Wenn schon, dann eine konsequente Frauenquote

Mittwoch, 30. November 2011

Die Frauenquote sei "ein Big Bang", findet Managerin Margaret Haase. Sie sei notwendig, weil Deutschland in dieser Frage "einen solchen Rückstand zu anderen Ländern" habe, dass man nun endlich reagieren müsse. Tatsächlich sind Frauen in den Vorständen der DAX-Unternehmen völlig unterrepräsentiert. Wobei das Wörtchen Repräsentieren Quatsch ist, denn dort werden nicht Geschlechter repräsentiert, sondern das dicke Kapital - und das ist tatsächlich so lange geschlechterblind, wie es Profite gibt.

Haase hat jedoch recht. Die Frauenquote wäre womöglich ein Lösungsansatz, um mehr Gleichheit zu schaffen. Was in deutschen Vorständen geschieht, erleben viel stärker noch die Maurer, Anlagenbauer oder Lackierer. Dort sind fast keine Frauen zu finden. Hartnäckig weigert sich die Männerwelt, diese dampfige, schweißmiefige Welt für Frauen zu öffnen. Harter körperlicher Fron, das soll immer noch Männerdomäne sein. Rückständig könnte man das nennen.

Jeder vierte Unternehmer oder Geschäftsführer ist eine Frau. Jeder fünfhundertste Maler ist weiblich. Die Frauenquote ist aber das Pläsier derer, die das Frauliche in verantwortungsvoller Position mehren wollen. Frauenquote für Maurer: davon hat man bislang wenig gelesen. Ob Haase wohl auch dort ansetzen würde mit ihrer Forderung? Frauen können alles so gut wie Männer. Daran kann man gar nicht zweifeln. Das stimmt zwar nicht ganz, weil es verknappt, denn Frauen können alles so gut und so schlecht wie Männer - aber als Wahrheit darf man das schon mal durchgehen lassen. Warum sollten sie nicht so gut maurern können? Oder lackieren? Her mit der Frauenquote auch dort, damit sich die weiblichen Stärken auch dort entfalten können.

Die Frauenquote gilt als dringend notwendig - allerdings nur in höheren gesellschaftlichen Regionen. Sie ist somit überhaupt kein frauenbewegter Wunsch, sondern eine aus der upper class stammende Forderung, ein damenbewegtes Ansinnen. Die Spielwiese gesellschaftlich gutsituierter Damen. Keine Begehr im Dienste der Frau. Wo schweißtreibend und mit Raubbau an der Gesundheit geschuftet wird, da liest man nichts von Quotierungen. Wo es angenehm ist, wo gut vergütet wird, da bittesehr Gleichheit herbeiquotieren. Drecksarbeit braucht keine Quoten. Die will doch keiner freiwillig machen. Wir müssen doch froh sein, wenn sie überhaupt jemand macht, daher braucht es dort Geschlechterblindheit.

Es wurde viel über Sinn und Unsinn der Frauenquote erzählt. Dass sie aber explizit ein Wunschtraum für sozial bessergestellte Positionen ist, wird dabei leider selten erwähnt. Das wäre dann nämlich eine Neiddebatte, mit der man die Frauenbewegtheit spaltete. Denn die Koalition der Eierstöcke... Stichwort: Merkel wählen, weil sie eine Frau ist - weil sie biologisch ausgestattet ist, wie die Wählerin selbst, worüber man aber die politischen Inhalte ignoriert... diese Koalition also, die gegen die vermeintliche Männerstellung anrennt, sie bindet alle an die Idee des Weiblichen. Alle Frauen sind hierbei gleich. Ob nun arm oder reich - ob nun aus dem gesellschaftlichen Morast oder aus dem Schoss einer Akademikerfamilie. Die Frauenquote für Führungspositionen wird als eine Frage aller Frauen definiert - profitieren würden dabei aber die Frauen, die überhaupt erst für eine solche Position in Betracht kämen. Was aber haben diverse weibliche Teilzeitkräfte von einer solchen Quote?

Haase definiert hier lediglich die Doppelmoral der Damenbewegtheit. Sie macht sich zum Sprachrohr höherer Frauen, die ihre Interessen als Interessen aller Frauen ausgeben. Für Quotierung in Berufen, in denen weder Geld noch Ruhm zu holen ist, haben sie kein Auge. Dort nehmen sie es mit der Gleichheit nicht so genau...




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Meinsmeinsmeins!

Dienstag, 29. November 2011

In Frankfurt geht man ins MyZeil. Bei MeinWeltbild bestellt man sich MySims. Via MyDays bucht man sich Erlebnisgeschenke. Bei MyVideos begafft man Millionen Kurzfilme. Meinsmeinsmeins... die Konsumwelten verinnerlichen die Egomanie nun vermehrt auch im Produktnamen. Wie Pilze schießen MyKaufhäuser und MeinKataloge aus dem fruchtbaren Boden des Reibachs. Sie sättigen sich nicht am Kunden, sie versprechen ihm, er gehöre zum Produkt, wie das Produkt ihm gehöre.

Genosse Kunde

Der Konsument wird sprichwörtlich zum Teilhaber gemacht. Das Produkt oder die Stätte des fortwährenden Glücks, der Konsumtempel letztlich, ausgestattet mit dem Possessivpronomen, es erklärt dem Kunden: hier bist du nicht nur Kunde, die bezahlende Inanspruchnahme eines Gutes, hier bist du nicht nur uns finanzierender Gast - hier gehörst du dazu. Ganz gezielt installiert man das Meinsmeinsmeins in das Produkt oder die dazugehörige Vertriebsstätte. Der Kunde soll nicht glauben, er gehe in das Einkaufszentrum, um dort zu bezahlen und zu verwerten: er soll meinen, seinen eigenen Glückstempel zu betreten.

Die neue Konsumlandschaft ist eine vermeintliche Genossenschaft. Es gibt keine wie auch immer geartete Hierarchie - jedenfalls keine, die sofort augenfällig werden könnte. Der Konsument wird teilhabender Genosse. Man suggeriert ihm, er sei Mitglied der großen Konsumgemeinde, die sich in Kathedralen trifft, die mit der Silbe My begrifflich eingeleitet werden. In solchen Häusern ist man nicht mehr nur Kunde, man besucht einen Ort, von dem man sagt, er gehöre einem irgendwie, zwar nicht genau definiert, aber trotzdem. Er ist der Sozius des Konsumtempels, der Gesellschafter von Kaufhäusern. Ihm wird klar, dass alles nur geschieht, weil er ist. Seine Persönlichkeit ist Basis und sein Konsumverhalten wird zu seiner Persönlichkeit.

Bruder Kunde

Der in das Handelsgut eingeknüpfte Possessivbegleiter, er verbrüderlicht die Geschäftspartner. Er berieselt den Kunden, will ihm klarmachen, dass es Vertragsverhältnisse - und jeder Einkauf ist nicht mehr als das - nur pro forma gibt. In HisZeil und SeinWeltbild scheint die Fraternisierung alle verteilten Rollen zu sprengen. Dort Händler, da Kunde - beide mit Interessen: das wird durch Meinsmeinsmeins aufgehoben. Verschwistert sind sie plötzlich. Sie treffen sich im My und Mein und dort schlagen die Interessen im Gleichklang. Jedenfalls soll es das besitzanzeigende Fürwort so aussehen lassen.

Die Lebenswelt des Individuums, das zuweilen auch Kunde war, soll abgelöst werden durch eine Lebenswelt, in der der Kunde nur noch zuweilen und selten Individuum ist. Er soll in seiner Kaufwelt, in HisZeil und SeinWeltbild aufgehen, dort durch das Warenangebot lustwandeln - wie durch den heimischen Garten, sich fühlen, wie im heimischen Wohnzimmer. Kunde in Dauerschleife. Der Ort, an den man früher ging, um schnell Besorgungen zu machen, er soll zur persönlichen Oase werden; der Wälzer, aus dem man einst Waren auswählte, er soll nun eine eigene abgeschlossene privatim wirkende Welt werden. Hierzu die Namenswahl, hierzu das Possessivpronomen. Wenn der Kunde oft genug Meinsmeinsmeins! gesagt hat, wird das Gesagte irgendwann auch zu seiner Lebenswirklichkeit.



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Ridendo dicere verum

Montag, 28. November 2011

"Der Philosoph, ein kluger Mann,
Faßt nur von vorn Probleme an,
Und was er hat vorausgesetzt,
Wird so lang hin und her gehetzt,
Wird deduziert, formalisiert,
Analysiert und kritisiert,
Bis er wirklich das bekommt,
Was ihm so gerade frommt,
Bis er endlich das bewiesen,
Was vorausgesetzt gewesen."
- Hans Lenk -

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Erst wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter

Freitag, 25. November 2011

Es soll Leute geben, und jeder von uns kennt wohl solche Leute, die der festen Überzeugung sind, dass erst dann gesellschaftliche Veränderung vollzogen werden kann, wenn es möglichst vielen Menschen, denen es jetzt noch gut oder wenigstens nicht ungut geht, schlechter, viel schlechter ginge. Die Not, so wollen sie damit zum Ausdruck bringen, verschmelze die Menschen und mache sie zu einer revolutionären Masse. Je schlimmer das Elend, desto fester zieht man an einem Strang. Der Kummer und die Verzweiflung als Schmiede der Harmonie. So eine romantische Vorstellung! Und wohl so eine falsche Vorstellung.

Wenn es allen schlechter geht, dann kommt das große Umdenken, dann gehen die Menschen auf die Straße. Das klingt schlüssig und irgendwie tröstend, denn wann es allen endlich schlechter geht, weiß man ja nicht ganz genau. Dieses Szenario gleicht insofern den Beteuerungen alter Sozialisten, die sich im wilhelminischen Deutschland oder dem Frankreich der Dritten Republik niederließen und auf die Revolution verwiesen, die dann bald kommen möge und derentwegen man nun ein wenig bürgerlich tat, Mandate annahm und es sich im Parlamentarismus gemütlich machte. So wie die Revolution ein Irrtum war, weil sie vom institutionalisierten Sozialismus gar nicht real, sondern nur als Wunschbild erbeten wurde, so ist auch die Annahme, es würde alles besser, wenn es allen schlechter ginge, eine fatale Fehleinschätzung.

Wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter. Das ist die einfache Wahrheit, die sich hinter solchen Parolen verbirgt. Die Hoffnung auf massenweise Verschlechterung der Lebensumstände, sie ist nur eine Scheinhoffnung. In Wirklichkeit ist sie eine Tautologie des Elends. Wenn es allen schlechter geht, geht es allen schlechter, geht es allen schlechter. Eine Gesellschaft, in die die Not einbricht, wird nicht von gefühlvollen, mitfühlenden Einzelnen geprägt. In so einer Gesellschaft ist man sich schnell selbst der Nächste. Da regiert Hunger - da dominieren eigene Sorgen - da amtieren Rechnungen, die man nicht bezahlen kann - da herrscht Existenzangst - da gebieten die Erwartungen, um die man betrogen wurde. Manchmal blitzt freilich auch Mitmenschlichkeit auf - aber die ist keine Konstante, nicht die unsichtbare Hand des Elends. Sie schimmert trotzdem manchmal durch, ist ein Dennoch, kein Deswegen. Jedenfalls ist sie seltener Gast an Tafeln, die üppig mit Leere gedeckt sind.

Jorge Semprún beschreibt in "Die große Reise" seine Gefangenschaft. Als Widerstandskämpfer in Frankreich wurde er von den Nazis inhaftiert und im Gefängnis waren sie alle ins Elend gestoßen. Da gab es Widerständler und solche, die für Dissidenten gehalten wurden, aus allen gesellschaftlichen Schichten. Und da gab es einen Mann, der Ramaillet hieß. Während Semprún nur die dünne Suppe löffelte, die die Gefängnisküche täglich ausgab, erhielt dieser Ramaillet stets feine Fresspakete von der Außenwelt. Wenigstens hatte er in der Not zu fressen. Aber teilen wollte er nicht, denn das wäre ungerecht, meinte Ramaillet, wenn man sein Fresspaket unter drei Männern - es war noch ein dritter Mann in die Zelle gestoßen worden - aufteilte. Denn Semprún erhielt ja gar nichts, würde sich aber an ihm, an seinen Paketen schadlos halten, obwohl er nichts für die Allgemeinheit tut.

Da ging es allen schlechter als vorher - und die Folge? Nichts Neues, denn es zog nicht Harmonie und Zusammenhalt ein, nicht mal Solidarität im Geiste, denn Ramaillet gab die Schuld seiner Haft solchen Leuten wie Semprún, sie hätten ihn, den unbescholtenen Bürger, das Leben versaut; was sich einstellte war Egoismus, Gier, Gleichgültigkeit. Da ging es allen schlechter als vorher, nur damit es nachher allen schlechter als vorher ging. Gleicht das nicht dem, was man so liest, wie das Leben unter Obdachlosen wütet? Die bestehlen sich, die belauern sich. Das kann man ihnen nicht mal ankreiden. Wer nichts hat, der will sich auch das Nichts des Habenichts' aneignen, der neben ihm in Einkaufspassagen nächtigt. Nichts und Nichts, vielleicht gibt das was! Wie Minus und Minus ja gleichfalls Plus ergibt! Aber am Ende gesellt sich zur Armut auch noch Angst, Angst um die eigene spärliche Habe, Angst vor demjenigen, der im gleichen lecken Boot hockt, wie man selbst. Armut für alle ist keine Erlösung, es ist Lähmung und Misstrauen.

Einwände könnten nun sein, dass in französischen Gefängnissen unter deutscher Führung oder unter Obdachlosen, Sonderkonditionen gelten. Das seien Extremerfahrungen und das Elend, es sei ja nur das Elend einer Gruppe, einer Gesellschaftsschicht alleine, nicht das Elend der Gesellschaft schlechthin oder der Mittelschicht, die stückchenweise in die Not hinabrutscht. Aber dieser Einwand greift zu kurz, denn es kentert niemals eine Gesellschaft oder eine ganze Schicht vom Ausmaß der Mitte, in die Armut oder ins Elend. Es sind immer einzelne unterprivilegierte Gruppen und Schichten, die diesen schweren Gang antreten. Wer heute meint, dass wenn es allen schlechter geht, gehe es bald wieder bergauf, der meint gar nicht Alle. Der meint einige, diejenigen, die gerade noch ein anständiges Leben führen können. Die können doch ernsthaft nicht den Typen meinen, der seit Jahren fünfstellig verdient und fünfstellig lebt. Selbst wenn es so einem mal etwas schlechter geht, dann geht es ihm noch gut. In solchen gesellschaftlichen Sphären stimmt die Losung halbwegs. Zwar geht es nicht bergauf, wenn es denen alle schlechter ginge, aber es geht immerhin nicht bergab. Zu viel Substanz. Zu viel Rücklagen. Zu viel Beziehungen, um aus dem Sumpf, der gar kein Sumpf, sondern eine drei Millimeter tiefe Pfütze ist, zu entsteigen.

Und was ist das überhaupt für eine Parole, ja für ein Weltbild, das die Not vieler vieler Menschen bevorzugt, um irgendwann einmal Resultate zu zeitigen? Wenn soziale Errungenschaften abgebaut werden, womit es vielen Leuten existenziell an den Kragen ginge, dann stößt diese Prekarisierung vielleicht Unmut an. Nur abgebaute soziale Errungenschaften werden wohl kaum erneut von denen wiedererweckt, die sie abbauten. Und selbst wenn, was hat denn der Fünfzigjährige davon, der plötzlich keinen Kündigungsschutz mehr hatte, wenn nach seiner Entlassung der Kündigungsschutz wieder eingesetzt würde? Wird alles besser, wenn es allen schlechter geht? Gerechtigkeit schaffen durch zunächst entstandene Ungerechtigkeit? Als List der Vernunft, wie Hegel seinen Trick nannte, nachdem er erkannte, dass die Welt kein fortwährender Prozess der Verbesserung, des Fortschritts ist?

Wenn es allen erstmal schlechter geht, und das wäre die eigentliche Einsicht, zu der man gelangen sollte, dann ist es zu spät. Wen man die Butter vom Brot stahl, der kämpft in der Regel nicht mehr dafür, nochmal ein Stückchen Butter zu bekommen - er kämpft darum, seinen Kanten Brot nicht auch noch abtreten zu müssen.



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Alle Verantwortung der NPD?

Donnerstag, 24. November 2011

Jetzt wird die NPD fokussiert. Und flugs ist die Problematik, wie rechte Gewaltbereitschaft entsteht, wer sie herbeizündelte, schon wieder vom Tisch. Sie wird in die Nische des Extremismus gebannt. Soll die NPD doch die Alleinschuld tragen - und dann schnelles Parteiverbot und alles wird gut. Einfache Mechanismen, die den Diskurs nicht fruchtbar gestalten, ihn dafür allerdings abwürgen.

Mitgefühl braucht die NPD nicht. Ein Parteiverbot scheint vernünftig - man verdrängt damit aber die Denkmuster jener Gesellen nicht. Das ist aber durchaus unerheblich, denn Brandstifter war und ist nicht nur jene Partei. Das ist nur die derzeit offizielle Wahrheit, die von der Berichterstattung abgesegnet und damit auch erst wirklich zur wirklich wahren Wahrheit gemacht wird. Entrückt ins Extremistische, aus Sicht der bürgerlichen Mitte: entrückt irgendwo ins geifernde und eiferische Transzendente, wird die geistige Vorarbeit der NPD alleine in die Schuhe geschoben.

Vergessen, dass es eben nicht ausschließlich die NPD oder andere Duodez-Nationalparteien waren, die Anfang der Neunzigerjahre, im megalomanischen Taumel der vereinten Deutschländer, auf Ausländerjagd und Asylantenfang gingen. Das waren Affekte aus der bürgerlichen Mitte heraus. Applaus von Zuschauern ohne Springerstiefel, Ausländer raus!-Rufe von stinknormalen Bürgern.
Vergessen, dass es eben nicht die Initiative der NPD war, das Asylrecht zu überarbeiten. Das taten die Christdemokraten mit Anhang, später übernahmen es die Sozialdemokraten mit ihrem Anhang anstandslos. Das deutsche Asylrecht, diese durch Grundgesetz verordnete Farce um Drittländer und Abschiebungserleichterungen, es wurde zum Modell für die europäische Asylpolitik. So galt Libyen als Drittstaat, gleichwohl dort Flüchtlinge inhaftiert, gefoltert oder in der Wüste ausgesetzt wurden. Später sprachen bekannte Sozialdemokraten von Auffanglagern in Nordafrika.
Vergessen, dass seit geraumer Zeit Stimmen den öffentlichen Diskurs diktieren, die von rassischen Merkmalen sprechen, als seien sie der Wissenschaft letzter Clou. In Gefechtsstellung: bestimmte Sozialdemokraten! Sie vergifteten das Klima, sie schürten Verächtlichkeit gegen Ausländer und spalteten die Gesellschaft. Gut, die NPD applaudierte dabei. Aber das tat der Blätterwald auch. Verbieten wir den auch gleich?

Stichproben nur. Aber sie untermauern, dass das gesellschaftliche Klima auch ohne NPD auf Xenophobie und Chauvinismus getrimmt wurde. Sie hat Beifall gespendet, sie hat gefordert - aber die Ereignisse und Debatten bestimmt hat sie nicht. Man hat die NPD überhaupt nicht gebraucht. Entschuldigung, das war vorschnell. Natürlich braucht man die NPD - vielleicht auch ein Grund, warum man sie V-Männer-gestützt am Leben hält und sie nicht endlich einschläfert. Wer, wenn nicht diese Partei, soll denn dann als das deutsche Gesicht der Ausländerfeindlichkeit herhalten? Als die gestrige Fratze, die das heutige Deutschland eifrig bekämpft? Um selbst nicht zu hässlich zu sein, braucht es noch hässlichere Gesichter: das ist die Aufgabe der NPD. Oder soll etwa diese Rolle die SPD übernehmen, am Steuer der springergesellige Messias? Oder bekennt die Union, dass auch sie geistige Brandstiftung leistete? Oder etwas Leichenschändung? Schiebt man den Freien Liberalen die Verantwortung für das vergiftete Klima zu?

Das alles ist kein Plädoyer auf die NPD. Aber so einfach, ihr nun eilends die geistige Verantwortung hinzuschieben, kann man es sich nicht machen. Dass man von Ausländern und dabei von einer ganz bestimmten Sorte von Ausländern, von Muslimen nämlich, spricht wie von Ballast: das ist doch nicht auf dem Mist der NPD gewachsen. Die finden das natürlich gut. Aber die Affekte gegen Fremde, die stammen direkt aus der bürgerlichen Mitte. Taten sie damals - tun sie heute...



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Sie sterben uns alle weg...

Mittwoch, 23. November 2011

Ich habe ihn erst sehr spät für mich entdeckt. Erst vor einigen Jahren. Wir seien alle Terroristen, hieß er mich, ließ er seine Frau Barbara Peters singen - Text von ihm, Text von Georg Kreisler. Und der ist nun verstorben.

Virtuose Musik, Schmäh voll sprachlicher Grandezza, zynische Zeilen und spitzbübisches Augenfunkeln - das war es, was mir Kreisler so nahe brachte. Und natürlich sein Umgang mit der Sprache. Seine Lieder stets Affront gegen Machthaber und Zeitgeist. Das machte ihn zum akzeptierten Paria im Kulturbetrieb. Diese sonderbare Stellung besang er auch: "Ich singe lächelnd, denn ich denke an die Pause; die Leute lächeln, denn sie wolln mich gern verstehn. Dann ist die Vorstellung vorüber, und ich sause, und zu Hause fällt mir ein: Es ist schon wieder nichts geschehn."

Beim Taubenvergiften im Park applaudierten sie ihm. Auch bei anderen Liedern, die die große Freiheit des Kapitalismus anfeindeten und zynisch durchleuchteten. Nur das breite Publikum verstand solche Texte weniger - für das war er der Taubenvergifter. Kreisler aber: unverbiegbar! Wo andere katzbuckelnd die Honorationen der Öffentlichkeit annahmen, da sprach er aus, was schon lange hätte gesagt werden müssen. Sein Brief nach Wien zeugt davon. Einen, den sie 1938 noch vertrieben haben, jetzt geehrt?

In die Vereinigten Staaten floh er damals. Mit Musik hielt er sich über Wasser - mit Instrumentalmusik. Im englischen Sprachraum konnte sein Wortwitz nicht gedeihen. Er landete unter anderem bei Charlie Chaplin, für den er in einem Film musizierende Doublehände gab. Chaplin war, so erklärte Kreisler einmal in einer Reportage über seine Person, ein ganz anderer Arbeitgeber. Schon damals galt in Hollywood jene Denkart, die wir später als neoliberale über den Globus stürmen sahen. Chaplin schloss sich dieser aber nicht an, er war freundlich und fair. So einen musste man später freilich als Kommunisten vertreiben...

Kreisler verbandelte sich nicht mit der Macht. Er blieb Künstler; blieb Freidenker. Sprachrohr für etwaige Parteien, Strömungen und Bewegungen war er nie. Dass seine Texte das sind, was wir im politischen Duktus als links bezeichnen, ist nicht Zufall - es ist die Quintessenz seiner Lebenserfahrung. Wer nachdenkt, so könnte man sagen, wird zwangsläufig links denkend. Kreisler war kein schnell mal entbrannter Wutbürger, den die schlechte Laune packte - sein Denken war beharrlich und trotzte jedem Zeitgeist, der sich ihm in den fast neun Dekaden seines Lebens in den Weg stellte

Ich behauptete, im Angesicht der Trauerkultur, die diese Gesellschaft an den Tag legt, wenn jemand möglichst medienwirksam und spektakulär gestorben ist... ich behauptete also, man könne um einen Menschen, den man persönlich nicht kannte, kaum trauern. Vielleicht trauere ich nicht um Kreisler, bin aber wohl traurig; Trauern bedeutet die Veränderung zu erlernen, die das Wegsein eines Menschen mit sich bringt. Ich werde jedoch weiterleben können ohne viel Veränderung. Und doch lebt es sich ärmer weiter. Er war Künstler und nutzte diese Position nicht, um sich mit der Macht zu schmücken, wie es viele Schauspieler und Musiker heute tun. Er hielt sich von der Macht fern, war allerdings deshalb nicht ohnmächtig. Seine Kunst strahlte Macht aus - und sie hat gemacht, dass sich Leute wie ich bestärkt fühlten, weil auch aus berufenerem Munde Kritik am Status quo existierte.

Kreisler machte Mut. Wieder ein Mutmacher weniger. Bleiben uns all die mitläuferischen und vermainstreamten Künstler und Künstleroide, die hin und wieder wutbürgerlich entbrannt so tun, als würden sie der politischen und wirtschaftlichen Macht fernstehen, um just bei irgendwelchen ministerialen Aktionen als Werbefigur herzuhalten. Kürzlich Degenhardt - jetzt Kreisler. Die Unbeugsamen, die den Mainstream, diesen Malstrom, mieden und die sich kein Blatt auf den Mund klebten, sie sterben aus. Uns bleiben dafür Biermänner, einst Dissidenten, heute herrschaftliche Nachbeter, die mit der Macht speisen und sich schon für kritisch erachten, weil sie vor der Kanzlerin keinen Schlips tragen.



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Tiefer, Langsamer, Näher!

Das Dilemma der kapitalistischen Wirtschaft ist, dass die Welt nicht endlos ist. Die Kugelform macht Abgeschlossenheit. Unendliche Weiten: Fehlanzeige! Ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum Wohlstandsgedanken gründet, kommt spätestens dann in die Bredouille, wenn es nur noch wenig Platz zum Anwachsen gibt. Fortschritt kann es am Schlagbaum der Endlichkeit nicht geben. Hie und da gibt es noch zu erobernde Märkte. Beispielsweise soll jeder Chinese mit einem Auto ausgestattet werden. Da ist Wachstumspotenzial geboten. Da kann sich Höher, Schneller, Weiter!, dieses Motto des kapitalistischen Fortschritts, doch noch behaupten.

Wachstum benötigt Platz. Der ist aber nicht gegeben. Höher, Schneller, Weiter! ist damit ein Schlachtruf, den sich eine leistungsfähige Wirtschaft der Zukunft nicht auf die Fahnen schreiben kann. Die Enge des Planeten macht, dass umgedacht werden muß. Man muß sich mit der Endlichkeit bescheiden. Etwas mehr Bescheidenheit als Motto! Lebensqualität erhalten und steigern, dennoch dem entfesselten "Immer mehr" den Rücken kehren.

Tiefer!

Der Fortschritt durch Wachstum hat die Lebensqualität vieler Menschen nachhaltig zerstört. Verkehrslärm wird als erträglich im Angesicht des Fortschritts abgetan. Dadurch auftretende Krankheiten als Randerscheinung diffamiert. Immer höher hinaus wollten wir als Gesellschaft. Eine Flugreise als Massenartikel - Landebahnen hierzu; Straßenausbau zur höheren Mobilität. Wachstumsimpulse schaffen, damit mehr Kraftfahrzeuge gekauft werden. Europas Straßen, gerade in diesen mitteleuropäischen Gefilden, sind verstopft - und trotzdem Kauft mehr Autos! Die Umweltbelastung ist außerordentlich - aber kauft Autos! Das Erdöl geht zur Neige - doch eilt zum Autohändler, holt euch Verbrennungsmotoren!

Möglich, dass globale Mobilität auch ohne beträchtliche Umweltbelastungen wirklich werden kann. Wird die Hektik, der Lärm, das enge Gewusel auf den Straßen verschwinden? Werden die monotonen Straßenlindwürmer weniger? Kommt ein wenig Lebensqualität zurück, wenn das Erdöl durch Sonnenkraft ersetzt wird? Oder ist auch dann der Mensch für die Wirtschaft da? Lärmt es hienieden dann nicht trotzdem? Nur dann eben umweltschonender? Nur wer schont den Mensch? Sollte eine Wirtschaft, die die Menschen versorgt und sie nicht quält, nicht tiefer ansetzen, anstatt höher hinauszuwollen?

Langsamer!

Vieles scheint sich zu wandeln. Kein Atomstrom mehr, dafür erneuerbare Energien. Überhaupt müsse Wirtschaften heute bedeuten, dass man nachhaltig kalkuliert. Wirtschaft im Einklang mit Natur oder Schöpfung, wie es gläubige Menschen nennen. Nur die Zeit, sie soll nicht reformiert werden. Das heißt, dass es keine Zeit mehr gibt, weil keiner mehr Zeit hat, das gilt auch in einer zukünftig erdachten Welt als unabwendbar. Der Fortschritt trieb uns an. Schneller, immer schneller! Und wir trieben uns irgendwann selbst an. Schneller, immer schneller. Time-Management! Der Tag als tabellarisch geführter Stundenplan.

Der Wachstumsdrang trieb uns zur Eile. Wir mussten mehr wachsen als andere. Schnell, schnell, bevor sich andere dort ausbreiten und für uns kein Platz mehr ist. Nun formt sich der Kapitalismus in vollendete Ausbreitung. Wohin soll er noch wachsen? Welche Ressourcen nehmen, um sie an welche Konsumenten verteilen? Die letzten Märkte sind mehr oder minder auch bald gesättigt, wenn man sie überhaupt füttern will. Wozu noch die Eile? Warum noch immer Schneller!, wenn es nun auch langsamer gehen könnte? Bedächtigkeit als ökonomisches Prinzip. Nicht mehr so viel Unternehmen - einfach mal Unterlassen.

Näher!

Ein ruhigeres, bedächtigeres und bescheideneres Wirtschaftssystem, das nur unbescheiden ist bei dem Ziel, den Menschen zu dienen, es benötigt weniger globale Verästelungen. Regionale Kooperationen sind zu leisten imstande, was Lebensqualität zeitigt. Globale Irrfahrten von Gütern sind ineffizient. Alles schweift in die Ferne. Die Wachstumswirtschaft baut für die Ferne Pipelines und Landebahnen und schickt dorthin Soldaten. Wie unabhängig ist eine Wirtschaft, die sich von den Ressourcen ferner Länder abhängig macht? Die Kriege führen muß, um so wie sie ist, überleben zu können?

Zeugt es von uneingeschränkter Lebensqualität, wenn wir Fluggelegenheiten installieren und noch weiter ausbauen, um die Ferne zu erobern, jedoch das Umland der eigenen Stadt nicht kennen? Ist das Lebensqualität, wenn uns das Wachstumsdiktat nötigt, junge Menschen in Uniformen zu pressen, damit sie uns Ressourcen und damit ein wenig Wachstum sichern können? Wäre eine Wirtschaft nicht dann näher am Menschen, wenn sie das Weiter! durch Näher! ersetzt?



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De auditu

Dienstag, 22. November 2011

Derzeit liest man häufiger den Slogan, mit dem die japanische Regierung versucht, die Lebensmittel aus dem atomar verseuchten Raum doch schmackhaft zu machen. "Lasst uns dem Norden helfen, indem wir seine Lebensmittel essen", lautet der. Und er vermittelt eine Wir-Front. "Lasst uns..." und "...wir" - zusammen trotzen wir der unsichtbaren Gefahr, will das wohl sagen; zusammen bewahren wir den Absatzmarkt für Lebensmittel vor den Kollaps. Es soll hier bei de auditu nicht um die moralische Wertigkeit gehen - der sprachliche Aspekt soll behandelt werden. Mit einem pathetischen "Lasst uns... !" läßt sich im kommerzialisierten Europa keine Botschaft vermitteln. Das Kollektiv ist, obwohl es täglich regiert, verpönt und nur das Individuum ist dazu geeignet, Botschaften in sich zu saugen.

Wäre dergleichen hier geschehen, müssten in der Folge die Lebensmittel einer bestimmten Region wettbewerbsfähig geworben werden, würde kein Marketingstratege Losungen wie "Lasst uns... !" oder "Wir meistern das!" in die Arena werfen. Der individualistische Europäer mag es zugeschneiderter. "Hilf auch Du mit!" oder "Steh' auch Du dem Norden bei!" oder "... indem Du seine Lebensmittel isst!" - Du ist das Übertragungswörtchen; ohne Du keine Vermittlung. Gleichwohl der Europäer im Kollektiv lebt, obwohl er in Fragen der Musik, Kleidung oder Essgewohnheit einer ausgeprägten Mainstreamkultur nachäfft, erliegt er gerne der Vision, gänzlich individualistisch sozialisiert zu sein. Deshalb waren auch nicht wir Deutschland - Du warst Deutschland. Aus diesem Grunde werden etwaige Vorteile für das Gemeinwesen nicht erwähnt, sondern auf den Einzelfall verrechnet: "Das lohnt sich auch für Sie!"

Die Wir-Botschaft der japanischen Losung ist das, was man "am Japaner" besonders schätzt. Sein kollektiver Fatalismus und sein Gemeinschaftssinn, der dem Zeitgeist trotzt. Es ist der im Angesicht Fukushimas so gelobte Stoizismus, der jegliche Panik angeblich unmöglich machte. Und es ist polemisch gesagt die Kernzelle des Kamikaze. Die Aufforderung, dem Norden zu helfen, es ist ein wir-bezogener Slogan, der in den Tod winkt - bei uns geschähe dies individualistischer. Wir gingen im unsichtbaren Nebel der Verstrahlung nicht einig und kollektiviert in den Krebs mittels Nahrungsaufnahme. Jeder ginge für sich selbst in die Metastasierung. Einsam in der Masse - die Sprache verrät es. Das heißt nicht, es wäre Hand in Hand, mit "Lasst uns zusammen... !" viel schöner. Es wäre wahrscheinlich auch nicht schlechter. Viele Wege führen nach Tod.



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Tödlich lärmende Höhenflüge

Montag, 21. November 2011

Sie kam, sah und landete zuvor. Sprach hernach einige bereitgelegte Worte, schwadronierte um die "wirtschaftlichen Höhenflüge", die die neue Landebahn des Frankfurter Flughafens einleiten würde und verschwand. Im Lärm bleiben die zurück, die seit Jahren gegen eben diesen Lärm Widerstand leisten und damit auch um ihr Leben kämpfen.

Tödliche Gefahr

Von 10.000 Einwohnern Nordrhein-Westfalens stirbt nicht mal einer durch einen Verkehrsunfall - aber fast drei Einwohner sterben an den Folgen von Verkehrslärm. Diese Studie mag exemplarisch sein. Lärm ist ein tödlicher Stressor. Das wird in Kauf genommen. Wirtschaftliche Höhenflüge kümmern die Gesellschaft mehr. Filigran ausgetüffelte Maschen verkünden im schönsten Neusprech, dass die an Flughäfen angrenzenden Lärm-Kommunen Profiteure sind. Materielle Gewinner natürlich. Keine gesundheitlichen möglicherweise - aber Gesundheit ist eine Größe, mit der die neoliberale Krämergesinnung nicht rechnen kann. Wie addiert man denn Sachkomplexe, die als einzigen Gewinn Wohlbefinden aufweisen. Unpekuniäre Gewinne können nicht verbucht werden. Gesundheit wird ohnehin überbewertet.

Seit Jahrzehnten kämpfen Anrainer-Kommunen gegen die Expansion des Fluglärms. Anwohner gegen Straßenbauprojekte und Schienenplanungen, die sie in die Lärmhölle versetzen sollen. Letztlich bleibt der Gang zum Arzt, der Herzinfarkt, Bluthochdruck und Schlafstörungen diagnostiziert. Während die Unternehmen, die durch die umgesetzten Verkehrsplanungen wider den Anrainer-Interessen, Gewinne einstreichen, sozialisieren sie die Behandlungskosten für die Patienten, die am Wegesrand zurückbleiben. Teuer bezahlte wirtschaftliche Höhenflüge sind das, die die Kanzlerin da in Aussicht stellt.

Sprachrohre einer dekadenten Ideologie

Letztlich unterstreicht die Kanzlerin nur, wie sehr sie vom Neoliberalismus gegerbt ist. Die amtierende Staatsideologie arbeitet nach diesem Prinzip. Jede Planung, jedes neue Konzept, jeder Neubau, jede Neuinbetriebnahme, jede Neuanschaffung wird nach unmittelbaren Kosten und direkten Nutzen überprüft, die indirekten Kosten aber, die Schäden an Mensch und Natur - wobei man die Natur noch bewusster schützt als den Menschen! -, die klammert man aus. Es sind ja Sozialkassen da, auf denen sich der private Gewinn ausruhen kann. Deshalb ist alles "wirtschaftlicher Höhenflug", auch wenn er ein gesundheitlicher Untergang ist.

Die Sprachrohre dieser dekadenten Ideologie, die flugs auf der Bildfläche erscheinen, wenn es etwas einzuweihen gilt, vor den Folgen aber ganz schnell wieder flüchten, müssen sich fragen lassen, ob sie die gewählten Vertreter des Kapitals oder des Volkes sind. Da sie immer dort auftreten, scheint die Antwort ohnedies gegeben. Und sie müssen sich fragen lassen, inwiefern sie nicht nur am Niedergang des Gemeinsinns schuldig sind, den sich als Sprachrohr ihrer Geldgeber, fröhlich tolerieren. Gegen den Widerstand von Anwohnern Lärmbauprojekte feierlich einweihen, die gesundheitliche Gefährdung der Menschen in unmittelbarer Nähe zu ignorieren: Trägt man da als verantwortliche Person in der Politik nicht auch Mitschuld daran, wenn es infarktet und Blut hochdrückt, was letztlich sogar zum Tode führen kann? Knapper gefragt: Macht der neoliberale Profit-Totalitarismus die Politik nicht gewissermaßen mitschuldig am Tod von Menschen?



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Die Gnade des frühen Kreuzes

Freitag, 18. November 2011

Früh gstorben bin ich. Das war mein Massel. Dreißig bin ich gworden. Vielleicht auch Dreiunddreißig. Genau weiß ichs nicht, wir haben früher nicht so gezählt. War nicht wichtig. An alter Mann war ich noch nicht. Ich habe gsagt, ich bin früh gstorben. Das stimmt so nicht. Ich bin da a bissel in a Schlamassel geraten damals. Dem Kaiser sein Statthalter, ein dünkeliger Schmock war der, hat mich verurteilt. Getötet haben die mich dann. Mit Dreißig oder Dreiunddreißig. Aber des war mein Massel.

Ich war a bissel a Revoluzzer damals. In Tempel bin ich gangen und hab mich mit den werten Herrn da gestritten. Habe gsagt, Nichts schachern mehr!, Nichts wuchern mehr!, wir sind im Haus vom Herrn. Die werten Herrn haben nur gelacht. Doß sie den Tinnef lassen, hab ich sie beten und hab noch allerlei Kibez gmacht. Machen Sie net a Räuberhöhle daraus, hab ich gsagt. Dann hat es gegeben an riesigen Bohai. Ich hab gekriegt Bammel, hab aber so gmacht, als hätt ich kein bissel Angst und hab denen ihre Tische umgeworfen. Ich hab es nur versucht, da bin ich ehrlich. Die waren zu schwer, ich konnt sie nicht umkippen, war schwach wie a dünnes Mejdele, was nicht komisch is, nach der langen Wanderschaft. Ihr habt später mehr aus mir... an kräftigen Bub habt ihr aus mir gmacht. Die werten Herrn sind trotzdem bös worden, weil sie ihre Gewinne in Gefahr gsehen ham.

Damals wollt ich nur Gerechtigkeit machen. Die Welt war schlecht. Die jüdischen Obergelehrten ihr Religion war unmenschlich. Ich hab damals gsagt, doß sie unjüdisch ist. Später habt ihr Nachkommenden erzählt, ich hätt gsagt, doß sie unmenschlich gwesen wär. Ihr wolltet damit ja um die Erde, mit meinem Namen und mit an Glauben, den ich nie auch nur gemoischelet hab. Finde ich aber gut, hört sich besser an und ist es auch. Ein bessere Welt. Was wäre da schlecht an ein bessere Welt, hab ich mich gfragt. Haben später viele sich auch und sind dann geendet, wie ich geendet hab. Früh gstorben. Früh gestorben wordn. Aber das war mein Massel, ich hab es schon gsagt.

Ich war noch jung, im Alter von Revoluzzern. Später sind viele kommen, die worn mit Dreißig oder Dreiundreißig noch meschugge genug, an Revoluzzer zu machen. Protestierten, haben Tische umgworfen - die hatten vielleicht mehr Kraft als ich Bürschele damals -, warfen mit Eier auf Unrecht, ham Ungehorsam gmacht. A Paar haben ihre Feinde auch küsst; liebet eure Feinde, habt ihr mir in den Mund glegt. Das gfällt mir so gut, doß ich es gsagt haben könnt. Ich hab nicht mal alle meine Freund' gliebt. Doß man seine Feind' lieben soll, ich hab das nie baldowert. So romantisch sind wir damals nicht gwesen. Reicht nicht ein Finger abzuschneidn, wenn des Recht eigentlich zwej vorsieht, hab ich mal gfragt. Des hab ich unter Güte, des hab ich unter Liebe verstanden. Den Bobkess hat nur niemand aufgeschrieben. Mit Dreißig oder Dreiunddreißig hat ma noch Ideale ghobt. Aber als alter Mann oder alter Froj war es aus mit Revoluzzern. Sie kauften sich an kessen Anzug und gingen in Beruf. Ich hab Massel ghabt. Ich wär kein guter Zimmermann gwesen. Im Zimmermann wäre ich niemals aufgangen. Nie! Und ich hab a großes Massel ghabt, weil niemand hätte meinen Namen noch gwusst, wenn ich aus dem Revoluzzeralter herausgfallen wär.

Nachdem mich die römische Mischpoke gerichtet hat, haben die Leut mein Revolutionsgeist und meinen Widerwillen gegen die weltliche Macht in die Welt tragn. Bis die selbst weltliche Macht gwordn sind. Wenn ich später mir an Anzug gkauft hätt, wär Ethikkommissär der römischen Legion gwordn, glauben Sie, man hätt mein Namen je in die Welt tragn? Ich glaub das nicht! Wenn die gsagt hätten, der Revoluzzer hat dies und das gesagt und nun ist er dabei, den Legionen vom Kaiser zu zeigen, wie man Leut ethischer umbringt, dann hätten die den Botschaftern von meiner Lehre gsagt, doß die Kohl redn. Zurecht!

Mit Fünfunddreißig... oder sag ich es anders: hätt mich dem Kaiser sein Angestellter nicht hinrichten lassen, hätt er mir nur eine kleine Straf geben, gut möglich, doß ich nachdacht hätt und mir gesagt hätt, jetzt wird es zu heiß, jetzt musst ans Weiterleben denken, wo man niemand auf die Füß tritt. Schon meine Bobe hat immer ihr Finger ghoben und hat gsagt, Bubele, hat se gsagt, de Welt ist schlecht, du kannstse nur ändern, wenn du ihre Spielregeln spielst. Es gibt kein Wahl, kein Alternative, wie ihr bei euch heut sagt. Mit Dreiunddreißig hab ich das noch nicht gsehn; nach Läuterung hätt ich es begriffen. Ich hätt dann Beamter werdn können oder Zöllner. Gsucht haben die damals ja immer einen, der für sie Münzen einsammelt. Ich hätt dann gebn, was des Kaisers ist und hätt gsagt, doß des was dem Herrn ist, die Sach von den Gelehrten bleibn muß. Und ich hätt mich dann moischelnd für Reformgelehrte ausgsprochen, die nichts verändert hätten, dafür alles a bissel anders, a bissel menschlicher erklärt, damit es wieder jüdischer oder menschlicher zugeht in der Welt.

Wenn ich aber meine Ansichten treu bliebn wär, dann wär ich kein Beamter worden. Ich hätt was gmacht, was meine Kompetenzen gwesen wärn. Ethischer Kommissär eben - oder ich hätt denen, die gleich ans Kreuz gnagelt worden wärn, a bissel die Angst gnommen, hätt gesagt, doß alles gut wird werden - oder ich wär Präfektor für Nächstenliebe gwordn. Vielleicht auch nicht, weil die Nächsten hab ich auch nicht immer lieb ghabt. Ich wär dann meine Anschauungen treu bliebn. Hätt mich noch im Spiegel, den ich nie ghabt hab, anschauen können. Mein Weib hätt sagen können, doß sie stolz ist auf sein Mann, weil der niemand besebeln muß in seim Fron. Den guten Mann von Nazaret hätten mich die Leut gheißen, an Kügel mir zu Ehren hättense backen. Aber keiner wär in die Welt raus und hätt von mir erzählt. Von mir, dem Kommissär oder dem Tröster der zum Kreuze Verurteilten. Die hätten gsagt, der Mann von dem ihr da redet, der meint es bestimmt ganz gut, aber der kriecht den Besatzern doch auch nur in dene ihrn farkakte Arsch. Nie wär ich auch nur a bissel koscher genug gwesen, damit ich Gründer von a neuer Religion gewesen wär. Was ich nicht wollt, aber mich hat keiner gfragt. An Arschkriecher hättens mich genannt - und Arschkriecher wär ich auch gwesen. Auch wenn ich es gut gmeint hätt, ich wär nimmer der gwesen, der ich war, als die mich unter Wimmern und Heulen ans Holz gschlagen ham.

Ein Gnade ist es gwesen, doß ich so früh gstorben worden bin. Damals hab ich das noch nicht gsehen. Später erst! Die meisten Leut müssten früh sterben, dann wärn sie Heilige. Dann sind sie noch jung gnug, um für Ideale in Tod zu gehn. Da gehn die manchmal für jeden Schamass in Tod. Gibt bei euch, in eurer Zeit auch solche, die Helden gwordn wärn, wenn sie nicht die Vierzig überschritten hättn. Ich kann keine Namen nennen, weil ich keine weiß. Woher auch? Bin ich vielleicht a Gott oder was, einer der alles sieht? Aber ich kanns mir denken, doß es auch bei euch solche Leut gibt. Mit Dreißig Protest, mit Dreiunddreißig entweder langsam ans Kreuz oder doch zu Kreuze kriechen - und mit Vierzig sitzens dann auf der Seitn von der Macht. Mit Fünfzig a kesser Anzug über den Leib gworfn und in an Senat marschiert und spöttisch grinsen, wenn man a bissel von früher was fragt. Jede Zeit hat solche Leut. Aber ihr habt kein Kreuz mehr, wo ihr junge soziale Leut, wie ihr die nennt, anbringt. Deswegen habt ihr kein Heiligen mehr...



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Taktlose Empörung

Donnerstag, 17. November 2011

Mächtig empört ist die deutsche Medienlandschaft. Stramm rechtskonservativ ist sie zu großen Teilen. Aber rechts nie und nimmer. Deshalb werden die NSU-Totenkopfbrigaden natürlich verabscheut. Das gehört sich so. Man hat ein Image zu verteidigen. Das Image eines Deutschland, das gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Nazi-Bestien! titulieren sie. Wobei fraglich ist, wie zielführend es ist, Schwerkriminelle zu Bestien zu machen - Bestien können nichts für ihr Tun, sie folgen nur ihrem Naturell. Einem Tiger kann man nicht mit Moral kommen, wenn er seinem Jagdtrieb folgt. Einer Bestie gleichsam nicht. Wer von Bestien spricht, wenn er Menschen meint, entbindet von Verantwortung.

Wenn wir schon bei Worten sind. Was ist das eigentlich für eine feine Medienart, die einerseits schrecklich empört ist ob der Morde, die aber andererseits das gewaltsam erwirkte Ableben von zehn Menschen, neun davon mit sogenanntem Migrationshintergrund, als Döner-Mordserie bezeichnet? Das Deutsch-Türkische Jugendwerk (dtjw) schrieb dazu in seiner Pressemitteilung, dass es "den Raubmord, den Sexualmord, den Serienmord" gäbe, der "Döner-Mord" aber sei "systematische Diskriminierung". Weiter erklärt das dtjw: "Worthülsen und sinnentleerte Neologismen sollen Ängste und Phantasien über düstere Machenschaften in nicht greifbaren Parallelwelten bedienen. Wenn die Mordopfer 'Ausländer' sind, kann man diese Morde unter 'Döner-Morde' zusammenfassen. Leichtfertig, jenseits von jeglicher Sensibilität und ohne einen Hauch von Taktgefühl."

Die SoKo Bosporus, ein Begriff, der von den Medien ohne jegliche Prüfung übernommen wurde, soll nun ermitteln. Die Morde geschahen aber nicht am Bosporus, wie auch das dtjw festhielt. Überhaupt müsste man mal nachfragen, ob die Opfer ursprünglich vom Bosporus kamen. Bosporus, das klingt so, als habe man es mit einer Sonderkommission zu tun, die das Treiben einer Migrantenmafia aufdecken soll. Waten im türkischen Untergrund. Der Untergrund war aber deutsch und nannte sich selbst nationalsozialistisch. Die Mörder waren ganz besonders stolze Deutsche.

Dieselbe Gruppierung, die die zehn Kleinunternehmer umbrachte, tötete auch eine Polizistin. Diese ist aber nicht Opfer der Döner-Mordserie. Das wird gesondert verbucht. Etwas mehr Respekt für eine deutsche Beamtin! Zu lesen war auch, dass es eine Mordliste gab. Einige halbprominente Namen waren darauf gestanden. Ein Christsozialer namens Uhl und der etwas bekanntere Grüne Montag. Wären sie Opfer des Totenkopfverbandes geworden, hätte man sie dann etwa auch zu den Döner-Ermordeten gezählt? Wohl kaum, darf man annehmen. Selbst in dieser Lage, da die Unkenrufe der Islamophoben sich ins Gegenteil verkehrt haben, da also nicht die Lebensgefahr von Muslimen herrührt, sondern diese in solche gebracht werden, kein Fünkchen von Respekt. Und schon gar kein Antrieb zur Integration. Nicht mal Getötete integriert man posthum, macht sie auch terminologisch zu "respektablen Opfern". Da sind deren Opfer und dort sind unsere Opfer, liest man aus diesem Sprachgebrauch heraus.

Da kann man noch so empört berichten. An den Worten liest man sehr wohl ab, dass man sich nicht mal mit toten Migranten und deren Hinterbliebenen solidarisiert. Man ist natürlich geschockt. Es ist ja auch schade, dass man da nützliche Dönerverkäufer tötete. Schade, wirklich. Wieder ein Döner ermordet. Ob das wohl auch die Wortwahl der Scharführer der NSU war, wenn sie planten, wieder einen Türken zu töten? Hätte man eine fiktive Mordserie an Deutschen, die in der Türkei geschehen wäre, nur mal als Schweinebraten- oder Sauerkraut-Massaker thematisiert...



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Sit venia verbo

Mittwoch, 16. November 2011

"Viele Leute meinen, dass sie denken, während sie doch nur dabei sind, ihre Vorurteile neu zu arrangieren."
- William James -

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Ansichten eines Terroristenfreundes

Dienstag, 15. November 2011

Als ich vergangene Woche auf die mediale Darstellung von Terroristen zu sprechen kam, klinkten sich rasch einige Typen ein, die meinten, mich zum Freund des Terrorismus entwerten zu müssen. Wer nun glaubt, hier folgt ein infolgedessen erzwungenes Bekenntnis, wonach ich mit Terror nichts am Hut habe, soll sich geirrt haben. Wer dies falsch verstehen will, der verstehe es falsch. Weshalb sollte ich auch Abbitte leisten? Wo habe ich je etwas behauptet, was mich zum "intellektuellen Helfershelfer des Terrors" gemacht hätte, wie man das vor einigen Jahrzehnten noch so galant formulierte? Ebendies war die "Doktorwürde", die man Heinrich Böll verlieh, weil er sich kritisch gegen die richtete, die die verbrecherische Gewalt des Deutschen Herbst dazu nutzten, um den Rechtsstaat aufzudröseln. So gesehen: beste Gesellschaft für mich.

Emotion, nicht Ratio

Wer denkt eigentlich an die Opfer? Man kann nicht leugnen, dass viele Opfer von Gewalttaten, auf sich alleine gestellt sich. Das ist ein gesellschaftliches, wahrscheinlich auch ein sozialstaatliches Problem. In einem Diskurs aber, der sich mit den juristischen Veränderungen, beziehungsweise mit dem, was einigen Veränderern und "Modernisierern" des Rechtsstaates so alles vorschwebt (Stichwort: Feindstrafrecht), hat dieser "Opferdialog" allerdings wenig zu tun. Es wird denen, die eine rückschrittliche Judikative anprangern, die glauben, dass die Modifikation der Rechtssprechung, indem man die terroristische Gefahr zu einem Mythos macht, dem der bereits installierte Rechtsstaat angeblich niemals Herr werden kann... es wird denen, die kritisieren, dass dieses Gedankenspiel des "präventiven Rechtsstaates" auch dazu führen wird, die Rechtspraxis generell, das heißt: gegen jeden angewandt, zu lockern... es wird denen, die glauben, dass ausgerechnet rationales Handeln zu Gericht etwas ist, was als verteidigenswertes Gut einzustufen ist... es wird denen durch Emotion, durch Opferdiskurs unmöglich gemacht, Gehör zu finden.

Man beanstandet, wie Terrorverdächtige - Verdächtige! - in Lager gehalten werden, ohne juristische Inanspruchnahme - und was hört man? Aber die Opfer! Kritik an der Diabolisierung des Terroristen, man will verstehen, woher er kommt und ob zum Terrorismus nicht immer auch zwei Seiten gehören - Und was ist mit den Opfern? Man fragt nach der Menschenwürde, wenn es zu Inhaftierungen kommt, die kein Vollzugsziel kennen - Denken Sie eigentlich jemals an die Opfer? Man argumentiert, dass das gängige bürgerliche Recht völlig ausreicht, um terroristische Verbrecher zu bestrafen - Was sollen die Opfer dabei denken?

Diese totale "Opferkultur", die wohlgemerkt an anderer Stelle ohne Zweifel Berechtigung hat, sie emotionalisiert eine Debatte, die möglichst trocken, möglichst gefühllos geführt werden sollte. Opfer zu instrumentalisieren, um die Debatte abzuwürgen - das ist infam! Der bürgerliche Rechtsstaat, der über ausreichend Mittel verfügt, Gewalttaten zu ahnden, ist keine emotionale Einrichtung. Wäre Judikative eine Angelegenheit, die hysterisch und emotional bestritten werden sollte, würde sie nicht im Gerichtsaal, sondern in einer Arena stattfinden. Emotionsbeladenes Rachegefühl ist nicht die Grundlage der Rechtssprechung - es geht um Sühne, Wiedergutmachung und Resozialisierung. Es geht auch darum, dass im Namen des Volkes einer verfügt, dass das begangene Unrecht im Namen der Gesellschaft bestraft wird - das Opfer ist somit nicht alleine, wie es oft lapidar heißt, denn die Gesellschaft hat in corpore des Richters Strafe verhängt. Zugegeben, das ist sehr theoretisch, aber Ausdruck dessen, dass das Opfer kein Anrecht auf Rache hat, sondern auf Anerkennung seines Rechts und auf Sanktionierung desjenigen, der den Schaden verursacht hat.

Rache, nicht Recht

In den Debatten, die sich immer dann entwickeln, wenn man die Phantasien der Sicherheitspolitiker im Bezug auf Terrorismus kritisiert, wenn man Partei für den Terrorismus ergreift, wie es einige geistig kurz angebundene Eiferer benennen, kommt relativ schnell zum Vorschein, dass es nicht um Rechtssprechung im modernen Sinne geht. Stattdessen ist Rache das Motiv. Vollzugsziele schließt der öffentliche Diskurs bei Gewalttätern bestimmter Fasson aus. Sexualstraftäter und Terroristen sind das beliebteste Ziel für gesellschaftliche Rachegelüste. Die Justiz wird als marode und malad beschrieben, um der Rache freie Bahn zu schaffen. Heutzutage würde man jeden Mörder verteidigen und auf seine Menschenwürde mehr schauen, als auf die von Opfern oder potenziellen Opfern, liest man häufig. Und die Richter spielten dieses Spiel mit - gewissenlos, skrupellos, ohne Schamgefühl. Das ist freilich ein Konstrukt, um der Rachsucht in die Schuhe zu verhelfen.

Man wähnt sich als besonders rechtsstaatlich motiviert, wenn man bei Kundgebungen aufgebrachter Eltern mitmarschiert und dabei zum Ausdruck bringt, dass Todesstrafe gegen Sexualstraftäter nicht schlecht, wenigstens aber eine Haft bis zum Tode unbedingt sinnvoll sei. All das verstößt gegen die Auffassungen, die den modernen Rechtsstaat eigentlich ausmachen. Das ist nicht aufgeklärt - es ist reaktionär; es ist nicht zukunftsweisend - es ist der Marsch zurück in eine Rechtspraxis, die Rache zum Gebot des Strafmaßes machte. In "Überwachen und Strafen" beschreibt Michel Foucault stichhaltig den Wandel zu einer Strafpraxis, die erziehen und integrieren wollte, die dem Täter eine weitere Chance einräumte. Vielleicht müsste ein futuristischer Soziologe, blickte er aus einem fernen Jahrhundert auf uns zurück, den Rückschritt ins Mittelalter erläutern.

Verfluchen, nicht Verstehen

Der schlimmste Fehler, den man in der Debatte machen kann: verstehen zu wollen, warum der Terrorismus gedeiht. Es ist ja kein Geheimnis, dass Terrorismus - wie nichts auf dieser Welt - nicht im Niemandsland entsteht. Niemand wacht morgens auf und beschließt, ein bisschen auf Terror zu machen. Es bedarf einiger Voraussetzungen. Basken und Iren lebten nicht mit dem Terror, weil sie besonders sturköpfige Völker wären, wie man das zuweilen lesen musste - gerade so, als sei Sturheit und Borniertheit der Einstieg zur terroristischen Gewalt. Und Moslems sind nicht per se radikal und gewaltbereit. Was also begünstigt den Terrorismus? Und sind die Gesellschaften, die unter ihm leiden - und sei es auch nur psychisch, weil sie sich in Hysterie begeben -, nicht nur Geschädigte, sondern auch Ursache? Ist Terrorismus damit nicht auch eine blutige und zu verurteilende Kommunikationsstrategie, wenn man ihn nüchtern unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet?

Verstehen zu wollen ist Sünde. Auch hier also Mittelalter! Damals waren es die biologischen oder kosmischen Abläufe, die man unverstanden lassen wollte - heute sind es soziologische oder historische Kontexte, die unangetastet bleiben sollten. Den Terrorismus verstehen zu wollen, wird als Rechtfertigung des Terrorismus gedeutet - Anti-Terror-Gesetze unter die Lupe zu nehmen, heißt Terroristen zu schützen - die Rolle der Wirtschaft und Politik westlicher Prägung zu hinterfragen, ihnen etwaige Mitverantwortlichkeit für terroristische Gesinnungen zu erteilen, versteht man ganz schnell als Legitimitätserklärung des Terrorismus. Zudem nenne man die Debatte niemals hysterisch - dies zu benennen wird mit dem Attribut "Terroristenfreund" belohnt.

Verflucht sollen sie werden, nicht verstanden. Rache ist der Antrieb, den man von der Justiz verlangt - Verfluchung ohne explizites Verstehen: das ist die Grundvoraussetzung hierzu. Nur gegenüber jemanden, den man nicht versteht, kann man rachsüchtig sein wollen. Verstehen bedeutet Nachdenken bedeutet Differenzieren bedeutet: dem Feind menschliche Züge zu verleihen. Der Feind wird somit zum Täter - zum Menschen, der gegen das Gesetz verstoßen hat, der aber dennoch unveräußerliche Rechte besitzt. Sicher steht aber auch dann am Ende die Strafe - aber sie würde unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten entstehen. Ohne Emotion, ohne Hysterie, ohne blanke Rachsucht. Doch genau davor scheut man zurück, so wie einst die Kirche scheute, dass der Mensch verstehe, er sei nur eine "biologische Maschine" - der ins Transzendente verfeinerte menschliche Körper, ausgestattet mit einer Seele durch Gott, er wäre zur ollen Kamelle geworden, schließlich hätte man keine Seele gefunden. Der Terrorist als Feind ohne Rechte, den man mit allen niederen Instinkten begegnen darf im Angesicht der Justiz, er würde zur ollen Kamelle, wenn man ihn im berechtigten Eifer, ihn zu strafen, auch noch verstehen wollte.

Bei jeder Gerichtsverhandlung ist das Motiv des Täters relevant - ein gewissenhafter Richter will wissen, was einen Räuber oder einen Mörder aus Habgier zur Tat verleitete. Die Strafzumessung hängt wesentlich auch vom Beweggrund ab. Mancher Grund macht die Tat besonders strafwürdig, andere Gründe strafmildern. Den Täter oder Tatverdächtigen - noch ist die Person, die angeklagt vor Gericht steht, ja nur verdächtigt - zu verstehen, das gehört mit ins richterliche Repertoire. Die Öffentlichkeit, die rigoros bestimmten Tatverdächtigen fundamentale Menschenrechte aberkennen möchte, will nicht verstehen. Sie tilgt diesen Punkt der Analyse. Sie nennt solche Gedankengänge intellektuell und arrogant, sie glaubt diese weltfremd und enthoben. Das Verstehen wird durch Aktionismus behoben - gleich zur Rache schreiten, ohne auch nur die Triebfedern benannt zu haben.

Hysterie, nicht Gelassenheit

Publiziert man Kritik am Umgang mit der Randerscheinung des Terrorismus, macht man dessen Aufbauschung präsent, die tragischen Folgen, die dessen Bekämpfung für uns alle hatten und haben werden, so stößt man auf hysterische Szenarien. Wie könne man Partei für Menschen ergreifen, bekommt man um die Ohren gehauen, die Züge entgleisen lassen und Bahnhöfe in die Luft sprengen. Nachfragen, welche Züge und Bahnhöfe denn so ein bitteres Ende nahmen, werden als rhetorische Fallstricke diffamiert. Die Hysterie ist so fest verankert in manchem Kopf, dass dem mit ausgewogener Analyse nicht mehr beizukommen ist. Die Debatte um den Terrorismus gründet vielleicht zu fünf Prozent auf realen Gegebenheiten - der Rest ist Szenario, Möglichkeit; etwas, was ausmalbar ist, wenn man bloß genug Phantasie besitzt.

Gesellt man sich nicht mit in Hysterie, wird man für Hysteriker verdächtig. Wieso bleibt der so gelassen?, fragen sie sich. Denn gelassen können in einem solchen Szenario nur die sein, die es diktieren - Terroristen also. Gelassenheit ist die vermeintliche Tugend derer, die etwas zu verbergen haben. Hysterie wird plötzlich zur Frage der Vernunft. Vernünftige Menschen verlieren den Kopf, ist die ungesagte Wahrheit. Wer es nicht tut, wer kühl begutachtet, gelassen verstehen will, nicht hysterisch auf Rache sinnt oder emotional überreagiert, der ist nicht ganz koscher. Vielleicht kein Terrorist - aber einer, der sich vielleicht die Hände reibt, wenn es mal kracht. Ein Freund und geistiger Helfer der Terroristen. Damals forderte man die Isolierung Heinrich Bölls und Peter Brückners - genau aus dieser Denkweise heraus rührte diese hanebüchene Forderung. Macht die mundtot, die nicht hysterisch sind wie wir!, war die Parole.Und sie ist es heute wieder.

Terror, nicht Terrorismus

Was entsteht ist ein Klima des Terrors. Nicht erzeugt von Terroristen, sondern von Politikern, Presseleuten, auch Wirtschaftsdelegierten und natürlich unbedarften Bürgern. Sie verüben den Terror gegen sich selbst und gegen andere; sie werfen Brandsätze auf das gesellschaftliche Klima und ersticken die Opposition. Man braucht kein Anti-Terror-Gesetz gegen Terroristen - die sind Randerscheinung, nicht organisiert, nicht bestückt mit technologischen Waffen oder dergleichen. Immerhin mussten einige Terroristen vor zehn Jahren ein Flugzeug mit Teppichmessern kapern. Man benötigte eigentlich ein Anti-Terror-Gesetz gegen jene, die ein solches Klima des Gesinnungsterrors anfachen. Der Kampf gegen den Terror hat in den Köpfen derer zu beginnen, die ohne Reflektierung der terroristischen Angst erliegen. Gegen den Terror zu sein, hat für jene, die einen offenen und tabulosen Diskurs fordern, eine ganz andere Bedeutung. Es bedeutet nämlich: endlich vom Terror der Hohlköpfe bewahrt zu werden, die einen der Einfachheit halber zum Freund des Terrorismus ernennen wollen...



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Terror, den sie nicht meinten

Montag, 14. November 2011

Seit Jahren das Credo der Innenminister: der linke Terror schwillt an, der rechte bleibe konstant oder ist rückläufig. Rechts gab es auch keinen Terror, es gab Extremismus. Als neulich das Berliner Bahnnetz Ziel fleißiger Bombenbastler war, schien bestätigt, dass links der Terror gedeihe. Man hob linken Terror und rechten Extremismus auf eine Stufe. Die Familienministerin, früher passionierte Gleichstellungsbeauftragte in Sachen links- wie rechtsextremistisch, tat sich da einst besonders rühmlich hervor. In Berlin brannten Autos - linker Terror, der die Republik im Griff habe. Man leugnete nicht, dass es am rechten Rand radikale Grüppchen gäbe, aber alles in allem habe man die im Griff.

Dem Mythos geschuldete Nicht-Berücksichtigung?

Der Mythos der linksterroristischen Gefahr benötigte rechtsextremistischen Rückgang. Man musste Prioritäten setzen, um die Republik vor linken Gedankengut zu schützen. Unbequeme Fragen und Ansichten zur sozialen Schieflage mussten diskreditiert werden. Wurden hierfür mit den Sachbeschädigungen einiger hoffnungsloser Fälle in Verbindung gebracht. Der Verfassungsschutz sollte die schlechte soziale Verfassung schützen - ungemütliche Fragen, die man dem linken Spektrum zugesellen konnte, sollten hierzu in Misskredit geraten. Rechts drüben nichts Neues, parolierten die Institutionen. Verfassungsschutz und Innenminister wurde nicht müde, am rechten Rand Windstille bis Abflauen zu verkünden.

Nun kristallisiert sich ein Netzwerk rechtsterroristischer Mörder heraus, eine BAF, Braune Armee Fraktion, die seit Jahren ihr Unwesen treibt. Jetzt läßt es sich eben nicht mehr verstecken. Die Mordserie, die offiziell als Mordserie Bosporus, in der Presse abschätzig als Döner-Morde bezeichnet werden, wurden bereits mehrmals bei Aktenzeichen XY thematisiert. Einige Fälle wurden im Laufe der Jahre präsentiert - dass die Morde zusammenhängen, wusste man schon damals. Man gestaltete es aber so, dass man sie als innertürkische Angelegenheit abtat - Türkenmafia oder dergleichen. Einen rechten Hintergrund wollten die Behörden jedenfalls nicht herausfiltern. Ohne so einen Hintergrund war es bequemer - und es passte vermutlich ins innenministeriale Konzept, den rechten Terrorismus zu verharmlosen.

Man muß sich gründlich fragen, ob die ermittelnden Behörden geschlampt haben oder ob das Innenministerium mitsamt Kläffer an der Front, Minister des Inneren genannt, nicht reges Interesse daran hatte, solcherlei Fälle zu entwerten, um sie dem Konzept "Forcierung angeblich linken Terrors" nicht in die Quere zu werfen. Helfershelfer des Terrors? Es wäre infam zu behaupten, das Innenministerium würde Terrorismus dulden. Aber ihn kleinhalten, unter den Teppich kehren, um ihn kein Spektakel machen: das hat es schon getan. Gezielt vielleicht; möglicherweise auch arglos - in jedem Fall nach ideologischem Kodex, wonach das Linke der Terror der Zukunft ist, nicht das Rechte.

Dem Mythos nachrennende Presse

Eskortiert wurden die Verlautbarungen rechts-konservativer Politiker von Journalisten, die die Thesen des terroristischen Linksrucks ins Land trugen. Die bemühen sich nun natürlich, nach bester Wissens- und Gewissenslosigkeit, aus der Affäre zu stehlen. Entrüstet sind sie wegen der BAF. Der öffentliche Diskurs, den wir seit Jahren haben, muß sich fragen lassen, wie realitätsfremd er eigentlich betrieben wurde. Als in Norwegen ein Massenmörder umging, riefen die Medien und erste aufgestachelte Politiker, man müsse den Islamismus stoppen. Letztlich sah man, dass es das Gegenteil des Islamisten war, der da tötete - ein fanatischer Rechter. Dauernd warnte man vor dem Terror, der entweder von Radikallinken oder, und das war die viel größere Befürchtung, von Islamisten ins Land gebracht würde. Dabei wütete der Terror schon unmerklich im Lande, traf aber meist nur Türken, womit man das Problem marginalisierte. Terror war schon Alltag - und der wurde nicht von Islamisten, sondern vom Gegenteil des Islamisten begangen, vom fanatischen Rechten.

Ratifizierer des Mordens

Und wollen wir im Angesicht dieser neuen Dimension stillen Terrors gegen türkische Kleinunternehmer oder türkische Konsumenten auch mal über die Rolle der Broders und Sarrazins beraten? Beide mögen schon zu Anfangszeiten des Nationalsozialistischen Untergrunds gewütet haben - dann aber relativ beschränkt. Broder war damals schon begrifflich - Sarrazin nur ein Geheimtipp. Sie sind keine geistigen Vorbereiter. Aber was mag mancher in den Mordbrigaden der NSU an Bestätigung erfahren haben, als er Sarrazins Tiraden und Broders Feindseligkeiten gegen türkische Mitbürger lesen durfte? Nicht Vorbereiter - ganz sicher nicht. Aber Bestätiger und Ratifizierer, "intellektueller Helfershelfer des Terrors", um eine beliebte Floskel aus dem Deutschen Herbst zu gebrauchen. Keiner von denen rief zum Mord auf. So fair muß man schon sein. Aber den muslimischen Menschen lächerlich gemacht, entmenschlicht, verfremdet und zu einem Mensch zweiter Klasse, früher hätte man ungeniert vom Untermenschen geschwafelt, gemacht: das haben sie durchaus. Sie haben damit auch das Geschäft der NSU intellektuell beschönigt. Unwissentlich! Aber doch. Man sollte mal im Bestand dieser Mordbrigaden fischen. Wer weiß, vielleicht finden sich dort Elaborate dieser Herrn. Und ob beide wohl nun bibbern, es möge kein Buch, ja nicht einmal ein Satz von ihnen dort auffindbar sein?

Sarrazin spottete über die Erwerbstätigkeit hier lebender Türken. Wer brauche denn endlose Gemüseläden und Dönerbuden, fragte er mal provokativ. Die Mordserie Bosporus hat genau diese Klientel zum Opfer. Allesamt waren sie kleine Selfmade-Unternehmer. Was mögen die Mörder der NSU gedacht haben, als sie lasen, dass dieser Herr genau jene anfeindet, die zu ihrem Raster passten? Was dachten sie wohl, als sie lasen, dass die öffentliche Debatte diesem "Helden der schweigenden Mehrheit" allen Respekt anerkannte? Springer und die Springerstiefel - das gehört damit nicht nur terminologisch zueinander. Die Rolle jener Tageszeitung ist in dieser Frage nicht ambivalent. Sie ist eindeutig! Sie hat Sarrazin zu einen Messias gekürt, der endlich ausspreche, was alle denken: dass nämlich Türken und Araber irgendwie anders, irgendwie schlechter, irgendwie dümmer und rückständiger seien. Sie schrieben nicht: Daher tötet sie! Aber die NSU mag sich gedacht haben, dass es um solche "menschenähnliche Wesen" nicht besonders schade sei. Wenn doch selbst die Presse nicht viel von diesen Gestalten hält...

In Erwartung terroristischer Anschläge...

Es ist eine Farce. Da veranstalten die letzten Regierungen und Ministerien mitsamt ihren Schreiberpersonal seit Jahren ein Mordsspektakel. Der islamistische Terrorismus bedrohe uns schrecklich. Hierfür wurden Freiheitsrechte eingeschränkt und die Privatsphäre der Bürger zum Allgemeingut. Jeder vergessene Koffer am Bahnhof wird zum Ereignis für Sondereinsatzkommandos und Nachrichtensender. Hysterie an jeder Ecke. Bebartete Muslime im Verdacht. Die Bundesregierungen lobten sich: die Anti-Terror-Gesetze fruchten. Die Bundesrepublik wurde bislang verschont vom Terrorismus. Was für ein exorbitanter Wirklichkeitsverlust!

Der Terrorismus ließ gar nicht auf sich warten. Er war schon da! Ganz unscheinbar. Er hat nicht spektakulär Massen bedroht, sondern gezielt und mit kühler Präzision unbescholtene Bürger gemeuchelt. Während die Gesellschaft hysterisch auf den ersten großen Terrorakt auf bundesdeutschem Boden wartete, war der Terror hier schon heimisch. Ein zeitgeschichtlicher Treppenwitz! Hysterie ist eine schlechte Ratgeberin - sie macht blind. Man installierte Kameras auf öffentlichen Plätzen, erschwerte das Reisen, erhöhte die Polizeipräsenz an Bahnhöfen und Flughäfen - aber die Terroristen kamen ins Dönerlokal, in den Gemüseladen oder ins Blumengeschäft. So phänomenal daneben hat man wohl selten gelegen! Das kommt davon, wenn man ideologisch an Probleme herantritt - dann ist der Links- und Islamistenterror, den manche ganz kühn miteinander vermengen, plötzlich wichtiger und gefährlicher und bekämpfenswerter, als der Terrorismus rechten Naturells. Wer in hysterischer Ideologie handelt, sucht fleißig nach Rechtfertigungen dafür, weshalb eine demokratische Partei wie die Linken vom Verfassungsschutz beobachtet wird, während er gleichzeitig für die Indizien für rechten Terrorismus erblindet ist.

Aus dem islamistischen Gemetzel in Utøya erwuchs jene Wahrheit, dass es ein rechter Kreuzritter war. Aus den islamistischen Terrorübertreibungen erwächst nun die Wahrheit, dass die schon tätigen Terroristen rechte Meuchelmörder waren und sind. Das ist kein Versehen von Politik und Öffentlichkeit und Medien - das ist das Resultat aus verbohrter Weltsicht und Paranoia. Es ist gezielt in Kauf genommene Blindheit. Das Heraustreten der NSU aus ihrem Schattendasein läßt auch die Befindlichkeit der Gesellschaft und ihrer Verantwortungsträger ins Licht gehen. Es zeigt, dass das agenda setting der Politik im blindem Eifer geschah und nichts hinterfragt wurde.



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Ridendo dicere verum

"Die Messmethoden der Sozialprodukts-Fetischisten sind zudem noch skurril. So ist selbst ein Autounfall wegen der notwendigen Reparaturarbeiten am beschädigten Auto ein Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts, während die lohnsteuerfreie Rettung eines Verletzten nicht mitzählt. Der ehrenamtliche Samariter leistet in dieser Mathematik nichts. Der Geisterfahrer dagegen ist ein potenzieller Promotor des Sozialprodukts. Das ist die Ratio einer grotesken Wirtschaftswelt."
- Norbert Blüm, "Ehrliche Arbeit"

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In eigener Sache

Samstag, 12. November 2011

oder: es gibt keinen Anspruch auf Freischaltung.

Ich habe mich entschlossen, meinem Impressum bündige Nutzungsbedingungen angedeihen zu lassen. Hauptaugenmerk lag hierbei auf den Bereich der Kommentare. Ich zitiere:
"Kommentare bedürfen immer der Freischaltung.
Kommentare, die off topic laufen, gegen Höflichkeitsnormen oder Anstand verstoßen, Persönlichkeitsrechte verletzen oder offensichtlichem Spam enthalten, erlangen keine Freischaltung. Ferner behält sich der Betreiber vor, Kommentare nicht freizuschalten, die offensichtlich dazu dienen sollen, Unfrieden zu stiften oder zu provozieren (Trolle). Fremdenfeindliche und/oder volksverhetzende Kommentare erhalten ebenfalls keine Freischaltung und werden, sofern sie sich rückverfolgen lassen, zur Anzeige gebracht. Kommentare, die augenscheinlich dazu dienen sollen, neoliberale Propaganda zu verbreiten, werden gleichfalls nicht freigeschaltet. Nachfragen bezüglich Nicht-Freischaltungen werden nicht beantwortet. Der Betreiber ist den Kommentatoren keine Rechenschaft schuldig."
Zusammenfassend: es gibt keinen Anspruch darauf, dass Kommentare freigeschaltet werden. Gründe sind oben genannt - etwaige Nicht-Freischaltungen werden nicht begründet. Manche nennen das Zensur, was mir aber egal ist. Für Kommentatoren, die sich im Rahmen bewegen, ändert sich nichts - für die anderen, die es nicht tun, ändert sich auch nichts. Denn unterbunden habe ich das vorher schon.

Wen ich hier nicht haben will, liegt auf der Hand. Weder Nationaldumme noch Neoliberaliban. Die üblichen Maschen, mit rhetorischen Fragen und naiv anmutenden Zwischensätzen, um die Diskussion in eine Richtung zu lenken, die mir nicht behagt, unterbinde ich gleichwohl. Das mag zugegeben grenzwertig sein - ich will allerdings die strategischen Hinführungen zu Standpunkten, für die ad sinistram nicht steht, nicht ebendort lesen müssen.

Rechte, die mir mitteilen, sie wüssten, wo ich wohne... Mittelstandsbürger, die mich einen Kommunisten heißen... Linke, die mich auf Linie bringen wollen (Leute, ich bin nicht eure Schreibhure!) - spart es euch. Schade um die Zeit.

Wie gesagt, es ändert sich überhaupt nichts. Aber deutlich gesagt will ich es haben - und deutlich in Nutzungsbedingungen gestanzt haben will ich es ebenfalls. Und beides ist hiermit getan...

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Briefe in die polynesische Vergangenheit

Freitag, 11. November 2011

Oh Brüder, die ihr das Glück habt, auf gesegneter Muttererde Nukulaus zu schreiten, seit nunmehr einigen Wochen lebe ich bei den Pākehā, den weißen Seefahrer- und Luftseglervölkern auf der anderen Seite von Manaias großer Erde. Ich schreibe es euch, Brüder, lest genau: Wir haben über die Pākehā falsch geurteilt. Sie sind nicht, wie unser großer Tahu zu sagen pflegte, Wesen ohne Götter und Geister. Sie haben eine ausgeprägte Religiosität. Diese ist nicht, wie die Lehren unserer Tahus und Tohungas, sensibel und mit bildlichen Erklärungen ausgestattet, eher ein wenig ruppig und schroff. Gleichwohl, meine Brüder im fernen Nukulau, sie sind nicht nur denkende Kopf-Pākehā, sie haben auch ein Herz und das Bedürfnis, ihr Leben in die Hände eines großen und überirdischen Häuptlings zu legen.

Mich hat es an einen Ort verschlagen, den die Einheimischen B'len nennen. Ein sehr großer Ort mit sehr großen Häusern. Mir wurde erlaubt, ein solches Gebäude zu besteigen. Ich sah weit ins Land - Meer sah ich jedoch keines, stellt euch nur vor. Wie die Pākehā Meere bereisen können, ohne ein Meer vor ihren Hütten zu wissen, bleibt mir ein Rätsel. Oh Brüder, es gäbe so viel Seltsamkeiten zu berichten; Kleinigkeiten wie Großseltsames. Gerätschaften gibt es hier und Eigenarten des Benehmens. Aber Brüder, wie ihr wisst, bin ich vom ehrwürdigen Ariki zu den Pākehā gesandt worden, um deren Schamanismus zu ergründen. Davon will ich euch schreiben - fragt mich, wenn ich wieder zurück bin auf Muttererde Nukulau, nach all dem Gesehenen. Dann werde ich euch köstlich zu unterhalten wissen.

So laßt mich kurz erzählen. Die Pākehā haben Götter und Geister, denen sie ihren Alltag übertragen. Ihre Tohungas kommen täglich in jede Hütte. Ihr müsst dazu große Vorstellungsgabe haben, Brüder. Die Pākehā haben Kästen in ihren Hütten stehen, die Klänge und Bilder verströmen. Bewegliche Bilder. Dieser Kasten trägt einen sehr schönen Namen: Tefau - fast wie eine kleine Schwesterinsel gleich neben Nukulau, liest sich das. Für mich ein Indiz dafür, dass sich die Pākehā, nachdem sie uns am anderen Ende der Erde entdeckt hatten, auch etwas von uns abgeschaut haben. Ein schöner nukulauischer Name für den Kasten. Dort jedenfalls, oh Brüder, sprechen ihre Tohungas heraus. Trockene alte Zausel und Jungfern, die viel über Religion schwatzen. Es gibt viele Geister und Götter und ich bin mir nicht sicher, ob ich jedes Wesen einordnen kann. Ein besonders wichtiger Geist scheint Wak-tum zu sein. Wahrscheinlich eine Art Hilfsgeist, der Wohlstand über die Pākehā bringen soll. Wak-tum muß geschaffen werden!, ist ein Gebetsspruch, der vermutlich der Beschwörung dient. Manchmal ist jedes dritte Wort Wak-tum und ich vermute stark, dass man Wak-tum deshalb so oft in Sätze einbindet, damit er sich erbarmt, eine Götterparade, die sie die Merctes nennen, abzuhalten, die dann wiederum zu Glück, Gesundheit und Wohlstand führen soll.

Die Merctes sind die Wesen der obersten Göttergalerie. Für sie tun die Pākehā alles. Und nun, oh meine Brüder, hört genau zu: als sie unser schönes Nukulau entdeckten, dann taten sie es genau für jene Merctes. Es war nicht Gier, wie unser alter Ariki Koloueli immer behauptete. Sie taten es für ihre Götter. Wir müssen daher unsere Geschichtsschreibung neu überdenken. Sie sind keine Bestien, keine Ausbeuter - sie tun das ja nicht freiwillig, sondern weil es ihnen ihre Götter anraten. Bedenkt das, wenn ihr bald wieder auf die Pākehā schimpft. Sie wollen euch nichts Böses, Brüder. Dahinter steht die Göttervielfalt der Merctes. Und es ist der böse Hilfsgeist Wak-tum, der ebenfalls verantwortlich ist. Die Pākehā führen nur aus.

Die Merctes sind oft sehr nervös, erklären ihre Tohungas und Tahus. Das tun sie jeden Tag mehrmals. Merctes sind ungestüme Götter. Sie kennen keine Gemütlichkeit. Ständig wollen sie befriedigt werden. Wak-tum ist immer dabei. Merctes, so die Tohungas besorgt, könne ohne Wak-tum nicht gedeihen. Die Pākehā sind sehr religiös, sie unterwerfen sich den Merctes. Sie halten sich ständig kleine Kästchen seitlich ans Gesicht. Brüder, sie lieben Kästen und Kästchen in allen Größen und Farben. Die kleinen Kästchen heißen allerdings nicht Tefau. Ich vermute, diese kleinen Kästchen sind dazu da, um ständig mit den Merctes in Verbindung zu stehen. Sie sprechen mit den Kästchen und besänftigen die böse Stimme der Merctes, die sie aus dem Kästchen hören können. Außerdem vermute ich, dass diese Gesichtskästen kleine Figuren von Wak-tum sind - denn nur mit Wak-tum gedeihen ja bekanntlich die Merctes.

Oh Brüder, die Pākehā sind getriebene Wesen. Merctes sind knallhart. Sie haben fürchterliche Angst vor Bestrafung durch sie. Ihre Häuptlinge machen Regeln, die zur Ruhigstellung der Merctes dienen sollen. Das gelingt nicht immer und dann beschimpfen sie sich gegenseitig. Sie werden laut und machen sich Vorwürfe. Dabei schwitzen sie nicht und werden auch nicht zornesrot, wie es Tohunga Tawhiao immer wird, wenn wir den Ritus nicht pfleglich einhalten. Ich glaube, das Beschimpfen ist bei den Pākehā nur ein Ritual, ist gar nicht ernst gemeint. Wahrscheinlich wollen Merctes, dass sich Häuptlinge beschimpfen. Ein weiteres Ritual ist es, alten Häuptlingen still zu lauschen. Hier am Ort B'len verfolgen sie andächtig die Worte zweier Manaias. Beide sind sehr alte Männer. Ihr Ehrentitel lautet El-Mut, was ungefähr soviel bedeutet wie weiser und alter Häuptling. Einer dieser El-Muts heißt Tch-Mit; der andere Ko-Hohl. Tch-Mit ist immer so still vor sich hinwütend, dass es ihm aus dem Rachen raucht. Ko-Hohl spricht seltener, wenn er es aber tut, so sind seine Zuhörer voll Einsicht. Letzterer, so sagt es die Legende, sei mit schwarzen Koffern voller Tauschwaren über sein Volk gekommen. Diese beiden Hohenpriester stehen den Merctes sehr nahe. Man erwartet, dass sie bald selbst zu Götter in Merctes werden.

Nun sehe ich mich gezwungen, meine Zeilen zu unterbrechen. Ich werde gleich einem religiösen Zeremoniell beiwohnen. Im Tefau sprechen gleich einige Tahus über die Lage Merctes. Dazu lassen sie oben und unten Schriftzeichen laufen, die Merctes Laune erzählen. Tahus sprechen dabei sehr schnell und laut und wirr in Stäbe; sie beten Merctes, seid uns gnädig! und Merctes, die wir euch dienen! Schriftzeichen geben Auskunft, ob die Beschwörung gefruchtet hat. Derzeit scheinen die Merctes aber sehr wütend und das Gebet nicht sehr erfolgreich zu sein. Krise nennen die Pākehā das. Krise meint den Zustand, wenn Götter und Erdenwesen sich voneinander entfernen.

Ich muß also aufbrechen, das Zeremoniell ruft und ich will es nochmals bestaunen. Doch, Brüder, seid euch dessen gewiss, ich schreibe euch alsbald wieder und erzähle euch von den Lehren, die Merctes für ihre Pākehā bereithalten. Sie sind moralische Wesen, im Einklang mit der Muttererde. Soviel will ich euch schon jetzt sagen, oh Brüder. Wir müssen uns ein neues Bild von den Pākehā machen. Sie leben in Einklang mit Manaias schöner Natur, so wie wir es tun - nur auf ihre eigene Weise. Lebt wohl, bis ich euch wieder berichte, küsst mir Nukulaus Sand und Wiesen...



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Feinde, nicht Bürger

Donnerstag, 10. November 2011

Eine lebenslängliche "lebenslängliche Haftstrafe" gibt es in Spanien nicht mehr. Maximal dreißig Jahre kann man dort in Haft verbringen. Es gibt aber eine Ausnahme: besieht man den Angeklagten nicht als Bürger, der nach bürgerlichen Strafrecht abzuurteilen ist, sondern als Feind, der einem Feindstrafrecht unterordnet wird, so sind phänomenale Strafen umsetzbar. 105 Jahre Haft erhielt nun ein Mörder, der im Namen der ETA mordete.

Vom spanischen Zentralstaat eingelulltes Europa

Ein solches Strafmaß nimmt man in Europa hin. Man reibt sich zwar verwundert die Augen, dreistellige Haftstrafen sind ja doch spektakulär. Nun gut, aber es trifft ja doch nur jemanden, der für die ETA gemordet hat - einen Terroristen also. Und Terroristen haben nur bedingt Menschenrechte - sollten sie jedenfalls haben. 105 Jahre Gefängnis, die Aussicht nie wieder freizukommen, keine Resozialisierung als Vollzugsziel zu erleben: so einer hat es doch verdient!

Nun wäre es natürlich einer Frage wert, wo Terrorismus beginnt, wo er aufhört. Javier García Gaztelu, der Mann, der mehr als ein Jahrhundert im Bau verschwinden soll, muß nicht unbedingt Terrorist sein - Mörder ist er dann doch. Gleichwohl fragt man sich schon, welcher Weg der baskischen Sache offen bleibt, wenn man baskische Parteien, die für mehr Autonomie eintreten, die Legitimität entzieht und alleine schon Sympathisanten der baskischen Autonomie oder gar Unabhängigkeit kriminalisiert und nur den Weg in die Kriminalität weist. Solche Fragen stellt sich Spanien nicht - solche Fragen stellt sich auch Europa nicht. Dieses wird vom sich rigoros gebenden spanischen Zentralstaat geblendet und eingelullt. Man verkauft sich als Bastion gegen den Terror, greift hart durch, erteilt Richtern die Kompetenz, politische Prozesse zu führen und sperrt Mörder nicht als Mörder, sondern als Feinde ein.

Feindstrafrecht kennt kein Maß

Das Strafrecht europäischer Staaten verfügt über ausreichend Mittel, Mörder zu bestrafen. Es gibt keine Not, warum man Terroristen außerhalb bürgerlichen Strafrechts verurteilen sollte. Das Feindstrafrecht ist maßlos - es kennt kein Abwiegen, sondern nur die drakonische Strafe. Demjenigen, der nach Feindstrafrecht verurteilt wird, kommen Menschenrechte abhanden. Er wird einer Justiz ausgesetzt, die nicht mit Augenbinde urteilt, sondern politisch aufgeladen ist. Aus dem Bürger, der gegen das Gesetz verstoßen hat, wird ein Feind, der gegen die Gesellschaft verstoßen hat.

Das Feindstrafrecht resozialisiert nicht. Es glaubt nicht, dass sich Menschen ändern können. Geht davon aus, dass ein Mensch immer derselbe bleibt, ob er nun Jugendlicher ist oder schon zum Mittvierziger geworden. Das Feindstrafrecht ist statisch; an Veränderungen glaubt es nicht. Es geht in fataler Ausblendung der Wirklichkeit davon aus, dass man stets derselbe bleibt, egal wie alt man ist, egal welche Erfahrungen man hinzusammeln konnte, egal ob man schon Jahre gesühnt hat. Es ist schlicht gesagt, ein Strafrecht, das nicht die Eingliederung des gesetzesbrecherischen Individuums in die Gesellschaft will: es will Rache! Schnelle, kalte, populistische Rache! Es will nicht den intellektuellen Anspruch erfüllen, dass jeder Mensch mehrere Chancen verdient hat - es will den populistischen Anspruch erfüllen, lauten Applaus für harte, unmenschliche und gegen die Menschenwürde des Täters gerichetete Strafen zu ernten. Es ist ein Strafrecht, das nicht erziehen will - es will aus der Welt schaffen.

Beispielhaftes Spanien

Hierzulande gibt es nicht wenige Strafrechtler, die sich im Angesicht der terroristischen Hysterie dazu verleiten lassen, dem Feindstrafrecht zur Renaissance verhelfen zu wollen. Ihnen geht eine Rechtssprechung im Sinn umher, wie sie Gaztelu neulich über sich ergehen lassen musste. Sie tun dabei so, als habe der bürgerliche Rechtsstaat keine Mittel gegen Straftäter, die im Namen einer Organisation oder einer Ideologie - vulgo: gegen Terroristen -, gegen das Gesetz verstossen haben. Warum ein Mörder dieser Güteklasse nicht mit dem Strafmaß, welches das bürgerliche Strafrecht vorsieht, belegt werden kann, erklären die Anhänger des Feindstrafrechts nicht. Mit rationellen Motiven läßt es sich auch kaum erklären. Sie haben sich zu Anwälten der Rache gemacht - Rache kennt keine vernünftige Erklärung, sie ist bloße Emotion.

Spanien ist wegweisend. Die Justiz steht dauerhaft in Kritik. Weil sie politisch motiviert urteilt, Verbrechen nicht als Verbrechen ansieht, sondern nach politischem oder nicht-politischem Gehalt scheidet, ist sie in den Ruch der Korruption gelangt. Terrorismus wird indes ganz pragmatisch definiert. Schon Sympathiebekundungen für mehr baskische Autonomie können bestraft werden. Von der Menschenwürde, die nach 105 Jahren in Haft so verwest ist, wie der Leib desjenigen, den man inhaftiert hat, gar nicht erst zu reden.



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Gedanken zum Mindestlohn

Mittwoch, 9. November 2011

Ein Gastbeitrag von Timo Zimmermann.

In Deutschland ist nach einem Kurswechsel der CDU/CSU die Debatte um einen Mindestlohn wieder aufgeflammt. Auch in der CDU/CSU finden sich vermehrt Bedenkenträger gegen einen Lohn, von dem der Mensch nicht leben könne. Die Kritik ist noch etwas zögerlich, denn in der CDU/CSU weiß man auch, dass der Anspruch, der Lohn möge Lebensmittel sein, in der freien Marktwirtschaft systemwidrig ist. So sagte der Vorsitzende der Unions-Mittelstandsvereinigung, Hans Michelbach (CSU), dem Kölner Stadt-Anzeiger, eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze sei "ordnungspolitisch nicht vertretbar". Sie widerspreche "den Prinzipien der Marktwirtschaft", für die die Union stehe. Das darf man jetzt aber nicht als Systemkritik missverstehen.

Der Mindestlohn ist nur die Spitze des Eisberges

Während im Zusammenhang mit dem Mindestlohn zumeist auf die sächsische Friseuse mit ihren vier Euro in der Stunde verwiesen wird, die von ihrer Vollzeitstelle nicht leben könne, muss man zunächst einmal sagen, dass kein Lohn zum Leben taugt, von einigen Spitzensalärs vielleicht einmal abgesehen. Niemand, auch nicht der Facharbeiter bei VW, kann von seinem Lohn sein ganzes Leben finanzieren.

Zunächst ist ihm seine Einkommensquelle gar nicht lebenslang garantiert. Sein Arbeitsplatz kann jederzeit wegrationalisiert werden und damit seine einzige Einkommensquelle. Wird er dauerhaft krank oder später einmal alt, dann hat er ebenfalls kein Einkommen mehr, von dem er leben kann. Hier wird der Lohn erst zu einem mehr oder weniger Lebensmittel hingebogen, durch die zwangsweise Umverteilung des Gesamtlohns aller Arbeitenden, im System der staatlichen Versicherungskassen. Wobei jeder Arbeiter heute schon weiß, dass ihm eine relevante spätere Rente keineswegs garantiert ist. Es ist eben so, dass es kaum ein Lohnabhängiger schafft, mit seinem Lohn ein wirkliches Vermögen aufzubauen. Laut amtlicher Statistik verfügen 60 Prozent der Deutschen über so gut wie kein Vermögen oder haben sogar ein negatives Vermögen - also Schulden. Das macht klar, dass hier keine Reserven vorhanden sind, um einkommenslose Zeiten mithilfe von Rücklagen selbst zu finanzieren. Die Wenigsten würden wohl ein halbes Jahr ohne Einkommen aus eigener Kraft überleben. Die eine Million Vollzeitbeschäftigten, die unter fünf Euro/Stunde verdienen, sind also nur die Spitze des Eisberges.

Warum verdienen einige Leute wenig und andere noch viel weniger?

Warum zahlen Unternehmen eigentlich so wenig Lohn, dass er nicht zur Vermögensbildung taugt und vielen sogar nur einen Hungerlohn? Die Antwort ist einfach: Weil sie es wollen und können. Ein Lohn ist nicht in Stein gemeißelt, sondern das Resultat des Streits zweier gegensätzlicher Interessen. Ein Unternehmen will viel Leistung zum kleinen Preis. Die Belegschaft hat ungefähr das umgekehrte Interesse. Die Unternehmerseite hat in diesem Konflikt das gewichtige Erpressungsmittel, dass die Leute auf Geld zum Leben angewiesen sind.

Die Arbeiter können versuchen, durch die Drohung mit kollektiver Arbeitsverweigerung den Preis ein wenig in die Höhe zu treiben. Freilich müssen sie dabei das Interesse der Unternehmerseite mit berücksichtigen und sich selbst immer ein Stück bremsen, denn der Reiz für eine Anstellung darf beim "Arbeitgeber" nicht verloren gehen. Jobs mit geringen Qualifizierungkosten, bei denen Arbeiter leicht zu ersetzen sind, haben traditionell ein geringeres Erpressungspotential. Hinzu kommt, dass in diesen Branchen der kollektive Lohnkampf bei den Arbeitern noch unbeliebter ist als eh schon, der Organisierunggrad gering und die Gewerkschaften sehr konstruktiv mit dem Thema Niedriglohn umgehen.

Die Kritiker des Mindestlohns

Während ganze Horden von studierten BWLern den ganzen Tag damit beschäftigt sind, das Verhältnis von Lohn und Leistung zugunsten des Unternehmens zu optimieren, behauptet der Arbeitgeberverband, dass niedrige Löhne vor allem den Beschäftigten nützten, weil sie die Unternehmen andernfalls durch Maschinen oder Standorte im Ausland ersetzen würden. Natürlich darf man so etwas nicht als Erpressung missverstehen. Und natürlich ist überhaupt eine Arbeit zu haben bereits alles, was ein Arbeiter zum Glücklichsein braucht, egal, was er dafür bekommt. Die Süddeutsche Zeitung, in ihrer unnachahmlichen Art, adelt die überhauptige Beschäftigung und macht Unternehmer gar zum warmherzigen Gutmenschen:
"Ein schlecht bezahlter Job ist besser als keiner, weil er die Chance bietet, sich im Arbeitsleben zu halten und dort hoffentlich sogar voranzukommen – das ist das Gegenteil von sozialer Kälte." (SZ vom 31. Oktober 2011)
Auch die Tatsache, dass durch den Einsatz von Technik und moderner Arbeitsorganisation im Unternehmen bei vielen Tätigkeiten ein Arbeiter immer leichter austauschbar wird – eine gute Bedingung, um Löhne zu drücken – wird noch als Wohltat dargestellt. Niedrige Löhne erleichterten Geringqualifizierten, eine Arbeit zu finden und verhinderten Schwarzarbeit. Obwohl die Leute nur wegen des Lohns arbeiten gehen, soll ihnen also ausgerechnet ein niedrigerer Lohn einen größeren Nutzen versprechen. Weil das ja immer noch besser als überhaupt kein Einkommen sei.
Das kann als Lob des Niedriglohns nur derjenige missverstehen, der großzügig die Augen verschließt vor der systembedingten Zwangslage, dass man ohne Geld in einer Marktwirtschaft nicht leben kann, weshalb manchmal Leute sogar darüber froh sind, überhaupt irgendeinen einen Job zu haben. Aber eben aus dieser Not heraus.

Zu guter Letzt wird von den Unternehmern auch gerne noch behauptet, dass man schon sehr gerne sehr viel mehr bezahlen würde, aber das Unternehmen dann leider Leute entlassen müsse. Auch für diese offenkundige Lüge bekommen sie von Teilen der Presse Rückendeckung:
"Die allermeisten Arbeitgeber sind nicht böse. Sie wollen gerne gut zahlen – auch (sic!) weil sie dann gute Leistung bekommen. Sie können es häufig nur nicht, wenn sie die Belegschaft nicht dezimieren wollen." (SZ vom 31.Oktober 2011)
Glaubte man dieses Argument, würde das bedeuten, dass der Gewinn eine Größe sei, die paritätisch in mehr Beschäftigung und mehr Lohn "investiert" werden würde. Jeder möge aus seiner Erfahrung mit diverse Rationalisierungsrunden den Wahrheitsgehalt dieser Aussage prüfen oder den BWL-Berater seines Vertrauens zu Rate ziehen.

Die Befürworter des Mindestlohns

Die Gewerkschaften verlangen zwar nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Man sollte ihnen aber nicht durchgehen lassen, dass es sich bei den Löhnen von teilweise unter fünf Euro Stundenlohn um Tariflöhne handelt, unter die sie ihre Unterschrift gesetzt haben. Auch ihnen ist, bei aller Kritik, eine Beschäftigung überhaupt lieber als ein Job, von dem man leben kann. Das nennen sie Pragmatismus. Und die Mindestlöhne, die sie beispielsweise in der Zeitarbeitsbranche durchgesetzt haben, belaufen sich auf 6,89 Euro/Stunde (Ost) und 7,79 Euro/Stunde (West). Der ausgehandelte Mindestlohn im Osten entspricht hier bei einer 40-Stunden-Woche einem Monatslohn von 1.100 Euro - brutto, wohlgemerkt. Eine Summe, die im Grunde für sich spricht.

In der Politik regt sich schon länger Kritik an der staatlichen Subventionierung von Billigarbeit. Es ist davon die Rede, dass der Staat inzwischen elf Milliarden Euro für die Aufstockung von Niedriglöhnen auf Hartz IV-Niveau bezahlt. Als Lösung gilt ein gesetzlicher Mindestlohn. Von den Linksparteien seit langem gefordert, ist nun auch die CDU im Prinzip dafür. Verkauft wird die Sache natürlich als Wohltat für die armen Menschen. Die "Menschenwürde" gebiete einen Lohn, von dem man leben könne, heißt es aus Teilen der CDU. Für die SPD ist so ein Leben am Lohnminimum sogar gleich ein gutes Leben: "Wer gut arbeitet, soll einen guten Lohn erhalten, deshalb Mindestlöhne."

Ein kritisches Fazit

Mindestlohn, das klingt in vielen, auch kritischen Ohren, gut. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Debatte um einen Mindestlohn vor allem deshalb aufkommt, weil es bei der Entlohnung seit Jahren nur noch nach unten geht, weil Politik und Wirtschaft einen gewaltigen Niedriglohnsektor geschaffen haben und eine Hartz IV-Sozialhilfe auf Niedrigstniveau, die einen zur Annahme von Billigjobs presst. Die Forderung nach einem Mindestlohn ist aber auch eine Bankrotterklärung für die Gewerkschaften, die keine höheren Tariflöhne durchgesetzt haben. Ob aus Unfähigkeit oder Unwillen, ist an dieser Stelle fast egal.

Auch für das System der Marktwirtschaft ist die aktuelle Debatte eine Bankrotterklärung. Oder soll man es wirklich dem Kapitalismus, dem angeblich besten Versorgungssystem der Menschheitsgeschichte, als Leistung anrechnen, dass nach zirka 250 Jahren seiner Existenz, mit wohl tausenden Prozenten Produktivitätssteigerung seither, in einem der höchstentwickeltsten Länder dieser Welt, Menschen für eine Vollzeitstelle einen Lohn bekommen, von dem sie nicht einmal leben können? Oder eben einen Mindestlohn bekommen sollen, der mal eben so verhindert, dass sie bettelnd auf der Straße leben müsse? Oder einen Lohn, der sie ihr Leben lang von der Hand in den Mund leben lässt und keine nennenswerte Vermögensbildung zulässt? Während der Reichtum in den Händen der Besitzenden – von kleineren Krisendelle abgesehen - von Rekordstand zu Rekordstand steigt? Und die Leute, die täglich zur Arbeit gehen? Sind denn tatsächlich alle so bescheiden geworden, dass sie sich mit einem System zufrieden geben, dass der Mehrheit wohl bis in alle Ewigkeit kaum mehr als ihre nackte und stets ungewisse Existenz zu versprechen vermag?



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