Kultfigur Mandela
Samstag, 28. Juni 2008
"Nicht für einen Augenblick kann ich eine politische Einrichtung als meine Regierung anerkennen, die zugleich auch die Regierung von Sklaven ist." (Henry David Thoreau, "Civil Disobedience") - Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob Rolihlahla Dalibhunga Mandela, genannt Nelson, jemals Thoreaus kurzes Traktat gelesen hat, ob die Gefängnisbibliothek auf Robben Island dergleichen Schriften überhaupt führte. Aber welche Rolle spielt das schon? Immerhin hat Mandela, ob belesen in Sachen Ungehorsamspflicht oder nicht, nach den stoischen Grundsätzen Thoreaus gehandelt. Er ertrug 28 Jahre lang - von 1962 bis 1990 - seinen "angemessenen Platz", entzog sich ihm auch nicht durch fadenscheinige Angebote, die man ihm ab 1985 verstärkt unterbreitete. "Unter einer Regierung, die irgend jemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen rechtschaffenen Menschen." (Henry David Thoreau, "Civil Disobedience") - Mandela hielt sich, bewußt oder unbewußt, inspiriert oder selbst erdacht, an die Worte des US-amerikanischen Freiheitsphilosophen und Individualisten, blieb folglich lieber Häftling, als sich dem gesetzlich legitimierten Unrecht zu beugen. Seine persönliche Freiheit erschien ihm nicht wertvoll genug, dafür dem Widerstand der schwarzen Südafrikaner in den Rücken zu fallen. Ein Widerstand, der freilich durch jahrzehntelange Unterdrückung zu einem gewaltsamen Kampf entartet war. Aus Sicht des Apartheid-Regimes, aus Sicht eines starrköpfigen Rechtspositivismus generell, war Mandela in diesen Tagen ein Terrorist, für den man sich eine groß inszinierte Geburtstagsfeier nicht hätte vorstellen können.
Aber Mandela als zu Ehren gekommenen Terroristen zu bezeichnen greift zu kurz, nihiliert ja geradezu die Gewalt, das zum Himmel schreiende Unrecht, welches an den Schwarzen Südafrikas alltäglich begangen wurde. Wie sich dieses Unrecht äußerte, notierte ich bereits vor einigen Monaten in einem anderen Zusammenhang an dieser Stelle. Die damaligen Zeilen sollen hier noch mal zitiert werden:
Wahrlich, als Terrorist kann und wird Mandela nicht in die Geschichte eingehen, auch wenn er in vielen Facetten einem solchen glich, weil er sich nicht treu einem positiven Gesetz unterwarf, welches ihn als schwarzen Bürger Südafrikas zum Menschen dritter Klasse gemacht hätte. Der intellektuell beschlagene Rechtsanwalt aus der Transkei glänzt da schon eher mit einer philosophisch fundierten Sichtweise des Freiheitskampfes. Vielleicht scheiterte er auch gerade deshalb - gemäß der alten Weisheit, fern vom platonischen Staat, wonach Philosophen nicht als Politiker taugen - später als Präsident seines Landes, bzw. konnte nicht in dem Ausmaße glänzen wie als führender und denkender Kopf einer Bürgerrechtsbewegung. Wie gesagt, ob Thoreau zu seiner Lektüre gehörte, läßt sich nicht beantworten, lediglich vermuten und erahnen. Und doch ist es gerade das Stoische, standhaft bleibende Verhalten und die Einsicht im Gefängnis am "angemessenen Platz" zu sein, die Mandela zum Freiheitsphilosophen machten. Anders als Thoreau aber, der nur eine Nacht im Gefängnis zubrachte, weil er eine Steuer nicht bezahlen wollte - ein Bekannter übernahm die Schuld und erwirkte somit seine schnelle Freilassung -, kann der Südafrikaner nicht als stiller, kontemplativer, auf Schriften fixierter Philosoph gelten, sondern als eingreifender, maßgebender, als politisch aktiver Denker, den selbst Stacheldraht und Stahlgitter nicht bremsen konnten. Selbst als er vor der Küste Kapstadts isoliert in Haft saß - eben auf oben erwähnter Insel Robben Island -, wurde sein auf Sturheit und Unnachgiebigkeit begründeter Widerstand gegen das Regime von den Massen aufgegriffen, wurde Mandela zur eingesperrten, daher gesichtslosen Gestalt des Freiheitskampfes. Fern des Geschehens, nur durch sein gelebtes Beispiel ungehorsamen Auftretens, erwirkte er eine Autorität, welche ihn zum wahren Geistesvater afrikanische Emazipation machte. Für ihn zählten nicht sichtbare Kategorien wie weiße oder schwarze Hautfarbe; er bemächtigte sich Martin Luthers Anspruch, dass nach der Unterdrückung von Schwarzen durch Weiße, nicht eine Umkehrung der Farben geschehen dürfe. So kam er in den Ruf, der weise Mann des Widerstandes zu sein - Widerstandsphilosoph, pazifistisch gesittet, aber nicht bereit mit Gutmütigkeit in den Tod zu laufen. Laute Worte waren nicht sein Stil, wohl aber ehrliche und direkte Reden, die sich fern von jeglicher beschönigender Diplomatie hielten, dafür aber Inhalte in sich trugen, die Pretoria in Verlegenheit bringen mußten. Mandela steht im Emanzipationskampf der Schwarzen neben Martin Luther King und Malcolm X; im Kampf autochthoner Völker gegen unterdrückende Okkupanten auf einer Stufe mit Mahatma Gandhi - zweifelsohne einer der großen Afrikaner des letzten Jahrhunderts und ein der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Mir scheint es nicht ausgeschlossen, dass eines Tages ein neuer Bertold Brecht eine Hommage an Nelson Mandela niederschreibt, in der dieser gleich dem Galilei als standhafter Rebell mit Manieren gezeichnet wird; als Luthergestalt, die "hier steht und nicht anders kann".
Gestern also wurde Mandela in London gefeiert. Da Madiba in drei Wochen seinen 90. Geburtstag feiern wird, wollte man etwas Besonderes und Denkwürdiges bieten. So entstand ein Geburtstagsprogramm, angefüllt mit prominenten Künstlern wie Will Smith nebst Ehefrau Jada Pinkett, Amy Winehouse, Queen, Eddy Grant, Annie Lennox, Jim Kerr und weiteren. Letzterer behauptete, dass das letzte Konzert vor 20 Jahren, als man an Mandela 70. Geburtstag dessen Freilassung forderte, eine andere, aufgeheiztere Stimmung vorfand - Wut und Verärgerung, wohl auch Ohnmacht ließen ein Konzert zur politischen Kundgebung werden. Doch am gestrigen Abend wurde aus einer möglichen politischen Botschaft, eine Veranstaltung des Feierns und der Belanglosigkeit. Man reihte Musikdarbietungen aneinander, wartete bis Nelson Mandela drei Minuten zur Menge sprach und feierte danach munter weiter. Natürlich gab es auch ein humanitäres Moment, denn mit den Einnahmen der Veranstaltung soll Mandelas Aidsstiftung 46664 unterstützt werden. Immer wieder kommen einem Neil Postmans ("Wir amüsieren uns zu Tode") Thesen in den Sinn, wonach die heutigen Massenmedien nurmehr Unterhaltung transportieren, selbst wenn sie Ernsthaftigkeiten übermitteln wollen. Und so wurde aus eben diesem ernsten Motiv - den Aidsopfern Unterstützung zukommen zu lassen -, eine Veranstaltung der zügellosen Freude, mit Tanz und Gesang, wohl auch mit Freuden für Gaumen und Leber. Tanzen, Feiern, Fröhlichsein, damit man den kranken Verelendeten, so wie sie uns Henning Mankell in "Ich sterbe, aber die Erinnerung bleibt" beschreibt, einen kleinen Dienst erweisen kann. Hier spiegelt sich der Perversität des globalen Wahnsinns wider.
Mandelas Lebenswerk wiederum, seine philosophisch geschulte Dialektik, die er im Freiheitskampf einsetzte, um den Menschen striktes Einstehen für Freiheit aufzuzeigen, wurde einer Banalisierung unterworfen. Er wurde zum Kultstar stilisiert, zum großen alten Mann, von dem man vom Hörensagen weiß, dass er nett und klug sein soll und der den Frieden liebt bis in die letzte Zelle seines Körpers. Eine Kultgestalt, wie sie die oberflächliche Berichterstattung unserer Zeit benötigt, um den Menschen unterhaltend mitzuteilen, dass da jemand mit Weisheit gewirkt hat. Statt sich am 90. Geburtstag dieses Mannes mit der Geschichte zu befassen - mit seiner Geschichte! -, wird feuchtfröhlich gefeiert, mit roten Bäckchen und Lachfalten der Aidsopfer gedacht und Mandelas Auftritt mit weltferner Entrücktheit begangen. Der einstige Held des Freiheitskampfes ein Rockstar!
Aus einer Person, die das 20. Jahrhundert nicht nur in Afrika, sondern weltweit geprägt hat, die die ganze Weltgeschichte befruchtete mit seinem Wirken, wurde am gestrigen Abend eine banale Randerscheinung, eine oberflächliche Gestalt, die einer PR-Werkstatt entschlüpft schien; ein Heiliger des Fernsehens, der vergessen ist, sobald die Kameras abgeschaltet sind; ein gutmütiger Nikolaus moderner Prägung, der in seiner altersbedingten Gebrechlichkeit Güte ausstrahlt, ohne überhaupt Botschaften seines Denkens verkünden zu müssen. Gestern wurde nicht das hohe Alter eines Mannes gefeiert, sondern dessen Beerdigung in kaschierter Weise dargeboten. Physisch ist er noch unter uns, aber von seinem Wirken, von seiner Standhaftigkeit, den Inhalten seiner Lebenseinsichten - will man es "Lehren" nennen? - und seinen politisch-philosophischen Ansichten, will scheinbar niemand mehr etwas wissen. Gestern wurde beerdigt, wurde aus den 28 Jahren in Robben Island ein Medienspektakel gemacht, welches mit allen geschmacklosen Platitudes garniert wurde, die überhaupt denkbar sind. Ein Zahlenspiel, wenn man so will: Aus Mandelas 46664 wurde ein 08/15-Zirkus gemacht. Damit ist Nelson Mandela endgütlig im 21. Jahrhundert angekommen: als Kultstar und banaler Held einer satten Gesellschaft, die mit Mandelas physischer Erscheinung eine besonders seltsame Form von Selbstbeweihräucherung vollzieht. Der Geist dieses Mannes, der sich nie einfangen und einsperren ließ, steht heute nicht mehr zur Diskussion. Als Kultstar braucht es derlei Diskussionen nicht. Dabei wäre es heute nötiger denn je mit Thoreau aufzuwarten, und diesem aktiven Schüler - wenn man ihn so nennen darf - des US-amerikanischen Philosophen mit der Honorierung seiner sturen Standhaftigkeit, seiner Liebe zur Gerechtigkeit und nicht zum Gesetz entgegenzutreten. Mandela könnte auch für diese und kommende Generationen zum Wegweiser werden, wenn man sich nicht dazu hinreißen ließe, diesen Mann ins Triviale herunterzuziehen, den man nur noch seiner selbst willen feiert.
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Aber Mandela als zu Ehren gekommenen Terroristen zu bezeichnen greift zu kurz, nihiliert ja geradezu die Gewalt, das zum Himmel schreiende Unrecht, welches an den Schwarzen Südafrikas alltäglich begangen wurde. Wie sich dieses Unrecht äußerte, notierte ich bereits vor einigen Monaten in einem anderen Zusammenhang an dieser Stelle. Die damaligen Zeilen sollen hier noch mal zitiert werden:
"Apartheid: aus dem Afrikaans stammend, von apart, "getrennt, einzeln" - soweit die begriffliche Definition. Historisch betrachtet bedeutete sie strikte Rassentrennung und radikalisierte die traditionell südafrikanische Segrationspolitik beträchtlich. In einer wahren Gesetzesflut erhob sie sich zur allumfassenden Staatsdoktrin. Die Apartheidgesetze ließen sich in vier Funktionsbereiche unterordnen: a) die Absicht "Rasseneinheit" zu garantieren, b) die physische Trennung der vier gesetzlich festgeschriebenen Rassen (Weiße, Schwarze, Farbige und Asiaten) umzusetzen, c) eine effektive politische Vorherrschaft der Weißen zu sichern und d) eine umfassende Kontrolle vor allem der Schwarzen in nahezu jeden Lebensbereich zu erlauben.Mandela verurteilte unangebrachte Gewalt, duldete das sogenannte Necklacing nicht, bei dem einem Opfer in Benzin getränkte Autoreifen um Hals und Arme gehängt und danach angezündet wurden. Als man Winnie Mandela, der Ehefrau Nelsons, eine Mitbeteiligung bei mindestens einem Fall von Necklacing nachgeweisen konnte, trieb dies den Bruch zwischen den Eheleuten Mandela voran. Nein, vielmehr sprach er sich für eine Widerstandsgewalt aus, eine Form "gerechter Gewalt", die dazu dient, sich von dem Joch zu befreien, das ein Peiniger seinem Opfer auferlegt.
Um die sogenannte "Rasseneinheit" zu garantieren und folglich auch zu wahren, waren Eheschließungen über die Rassengrenzen hinweg verboten (Prohibition of Mixed Marriages Act, 1949). Ein Jahr später wurde bereits der Geschlechtsverkehr von Weißen mit Angehörigen anderer Rassen unter Strafe gestellt (Immorality Amendment Act), der bereits seit 1927 verboten, aber nicht sanktioniert wurde. Grundpfeiler des Apartheidsystems war der Population Registration Act von 1950, der jeden Einwohner Südafrikas einer der vier Rassen zuordnete. Ausweispapiere dokumentierten die Rassenzugehörigkeit ihrer Besitzer. Die Hautfarbe war das dominierende Merkmal des südafrikanischen Herrschaftssystems.
Der Group Areas Act von 1950 erlaubte es der Regierung, die Angehörigen "niederer Rassen" zwangsweise umzusiedeln, wenn nötig auch mit Gewalt. Ziel war es, rassisch homogene Siedlungsstrukturen entstehen zu lassen. Spätere Gesetze engten die Aufenthaltsrechte von Schwarzen in weißen Siedlungsgebieten weiter ein. Durch die Schaffung sogenannter Bantustans - später Homelands - gelang es der Regierung in Pretoria, dem Ausland phasenweise eine "positive Apartheid" vorzugaukeln. Diese Reservate der Schwarzen sollten später in eine (kontrollierte) Unabhängigkeit entlassen werden und die Bewohner aus den südafrikanischen Staatenverband ausscheiden. Als Fremdarbeiter auf dem Gebiet des weißen Südafrika waren sie somit gänzlich rechtlos. Generell zielte Pretoria darauf ab, den Entwicklungsstand der Schwarzen niedrig zu halten und sie gleichermaßen politisch zu spalten.
Mit dem Suppression of Communism Act von 1950 schuf sich die Regierung eine Waffe, die vielseitig verwendbar war. Indem dieses Gesetz schwammig formuliert wurde, kaum konkrete Sachverhalte angab, konnten unangenehme (schwarze) Gruppierungen als kommunistische Vereinigungen aufgelöst und die Protagonisten verurteilt werden. (Bis 1976 wurde dieses Gesetz rund achtzigmal den politischen Gegebenheiten angepaßt.)
Das Gesetz zur Abschaffung der Ausweise (Abolition of Passes and Consolidation of Documents Act) offenbarte sich als euphemistische Wortspielerei, denn Ausweise wurden zwar abgeschafft, aber durch ein "Reference Book" ersetzt. Dieses Nachweisbuch mußte immer mit sich geführt werden und enthielt umfangreiche persönliche Daten, womit die ständige Kontrolle der Schwarzen (auch der Farbigen und Asiaten) gewährleistet wurde. Weitere Kontrollgesetze sorgten dafür, daß qualifizierte Arbeitsplätze nur an Weiße fielen und das Streikrecht für Schwarze beschränkt wurde. In die gleiche Kerbe schlug auch der Bantu Education Act von 1953, der ein getrenntes Schulsystem definierte und weißen Schülern ein Mehrfaches an Mitteln zu Verfügung stellte. Da durch den Bantu Education Act Erziehung unter die Regierungsaufsicht fiel, wurde den Missionsschulen eine apartheidkritische Erziehungsarbeit faktisch verboten."
Wahrlich, als Terrorist kann und wird Mandela nicht in die Geschichte eingehen, auch wenn er in vielen Facetten einem solchen glich, weil er sich nicht treu einem positiven Gesetz unterwarf, welches ihn als schwarzen Bürger Südafrikas zum Menschen dritter Klasse gemacht hätte. Der intellektuell beschlagene Rechtsanwalt aus der Transkei glänzt da schon eher mit einer philosophisch fundierten Sichtweise des Freiheitskampfes. Vielleicht scheiterte er auch gerade deshalb - gemäß der alten Weisheit, fern vom platonischen Staat, wonach Philosophen nicht als Politiker taugen - später als Präsident seines Landes, bzw. konnte nicht in dem Ausmaße glänzen wie als führender und denkender Kopf einer Bürgerrechtsbewegung. Wie gesagt, ob Thoreau zu seiner Lektüre gehörte, läßt sich nicht beantworten, lediglich vermuten und erahnen. Und doch ist es gerade das Stoische, standhaft bleibende Verhalten und die Einsicht im Gefängnis am "angemessenen Platz" zu sein, die Mandela zum Freiheitsphilosophen machten. Anders als Thoreau aber, der nur eine Nacht im Gefängnis zubrachte, weil er eine Steuer nicht bezahlen wollte - ein Bekannter übernahm die Schuld und erwirkte somit seine schnelle Freilassung -, kann der Südafrikaner nicht als stiller, kontemplativer, auf Schriften fixierter Philosoph gelten, sondern als eingreifender, maßgebender, als politisch aktiver Denker, den selbst Stacheldraht und Stahlgitter nicht bremsen konnten. Selbst als er vor der Küste Kapstadts isoliert in Haft saß - eben auf oben erwähnter Insel Robben Island -, wurde sein auf Sturheit und Unnachgiebigkeit begründeter Widerstand gegen das Regime von den Massen aufgegriffen, wurde Mandela zur eingesperrten, daher gesichtslosen Gestalt des Freiheitskampfes. Fern des Geschehens, nur durch sein gelebtes Beispiel ungehorsamen Auftretens, erwirkte er eine Autorität, welche ihn zum wahren Geistesvater afrikanische Emazipation machte. Für ihn zählten nicht sichtbare Kategorien wie weiße oder schwarze Hautfarbe; er bemächtigte sich Martin Luthers Anspruch, dass nach der Unterdrückung von Schwarzen durch Weiße, nicht eine Umkehrung der Farben geschehen dürfe. So kam er in den Ruf, der weise Mann des Widerstandes zu sein - Widerstandsphilosoph, pazifistisch gesittet, aber nicht bereit mit Gutmütigkeit in den Tod zu laufen. Laute Worte waren nicht sein Stil, wohl aber ehrliche und direkte Reden, die sich fern von jeglicher beschönigender Diplomatie hielten, dafür aber Inhalte in sich trugen, die Pretoria in Verlegenheit bringen mußten. Mandela steht im Emanzipationskampf der Schwarzen neben Martin Luther King und Malcolm X; im Kampf autochthoner Völker gegen unterdrückende Okkupanten auf einer Stufe mit Mahatma Gandhi - zweifelsohne einer der großen Afrikaner des letzten Jahrhunderts und ein der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Mir scheint es nicht ausgeschlossen, dass eines Tages ein neuer Bertold Brecht eine Hommage an Nelson Mandela niederschreibt, in der dieser gleich dem Galilei als standhafter Rebell mit Manieren gezeichnet wird; als Luthergestalt, die "hier steht und nicht anders kann".
Gestern also wurde Mandela in London gefeiert. Da Madiba in drei Wochen seinen 90. Geburtstag feiern wird, wollte man etwas Besonderes und Denkwürdiges bieten. So entstand ein Geburtstagsprogramm, angefüllt mit prominenten Künstlern wie Will Smith nebst Ehefrau Jada Pinkett, Amy Winehouse, Queen, Eddy Grant, Annie Lennox, Jim Kerr und weiteren. Letzterer behauptete, dass das letzte Konzert vor 20 Jahren, als man an Mandela 70. Geburtstag dessen Freilassung forderte, eine andere, aufgeheiztere Stimmung vorfand - Wut und Verärgerung, wohl auch Ohnmacht ließen ein Konzert zur politischen Kundgebung werden. Doch am gestrigen Abend wurde aus einer möglichen politischen Botschaft, eine Veranstaltung des Feierns und der Belanglosigkeit. Man reihte Musikdarbietungen aneinander, wartete bis Nelson Mandela drei Minuten zur Menge sprach und feierte danach munter weiter. Natürlich gab es auch ein humanitäres Moment, denn mit den Einnahmen der Veranstaltung soll Mandelas Aidsstiftung 46664 unterstützt werden. Immer wieder kommen einem Neil Postmans ("Wir amüsieren uns zu Tode") Thesen in den Sinn, wonach die heutigen Massenmedien nurmehr Unterhaltung transportieren, selbst wenn sie Ernsthaftigkeiten übermitteln wollen. Und so wurde aus eben diesem ernsten Motiv - den Aidsopfern Unterstützung zukommen zu lassen -, eine Veranstaltung der zügellosen Freude, mit Tanz und Gesang, wohl auch mit Freuden für Gaumen und Leber. Tanzen, Feiern, Fröhlichsein, damit man den kranken Verelendeten, so wie sie uns Henning Mankell in "Ich sterbe, aber die Erinnerung bleibt" beschreibt, einen kleinen Dienst erweisen kann. Hier spiegelt sich der Perversität des globalen Wahnsinns wider.
Mandelas Lebenswerk wiederum, seine philosophisch geschulte Dialektik, die er im Freiheitskampf einsetzte, um den Menschen striktes Einstehen für Freiheit aufzuzeigen, wurde einer Banalisierung unterworfen. Er wurde zum Kultstar stilisiert, zum großen alten Mann, von dem man vom Hörensagen weiß, dass er nett und klug sein soll und der den Frieden liebt bis in die letzte Zelle seines Körpers. Eine Kultgestalt, wie sie die oberflächliche Berichterstattung unserer Zeit benötigt, um den Menschen unterhaltend mitzuteilen, dass da jemand mit Weisheit gewirkt hat. Statt sich am 90. Geburtstag dieses Mannes mit der Geschichte zu befassen - mit seiner Geschichte! -, wird feuchtfröhlich gefeiert, mit roten Bäckchen und Lachfalten der Aidsopfer gedacht und Mandelas Auftritt mit weltferner Entrücktheit begangen. Der einstige Held des Freiheitskampfes ein Rockstar!
Aus einer Person, die das 20. Jahrhundert nicht nur in Afrika, sondern weltweit geprägt hat, die die ganze Weltgeschichte befruchtete mit seinem Wirken, wurde am gestrigen Abend eine banale Randerscheinung, eine oberflächliche Gestalt, die einer PR-Werkstatt entschlüpft schien; ein Heiliger des Fernsehens, der vergessen ist, sobald die Kameras abgeschaltet sind; ein gutmütiger Nikolaus moderner Prägung, der in seiner altersbedingten Gebrechlichkeit Güte ausstrahlt, ohne überhaupt Botschaften seines Denkens verkünden zu müssen. Gestern wurde nicht das hohe Alter eines Mannes gefeiert, sondern dessen Beerdigung in kaschierter Weise dargeboten. Physisch ist er noch unter uns, aber von seinem Wirken, von seiner Standhaftigkeit, den Inhalten seiner Lebenseinsichten - will man es "Lehren" nennen? - und seinen politisch-philosophischen Ansichten, will scheinbar niemand mehr etwas wissen. Gestern wurde beerdigt, wurde aus den 28 Jahren in Robben Island ein Medienspektakel gemacht, welches mit allen geschmacklosen Platitudes garniert wurde, die überhaupt denkbar sind. Ein Zahlenspiel, wenn man so will: Aus Mandelas 46664 wurde ein 08/15-Zirkus gemacht. Damit ist Nelson Mandela endgütlig im 21. Jahrhundert angekommen: als Kultstar und banaler Held einer satten Gesellschaft, die mit Mandelas physischer Erscheinung eine besonders seltsame Form von Selbstbeweihräucherung vollzieht. Der Geist dieses Mannes, der sich nie einfangen und einsperren ließ, steht heute nicht mehr zur Diskussion. Als Kultstar braucht es derlei Diskussionen nicht. Dabei wäre es heute nötiger denn je mit Thoreau aufzuwarten, und diesem aktiven Schüler - wenn man ihn so nennen darf - des US-amerikanischen Philosophen mit der Honorierung seiner sturen Standhaftigkeit, seiner Liebe zur Gerechtigkeit und nicht zum Gesetz entgegenzutreten. Mandela könnte auch für diese und kommende Generationen zum Wegweiser werden, wenn man sich nicht dazu hinreißen ließe, diesen Mann ins Triviale herunterzuziehen, den man nur noch seiner selbst willen feiert.