Urvater der Agenda 2010

Mittwoch, 11. November 2015

oder Kein Nachruf, nur eine Richtigstellung.

Heute vor exakt 40 Jahren begann der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Mannheim. Es war der 17. seiner Art seit Kriegsende. Und es sollte um eine Richtigstellung gehen. Man wollte den Linken die Deutungshoheit aus den Händen reißen. Die Seeheimer, die damals noch gar nicht so hießen, weil sie noch nicht im Schulungszentrum der Lufthansa über den Dächern von Seeheim-Jugenheim an der Bergstraße getagt hatten (das geschah erstmals 1978), wollten die Sozialdemokratie wieder ins »rechte Licht« rücken. Sie wollten weg vom Linksruck in den Brandt-Jahren, der dann auf dem Parteitag in Hannover 1973 auch noch programmatisch vereinbart wurde. Die SPD-Rechten wollten ans Ruder. Beobachter schrieben nach Mannheim, dass es den Seeheimern, die wie gesagt noch gar nicht so hießen, durchaus gelang, den neuerlichen Anlauf linker Impulse abzuwenden. Man lobte die Partei für ihren Realitätssinn und war froh, dass nach dem Parteitag von '73 nun einer folgte, in dem der hellrote Konservatismus wieder das Sagen hatte.

Der amtierende Bundeskanzler hatte einige Seeheimer, die also noch gar nicht so hießen, schon im Jahr zuvor in sein Kabinett berufen. Das erzeugte Aufbruchstimmung bei den Parteirechten. Der Kanzler machte sie salonfähig. Selbst war er ja auch ein konservativer Sozi. Immer gewesen. Seine Biographie glich jener von Willy Brandt in so gut wie keinem Punkt. Er sprach viel von Pflicht, aber eher wenig von Wagnissen, die die Demokratie angehen sollte. Später focht er seinen Kampf mit dem Volk aus, das mehr und mehr weg wollte von der Atomenergie und den NATO-Doppelbeschluss ablehnte. Er tat halt seine Pflicht. Auch gegen die Mehrheiten im Volk. Na jedenfalls holte er die Konservativen seiner Partei an die Schalthebel der Macht. Die Seeheimer, die dann bald auch so hießen, legten hier ihren Grundstein als innerparteiliche Torquemadas. Von nun an waren sie der Thinktank, der mehr und mehr die Richtung vorgab. Die Agenda 2010 war Jahrzehnte später ihr Meisterstück. Heute sind ja so gut wie alle Sozialdemokraten Seeheimer. Auf alle Fälle diejenigen, die irgendwas in der Partei zu sagen haben.

Warum ich das ausgerechnet heute zur Sprache bringe? Weil der Kanzler damals Helmut Schmidt hieß. Und weil ich finde, dass der Spruch, man dürfe Toten nichts Schlechtes nachsagen, überhaupt keine Berechtigung hat. Man sollte nicht unfair werden. Da stimme ich zu. Beleidigung in ein frisch ausgehobenes Grab hinab zu schreien, ist nun wirklich keine Art. Aber man darf halt auch nicht unrealistisch werden und Dinge schönen. (Was die alte Junkerin mit Twitter-Anschluss über ihn postete, hat aber mit realistischer Begutachtung nichts zu tun.) Der Mann war nun mal nicht der, den die Zeitungen nun beschreiben. Kein Weltstaatsmann, wie sie »Süddeutsche« heute tut. Kein Lotse, der von Bord ging. Wohin hat er uns denn gelotst? Unter anderem zur Agendapolitik. Indirekt und vielleicht nicht so drastisch gewollt. Er war aber im Grunde auch derjenige, der dem sozialdemokratischen Konservatismus, dieses kuriose Gemisch aus Fortschrittsgläubigkeit bei anhaltender Beibehaltung der Herrschaftsverhältnisse, in die Schuhe half. Man sagt ihm nun in einem Nachruf nach, dass er der Urvater der Währungsunion gewesen sei. Das mag schon stimmen. Aber er war auch der Urvater der Agenda 2010 und von Hartz IV. Er entfesselte die Geister, die später von Seeheim aus die Geschicke der Partei dominierten. Und Hartz IV hat er mehrfach gelobt. Lafontaine, der als Linker gegen dieses Reformpaket war, verglich er gleich mal mit dem Adolf. Das war sicher keine Sternstunde dieses nun über den Klee gelobten Altkanzlers.

Natürlich ist es verständlich, dass man ihm nicht zu knapp gedenkt. Und auch aus gegebenen Anlass Nachrufe schreibt, die auch seine Leistungen betonen. Schmidt war ja ein nicht zu unterschätzender Teil der Bonner Republik, aus der diese Berliner Version hervorging. Er war ein Stück Geschichte. Zum Heiligen taugt er allerdings nicht. Das tut keiner. Nicht mal die Heiligen. Er hatte durchaus Haltung, was man in der Schleyer-Sache gut erkennen konnte. Wie hätte die Wendehälsin, die heute aus dem Bundeskanzleramt heraus waltet, in einer derart schwierigen Lage reagiert? Sie erlebt insofern ihre Gnade der späten Geburt. Nein, sicherlich war Schmidts Zeit als Kanzler schwierig und man mochte nicht mit ihm tauschen. Das muss man anerkennen. Aber unter ihm ging es eben auch los mit dem Abbau von Leistungen und mit Sparmaßnahmen. Der Anspruch, die Ausgestoßenen dieser Gesellschaft nicht zu Parias werden zu lassen, schwand nicht erst im mit Schröder. Schon damals wollte die Sozialdemokratie verstärkt zu einer Partei des Mittelstandsbauches werden. Und die Seeheimer, die erst nach und nach so hießen, mischten munter mit. Damals verlor die SPD ihre linken Ambitionen. Fortan war man als Parteilinker ein Exot, der in einer dunklen Ecke saß und als alter Meckerer verunglimpft wurde. Als dann ein Parteilinker nach langen Jahren der Parteirechten fast Kanzler wurde, kam die Wiedervereinigung dazwischen und man musste sich wieder neu erfinden und erfand, als man die Macht Jahre später doch hatte: Die Agenda 2010 und machte die Seeheimer, die jetzt schon lange so hießen, zum Zentralorgan der Partei.

Vierzig Jahre ist jener Parteitag nun her. Jener Kanzler von damals hatte noch einige Jahre im Amt vor sich. Und etliche mehr als a.D. Ich mag keinen Schmutz nachwerfen. Aber Flitter werfen will ich ganz sicher auch nicht. Seine Altersweisheiten waren manchmal wertvoll. Hin und wieder auch unsinnig. Die Legendenbildung fing schon zu Lebzeiten statt. Daher sollte man ihn gerade in der Stunde, da sein Wirken hienieden beendet ist, mit allen Facetten würdigen. Ich sage nicht, dass ich das eben getan habe. Aber das ist auch kein Nachruf, sondern nur eine Richtigstellung: Der Mann mit den besten Attributen, von dem man nun in den Medien erfährt, war auch nur ein Mensch. Manchmal einer, den man nicht leiden mochte. Wer Heilige will, sollte nicht Zeitung lesen müssen, sondern in die Kirche gehen. Alles an seinem Platz bitte.

2 Kommentare:

Martin Becker 11. November 2015 um 19:59  

Die Seeheimer hießen damals noch "Kanalarbeiter" und rekrutierten sich zu großen Teilen aus dem DGB-Milieu, wobei die Gewerkschaften in den Siebzigern noch anders auftraten, für die damalige ÖTV z.B. das "Schwergewicht" Kluncker. Eingebunden waren sie aber trotzdem schon in das wirtschaftliche "Allgemeinwohl" - das weder dort noch sonstwo so allgemein existiert - sie hatten nach den Endsechzigern nur etwas Oberwasser und "Drüben" gab es ja auch noch.

Schönen Abend.
Martin

Anonym 12. November 2015 um 11:22  

RICHTIG, das war der beste "Nachruf" Entschuldigung "Richtigstellung" den ich bisher gelesen habe. Und ich habe einige gelesen und gehört von denen ich oft dachte: Den Mann, über den hier geschrieben/geredet wird, den kenne ich nicht. Inzwischen weigere ich mich noch mehr davon zu lesen oder zu hören. Es erzeugt bei mir inzwischen ein Gefühl der Abwehr und das hat er nicht verdient.
Herr Schmidt wird glorifiziert und wenn der Papst mitspielt wird er heilig gesprochen. Ich weiß natürlich warum das so ist. Er hat die heutigen Zustände mit seiner damaligen Politik eingeläutet und dafür ist man ihm dankbar und bezeichnet ihn deshalb allenthalben als weise.
Deshalb noch mal ein dickes DANKESCHÖN für diese Richtigstellung :-)

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