Sit venia verbo

Dienstag, 6. Januar 2009

"Das Bild, dem zufolge sich die muslimische Welt im Krieg mit dem Abendland befindet, ist eine Ausgeburt der Fantasie. Eine solche "muslimische Welt" existiert nicht. Der Großteil der Konflikte im Mittleren Osten wird zwischen Muslimen ausgetragen. Die bestehenden Regime verstehen sich mehrheitlich als Verbündete des Westens. Das erklärt im Übrigen auch, warum der Iran unter Präsident Ahmadinedschad nach Verbündeten unter den lateinamerikanischen Populisten sucht und nicht bei seinen Nachbarn.
Die Islamisierung wird nur dann zu einem strategischen Faktor, wenn sie sich mit einer weiteren Determinante überschneidet, im Allgemeinen einer nationalistischen (wie im Falle des Hamas oder des Iran), einer ethnischen oder einer tribalistischen (für die Taliban treffen alle drei Punkte zu). Die Komplexität des Spiels der Allianzen widerlegt die demagogische Simplifizierung, die das Schlagwort vom "weltweiten Krieg gegen den Terrorismus" impliziert"
(...)
Der politische Rahmen ist in erster Linie national definiert. Überall ist das Staatsangehörigkeitsrecht sehr restriktiv, der Status von Flüchtlingen prekär, auch wenn sie Araber und Muslime sind. Überall neigen die staatliche Logik und die populäre Demagogie zur Ausgrenzung des anderen, mag er auch Muslim sein. Die Palästinenser im Libanon, die Afghanen im Iran, die Menschen aus Mali in Libyen: Sie alle haben diese bittere Erfahrung gemacht. Im Iran gilt für einen schiitischen, Persisch sprechenden Afghanen, der eine Iranerin heiraten will, dasselbe aufwändige Verfahren, wie für einen nicht-muslimischen Europäer, der zumindest theoretisch konvertieren muss. In den Emiraten am Golf ist zu beobachten, dass die staatlichen Behörden und die öffentliche Meinung sich darüber empören, es würden zu viele Ehen mit "ausländischen" Frauen geschlossen (denn die Brautpreise für die "eigenen" Frauen sind nicht mehr erschwinglich). Nur Jordanien hat die palästinensischen Flüchtlinge von 1948 integriert. Die gleichen Menschenmassen, die in Kairo für Palästina auf die Straße gingen, würden vehement gegen das Ansinnen protestieren, die ägyptische Staatsbürgerschaft auf palästinensische Flüchtlinge auszudehnen. Bei der amerikanischen Intervention im Irak wiederholt sich das Muster: Man bekundet Solidarität mit den Irakern in ihrem Kampf gegen die Amerikaner, aber die zwei Millionen irakischen Flüchtlinge, die sich in anderen arabischen Ländern niederlassen wollen, stoßen bei der lokalen Bevölkerung auf Ressentiments."
- Olivier Roy, "Der falsche Krieg" -

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