag, 26. Januar 2012

"Diese Zahl ist eine Schande! An manchen Bundeswehrstandorten, so der Bericht des Wehrbeauftragten, gehen 80 bis 90 Prozent der Soldatenehen in die Brüche.
(...)
Doch noch immer werden sie wie Schachfiguren alle Jahre an einen neuen Standort verschoben – das hält kaum eine Beziehung aus."

- Julian Reichelt, BILD-Zeitung vom 24. Januar 2012 -
Zum Gesagten sei angemerkt: Denkt an unsere Soldaten!, schreit der Reichelt. Er ist der richtige Mann dafür, denn er hat sich mit dem Heer verbrüdert, war mit ihm im Kriegsgebiet unterwegs. Live von der Front - das übliche Gewäsch von braven Soldaten Müller und Huber, der seinen Dienst tut, der die Wilden zähmt und dafür keine ausreichende Anerkennung in der Heimat und vor der Geschichte erhält. Warum nur mag keiner die Helden aus Stahlgewittern schätzen, fragte damals Jünger - und der Jünger des Jünger, der boulevardeske Kriegsjünger Reichelt, tat es ihm weniger sprachbegabt gleich.

Wer mitfühlt, wie sie in Stellungen frieren und an sich Heimweh quälen, der fühlt auch mit, wenn die Soldaten im ehelichen Grabenkrieg Entbehrungen ertragen müssen. Dolle Scheidungsraten! Denkt an unsere Soldaten! Soldatenbräute, lauft doch nicht weg! Schuld daran, so weiß Reichelt und der Wehrbeauftragte, sind die Arbeitsbedingungen, der andauernde Wechsel der Standorte, das Vagabundendasein. Die Erklärung ist so einfach - und so harmlos. Kann es denn aber nicht sein, dass diese Gesellschaft, die Krieg führt, die also zwangsläufig Kriegsveteranen züchtet, ganz einfach mit den Folgen dieses Umstandes zu kämpfen hat? Traumatische Erlebnisse mancher Veteranen aus anderen Kriegen haben Ehen zerstört, Elternschaft zerlegt, Lebensordnungen über den Haufen geworfen. Veteranen, die den Krieg gesehen haben, die taugen nicht mehr für den Alltag. Dass die Selbstmordrate bei Bundeswehrsoldaten, die irgendwo Krieg miterlebt hatten, nicht besonders niedrig liegt, konnte man phasenweise der Presse entnehmen. Warum soll also die hohe Scheidungsrate nicht auch darauf zurückzuführen sein?

Trennungsgründe sind mannigfaltig. Es kann das Vagabundenleben sein - aber auch: der schlechte oder gar nicht mehr stattfindende Sex - es kann Entliebung sein - ein neue Liebe, die nicht mehr als Affäre gesehen, sondern offiziell gemacht werden soll - oder einfach nur Selbstverwirklichung. Aber sollte eine Kriegsgesellschaft nicht auch die Option offenlassen, dass einige dieser Ehen auch Opfer der erlittenen Kriegsgräuel sind? Verwunderlich wäre das nicht - verwunderlich ist auch nicht, warum man das offenbar harmlose Motiv der Umzugsunlust vorschiebt. Das sind nämliche private Probleme - das Trauma einer Bevölkerungsgruppe ist hingegen von öffentlichen Interesse, das die Außenpolitik hinterfragt. Auch eine Form von Privatisierung! Nicht dass es letztlich heißt: Denkt an unsere Soldaten! Schickt sie nicht mehr in den Krieg! Das wäre Fatal, das kostete Reichelt seine Frontstellung und dem Wehretat Kürzungen.



12 Kommentare:

klaus baum 26. Januar 2012 um 09:27  

Wenn man die Probleme auf Standortwechsel fokusiert, gerät man in Widerspruch zum neoliberalen Paradigma der Flexibilität der Arbeiter und Angestellten. Warum kritisiert BILD nicht dieses Paradigma des Kapitals, ein flüchtiges Reh zu sein.

Ich kenne eine amerikanische Familie, in der die Ehe ebenfalls belastet war durch die Teilnahme des Ehemannes am Irak-Krieg 1991.

Es ist schon sehr merkwürdig, dass die Gräuel des Krieges, die ein Soldat erlebt, keine Rolle spielen sollen.

Anonym 26. Januar 2012 um 09:28  

Vielleicht nicht unmittelbar auf diese (eine weitere) perfide Masche unserer Medien bezogen, aber ich sah neulich einen Spruch auf einem T-Shirt, der mir dazu gerade wieder einmal in den Sinn kam:

"All I got from the Science Fiction books of my youth is this lousy dystopian government."

Wünsche - trotzdem - einen schönen Tag!

Diana

Anonym 26. Januar 2012 um 09:34  

Ich habe kein Mitleid mit posttraumatisierten und geschiedenen bzw. getrennt lebenden Soldaten der BW. Es unterstützt nur einen gewissen Heldenmythos. Die Alternative zur Vermeidung derartiger Ereignisse lautet: Einen anständigen Beruf wählen.

ad sinistram 26. Januar 2012 um 10:17  

@ anonym von 9:34 Uhr:

Aber mit "Hätten" oder "Hätten sollen" hilft man diesen Menschen nicht. Sie sind nun mal traumatisiert und benötigen Hilfe, nicht Vertuschung.

pillo 26. Januar 2012 um 10:53  

Für viele "normale" Arbeiter und Angestellte ist es in unserer "schönen, neuen Arbeitswelt" mittlerweile die Regel, der Arbeit hinterherziehen zu müssen bzw. beständig zu pendeln.

Für einen nicht unerheblichen Teil der auf dem Bau beschäftigten ist ein "Leben auf Montage" der Normalfall. Hat mit denen irgendjemand Mitleid, wenn deren 'Wochenendehe' in die Brüche geht?
Wer in der Gastronomie, im Krankenhaus, bei der Bahn oder der Polizei arbeitet, hat nicht selten Dienst zu den unmöglichsten Uhrzeiten. Gibt es da irgendeinen medialen Aufschrei, wenn hier Beziehungen reihenweise den Bach runter gehen?

Nein, von Bild wird nur einmal mehr auf die Tränendrüse gedrückt und um Mitleid für "unsere armen Jungs" gebuhlt. Dabei wird, wie von Dir schon richtig bennant, ein ganz entscheidender Punkt außen vor gelassen. Natürlich nicht aufgrund der Vergesslichkeit des Herrn Reichelt, sondern weil der Hinweis auf die Traumata der Heimkehrer unangenehme Fragen aufwerfen würde. Diese sind für die Bevölkerung hierzulande (neben den Särgen) oftmals der einzige Aspekt, an dem sichtbar wird, dass Deutschland Krieg führt. Die durch "unsere Jungs" angerichteten Zerstörungen, die Toden, Verwundeten und kaputten Seelen unter den Einheimischen sind ja 'zum Glück' weit weg.

Wer weiß, wie viele Ehen nach dem 2. Weltkrieg zerbrochen wären, hätten nicht die damals noch vorherrschenden Konventionen eine Scheidung für die meisten faktisch unmöglich gemacht.

Stephan 26. Januar 2012 um 13:13  

wer will schon auf Dauer mit einem staatlichen Berufskiller verheiratet sein. der stäündig auf der Flucht ist?

klaus baum 26. Januar 2012 um 13:29  

ich möchte dem beitrag von pillo eine bemerkung hinterherschicken: genau so ist es.

Anonym 26. Januar 2012 um 16:01  

"...Entliebung..."
Entliebung?
Werd' ich gleich mal an die Stilstand-Seite weiterreichen.

-Jeeves

Bademeister 26. Januar 2012 um 16:44  

"Die Alternative zur Vermeidung derartiger Ereignisse lautet: Einen anständigen Beruf wählen."

Damit machst Du es mir meines Erachtens zu einfach. Wieso, denkst Du, sind 50 % der Soldaten im Kampfeinsatz Ostdeutsche, obwohl Ostdeutschland nur 16 % der Gesamtbevölkerung stellt? Demnach sind Ostdeutsche drei Mal so häufig im Dienst an der Waffe tätig als Westdeutsche.

Hauptsächlich wird das Berufssoldatentum gewählt, weil die Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt miserabel sind. Nicht jeder will für 6 Euro im Supermarkt schuften und die Bundeswehr bietet Aufstiegsmöglichkeiten (z.B. ein vom Staat finanziertes Studium) welche die meisten dieser jungen Männer sonst einfach nicht haben.

Kein Land mit großer, imperialistisch eingesetzter Berufsarmee kann Selbige Heute ohne eine Massenarmut der unteren Bevölkerungsschichten aufrecht erhalten.

Die USA sind dafür das beste Beispiel. Es sind nicht die Söhne der schwerreichen Kriegsfalken die in der Wüste verbluten, sondern bettelarme Schwarze und Latinos sowie der "White Trash" desolater ländlicher Gebiete die keine andere Chance auf eine anständige Ausbildung und Krankenversicherung haben.

Das "Wählen" eines "anständigen Berufs" setzt eben voraus dass ein Jeder die WAHL auch hat - eine echte Wahlfreiheit impliziert aber auch die ökonomische Freiheit dazu - und die haben immer weniger junge Menschen.

mann_von_nebenan 27. Januar 2012 um 08:38  

@Bademeister,
treffend analysiert!
Und nicht einmal das Schuften im Niedriglohnsektor steht oft zur Disposition, sondern Vergammeln und Verdorren im H-IV-Bezug, bei Jobcenterschikanen und Sinnlosmaßnahmen. Wenn da heißblütige junge Menschen irgendwann den Kaffee auf haben
und lieber das Risiko eingehen,
traumatisiert und verkrüppelt auf der Strecke zu bleiben - das mag nicht gescheit sein, aber verständlich ist es allemal.
Was uns jedoch vor Augen führt, wie dringend wir eine Gesellschaft brauchen, bei der jeder die WAHL hat.

landbewohner 29. Januar 2012 um 12:08  

sicherlich ist es von übel, wenn die einzige alternative zum hartz-dasein ein job als killer in afghanistan übrig bleibt. aber nun diese tatsache als entschuldigung für die aktive teilnahme an einem unsinnigen bzw gar verbrecherischen krieg zu sehen, enthebt diese "armen" auch ihrer verantwortung. mit dem argument "meine kinder wollen essen" oder "ich hatte ja keine wahl" haben sich schon einmal tausende von ihrer schuld befreien wollen bzw dieses sogar getan.

mann_von_nebenan 29. Januar 2012 um 14:07  

Äh @landbewohner,
jetzt schnell mal runter vom
hohen Ross! Informieren Sie sich mal lieber über
a) den Druck, den ARGEN/JobCenter auf ihre U25-Klientele ausüben und b) die zunehmende Präsenz der BW an Schulen. Klingt jetzt brutal: für viele der jungen Betroffenen ist eine (potentielle) Existenz als >>Killer in Afghanistan<< eine der wenigen Optionen zum Milieuwechsel.
Und es handelt sich um junge Menschen: da hat oft Lebenserfahrung einen geringereren
Einfluß auf Entscheidungen als Hormoneinflüsse, Wut, Frust etc. denen man als sich als underdog unseres Systems unvermittelt ausgesetzt sieht.
Naserümpfende bildungsbürgerliche Arroganz ist da fehl am Platz; gefragt ist die Mitarbeit an einer Gesellschaft, wo für jeden wirklich eine WAHL existiert.

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