In nuce

Freitag, 29. Februar 2008

Aus der dümmlichen BILD-Kampagne gegen die LINKE scheint mehr und mehr eine quasi-kriminelle Agitation zu werden. Es kommt einem journalistischem Verbrechen gleich, wie man mit spärlichen Kommentaren und aufgebauschten Angstszenarien, die einzig und alleine durch unbegründete Behauptungen genährt werden, den Bürgern erklärt, wie nahe die DDR bereits sei. BILD-Kommentator Georg Gafron malt des Deutschen ewiges Schreckgespenst an die Wand: Den Arbeitsplatzverlust. "Besonders Investoren aus dem In- und Ausland wird das vom Standort Deutschland abschrecken." Kein seriöser Investor läßt sich lediglich von den Steuerabgaben leiten, wenn er einen neuen Standort eröffnen möchte, denn mehrere Faktoren begründen solcherlei Entscheidungen. Dazu gehört auch - Eigenheit eines starken Staates - eine annehmbare Infrastruktur und ein gut ausgestattetes Verkehrsnetz; ebenso ist die Kundschaft, die vor Ort - also am neuen Standort - zu erwarten ist, von großem Interesse. Investoren, die nur auf Steuerabgaben achten, pflegen es demnach sicherlich nicht mit langfristiger und ernsthafter Planung. Wenn die LINKE also wirklich höhere Unternehmenssteuern verwirklichen würde, werden Investoren noch lange keinen "weiten Bogen um Deutschland machen". Nebenbei vergißt die BILD nicht, dem Steuerzahler klarzumachen, daß der Einzug der LINKEN in den Hamburger Senat, fast 50.000 Euro kostet. Dass es sich dabei nicht um eine ergaunerte Geldsumme aus dem Topf der Steuerzahler handelt, erwähnt die Springer-Zeitung natürlich nicht; der BILD-Leser muß ja nicht erfahren, daß es sich um eine Geldleistung nach § 2, Absatz 3, Fraktionsgesetz handelt, die jeder Fraktion zusteht. Demokratie ist teuer, zumal die anderen Fraktionen ebenso kassieren - sogar mehr als 50.000 Euro. Aber dennoch ist die BILD-Welt in Ordnung, denn zwischen aller Hetze gegen die sogenannten Kommunisten, bleibt immer noch Raum und Zeit, sich ein wenig als PR-Kampfblatt anzubiedern. So ist es brav, Diekmann! Auf der einen Seite gegen die raffgierigen Kommunisten hetzen, auf der anderen Seite großen Konzernen unter die Arme greifen und mittendrin sogar noch die Steuerhinterziehung der eigenen Klientel entschuldigen! Löblicher vorauseilender Gehorsam, Genosse Diekmann!

"Während die Grünen sich von der Steuerersparnis eine Solaranlage zulegen, muss die SPD wegen ihrer Konkurrenz zur Linken darauf hoffen, dass die Reichen ihr die Zuwendung irgendwie danken. Aber das tun die nicht, und selbst wenn sie ihre Steuern pünktlich zahlen würden, bekämen Arme nichts. Der usbekische Diktator wurde hierzulande medizinisch versorgt, aber arme Familien bekamen zu Weihnachten keine zwei Euro, obwohl die Steuereinnahmen um 25 Milliarden gestiegen waren." - Indem man die aus Not vollzogene Schwarzarbeit sogenannter sozial Schwacher mit den hinterzogenen Steuern diverser Millionäre gleichsetzt, nihiliert man das Antriebsmotiv und macht sich damit eines geistigen Verbrechens schuldig. Man zündelt, indem man die Gier der herrschenden Klassen, mit der Not der Hilfsbedürftigen gleichsetzt; man zündelt, weil man gegen "neue Asoziale" wettert, zwischen denen kein Unterschied mehr zu machen sei. Ob hinterzogene Millionen oder ein Paar hinzuverdiente Euros, die man durch "schwarze Hilfsdienste" erworben hat: Asozial sind ja alle, die Zumwinkels genauso, wie die Bezieher eines Regelsatzes, der den Hunger zum steten Gast macht. Indem behauptet wird, daß wir doch alle keine Engel sind, spottet man der Nöte vieler Menschen, die auf diese Paar Euros aus der Schwarzarbeit, aus Diebstählen und Familienhilfen angewiesen sind. Und indem die BILD-Zeitung sich heute darüber mokiert, daß Fußball-Nationalspieler Jermaine Jones seiner Mutter - die ALG2 bezieht - nicht unter die Arme greift, versucht sie indirekt erneut, die Familienhilfe salonfähig zu machen, um dem Staatsrückzug Vorschub zu leisten. Natürlich ist man in so einem prominenten Fall auf die skandalträchtige Schlagzeile aus, immerhin macht es ja Millionen von Lesern glücklich, sich als moralische Instanz artikulieren zu dürfen, indem sie Jones' Egoismus bitterlich verurteilen, aber eine unterschwellige Botschaft läßt sich bei BILD eben nie ganz ausschließen: Wenn in Zukunft Eltern für ihre arbeitslosen Kinder zahlen (was sie sowieso schon tun müssen) und Kinder für ihre arbeitslosen oder pflegebedürftigen Eltern, dann könnte man sich weitere Sozialabgaben sparen. Der Jones-Bericht - eingeordnet im Kontext aktueller Rechtfertigungsversuche der Steuerhinterziehung, auch eingeordnet in den Beschwichtigungsmechanismen, die Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung gleichzusetzen versuchen - offenbart das Selbstverständnis dieser Gesellschaft, die sich vom solidarischen Gedanken verabschiedet hat.

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Sit venia verbo

"Das Gesetz hat die Menschen nicht um einen Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts."
- Henry David Thoreau, "Über die Pflichten zum Ungehorsam gegen den Staat" -

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Kritik: ein Anachronismus

Mittwoch, 27. Februar 2008

Die unzureichende Negation des Gesagten, des in die Tat Umgesetzten und somit folglich des Gegebenen, erlaubt keine Kritik an den Zuständen der Gesellschaft. Alltäglich offenbart sich uns manifestierte, in Gesetzeswerk gegossene Bevormundung, Überspielung, Beschwichtigung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, welche als unabwendbare und deshalb zu akzeptierende Tatsachen erkannt scheinen. Obwohl diese Gesellschaft produziert und besitzt, wie keine Gesellschaft vor ihr, bleibt der Mangel eine historisch begründete Konstante, die zu beseitigen als Frevel am "gesunden Gesellschaftskörper" und am Leistungsprinzip verunglimpft wird. Der irrationale Wesenszug der sogenannten wirtschaftlichen Rationalität, verknüpft die einstige Notwendigkeit des "Wer-nicht-arbeitet-soll-auch-nicht-essen" mit dem heutigen Zustand stets gefüllter Lebensmittelregale. Die Alternativlosigkeit, vorgegaukelt im täglichen Geschäft des Lügens und Verdrehens - in dem es die Medien zur Meisterschaft gebracht haben -, läßt Kritik am Gegebenen im Keime ersticken. Der Totalitarismus der modernen Gesellschaft, der in kleinsten Nischen sitzend für das Absolutum "freien Markt" wirbt, der eingebettet in mannigfaltigen Organisationen grassiert, erlaubt Kritik des Einzelnen kaum:
"Bei der heutigen Mißachtung des Denkens ist aber noch Mißtrauen gegen es mit im Spiel. Die organisierten staatlichen, sozialen und religiösen Gemeinschaften unserer Zeit sind darauf aus, den Einzelnen dahin zu bringen, daß er seine Überzeugungen nicht aus eigenem Denken gewinnt, sondern sich diejenigen zu eigen macht, die sie für ihn bereithalten. Ein Mensch, der eigenes Denken hat und damit geistig ein Freier ist, ist ihnen etwas Unbequemes und Unheimliches. Er bietet nicht genügende Gewähr, daß er in der Organisation in der gewünschten Weise aufgeht. Alle Körperschaften suchen heute ihre Stärke nicht so sehr in der geistigen Wertigkeit der Ideen, die sie vertreten, und in der der Menschen, die ihnen angehören, als in der Erscheinung einer höchstmöglichen Einheitlichkeit und Geschlossenheit." - (Albert Schweitzer, "Wie wir überleben können")
Die totale Mobilisierung der Gesellschaft zugunsten wirtschaftlichen Größenwahns, der sich in grenzenloser Expansion, Schaffung immer neuer Bedürfnisse und Märkte, Profixmaximierung bis in alle Ewigkeit äußert, kennt keine alternativen Modelle menschlichen Zusammenlebens. Ausgerichtet auf ein Ziel, zu welchem Menschen von Kindesbeinen an herangeführt wurden, vollzieht sich eine Abkehr von historisch-soziologischer Begutachtung des status quo. Die Alternative gerät aus dem Blickfeld, weil nur das gegenwärtige Wollen zählt; weil der Markt nicht dem Menschen dient, sondern der Mensch zum oft unkalkulierbaren Beiwerk und Unkostenfaktor des Marktes verwandelt ist. In der dialektischen Aufarbeitung des Zustandes, ruht der Keim der Kritik:
"Der gegebenen Gesellschaft als dem Gegenstand seiner Reflexion gegenübergestellt, wird das kritische Denken geschichtliches Bewußtsein und ist als solches wesentlich Urteil. Weit davon entfernt, einen gleichgültigen Relativismus zu erfordern, forscht es in der wirklichen Geschichte des Menschen nach den Kriterien von Wahrheit und Falschheit, Fortschritt und Regression. Die Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart entdeckt die Faktoren, welche die Fakten hervorbrachten, die die Lebensweise determinierten und Herren und Knechte einführten; sie entwirft die Grenzen und die Alternativen. Wenn dieses kritische Bewußtsein spricht, so spricht es "die Sprache der Erkenntnis", die das geschlossene Universum der Sprache und seine versteinerte Struktur aufbricht." - (Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch")
Weil die kritische Betrachtung der Zustände einem Angriff gegen die Herrschaftsstrukturen gleichkommt, wird die kritische Stimme diskreditiert. Man unterstellt ihr, sie habe kraft ihrer Negation eine destruktive Wirkung, untergrabe die Moral des Einheitswillens, könne aber keine neuen Ansätze zur Diskussion anbieten. Erlaubte Kritik bedeutet: Kritik innerhalb der herrschaftlichen Zustände. Wer aus einem Mißstand heraus pars pro toto kritisiert, wer also fundamentale Kritik übt, wird disqualifiziert und als Träumer, Romantiker, Gutmensch und in schlimmeren Fällen als geistig unzurechnungsfähig eingestuft. Übt man Kritik an der Behandlung vieler Senioren in Heimen, so faßt man dies als legitim auf, denn Kritik prallt "nur" auf die Heimleitung; übt man Kritik an der generellen Behandlung älterer Menschen in unserer Gesellschaft, tituliert man den Kritiker nicht selten als romantischen Zeitgenossen, der Glauben machen will, man könne den "Generationkonflikt" mit netten Worten lösen. Sodann bittet man ihn im freundlich-zynischem Ton, er wolle die Güte haben, explizit darzulegen, wie man dem kritisierten Mißstand (ob nun die Seniorenfrage oder andere Miseren) sonst zu begegnen habe; er solle Lösungen anbieten; er solle sich in sogenannter "Konstruktivkritik" üben.

Wenn ein Innenminister Kritik an modernen Konzentrationslagern damit abtut, daß jene Kritiker erstmal darlegen sollten, was die Alternative zu Guantanamo sei, so gibt er die Kraft der Negation der Lächerlichkeit preis. Das alleine im Verneinen des Gegebenen der Same der Veränderung liegt, selbst wenn keine konkreten Alternativen (wenn es sie in diesem speziellen Falle überhaupt braucht) greifbar sind, wird durch des Innenministers Mundtotmacherei verwischt. Weil das Schlagwort des Zeitgeistes "konstruktive Kritik" lautet, wird erst dann gewettert und aufbegehrt, wenn man glaubt, einen neuen, vielleicht besseren Lösungsweg gefunden zu haben. Bevor man hinreichend negiert, plagt man sich bereits am zweiten Schritt. So stolpert jede Opposition bereits im Vorfeld, weil sie an Lösungswegen strickt, die den erlösenden Charakter der Negation zur Randerscheinung degradiert. Jede Alternative beginnt aber mit der Kritik; die Konstruktion neuer Wege - konstruktive Kritik eben - darf bestenfalls als zweiter Schritt betrachtet werden; jeder Konstruktion wohnt nicht nur die Negation inne, sondern sie ist die Tochter derselbigen. Bevor man aufzählt, wie man es alternativ handhaben könnte, muß der Aufschrei des "So-nicht-mehr" vollbracht werden. Zudem darf man auch kritisieren und damit das Wahrgenommene negieren, es für falsch, verwerflich oder unmenschlich halten und gleichzeitig dennoch keine besseren Lösungen kennen. Die wahrgenommene Falschheit eines Weges muß nicht zwangsläufig toleriert werden, weil es an einer alternativen Vorgehensweise mangelt.

Doch solange der Mensch gegen die Alternative (wie auch immer sie geartet sein mag) organisiert wird, solange er die Irrationalität der Wohlstandsgesellschaft als Rationalität einer Mangelgesellschaft erklärt bekommt, wird Kritik das Brot weniger Zeitgenossen bleiben. Die mitläuferische Duldung aller Mißstände bleibt zentraler Faktor des Systems. Kritik findet sich auch nicht in jenen Parteien, die ein ideologiegeschwängertes Weltbild anbieten, welches sie als Alternative postulieren. Das Hineinstolpern von einer Alternativlosigkeit in die nächste, das projezieren neuer Gesellschaften aus einem verfaßten Kanon heraus, angereichert durch repressive Maßnahmen zur Einhaltung der vorgefaßten kanonischen "Weisheit", erlaubt es dem Individuum nicht, sich in einer Alternativwelt sicher zu wissen. Einzig die Negation des Gegebenen, damit eine Form gesunden Skeptizismus' erlaubt es, den Menschen mündig und aufgeklärt handeln zu lassen.

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De omnibus dubitandum

Montag, 25. Februar 2008

Bei den Bürgerschaftswahl in Hamburg, wählten...

  • ... 36,6 Prozent aller Wahlberechtigten gar nicht.
  • ... 26,8 Prozent aller Wahlberechtigten die CDU.
  • ... 21,5 Prozent aller Wahlberechtigten die SPD.
  • ... 6,0 Prozent aller Wahlberechtigten die Grünen/GAL.
  • ... 4,1 Prozent aller Wahlberechtigten die LINKE.
  • ... 3,0 Prozent aller Wahlberechtigten die FDP.
Selbst eine Große Koalition hätte damit einen Rückhalt von nur 48,3 Prozent aller Wahlberechtigten. Die wohl offensichtlichste Koalitionsvariante von CDU und Grünen, würde die Regierungsgeschäfte mit 32,8 Prozent aller Stimmen führen. Nie war die Wahlbeteiligung so niedrig, wie bei dieser Bürgerschaftswahl.

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In nuce

Sonntag, 24. Februar 2008

Mit besorgter Miene betreibt die BILD-Zeitung ihre Hetzjagd auf die LINKE. Der Wortbruch der SPD scheint in Augen des Springer-Konzerns unverzeihlich. Was hat man doch Angst vor einer Politik der Umverteilung, die ja mit der LINKEN Wirklichkeit werden könnte, solange die herrschenden Kreise sich diese neue Partei noch nicht engagiert haben. Bei einer solchen Gefahr heißt es natürlich, alle einsatzfähigen Geschütze auffahren. Gossen-Goethe läßt sich da nicht unnötig bitten und phantasiert von einer rot-grünen Koalition, die mit den Kommunisten (sic!) paktiert, während sich ein gewisser Rolf Kleine in widerlichster Hatzpropaganda über die "roten Fürsten" zu ergießen weiß. Höhepunkt seiner linksfeindlichen Notdurft: Wenn die LINKE eingeladen wird, die SPD zu tolerieren, dann "wird der Kater fürchterlich". Hinreichende Erklärung liefert er nicht, stattdessen reiht er Schlagwort auf Schlagwort und betet die ganze Litanei konservativer Angstträume herunter. Damit der BILD-Leser auch begreift, wie gefährlich die LINKE doch ist, diskreditiert Müller-Vogg auch noch Gregor Gysi. All diese "Artikel" zierten die BILD-Zeitung innerhalb zweier Tage. Nach dem Weglegen der Zeitung dürfte der treue Leser gewappnet sein, in der LINKEN den Teufel in Partei zu vermuten. Man darf gespannt sein, wann die BILD wieder vom "Staatsfeind Nummer 1" spricht...

Was prädestiniert jemanden dazu, Generalsekretär der CSU zu werden? - Zumindest muß man sich in dümmlichen Floskeln auslassen können, die keinerlei Bezug zur politischen Realität haben. Haderthauer lustwandelt in Söders Spuren und "bereichert" den politischen Alltag um einige Unsinnigkeiten mehr. Eine Auswahl aus einem Spiegel-Interview: "Ein Zusammengehen der SPD mit den Linken in Hessen wird den Niedergang der deutschen Sozialdemokratie bedeuten. [...] Seit dem Linksruck der SPD auf ihrem Hamburger Parteitag im vergangenen Oktober gibt es einen Riss in der Partei zwischen den SPD-Ministern in der Koalition und Parteichef Beck. [...] Die Bundes-Grünen sind seit ihren Parteitagen in Nürnberg beim Thema Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie in Göttingen beim Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr dermaßen weit nach links gerutscht, dass es keine Basis für eine gemeinsame Politik gibt. [...] Die SPD hat mit Inhalten der Linken Wahlkampf gemacht. Damit hat sie diese Partei salonfähig gemacht. [...] Das zeigt doch, wie die Linken plötzlich wählbar wurden, weil die traditionelle Volkspartei SPD ihre Themen etabliert hat." - Soso, die LINKE zeitigte nur Wahlerfolge, weil die SPD für sie Wahlkampf betrieb. Nebenbei outet sie Sahra Wagenknecht als "Kader-Kapitalistin", weil sie sich erdreistete Hummer zu speisen. Man kann ja der LINKEN durchaus eine Affinität zum Kapitalismus nachsagen, weil sie den Ist-Zustand als gegebenes Apriori unangetastet wissen will, welchen man zaghaft modifizieren, nicht aber wesentlich neu strukturieren kann. Aber von einem Hummeressen auf die politische Gesinnung zu schließen, zeugt doch von einer selbstgefälligen Interpretationsweise, die sie nur der bayerischen Provinz entstammen kann. Was treibt solche Kleingeister nur in die Politik?

Man stelle sich vor, daß die Politik Mindestlöhne in einer Branche einführen will und eine Gewerkschaft stellt sich quer, weil sie Mindestlöhne als Gift für ihre Mitglieder empfindet empfindet. Der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) macht es vor. - "Eine Gewerkschaft, die sich so offen als Hüterin des Wettbewerbs versteht, muss etwas Besonderes sein. Das ist sie auch: Statt 7,38 Euro (BZA) oder 7,31 Euro (IGZ) erhalten Beschäftigte der AMP-Mitgliedsfirmen im Westen nach dem mit dem CGB ausgehandeltem Tarifwerk nur sieben Euro pro Stunde - in den ersten sechs Monaten sogar mit einem 9,5-prozentigen Abschlag. Im Osten liegen die Lohnuntergrenzen noch niedriger."

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Sit venia verbo

Samstag, 23. Februar 2008

"Wie soll ich's halten künftig?
Mir einen Patron entdecken
Und als gemeines Schlinggewächs dem Schaft,
an dem ich aufwärts will, die Rinde lecken?
Durch List empor mich ranken, nicht durch Kraft?
Nein, vielen Dank!
Oder soll ich, wie so viele,
Ein Loblied singen auf gefüllte Taschen,
Soll eines Hofmanns Lächeln mir erhaschen,
Indem ich seinen Narren spiele?
Nein, vielen Dank!
Oder soll ich Kröten schlucken,
Auf allen Vieren kriechen, gleich dem Vieh,
Durch Rutschen wund mir scheuern meine Knie
Kreuzschmerzen leiden durch beständ'ges Ducken?
Nein, vielen Dank!"
- Edmond Rostand, "Cyrano de Bergerac" -

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Die Gier des Menschen ist unantastbar

Steuerhinterziehung sei Menschenrecht: Mit dieser lauen Aussage versuchen sich einige wirtschaftsliberale Extremisten als Advokaten millionenschwerer Steuerhinterzieher. Was wie eine seltsame Blüte aus dem Reich wirtschaftsliberaler Grenzenlosigkeit anmutet, birgt einen ernsten, diskussionswürdigen Kern. Und auch wenn man die Lachsalven ob solcher Ansichten begreifen kann, wäre es zu einfach, geradezu gefährlich oberflächlich, sich nicht an die Wurzel dieses Denkens heranzutasten.

Der Apologet dieses "neuen Menschenrechts" beruft sich - davon kann man ausgehen - auf Henry David Thoreau, der in seinem Büchlein "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" kundtat, daß das Bezahlen von Steuern als frevelhafter Gehorsam zu betrachten sei. Thoreau, der selten über Einkommen verfügte und zeit seines Lebens in finanzieller Abhängigkeit zu verschiedenen Freunden lebte, weigerte sich Steuern zu bezahlen. Wissen muß man dabei aber, daß er die damalige USA als eine Union von Unrechtsstaaten ansah, die die Sklaverei praktizierten oder aber duldeten, und zudem einen imperialistischen Expansionskrieg im Süden (Mexiko) ausfochten, der - wie jeder Krieg - keine Rücksicht auf individuelle Belange der Menschen nahm. In einem solchen Unrechtsstaat, der Willkür walten läßt, gereicht es jenem zur Ehre, der Ungehorsam leistet - also auch Steuern hinterzieht: "In einem Staat, der seine Bürger willkürlich einsperrt, ist es eine Ehre für einen Mann, im Gefängnis zu sitzen." - Einem Unrechtsstaat, der in militaristischer Form Individualrechte zur Seite wischt, der Menschen in Sklaverei hält, kann getrost die Gefolgschaft aufgekündigt werden, ohne daß eine Verfassung oder ein Treueid ein schlechtes Gewissen in den Ungehorsamen pflanzen müssen.

Thoreaus Triebfeder eignet sich also nicht, um den wirtschaftsliberalen Standpunkt zu begründen. Eher ist es ein Mißbrauch der von ihm postulierten Theorie des zivilen Ungehorsams, wenn man damit einen Staat verantwortungsloser Krämerseelen zu legitimieren versucht. Er war eben kein Wirtschaftsliberaler, besah die einsetztende Industrialisierung und das damit verbundene Elend mit Argwohn und erkannte darin nicht - wie es heutigen Liberale zuweilen verkünden - ein höheres Prinzip, welches dem Starken zu seinem Recht verhelfe. Der Kapitalismus, davon war er überzeugt, sei lediglich ein Erschaffen von Erfindungen, die „nur verbessertes Mittel zu einem nicht verbesserten Zweck“ sind, will heißen nutzlose, geschaffene Bedürfnisse. Anders: „Die meisten Luxusgüter und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur entbehrlich, sondern ausgesprochene Hindernisse für die Höherentwicklung der Menschheit [...] ... ein Mensch ist so reich wie die Anzahl der Dinge, auf die er verzichten kann.“

Die menschliche Einrichtung des Geldes, genauer das Zurückhalten desselbigen im eigenen Geldbeutel, deklariert als Menschenrecht, ökonomisiert die Würde des Menschen. Neben naturrechtlichen Attributen, die den Menschen zum Menschen machen, d.h. ihm Menschenrechte verleihen, reiht sich die ordinäre Verantwortungslosigkeit ein. Der Gott der Egomanie, den die Jünger des radikalen Marktes "freie Hand" oder "Selbstheilungskräfte des Marktes" nennen, erhebt die ökonomischen Zwänge in den Stand des Naturzustandes, um den Egoismus zur evolutionär begründbaren Notwendigkeit zu küren. Diese nackte Gleichgültigkeit kleidet sich in metaphysische Begründungskonstruktionen, um die hochsteigende Schamesröte zu kaschieren. Indem man sich tröstet, daß jedem ja das Recht des Stärkeren zusteht - obwohl man weiß, daß dies ein unverfrorener Zynismus ist, in Anbetracht der Vielfalt menschlicher Charaktere und Lebensentwürfe -, beruhigt man das eigene, wirtschaftsliberale Gewissen.

Der Liberalen fundamentale Kritik an der Staatstheorie - die durchaus gerechtfertigt ist -, ignoriert dabei, daß das Einstehen für seinen Mitmenschen zentrale Bedeutung für jedes Gemeinwesen hat. Des Vulgärliberalen Darstellung des Staates, erkennt selbigen als monströse Apparatur, die Steuern abgreift, um sie im Rachen bürokratischer Verwaltung verschwinden zu lassen. Natürlich läßt sich dies nur schwer leugnen, doch wird darüber vergessen, daß mittels Steuererhebung soziale Sicherheiten gewährleistet werden, die nebenbei den Frieden innerhalb einer Gesellschaft ermöglichen. Der ins Extreme gehievte Liberalismus, der weniger Freiheit von Werten, denn Wirtschaftsfreiheit bedeutet, gleicht einem Kuriositätenkabinett politischer Ansichten.

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Das waren die LINKEN

Freitag, 22. Februar 2008

Die LINKE scheint angekommen. Nach langem Sinnieren erwägt die hessische Sozialdemokratie, sich an einer Minderheitsregierung (mit den Grünen) zu versuchen. Die LINKE sprach sich bereits im Vorfeld für die Tolerierung einer solchen rot-grünen Regierung aus. Den Machtversuchungen erlegen, wollen nun die beiden selbsterklärten linken Parteien mit dem Teufel paktieren - mit den "Kommunisten". Was dabei tunlichst unter den Tisch gekehrt wird, um der LINKEN keinen Auftrieb zu geben: Zwar ist die LINKE dann durch keinen Koalitionenvertrag gebunden, kann aber dennoch die hessische Politik maßgeblich bestimmen. Sie wird in ihrer Rolle als großzügiger Gönner der Ypsilanti-Regierung, die bestimmende Fraktion im hessischen Landtag sein und Ypsilanti - Ministerpräsidentin von LINKER Gnaden - wird sich ihre Königsmacher warm halten müssen.

Die Bundes-SPD sieht sich in ihrer Glaubwürdigkeit erschüttert, weil man nun doch der LINKEN politische Mitsprache ermöglicht. Eine Partei, die seit Jahren und Jahrzehnten unglaubwürdige Politik betreibt, Parteimitglieder verliert, Wählerstimmen einbüßt - Ypsilantis Wahlergebnis, welches als großer Erfolg gefeiert wurde, war immer noch das zweitschlechteste Wahlergebnis der SPD in Hessen -, kann doch von Glaubwürdigkeiten gar nicht mehr sprechen. Becks Ausflüchte, wonach man mit der LINKEN keinerlei Absprachen oder Vereinbarungen treffen, ja nicht mal über die Tolerierung der LINKEN sprechen werde, kann nur als hilfloses Zugeständnis an die SPD-Hardliner verstanden werden. Denn: Jede Handlung der Regierung bedarf der Stimmen des "stillen Koalitionspartners", ohne LINKE keine Mehrheit. Wenn man aber mit der LINKEN nicht sprechen will, dann hat das "Projekt Minderheitsregierung" gar keinen Wert.

Ob nun diese Minderheitsregierung zustande kommt oder nicht: Die LINKE hat sich innerhalb des Parteienspektrums gefestigt. Als einst einige SPD-Politiker meinten, man müsse sich die Grünen nutzbar machen und dürfe sie nicht weiterhin ausgrenzen, rief man indirekt zum Sturm auf die neue Partei der Grünen auf. Aufgrund dieser Aussage, stießen in kürzester Zeit Menschen in die Partei, die sich durch ihre Niedertracht und Infamie auszeichneten; Menschen, die innerhalb einer etablierten Partei niemals eine politische Karriere hätten erreichen können; Menschen, die weder ökologisch gesinnt, noch pazifistisch gesittet waren, aber ihre Energie in eine Partei investiert wissen wollten. Joseph Fischer und Daniel Cohn-Bendit gelten als "Parteisoldaten" jener Stunde, sahen in jenem Moment ihre Chance gekommen. Der angebliche Revoluzzer und der steinewerfende Sponti forcierten den innerparteilichen Zwiespalt zwischen den Anhängern der Realpolitik (Realos) und den Fundamentalisten (Fundis).

Was heute der LINKEN die Tore öffnet, kann zugleich als deren endgültige Anpassung an die Uniformität der politischen Landschaft begriffen werden. Freilich ist bereits heute die LINKE weltanschaulich in die herrschenden Zustände gebettet, weil sie sie nicht zu negieren versucht, sondern ein Arrangement predigt, welches darauf hinausläuft, Menschen mittels höherer Transferleistungen mundtot zu machen, anstatt das System zu hinterfragen; weil sie die Besitzverhältnisse nicht antastet, sondern sie zum apriorischen Axiom reifen läßt, indem sie sich darüber ausschweigt. Nichtsdestotrotz kann man den Parteimitgliedern nicht unterstellen, sie würden dieses parteilich zementierte Weltbild der Tolerierung und Festigung der herrschenden Zustände wahrnehmen oder sogar teilen. Insofern finden sich heute viele Idealisten innerhalb der LINKEN, die es ja gut meinen, die wirklich glauben, mittels einer politischen Partei Änderung erzielen zu können. Mit der (noch) verbissenen Hinwendung der SPD aber, ist dem Ansturm diverser Karrieristen Tür und Tor geöffnet. Und erneut - in Wiederholung zur Geschichte der Grünen - spielt sich diese Einrahmung - "wir haben ihn uns engagiert" - einer "ausgestossenen" Partei in Hessen ab. Wenn erst brüchige Karrieren, marode Existenzen, gescheiterte Lebensentwürfe entdecken, daß mittels "Marsch durch die Institutionen" eine Wiedergutmachung ihres Scheiterns zu erlangen ist, indem man in eine noch relativ unbeschriebene, formbare, unausgereifte Partei eintritt, dann werden die Fischers und Cohn-Bendits nicht auf sich warten lassen.

Die linke Euphorie der letzten Tage, darf als Aufbruch zur Assimiliation besehen werden. Sollte man zudem wirklich die Rolle als Zünglein an der Waage einnehmen, d.h. indirekte Regierungsgewalt ausüben dürfen, beschleunigt dies den Anpassungsprozess sicherlich nochmals. Was einst einer basisdemokratischen, dem System skeptisch entgegentretenden Partei zustieß, kann bei einer neuen Partei, die zu großen Teilen mit den herrschenden Zu- und Mißständen konform geht, unmöglich ausbleiben. Der Linksruck wird darin bestehen, daß die LINKE rückt: Hin zur Einheitsfront der sogenannten Mitte.

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In nuce

Donnerstag, 21. Februar 2008

Der Aufschwung schlägt sich am Arbeitsmarkt nieder. Die Arbeitslosenzahlen schrumpfen, glaubt man den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Dass die Arbeitslosenzahlen weitaus höher sind, als man es den Menschen weismachen will, wird dabei unterschlagen. 1,14 Millionen Menschen werden in sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen geparkt, welche die betreffenden Menschen - laut § 16, Absatz 2 SGB III - als nicht arbeitslos einordnen. Wenn der Aufschwung nicht am Arbeitsmarkt ankommt, dann tut man wenigstens so als ob.

Die Wochenzeitung (WOZ, aus der Schweiz) stellt fest: "Rückt die deutsche Bevölkerung und mit ihr das Land nach links? Leider nein, und das, obwohl die Gewinne hoch sind und die Löhne niedrig, obwohl die Gier der ManagerInnen offenbar kein Ende kennt, die Zahl der Reichen wächst und mit ihr auch die der Armen. Was sich in Wah­len und Umfragen ausdrückt, ist etwas anderes: Die Menschen wünschen sich in diesen Zeiten einen sozialen Schutz und eine Macht, die ihn gewährleistet. Sie wollen an diesem System fair teilhaben, sie wollen es nicht verändern. Die politische Mitte ist so weit nach rechts verrückt, dass bereits das als links erscheint." - So begründete ich kürzlich meinen Austritt aus der LINKEN: "In einer Parteienlandschaft, die sich durchgehend an den rechten Rand herantastet, die konservative Politik betreibt (wenngleich oft unter anderem Namen, wie z.B. "Sozialdemokratie"), in der sogenannte linke Parteien unternehmerischen Interessen Folge leisten (die Grünen, die als Zwilling der FDP auftreten), ist selbst eine Partei der Mitte - als welche ich DIE LINKE bestenfalls sehe - links anzusiedeln." - Das selbst der vorwärts, die Mitgliederzeitung der SPD, eine Anzeige zum Jahrbuch der NachDenkSeiten ablehnt, zeugt vom "linken Geist" innerhalb der deutschen, ach so sozialistischen Sozialdemokratie.

Der Blogger Mark Seibert setzte Sarrazins Speiseplan in die Tat um. Seine empirischen Studien weisen den "Altruismus" der Berliner Finanzsenators als geistiges Nullsummenspiel aus: "Es ist möglich, für weit weniger als 4,25 Euro täglich was essbares auf den Tisch zu zaubern. Das - so muss ich zugeben - hatte ich so nicht erwartet. Das Ziel der Maßnahme war es jedoch, eine ausgewogene, gesunde und abwechslungsreiche Kost für einen Einpersonenhaushalt zu generieren. Genau daran scheitern die Berechnungen des Senators. [...] Von gesunder Nahrung kann ohnehin keine Rede sein. Entweder habe ich deutlich zu viel oder deutlich zu wenig Kalorien zu mir genommen, was so oder so dazu führte, dass ich mit Heißhunger auf alles mögliche, knurrendem Magen oder Blähungen zu kämpfen hatte. Getränke - außer durchschnittlich 133 ml Saft pro Tag - hat der Senator nicht vorgesehen. Frisches Obst und Gemüse war viel zu gering portioniert. Bei den restlichen Lebensmitteln musste in fast jedem Fall der billigste Schund gekauft werden, was angesichts der zahlreichen Lebensmittelskandale, Gammelfleischfälle und der Debatte um adipöse Menschen alles andere als gesund und sinnvoll sein kann."

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Sit venia verbo

Mittwoch, 20. Februar 2008

"Politik wird offensichtlich für Agenda-Menschen gemacht. Friedhelm Hengsbach, Jesuit und Professor für Wirtschaftsethik in Frankfurt am Main, bezeichnet damit diejenigen Menschen, die sich den Spielregeln des Marktes unterwerfen, Marktrisiken abschätzen können, mit ihrem Einkommen und dem Einkommen ihres Partners einen jedenfalls durchschnittlichen Lebensstandard pflegen, die geltenden Steuern und Abgaben als eigentlich unzulässige Eingriffe des Staates in ihre Eigentumsrechte empfinden und denen zuzumuten ist, familiäre und heimatliche Bindungen abzustreifen, wenn diese den Arbeitseinsatz behindern. Agenda-Menschen sind flexibel, mobil, selbstorganisiert und risikobereit. Sie sind die Athleten des freien Marktes. Der Agenda-Mensch ist der neue Mensch, diejenige, dem der alte Adam ausgetrieben ist, der ihn – wider alle ökonomische Vernunft – an seinem Herkunftsort, an seiner Familie, an seinen Gewohnheiten und Traditionen festhält. Erfolgreich, das ist die Botschaft des Neoliberalismus, ist am Ende nur der, der sein Leben ganz der okönomischen Rationalität unterwirft, der Rücksichten abwirft und sich selbst zu einem Funktionselement des Marktes macht. Wenn so ein Agenda-Mensch dann doch einmal die Hilfe des Sozialstaats in Anspruch nehmen muß, dann kann man ihn mit Druck und Leistungsanreizen wieder dazu bewegen, sich auf seine eigene Stärke und Selbstverantwortung zu besinnen.
Wer nicht bereit ist, eine Arbeit zweihundert oder fünfhundert Kilometer von seinem Wohnort, seiner Familie entfernt aufzunehmen, wer es für unzumutbar hält, rund um die Uhr abrufbereit zu sein, weil er sein Leben planen, weil er sich um seine Kinder kümmern möchte, der kann leicht arbeitslos werden und muß sich womöglich nachsagen lassen, er mache es sich im sozialen Netz bequem. Das ist das Menschenbild, das mittlerweile die Programmpapiere von fast allen politischen Parteien beherrscht. Im Zentrum steht die Verwertung der Arbeitskraft um jeden Preis, und also zu immer schlechteren Preisen. Wer nicht produziert, ist draußen."
- Heribert Prantl, "Kein schöner Land" -

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Wir sind doch alle keine Engel

Montag, 18. Februar 2008

Jene Kreise, die ansonsten in fröhlicher Regelmäßigkeit auf Langzeitarbeitslose und die unflexible Arbeitnehmerschaft eindreschen, stehen nun selbst am Schandpfahl. Kreise, die selbst in der Hartz IV-Reform noch eine sozialistische Grundidee erblicken, und den Mindestlohn für Arbeitnehmer als ebensolche Gleichmacherei abtun; Kreise, die Arbeitslose als faul, antriebslos, unmotiviert und Arbeitnehmer als unflexibel, wenig einsatzbereit, gewerkschaftliche Rotarmisten proklamieren; kurz: Kreise, die gar nicht greise, sondern innovativ und mit jugendlichem Unternehmerelan versehen, Generalverurteilungen gegen jene aussprechen, die sich im Regelfall nur schwer oder gar nicht zu wehren wissen.

Freilich ist der Pranger nun für die Zumwinkels dieser Republik reserviert, doch völlig alleine müssen sie diese Krise nicht durchstehen. Nein, sie sind wirklich nicht vergleichbar mit den im Sturm diverser BILD-Zeitungs-Kampagnen stehenden Langzeitarbeitslosen, die keine moralische und argumentative Unterstützung in den öffentlichen Medien haben, welche die tolldreisten Behauptungen von BILD, INSM, Arbeitgeberverbänden usw. entkräften würde. Dergleichen können sich aber die aktuellen Sünder leisten. So stellt der stets apart wirkende Peter Hahne via BILD fest, daß ja in uns allen ein Zumwinkel stecke, und natürlich läßt sich Oswald Metzger nicht zweimal bitten und fragt: "Sind wir nicht alle mit von der Partie?"

Selbstverständlich sind das legitime Gedanken oder Fragen. Gleichermaßen sind das aber auch Gedanken oder Fragen, die man sich im Kontext der üblichen Arbeitslosenhetze und der Arbeitnehmerschelte nicht - bestenfalls kaum - stellt. Ein BILD-Zeitungs-Kolumnist würde sich niemals dazu "herablassen", die Irrtümer der Schmarotzerdebatten aufzudecken. Ganz im Gegenteil, wie man letzte Woche Nicolaus Fests Zeilen entnehmen konnte. Hahne gelingt es einmal mehr, Dinge miteinander zu verweben, die bei näherer Betrachtung so nicht zusammengehören. Der Zumwinkel in uns, so versucht er zu argumentieren, treibe viele Menschen zur Schwarzarbeit. Daher gäbe es keine kleinen und großen Sünder, sondern es gäbe nur Sünder. Schwarzarbeiter und die Zumwinkels dieser Republik betrügen gleichermaßen den Sozialstaat. Soweit mag man ihm vielleicht zustimmen, zumindest dann, wenn man nicht dazu geneigt ist, weiter darüber nachzudenken.

Die Kreise aber, die üblicherweise den Langzeitarbeitslosen Schwarzarbeit unterstellen, vergessen darüber - und mit ihnen Hahne -, daß viele ALG2-Bezieher zwar schon möglicherweise schwarzarbeiten, daß sie aber in dieser Weise den Sozialstaat betrügen, weil der Sozialstaat sie vorher schon betrogen hat, indem "er" sie mit einem unzureichenden Regelsatz abspeiste. Ist es also der "Zumwinkel in dem schwarzarbeitenden Langzeitarbeitslosen", der ihn dazu zwingt, sich noch etwas dazuzuverdienen, um nicht den trostlosen Speiseplan Sarrazins ausgeliefert sein zu müssen? Immerhin kann man ja nicht davon ausgehen, daß Zumwinkel aufgrund materiellen Mangels Steuern hinterzog. Und genau mit dieser Vermischung zweier verschiedener Straftatbestände und der fehlenden Fragestellung nach dem Motiv, gelingt es Hahne, Steuerhinterziehung diverser Millionäre mit dem Dazuverdienen einiger Euros von Langzeitarbeitslosen gleichzusetzen und folglich auch zu entschuldigen. Denn man tut zwar beides nicht, aber man sollte die Hinterzieher von Millionen von Steuergeldern nicht allzusehr verurteilen, denn immerhin tut sowas ja jeder auf seine Art und Weise. Dass es einige Menschen aus Not, andere aus Habgier tun, bleibt im Kommentar Hahnes auf der Strecke.

Wenn diverse Kolumnisten und Kommentatoren nun verkünden, man dürfe nicht den gesamten Stand verurteilen, dann kann man das nur begrüßen. Aber dies muß für alle gelten und in noch verstärkter Weise für die Schwachen der Gesellschaft. Wenn mal wieder davon die Rede ist, daß die Arbeitslosen schmarotzen, dann könnte man - auch wenn man damit die Lüge nicht entkräftet, die in solch einer Behauptung steckt - entgegenhalten, daß man die Arbeitslosen verstehen müsse, denn in jedem Wirtschaftsboss steckt ja auch ein "schmarotzender Arbeitsloser".

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In nuce

Sonntag, 17. Februar 2008

Um ihre Sozialschweinereien zu rechtfertigen, ziehen die Reformer die Staatsverschuldung heran. Da der Schuldenstand abgebaut werden muß, seien Einsparungen im Sozialwesen unumgänglich. Man würde ja gerne mehr Staatsgelder für den "sozialen Schnickschnack" anbieten, doch dem Staat seien die Hände gebunden. Immerhin müsse man auf die Generationengerechtigkeit achten, schließlich kann man den kommenden Generationen nicht nur Schulden hinterlassen. Nicht nur? - Tut man ja auch nicht: "Die nachfolgende Generation übernimmt üblicherweise nicht nur die staatlichen Verbindlichkeiten, sondern profitiert zum einen von den damit finanzierten Investitionen in Schulen etwa und erbt zum anderen auch die Gegenposition, also die Bundesanleihen." - Nebenher sollte neben der sogenannten "Schuldenuhr" eine "Reichtumsuhr" stehen, denn: "Außerdem gibt es ohne Schulden keine Ersparnisse, weil jeder Geldforderung immer eine entsprechende Verbindlichkeit gegenüberstehen muss."

Nicht jeder hat das Glück, daß man ihn vorwarnt, wenn eine Hausdurchsuchung ansteht. Die Opfer vorschneller Hausdurchsuchungsanordnungen in folgendem "Panorama"-Film wurden morgendlich überrumpelt und kaum zaghaft darauf vorbereitet, gleich zur Randfigur in den eigenen vier Wänden degradiert zu werden. Den "mehreren Hundert Verdächtigen", die nun auf den Zetteln der Steuerfahnder stehen, genügt ein Blick in die Zeitungen. Vielleicht bleibt doch noch etwas Zeit, um sich aus der Affäre zu stehlen. Indem man den nimmersatten Herrschaften, die lediglich ihren neoliberalen Fetisch exzessiv auslebten - da sie das Bezahlen von Steuern als unrentables Unding abtaten, welchem man nicht mehr folgen sollte -, Warnungen zukommen läßt, versucht man "Deutschlands größten Wirtschaftsskandal" kleinzuhalten. Der "Anachronismus Steuererhebung": Die Herren und Damen Steuerhinterzieher hinterzogen ja nichts; sie wollten nur aufräumen mit dieser ekelhaft sozialistischen Idee des Steuerzahlens. Und nun, da man diese innovativen Geister kontrolliert und vielleicht sogar strafrechtlich verfolgt, fühlen sie sich bestätigt: Der Sozialismus ist auf dem Vormarsch! Rette sich wer kann vor den Steuerfahndersozialisten! Und wenn dann die Politik auch noch den Sozialismus hofiert, indem sie härtere Strafen für Steuerhinterzieher fordert, um den Sündern deutlich vor Augen zu führen, welche Strafe sie hätten bekommen können, sofern sie von ihren Staranwälten nicht aus der hoffnungslosen Situation rausgeboxt worden wären... ja, wenn also der Sozialismus geradezu hofiert wird, dann ziehen die besitzenden Klassen harte Konsequenzen: Sie grenzen die - natürlich seltenen - schwarzen Schafe einfach aus. Man darf befürchten, daß es bald keine Arbeitgeberverbände und -banden mehr geben wird. Natürlich nur, wenn die Androhung ernst gemeint war und nicht alleine einen peinlichen Versuch darstellt, mittels "Selbstheilungskräften" die gesamte Malaise unter den Teppich zu kehren.

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Ostalgie

Freitag, 15. Februar 2008

Wer erst in den Verhörungszimmern der Staatssicherheit saß, dem dämmerte es bald, daß es keinen Ausweg aus dieser Zwangslage gab. Als Verunreiniger der "Neuen Gesellschaft", als einer, der die "westliche Dekadenz" in die DDR trug, konnte der Festgenommene sicher sein, solange festgesetzt, verunsichert, eingeschüchtert und drangsaliert zu werden, bis er zu Zugeständnissen bereit war. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese wahr oder erfunden waren. Maßgebend war zu diesem Zeitpunkt des Einbrechens nur noch, daß die Weiße Folter endlich ein Ende findet. Die Verhörspezialisten gaben der Partei die Geständnisse, die sie hören wollte.

Zur allgemeinen Strategie der Stasi gehörte es, dem Verdächtigen den Eindruck zu vermitteln, man könne ihn jederzeit von Frau und Kindern wegholen, um ihn zu vernehmen. Ausreichend um überhaupt auf der Liste der Gedankenschnüffler zu landen, war es schon, wenn man einer gesellschaftlichen Organisation der DDR oder der SED die Mitgliedschaft verweigerte. Eine Verweigerung als inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) tätig zu werden, galt ebenso als höchst suspekt. Wer sich mit der Stasi anlegte, hatte mit Berufsverbot, Exmatrikulation, Verdienstabzug oder Bildungssperre zu rechnen. In vielen Fällen nahm man verdächtigen Eltern die Kinder weg und brachte sie bei linientreuen Genossen unter.

So geschah es auch im Falle Christian Dertingers. Sein Vater Georg Dertinger, Außenminister der DDR, wurde 1953 mitsamt seiner Familie verhaftet. Georg Dertinger wurde in einem Schauprozess wegen angeblicher "Spionage und Verschwörung" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein jüngster Sohn Christian kam bei einer SED-treuen Pflegefamilie unter (die Familie eines Stasi-Mannes, der mit dem "Fall Dertinger" betraut war). Nachdem Christians Mutter, die ebenfalls zu Zuchthaus verurteilt wurde, wieder auf freien Fuß war, wurde er der Pflegefamilie wieder entrissen. (Die Pflegemutter erholte sich nie mehr von dieser Trennung und starb bald darauf.) Seiner Mutter vollkommen entfremdet, mußte er einen Neuanfang bestreiten.

Während der "Fall Dertinger" einige Berühmtheit erlangte, blieb das Leiden vieler Unbekannter in Schweigen gehüllt. Wahllos bemächtigte sich die Stasi der sogenannten Weißen Folter, also solchen Foltermethoden, die die Psyche eines Menschen angreifen und keine unmittelbar sichtbaren Folgen hinterlassen: Schlafentzug, Isolation, Konfrontation mit gezielt eingesetzten Falschinformationen, Reizentzug, dauerndes Stehen beim Verhör, Scheinhinrichtungen. Zum Abschluß konservierte die Stasi Geruchsproben jedes Verdächtigen in einem Einweckglas, um den Betreffenden über Gerüche zu identifizieren.

Kürzlich sprach sich die niedersächsische Landtagsabgeordnete Christel Wegner (LINKE) für eine Neuauflage der Stasi aus. Sie solle die antirevolutionären Umtriebe in Schach halten. (Wo diese Dame eine Revolution erblickt, ist bis zur Stunde ungeklärt.) Diese Forderung muß ein brutaler Schlag ins Gesicht desjenigen sein, der die Menschenverachtung in Stasi-Kellern hat ertragen müssen. Den Verklärern der DDR innerhalb der LINKEN kann man nur empfehlen, sich zu Innenminister Schäuble zu begeben, um mit ihm eine Einheitsfront aufzubauen. Er bastelt bereits munter an einer neuen Staatssicherheit, inklusive Geruchsprobenkonservierung, als Hommage an die DDR.

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Sit venia verbo

Donnerstag, 14. Februar 2008

"Auch die Akteure des dreizehnten Jahrhunderts stellten Fragen, die uns in ihrer vermeintlichen Modernität überraschen. Das gilt jedoch nicht für die Antworten. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert etwa Papst Innozenz IV. (1243 - 1254), Genuese und versierter Jurist.
Der Papst räumt ein, dass man Ungläubige nicht zum Glauben zwingen solle, hält aber fest, dass er den Ungläubigen aufgrund seiner Position die Anweisung erteilen könne, christliche Prediger in ihrem Land zuzulassen. Täten sie dies nicht, so könnten sie dazu gezwungen werden (etwa durch einen Krieg). In der nüchternen Dialektik der Juristen schließt Innozenz IV. die Frage an, ob der Papst dann nicht auch den Moslems erlauben müsse, die Lehren Mohammeds zu predigen. Dies ist ja eine Frage, die in den modernen Diskussionen um die Toleranz der Religionen im gegenseitigen Umgang eine wichtige Rolle spielt. Die Antwort des Papstes gehört indes in das dreizehnte Jahrhundert: "Nein, denn sie sind im Irrtum, wir aber auf dem Weg der Wahrheit." Die Schonung der Andersgläubigen wurde in diesem Milieu von den Stärkeren gewährt. Ein Anspruch auf ähnliche, gar gleiche Behandlung war nicht denkbar."

- Martin Kaufbold, "Die Kreuzzüge" -

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Hungerspiele

Mittwoch, 13. Februar 2008

Der Reigen der Kleingeister, die sich nun blitzgescheit zur Intergration - besser zur sogenannten fehlenden Integration - zu äußern wissen, kann nicht überraschen. Es gehört zum Prinzip der Massengesellschaft, abgestandene und abgedroschene Thesen, die einem bestimmten Ziel zuträglich sein können, wieder und immer wieder zu repetieren. So auch im Falle der CSU-Generalsekretärin Christine Haderthauer, die zu dem üblichen "Erkenntnissen" noch ein wenig "philanthropische Rigorosität" ins Spiel bringt: Weniger Sozialhilfe bei Integrationsmüdigkeit.

Wenn wir die unmoralische Botschaft dieser Forderung beseitestellen, springt uns das von Ressentiment verseuchte Weltbild der bayerischen Christsozialen ins Auge. Es lautet: Jene, die nicht integriert sind - wobei die CSU entscheidet wer es ist und wer nicht -, leben grundsätzlich von Transferleistungen. Kurzum: Sie wollen nicht nur nicht die deutsche Sprache lernen, sondern kosten dem deutschen Steuerzahler - das ist eine wichtige Floskel, denn Steuern bezahlen hierzulande scheinbar nur deutsche Arbeitnehmer - zudem noch Geld! Dabei ignoriert man, daß es erwerbstätige ausländische Bürger, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind, ebenso gibt. Dies weckt die Befürchtung, daß nur derjenige nicht integriert ist, der weder spricht noch arbeitet. Hier offenbart sich die Integrationsdebatte als das, was sie wirklich ist: Eine sanfte, in Vernunft gehüllte Selektion der Unterschichten, die durch die üblichen Sanktionen - mangels Sprachverständnis - nicht drangsaliert werden können. Und ganz leise schimmert da eine Programmatik durch, die man eigentlich in rechteren Gefilden zu finden meinte. Aber wir wissen ja, daß es in Bayern rechts neben der CSU nichts mehr geben darf.

Gleichermaßen verhält es sich mit dem konkreten Inhalt der Forderung. Wie rechtfertigt man es, einem Menschen die materielle Grundlage zu entziehen, nur weil er - angeblich - nicht integrationsfähig ist? Oder anders gefragt: Darf man Menschen aushungern, weil sie nicht so "funktionieren", wie man es gerne hätte? - Dass man gerade mit dem Hunger einen vortrefflichen Untertanengeist formt, zeigte sich in diesen Tagen auch am Speiseplan für ALG2-Bezieher, der wohl mehr Angst schürt als Gewißheit nährt, wonach man im Falle einer Langzeitarbeitslosigkeit ein treffliches Auskommen und einen vollen Magen habe. Bei der Aussicht auf eine Bratwurst und etwas Kartoffelbrei zum Mittagstisch, nimmt man wirklich jede unwürdige Tätigkeit, zu jedem noch unwürdigeren Lohn an. Haderthauer setzt noch einen drauf, indem sie dem Transfergelder beziehenden Ausländer sein klägliches Auskommen rauben will. Lern' die deutsche Sprache oder hungere! Das diese Forderung gerade von Haderthauer kommen muß, die ihre Anwaltskanzlei am Rande eines Ingolstädter Stadtteils hat, der viele ausländische Mitbürger beherbergt, darf als Zeichen weltentrückter Arroganz gewertet werden. Eine Arroganz, die leider nicht bestraft werden kann: "Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen zum Selbstmord treiben, durch Arbeit zu Tode schinden, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staate verboten." (Bertolt Brecht)

Diese Form der existenziellen Bestrafung, die Verstöße mit willkürlichen Zwangsmaßnahmen sanktioniert, läuft dem rechtsstaatlichen Prinzip zuwider. Hunger ist keine Strafe für Lernunwillen. Die Strafe auf eine begangene Tat muß transparent sein, d.h. sie muß zur Tat passen. Ein von den Baubehörden nicht genehmigter Anbau ans Haus, wird nicht mit einem Führerscheinentzug geahndet. (Um der Kritik zuvorzukommen: Ich halte eine ungelernte Sprache in keinster Weise für strafwürdig.) Außerdem: In einer Gesellschaft, die genug für jeden produziert, ist die existenzielle Abstrafung als Anachronismus zu werten. Dennoch bleibt der Hunger eine Konstante im gesellschaftlichen Ringen der Klassen, die sich nur oberflächlich egalisiert haben. Man bittet den Hunger an die Front, um Willen zu brechen, Menschen zu erniedrigen, sie zu Dingen zu treiben, die sie freiwillig nie tun würden. Zu dieser Niedertracht greift einmal mehr die CSU. Indem sie die affirmativen Kräfte des Hungers beschwört, glaubt sie Kulturunterschiede repressiv wegzaubern zu können. Der Entzug der Lebensgrundlage, gleichgültig mit welchem Motiv begründet, muß beim Namen genannt werden. Es ist vorsätzlicher Mord! Und gerade in diesen Tagen, da ein arbeitsloser Mann sich zu Tode hungerte, weil man ihm die Lebensgrundlage (Arbeitslosengeld) entzog, muß man dies in aller Direktheit betonen: Es ist vorsätzlicher Mord!

Erst wenn der Hunger als Strafmittel geächtet ist, kann man von Zivilisation sprechen. Bis dahin bleibt der Mensch, obwohl er in eine Gesellschaft gefüllter Lebensmittelregale geworfen ist, in einem Urzustand versetzt, in dem er wie ein verstossener Wolf, dem großen Fressen des Rudels fernbleiben muß.

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In nuce

Alleine die Forderung nach türkischsprachigen Schulen ängstigt die deutsche Politik dermaßen, daß sie meint, die Türkei vor der Einmischung in die Innenpolitik warnen zu müssen. Die 117 deutschen Schulen außerhalb der Bundesrepublik, bleiben bei dieser Debatte Tabuthema. Und während englischsprachige Schulen nicht nur geduldet, sondern geradezu gewollt sind, versteift man sich darauf, türkische Schulen zu diabolisieren. Warum dies so ist, fragen sich auch andere Freidenker und übernehmen ein Fazit, welches sich in der Süddeutschen Zeitung fand: "[...] dass es hier nicht um die Sprache und Kultur, sondern um die Abwehr einer Unterschicht geht."

Nach längerer Pause hetzt die BILD-Zeitung erneut gegen Langzeitarbeitslose. Aufgerechnet wird erneut das zur Verfügung stehende monatliche Niedriglohneinkommen einer Familie mit den Regelsätzen einer Bedarfsgemeinschaft. Dabei zieht die BILD nicht das Kindergeld vom Regelsatz des Kindes ab, sondern addiert es einfach hinzu. Kindergeld gilt aber als Einkommen und wird vom Regelsatz abgezogen. Gleichermaßen erwähnt die BILD nicht, daß eine Familie, die von einem Niedriglohn leben muß, entweder mit ALG2 aufstocken oder Wohngeld beantragen kann. (Außerdem bedient sich die BILD mehrerer Tricks, um den Leser von der fadenscheinigen These, wonach ALG2 ausreichend sei, zu überzeugen.) Bei dem BILD-Beispiel (1.500 Euro Gesamteinkommen im Monat) dürfte der Aufstockungsbetrag zwischen 200 und 300 Euro liegen. Somit hat der Arbeitende also sehr wohl mehr in der Tasche als der ALG2-Bezieher. Nur paßt dies nicht ins Konzept. Denn BILD fordert - zum einen - härtere Sanktionen und ignoriert den bereits existierenden Maßnahmenkatalog. Zum anderen folgt man spezieller BILD- und Lobbylogik: Nicht der Arbeitende verdient zu wenig, sondern der Arbeitslose bekommt zuviel. Anders also: Nicht bestmöglicher Wohlstand für jeden, sondern Armut für alle! Wer BILD liest, bleibt eben der Dumme. Heute geht die BILD-Kampagne weiter. "Mutige" Sachbearbeiter, die weder abgebildet noch genannt werden wollen, sprechen von ihrem harten Alltag mit Faulenzern und Schmarotzern. Kein Wunder also, wenn derartig medial aufbereitete Kleingeister-Paraden bewirken, daß immer mehr Bürger Arbeitslose als Last empfinden. Der Lebenswert des Einzelnen richtet sich mehr und mehr nach dem, was er zu leisten imstande ist; der Mensch als ökonomischer Faktor und nicht als unantastbarer Würdeträger.

Der Spiegel ist versucht, den Begriff "Neoliberalismus" zu erklären und macht dabei den "Anti-Neoliberalen" klar, daß die soziale Marktwirtschaft ein Produkt neoliberalen Denkens ist. Das mag man sogar noch so stehenlassen. Ebenso die Einsicht, daß die Väter der sozialen Marktwirtschaft einen starken Staat forderten. Was dies aber mit den sogenannten Neoliberalen unserer Zeit zu tun hat, läßt Reiermanns Artikel offen. Vielmehr beendet er abrupt mit einer fadenscheinigen Argumentation: Neoliberal sei eben das, was man sich gerade darunter vorstellen will. Man fragt sich: Gingen dem Verfasser die Blätter oder die Gedanken zuende?

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Sit venia verbo

Dienstag, 12. Februar 2008

"Laßt uns den Andern glauben, was er will, aber fordert dafür auch von ihm, daß er Dich nicht glauben läßt, was er glaubt. Diese Forderung ist gerecht und billig; aber ungerecht und verwerflich, verwerflicher noch als die Intoleranz des Gläubigen ist die Intoleranz des Aufgeklärten, welcher von den Andern ohne Unterschied verlangt, daß sie zwar nicht so glauben, aber so denken, so frei und gescheit sein sollen wie er selbst. Man muß auch gegen die Unfreiheit und Dummheit tolerant sein."
- Ludwig A. Feuerbach, ungedruckter Ausspruch -

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West-östliche Verquickungen

Montag, 11. Februar 2008

Die christlich-abendländische Gesellschaft habe sich vor den islamisch-arabischen Einflüssen zu schützen, fordert Politik und Klerus unisono. In geradezu pathetischen Worten wird auf die Gefahren hingewiesen, die dieser Gesellschaft blühen, wenn erst zuviel Multikultur nach Deutschland überschwappt. Denn davon wird in Wirklichkeit gesprochen: von Deutschland. "Christlich-abendländisch" nimmt aber den nationalistischen Unterton heraus, womit die Debatte einen hochoffiziellen Eindruck vermittelt. Die historische Komponente bereichert die in sehr enge Bahnen gehaltene Diskussion nicht. Folgt man dem Geleier der fordernden Politiker und Geistlichen, so könnte der Eindruck entstehen, die christliche Welt und der islamische Raum haben sich bis heute nie berührt. Beinahe könnte man annehmen, wir lebten in einer geschichtsträchtigen Epoche, in der nun Christentum und Islam zum allererstenmal aufeinandertreffen. Gleichwohl bemüht man sich, die Rückständigkeit des Islam anzupreisen, um die eigene Verachtung - dem Islam gegenüber - nicht allzu bedeckt halten zu müssen.

Es paßt gar nicht ins Weltbild der Kulturtrenner, daß ein Großteil des griechischen Wissens aus der Antike nur erhalten blieb, weil islamische Gelehrte die ursprünglich griechischen Texte - die in Europa verlorengingen - ins Arabische übersetzten und damit für die Nachwelt sicherten. So gelangten die meisten Schriften des Aristoteles über den Umweg des Islam nach Europa und befruchteten den brachliegenden Geist der christlichen Stumpfsinnigkeit. Indem Thomas von Aquin die Lehren des Augustinus mit den Lehren des Aristoteles verquickte, gelang es, den reinen Glauben in vielen Bereichen des Lebens zu verwerfen, um der aristotelischen Vernunft Platz zu sichern. Die Integration der aristotelischen Schriften in die Scholastik, darf als zaghaftes Hinschreiten zu den Naturwissenschaften begriffen werden. Da Aristoteles schon sehr früh viele Denker im islamischen Raum befruchtete - man denke an ibn Sina (Avicenna) und ibn Rusd (Averroes) -, kann man die zeitweilige Aufnahme aristotelischer Schriften in die scholastische Theologie mit einem Brückenschlag zwischen den beiden Kulturkreisen gleichsetzen.

Während der expandierende Islam in den eroberten Teilen des Oströmischen Reiches oder in Persien, alten Kulturboden vorfand, auf dem nur anzubauen und von dem in der Folge nur zu ernten war, stieß er in Al-Andalus - der muslimisch beherrschte Teil der iberischen Halbinsel - lediglich auf noch zu kultivierende Böden. Die geistige Dynamik der islamischen Welt vollbrachte gerade in Spanien außergewöhnliche Leistungen auf allen Gebieten der Kultur und Zivilisation. Während der große abendländische Herrscher Karl (genannt: der Große) weder Schreiben noch Lesen konnte, herrschte in der arabisch-spanischen Stadt Córdoba Schulgeld- und Lernmittelfreiheit und zudem Schulpflicht für jedes Kind. Córdoba glänzte durch 30 Schulen, 17 Universitäten und 20 öffentliche Bibliotheken. Glänzend läßt sich die Verbandelung beider Kulturen in Spanien daran erkennen, daß bis um das Jahr 1080 der christliche Gottesdienst nach mozarabischen Ritus zelebriert wurde. Dieser Ritus hatte zahlreiche Elemente der arabischen Kultur aufgenommen. Im Rahmen der kirchlichen Zentralisierung zugunsten des römischen Bischofs, d.h. mit den Reformen, die den Primat des Papstes festigten, wurde dieser Ritus durch die römische Form der Liturgie ersetzt. (Dabei handelte es sich um jene Reformesbewegung, die die Reconquista und die Kreuzzüge - als aggressivsten Teil des neuen christlichen Selbstbewußtseins - in die Wege leitete.)

Bereits im 8. Jahrhundert existierten in jeder Stadt des islamischen Weltreiches frei zugängliche Krankenhäuser, die im Vergleich zur europäischen medizinischen Versorgung - sofern man überhaupt von Versorgung sprechen konnte -, hervorragende medizinische Arbeit leisteten. Während man in der christlich-abendländischen Kultur Operationen ohne Betäubung ertragen mußte, war den muslimischen Ärzten die Anästhesie bereits bekannt. Die Narkose kannte man zu jener Zeit auch außerhalb der islamischen Welt, doch der christlichen Dogmatik gelang es, Krankheit weiterhin als Strafe für begangene Sünden ins Weltbild zu integrieren. Derart religiös unterminiert, konnte sich die medizinische Wissenschaft nur schwerlich entfalten. Somit geriet die Narkose in Vergessenheit und wurde erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Fränkische Chronisten berichten, daß Karl dem Großen eine Uhr von einer Gesandtschaft aus Bagdad übergeben wurde. Derartiges wurde am Aachener Hof "nie zuvor gesehen". Zu jener Zeit, als man in Europa die Tageszeit noch am Stand der Sonne ablesen mußte, soll in Damaskus an jedem öffentlichen Platz eine Uhr gestanden haben.

Hans Leicht schreibt in seinem Buch "Sturmwind über dem Abendland - Europa und der Islam im Mittelalter": "Nach dem Fall Palermos und Siziliens lebte der arabische Geist am Südende Europas weiter. Hier, wie in Spanien, blieb die Brücke, über die eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse und großer Traditionen aus der Antike in das Abendland flossen. Lange Zeit blieb dies für die Wissenschaft nur eine kaum begründete Behauptung. Enno Littmann tat die ersten Schritte des Beweises, und in der neuesten Zeit konnte Sigrid Hunke die ganze Fülle arabisch-islamischen Gedankengutes, dem die Menschheit einen Großteil der Fundamente ihres Geistes verdankt, in ihrem Standardwerk "Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe" aufarbeiten. Alleine 303 Wörter der deutschen Sprache, die arabischen Ursprungs sind, zählt sie auf. Über fünfzig astronomische Begriffe fanden Eingang in die Wissenschaft. In der Tat waren die Ströme der Erkenntnisse aus orientalischer Mittlerrolle und eigener Schöpfung die Geburt einer neuen Weltsicht."

Da die gegenseitige Beeinflussung der beiden Kulturkreise mannigfaltig war und ist, bleibt hier zu wenig Raum, um dies in aller Breite und Länge darzulegen. Raum bleibt aber, um Johann Wolfgang von Goethe diese Zeilen abschließen zu lassen, indem eine Passage aus dem "West-östlichen Divan" zum Besten gegeben wird: "Wer sich selbst und andere kennt; wird auch hier erkennen: Orient und Okzident; sind nicht mehr zu trennen."

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In nuce

"Die Menschen treten in dieses Stadium als langjährig präparierte Empfänger ein; der entscheidende Unterschied besteht in der Einebnung des Gegensatzes (oder Konflikts) zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen, zwischen den befriedigten und den nicht befriedigten Bedürfnissen. Hier zeigt die sogenannte Ausgleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische Funktion. Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen." (Herbert Marcuse, "Der eindimensionale Mensch") - Was Marcuse bereits 1964 schrieb, fand in diesen Tagen eine journalistische Aufarbeitung, basierend auf die Zustände in den USA und Großbritannien. Naomi Klein beschreibt, daß mit der Arbeitnehmer-Beteiligung - in Form von Aktienprämien - das Klassenbewußtsein der Arbeitnehmer verlorenging. Plötzlich war man Aktionär, nicht nur mehr Arbeitnehmer. Die Nachdenkseiten: "Denn diese beiden, eigentlich diametral entgegengesetzten Interessenlagen mussten die vermeintlich am Unternehmenseigentum beteiligten Arbeitnehmer quasi auch für ihre eigene Entlassung stimmen lassen, um den Wert ihrer Aktien zu erhalten – oder zu steigern!" - Was also Marcuse bereits vor mehr als 40 Jahren formulierte, findet heute eine sublimierte Version, indem man die ideologische "Scheinbar-Beseitigung" der Klassengegensätze um einen materiellen Faktor bereichert.

Erdogans Auftritt findet reges Interesse in der Öffentlichkeit. Mediale Aufarbeitung findet dieses Thema in Verbindung mit dem Brand in Ludwigshafen. Indes bleiben die Umstände und Motive des Brandes schleierhaft. Was zudem im Dunkeln bleibt: Warum tat man sich so schnell hervor, den Brand zu entnazifizieren? Vielleicht sollten die Bürger tatsächlich nicht auf den Gedanken kommen, daß Koch und seine Schergen die geistigen Brandstifter sind, so es denn ein Brandanschlag war. Kritische Stimmen dahingehend finden sich bestenfalls innerhalb der Gegenöffentlichkeit, nicht aber in den öffentlichen Medien, die stattdessen eine Einheitsfront gegen den Zweifel bilden.

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Erdogans Sturm auf die deutsche Leitkultur

Samstag, 9. Februar 2008

Mit Unverständnis hat die deutsche Öffentlichkeit den Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan aufgenommen, wonach mehr türkische Lehrer nach Deutschland entsendet werden sollten. Die Gründung türkischer Gymnasien, versteht man gar als Angriff auf die deutsche Leitkultur - nicht nur im Lager der christlichen Parteien. An diesem Punkt angelangt sieht man die geforderte Assimiliation muslimischer Mitbürger gefährdet.

Nicht der Sinn oder Unsinn dieses Vorschlags soll folgend behandelt werden, aber ein Blick ins Ausland lohnt sich allemal. Hinlänglich bekannt ist, daß deutsche Touristen nichts von Zurückhaltung halten. Mallorca steht als leuchtendes Beispiel touristischer Respektlosigkeit vor den Belangen der einheimischen Bevölkerung. Neben deutschen Straßen, Kneipen, Dienstleistungsunternehmen, neben einer Balearenausgabe der BILD-Zeitung, ist man zudem versucht, deutsche Feier- und Partyinteressen - mittels Einzug ins Inselparlament - durchzusetzen. Laute Musik, Saufgelage und Strandbelagerungen bis tief in die Nacht als Gegenstand politischer Willensbildung! In den türkischen Touristenhochburgen sieht es nicht anders aus: Statt Köfte fordert man Bratwurst und Sauerkraut und auch wenn in der Türkei religions- und damit konventionsbedingt Schweinefleisch nicht verzehrt wird: der Tourist möchte nicht darauf verzichten müssen. Die einheimischen Bewohner trösten sich damit, daß diese Vandalen früher oder später zurück in ihre Heimat gehen, wo sie sich in dieser Weise niemals benehmen würden.

Der Tourismus ist aber nicht das Zentrum deutschen Unwillens, sich diverser "anderer Leitkulturen" anzupassen. Wie handhaben es Deutsche, die im Ausland - in diesem Falle in der Türkei - leben? - Integration findet auch dort nicht statt. Freilich, könnte man argumentieren, in der Türkei leben - laut Schätzungen - nur etwa 25.000 Deutsche, während in Deutschland 1,7 Millionen Türken leben. Aber müßte es einer kleinen Zahl "volksfremder Charaktere" nicht sogar leichter fallen, sich zu integrieren? - Scheinbar nicht. Es gibt deutsche Bäckereien und man habe den Türken etwas "mehr Sauberkeit beigebracht", so diverse Rentner, die ihren Lebensabend in Antalya verbringen. Unverblümt läßt man Verachtung erkennen, tut gerade so, als habe die deutsche Präsenz ein Land aus der Wildnis gehoben. Von der geistigen Größe des Osmanenreiches, die lange Zeit Europa in den Schatten stellte, wissen solche Zeitgenossen wenig.

Gelesen werden deutsche Zeitungen, die da heißen "Alanya Bote", "Deutsche Türkei Zeitung" oder "Türkische Allgemeine". Und auch - dies verwundert bei der Entrüstung zum Vorschlag Erdogans - deutsche Schulen existieren in der Türkei. Die Ernst-Reuter-Schule in Ankara wurde bereits 1952 - damals unter anderem Namen: Deutsche Schule Ankara - gegründet. Anzumerken sei, daß es sich um Privatschulen handelt, die tüchtig in den Geldbeutel der Eltern greifen, um dem Spößling eine gute deutsche Schulbildung zu vermitteln. Doch das Prinzip ist jenes, welches man in Erdogans Vorschlag zu sehen glaubt: Man hält sich separat, versucht nicht integriert zu leben, sondern die Herkunft zu bewahren.

Wie auch die türkischen Mitbürger hierzulande, sind Deutsche im Ausland versucht, ihre Wurzeln zu bewahren. Diese Form des Herkunftsbewahrens führt nicht selten dazu, daß man sich sein Umfeld an die Heimat anpaßt. Die Deutschen vollziehen dies im Ausland, so wie es viele türkische Mitbürger hier tun. Es ist auch nicht notwendig, integriert - was im Sinne der "deutschen Leitkultur" assimiliert bedeutet - zu sein, um friedlich mit seinem Nachbarn leben zu können. Frei nach Pispers: In Düsseldorf leben viele Japaner, kaum einer ist der deutschen Sprache mächtig. Es gibt japanische Läden und Restaurants und Apotheken haben sogar japanisches Personal eingestellt, damit japanische Kunden beraten werden können. Liest man irgendwo etwas über kulturelle Verwerfungen am Rhein? - Nein, sagt Pispers, man muß nicht dieselbe Sprache sprechen um sich zu verstehen. Man kann deswegen genauso ein Bier zusammen trinken - d.h. der eine trinkt Bier, der andere das, was er für Bier hält. Was Pispers humoristisch aufarbeitet, trifft den Nagel auf den Kopf. Und solange viele Deutsche (nicht alle) glauben, an ihrem Wesen müßte die Welt genesen, sollte man auch den Menschen hier ermöglichen, ihren Wurzeln Ausdruck zu verleihen.

Das Monopol der Werte, Normen und Konventionen einer Volksgruppe innerhalb eines Nationalstaates, ist eine relativ junge Erscheinung in der Historie. Den Menschen war es vormals gleichgültig, unter welchem Regenten sie ihr Leben zu fristen hatten. Vielen Bauern ging es - trotz dschizya (Steuer für Nichtmuslime) - viel besser, als unter christlicher Herrschaft. Erst mit Aufkommen nationalistischen Totalitarismus, der eine mal latente, mal offenkundige Gleichschaltung der Lebensentwürfe mit sich brachte, verunmöglichte das Ausleben einer anderen Kultur innerhalb eines Staatenwesens. Zu Zeiten Friedrichs II. - des Großen - sah man dies noch pragmatischer. Er ließ die andernorts verfolgten Hugenotten nach Preußen kommen, denn sie sollten den aufstrebenden Staat, der an Bevölkerungsarmut litt, bereichern. Er hätte, so sagte er einmal, auch Synagogen und Moscheen gebaut, wenn Juden und Muslime nach Preußen gekommen wären. Forciert durch die Befreiungskriege gegen Napoléon fand mehr und mehr eine Abgrenzung zu anderen Lebensentwürfen statt. Der Lebensstil der Mehrheit, die sich als Nation proklamierte, schob kulturelle Unangepaßtheiten zur Seite. Die Juden, gerade noch durch den Code Civil Napoléons emanzipiert, wurden plötzlich zu Fremdkörpern und Störenfriede. Dies forcierte eine kopflose Assimilation, in welcher man doch immer "Deutscher zweiter Klasse" blieb. Hannah Arendt sieht in dieser Kopflosigkeit, in der man sich lieber stillschweigend anpaßte, als um die Emanzipation der eigenen Kultur zu kämpfen, die Wurzel der jüdischen Kampflosigkeit, als man sie zu den Schlachtbänken der Shoa führte.

Erdogans Vorschlag mag unsinnig sein, zumal muttersprachlicher Unterricht schon jetzt (und seit Jahren) in deutschen Schulen praktiziert wird. Derart an den Haaren herbeigezogen, wie man es nun darzustellen versucht, ist ein solcher Vorschlag aber nicht. Integration ist kein Wert, welchen Westeuropäer gerne im Ausland umsetzen. Zu assimilieren haben sich andere Kulturen, der in die Köpfe zementierte Eurozentrismus erlaubt keinem west- oder mitteleuropäischen Menschen, in einer anderen Kultur zivilisatorische Kraft zu erkennen. Nicht Erdogans Vorschlag ist vermessen; als vermessen wurde es verstanden, daß man aus einer niedrigen kulturellen Stellung heraus - die die Türkei und der Islam in Augen der Europäer einnimmt - solche Forderungen in den Raum stellt. Anders: Sowas dürfen Europäer fordern und umsetzen, aber nicht "geringwertigere Kulturkreise".

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Sit venia verbo

"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, dennn er wird dein Schicksal."
- Aus dem Talmud -

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Diekmann und die Brandstifter

Freitag, 8. Februar 2008

"Das rufen wir auch den Politikern in unseren Ländern zu: Arbeitet verantwortungsvoll, stärkt das Vertrauen der Menschen, schürt kein Misstrauen!" - In dieser Weise beendet heute BILD-Chefredakteur Diekmann einen Kommentar, der gleichzeitig in der BILD-Zeitung und in der türkischen Tageszeitung Hürriyet erscheint. Wieder einmal tritt die BILD - in persona Diekmann - als Anwalt der Gerechtigkeit auf, möchte die Rolle kollektiver Vernunft spielen.

Dabei verschweigt er, daß es ausgerechnet die BILD-Zeitung war, die Kochs weltanschaulich-rassistischen Wahlkampf lautstark unterstützte. Täglich berichtete man von der angeblich steigenden Ausländerkriminalität, die unsere Gesellschaft vor schwere Prüfungen stelle. Weil es "immer mehr Ausländer gibt, die bei uns nichts zu suchen haben", schien Kochs Rigorosität unterstützenswert. Vernunft: Fehlanzeige; ein Blick in entkräftende Kriminalstatistiken: Fehlanzeige; Anhören von kritischen Stimmen, die das Anwachsen der Ausländerkriminalität als Unsinn abtaten: Fehlanzeige. Man war so überhaupt nicht Anwalt der ratio in jenen Tagen.

Jetzt aber, da die Gefahr droht, mit einem möglichen rassistisch begründeten Brandanschlag in Ludwigshafen, das Ansehen Deutschlands und der Deutschen zu gefährden, da findet man zurück zu versöhnlicheren Tönen. Ruhe bewahren heißt hier der Leitspruch. Nur ja kein Mißtrauen schüren. Während man von anwachsenden kriminellen Ausländerhorden berichtete, sind die Brandstifter - sofern es denn ein Anschlag war - nur als eine traurige Randerscheinung zu bewerten. Damit spricht man sicher die Wahrheit aus, aber nur, weil es dem eigenen nationalen Ansehen dienlich ist.

Dieses BILD-Prinzip ist keine neue Erscheinung. Man hetzte gegen Studenten und als Benno Ohnesorg erschossen wurde, tat man wie die Unschuld vom Lande; man schrieb 1968 vom "Ergreifen der Rädelsführer" und als man dann auf "den Rädelsführer" Rudi Dutschke schoss, hüllte man sich in Zurückhaltung und beschwichtigte munter die geistige Mittäterschaft. Auch in diesem Winter wurden Stimmen laut, man würde mit dieser Form rassistischer Kriminal"analyse" Ressentiments nähren. Mölln, Solingen und Rostock sollten, so wurde erhofft - und von mir in einem Beitrag vom 10. Januar ebenso behandelt - nicht mehr Wirklichkeit werden. Nun kann man aber nicht behaupten, der nationalistisch-rassistisch aufgewiegelte Mob wäre erneut Wirklichkeit geworden, denn nach wie vor bleibt im Trüben, ob es sich um einen Anschlag handelte, und wenn ja, ob er politisch motiviert war.

Als man Mißtrauen gegen ausländische Mitbürger schürte, da wollte man auf diejenigen, die maßvolle Zurückhaltung forderten, nicht hören. Nun aber erscheint es im Sinne der nationalen political correctness notwendig, Maßhaltung zu predigen. Immerhin - so darf man wenigstens dankbar zustimmen - seien die Deutschen kein Tätervolk; im BILD-Kosmos kommen Verbrecherhorden immer aus dem Ausland, deutsche Kriminalität ist immer nur "traurige Randerscheinung" und deutsche Wirtschaftskriminalität findet bei BILD gar nicht statt. Kein Mißtrauen also, damit am Ende nicht rauskommt, was nicht rauskommen darf: Das Koch und Konsorten und zudem die BILD-Zeitung die geistigen Väter neuen nationalen Anzündens waren und - sofern es das politische Klima wieder erlaubt -, so darf man annehmen, weiterhin sein werden. Das Tagesblatt des Spießbürgers zündelt gerne, aber wenn dann das Objekt des Zündelns in Rauch aufgeht, will man nichts mehr davon wissen und wechselt ins Lager des braven Feuerwehrmannes.

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In nuce

Donnerstag, 7. Februar 2008

"Also wenn ich mir die Zusammensetzung dieser Kommission ansehe, vermisse ich insbesondere beim Blick auf das Resultat fachliche Professionalität bei der Auswahl „unbefangener, im Sozialbereich geschulter“ Personen." - So ein Leser der NachDenkSeiten zur Hartz-Kommission aus dem Jahre 2002. Eine makabere Runde wirtschaftlicher Eliten, die über das Schicksal aussortierter Menschen zu entscheiden hatte. Was diese Hanswurste angerichtet haben, läßt sich beinahe täglich nachlesen. Das postulierte "Fördern und Fordern" zeichnet sich vor allem aus durch Druck, Sanktionen und Erpressungen. BILD hält aber weiterhin die Mär aufrecht, wonach die "generösen Hartz-Reformen" Erwerbslose zur Zufriedenheit verhelfen, weswegen sie für eine neue Stelle nicht mal umziehen würden. Verschwiegen wird - wie immer bei der BILD-Zeitung -, daß die Studie (auf die man sich in dem Hetz-Artikel bezieht) ein fiktives Stellenangebot mit einem Stundenlohn von 6,80 Euro/Stunde anbot. Wer würde ernsthaft seine Heimat verlassen, um einen vielleicht unsicheren Posten anzunehmen? Abgesehen davon: Wie kann man nur verlangen - gleichgültig bei welcher Bezahlung -, daß Menschen ihre Heimat, damit ihre sozialen Bezüge aufgeben? Die Unmenschlichkeit der Hartz-Reformen äußert sich auch daran, daß man dem "Langzeit"arbeitslosen ein natürliches "Recht auf Heimat" verwehren kann, bzw. Artikel 11 GG faktisch außer Kraft gesetzt wird. Freilich wird niemand zwangsdeportiert, alles läuft rein freiheitlich ab: Wer einem Stellenangebot fernab seines Heimatortes nicht nachkommt, hat sich in seinem Freiheitsdrang für sein Zuhause, seine Familie, seine Freunde und Bekannten entschieden, aber gleichzeitig seine Bezüge verloren.

Die LINKE als Ausgeburt rot-grüner Verirrungen: Davon wird in der Öffentlichkeit kaum gesprochen, man verleugnet stattdessen das "eigene Fleisch und Blut". Und gerade die Grünen, die einst selbst stigmatisiert wurden, indem man verkündete, mit "denen sei kein Staat zu machen", zeigen was sie in all den Jahren der Etablierung gelernt haben. Doch die Glaubwürdigkeit der Grünen wird nicht dadurch ramponiert, daß sie nun mit den Finger auf DIE LINKE deuten, wie es einst die etablierten Parteien bei den Grünen taten. Wenn man ernsthaft die Glaubwürdigkeit gefährdet sieht, dann müßte man davon ausgehen, daß die verlachten Grünen von einst, die sattgefressenen Grünen von heute sind. Ditfurth: "Unter dem gleichen Namen verbirgt sich heute ein völlig anderes Projekt."

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Gesetzlich geregelte Gleichgültigkeit

Immer wieder hört man es aus vieler Munde, vorallem aus jenen Mundwerken, die auf Staatskosten kauen. „Tut mir leid, das Gesetz - Sie verstehen?“, „Ich würde ja gerne helfen, aber das Gesetz!“ oder „Wenn es nach mir ginge... aber das Gesetz schreibt vor!“ Dies ist das tägliche Brot des Sachbearbeiters in Staatsdiensten. Die menschliche Gesetzgebung als unumstößliches Naturgesetz! Gerade so, als klebte eines dieser geschmacklos gehaltenen Gesetzesbüchlein im Herrgottswinkel jener Damen und Herren. Von dort oben blickt es herab, sieht den Treuen beim löffeln der Suppe zu, die ihnen ein mangelndes Kritikbewußtsein bescheret hat. Die Wege des Gesetzes sind eben unergründlich. Es muß doch stimmen, was sich da in Paragraphen und Artikeln versammelt hat, es muß doch Gerechtigkeit darin sein, selbst wenn man diese nicht immer - und manchmal gar nicht - erkennen kann.

Dreist wirken jene, die ihre Gesetzesanbeterei mit einer ganz besonderes Form des Amens beschließen. „Nehmen Sie es nicht persönlich... das Gesetz, ich habe da leider keine Handhabe!“ Da sitzt der Ausgestoßene, Entlassene, von der Teilhabe am Allgemeinwohl Entfremdete, der Paria und Notleidende vor „seinem“ Sachbearbeiter, weil er „seine“ Notlagen geregelt wissen will, die ihn um „seinen“ Schlaf bringen, doch man läßt ihn wissen, er habe es nonchalant zu sehen, es ja nicht mit seiner Person in Verbindung zu bringen, d.h. er soll es nicht persönlich nehmen. Er soll seine Not abstrakt halten, vielleicht zum Trost die Nöte anderer betrachten und bewerten, um seinem Dilemma - eingeordnet in eine Rangliste möglicher Notlagen - etwas Positives abzuringen. In ein Kollektiv an Notlagen gebettet, schrumpft dann seine individuelle Zwangslage zu einer unbedeutenden Größe, von der er Trost zehren soll.

Die Wonnen des Gesetzes ermöglichen dem Sachbearbeiter einen wohligen Schlaf. Aber wir sollten nicht so kleingläubig sein, die Ignoranz unserer Zeit alleine am Büttel festzumachen. Die Menschen, die mit dem Gesetz winken, wenn sie Gleichgültigkeit meinen, sind Legion. Das Verweisen auf Gesetzeslagen ist das Ruhekissen desjenigen, der sich nicht die Mühe machen möchte, Kritik an Sachverhalten zu üben. Es ist der alltägliche Eichmann oder Tibbets, der die Menschen reitet, wenn sie fromm Befehle entgegennehmen und sie - noch frommer - in Tatsachen umsetzen. Das "Knöpfchen" wird gedrückt, auch wenn am anderen Ende ein Stromschlag durch einen Menschen geleitet wird, denn immerhin befiehlt es das Gesetz oder ein vom selbigen legitimierter Vorgesetzter.

Besäßen jene nur etwas mehr Elan, um über manchen Mißstand im Gesetzeswerk nachzudenken, so würden sie sich ihrer Rolle als Helfershelfer bewußt und müßten Konsequenzen ziehen; wären jene nur etwas antriebsloser in ihrem Gesetzeseifer, so würden sie, der guten Faulheit zugrunde, auf das Gesetzesalibi verzichten und entweder gewähren oder eben den Sündenbock auch beim eigenen Namen nennen. Dann hieße es nicht mehr "Wissen Sie, das Gesetz bindet mich... ich bin ja unschuldig", sondern "Ich bin zu feige, um mich der gesetzlichen Ungerechtigkeit zu widersetzen". Innerhalb dieser selbstentehrenden Aussage fände sich ein Fünkchen Kritik und das Gesetzeswerk wäre cum grano salis wahrgenommen. So aber sind es die banalen Durchschnittscharaktere, die als Ausführende des legislativen Unrechts herangezogen werden. Zeitgenossen also, die sich nicht durch besonderen Fanatismus, aber auch nicht durch Nachlässigkeit auszeichnen; der banale citoyen als feiner Zivilsoldat, der den Kanon des Gesetzgebers verinnerlicht hat, um ihn dem "Bürger mit Begehr" wie Honig ums Maul zu schmieren.

Innerhalb einer Gesellschaft, die den Totalitarismus des Systems in jeden Winkel des Alltags zu tragen versucht ist, gereicht die fehlende Negation des Gegebenen - d.h. die fehlende Kritik - zur individuellen Schuldfrage. Diese zur Schuld modifizierte Interessenlosigkeit am Gegebenen, findet mittels des Verweises auf die unantastbare Instanz der Gesetzgebung, ein druckablassendes Ventil. Das Outsourcing findet in der Gesellschaft des totalitären Marktes auch hier Einzug. Indem der Mißstand des Individuums - das ja nichts persönlich nehmen soll, weil es eben das Absolutum des Gesetzes ist, welches ihn an die Wand drückt - zum reinen Pech verklärt wird, befördert man die Schuldfrage ins Unbekannte. Wenn also ein Mensch nach einem Jahr seiner Erwerbslosigkeit in die Armenverwaltung (Arbeitslosengeld 2) fällt - und damit in Armut -, dann haben nicht die Menschen schuld, die abnickend jede Sozialschweinerei mitmachen, sondern es ist eben einfach das Pech des Betroffenen. Somit tritt das Gesetzesbuch als trefflichste Erfindung menschlicher Zivilisation auf. Dort läßt sich die Schuld der Kritiklosigkeit hineinpacken, diese Schuld, die keinen Abnehmer finden will, weil wir doch bei egozentrischen Entscheidungen sehr wohl kritisch begutachten können und wollen.

Der Staatsbüttel erfüllt nur seinen Dienst; das schweigende Individuum erfüllt nur seine Rolle als braver Bürger; der kritische Charakter in eigenen, aufs Ego bezogenen Fragen, erfüllt nur die Vorgehensweise eines auf Vorteil bedachten Kunden. Konventionen, Regeln, Paragraphen nehmen nur zu oft die Rolle des legitimierten Unrechts ein. Recht muß nicht gerecht sein. Das ius positivum, zum Absolut erklärt, an dem Kritik nicht erwünscht ist, weil es den herrschenden Zuständen zuwiderläuft, sich an herrschende Gesetzlichkeit kritisierend zu äußern, erlaubt dem Menschen kein mündiges Dasein, sondern entfremdet ihn vom negativen Denken, d.h. von der Kritik. Die sakrosankte Stellung, die das positive Recht ("gesetzte" Recht) in vielen Köpfen einnimmt, degradiert den Bürger zum Erfüllungsgehilfen ökonomisch begründeter Scheinzwänge und läßt Erkenntnis zum Spielball wirtschaftlicher Interessen verkommen.

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Sit venia verbo

Dienstag, 5. Februar 2008

"Wir werden einen Satz wie "die Welt ist die Selbstverwirklichung Gottes" nicht mehr widerlegen, indem wir etwa zu beweisen versuchen: "die Welt ist nicht die Selbstverwirklichung Gottes". Denn damit würden wir, wo die Metaphysiker den Bock melken, das Sieb unterhalten. Wir werden vielmehr zeigen, daß jener Satz sinnlos ist, nicht etwa falsch; die Gegenthese ist daher ebenfalls sinnlos."
- Rudolf Carnap, "Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen" -

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Närrische Kritiklosigkeit

Montag, 4. Februar 2008

In vielen Städten, die dem Karneval zugetan sind, entspricht es der alljährlichen Tradition, den Schlüssel des Rathauses, den Narren zu übergeben. Gemeinhin spricht man dann davon, daß die Narren die Macht übernommen hätten. Aus einer hierarchischen, streng strukturierten Standesgesellschaft stammend, erscheint diese "Umkehrung aller Konventionen" als notwendiges Zugeständnis an die ansonsten unterdrückten und ausgebeuteten Knechte. Einmal darf der Knecht zum Herrn und muß der Herr zum Knecht werden; einmal sind die Machthabenden ihrer Macht entblößt und werden mit jener zynischen Herrenmoral abgefertigt, mit der jene sonst zur Abfertigung bereit sind. Im Karneval - so weist es die Tradition aus - steht die Welt kopf, werde Hierarchien umgedreht und Konventionen durch Tollheiten ersetzt. Ungerechtigkeiten aller Art, wie sie dem Knecht im Alltag begegnen, werden verworfen und durch einen Zustand "neuer Herrschaft" ersetzt. Der Karneval soll einen zeitlich begrenzten Ausweg aus den Mühen des Daseins bieten, einer Form temporärer Revolution gleichen. Dies war die Intention, die den Karneval zu einer Institution werden ließ.

Degeneriert begegnet uns diese Form der "Machtübernahme" in der totalitären Gesellschaft vermeintlicher Alternativlosigkeit. Heute vollzieht sich die Schlüsselübergabe im reinen Traditionsbewußtsein, fern jeglicher Interpretation der historischen Wurzeln. Die Herrschaft der Narren bedeutet keine Umwertung des Alltäglichen, sondern stellt eine banale Randerscheinung im karnevalistischen Treiben dar. Die "tollen Tage" installieren kein temporäres Moralsystem im System mehr, sondern laufen konform mit der Herrschaft, legen moralisches Bewerten ab. Die Kritik der Narren an den Herren ergießt sich in Trivialität. Kritikwürdig erscheinen fürchterliche Frisuren, häßliche Brillen, komisch wirkende Dialekte und Zoten aus dem Privatleben der Herren; die Inhalte ihrer Herrschaftsweisen und -ziele bleiben aber sakrosankt.

Konkreter: Der närrischen Kritik wird Ulla Schmidts rheinländischer Dialekt unterworfen, nicht aber die menschenverachtende, profitorientierte Gesundheitspolitik, die sie ihr Werk nennen darf; man spricht über Merkels Achselschweißflecken, ihr Hang zur euphemistischen Rede und ihr neuerdings zur Schau gestellter Rassismus bleiben aber unerwähnt; anzüglich wird Westerwelles sexuelle Neigung thematisiert, aber nicht seine erotische Nähe zum radikalen Wettbewerb in allen Lebenslagen, der Menschen von der Teilhabe am Wohlstand aller disqualifiziert; Spott der Frisur Pofallas, aber bestenfalls dezente Worte zu seiner Stellung als "vorauseilendes Gehorsam" der Kanzlerin. Innerhalb der herrschaftlichen Strukturen erwirkt die Zeit des karnevalistischen Treibens keine Flucht aus den Machenschaften alltäglicher Herrschaft, sondern banalisiert die Methoden der Machthaber und trivialisiert deren Erscheinungsbild.

Nicht nur die Narren tragen somit Kostüme, sondern ebenso wird deren Kritiklosigkeit als Kritik kostümiert. Wenn profane Herrschaft auch bedeutet, zuweilen Menschen Schmerzen zuzufügen, so ist die temporäre Herrschaft der Narren nicht einmal gewillt, mit spitzer Zunge und unumstößlicher Härte, den Machthabern verbale Schmerzen zu bereiten. Eine von Herrenmoral indoktrinierte zynische Vernunft, hämmert den Protagonisten des Karnevals Zurückhaltung ein, erlaubt es nur, sich an Nebensächlichkeiten aufzuhängen. Kurz: Karneval in dieser Form, als scheinbare Machtübernahme des Unterdrückten und dessen, was im Alltag nicht sein kann und darf, stellt ein Spiegelbild einer kritik- und damit alternativlosen Gesellschaft dar. Das Lachen, welches einen wahren Hintergedanken in sich birgt, bleibt innerhalb der kabarettistischen Welt gefangen - im Karneval bleibt es geächtet: Auf das die Knechte nicht die Dreistigkeit und kriminelle Energie ihrer Herren erkennen!

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