Zu Ohren gekommen

Dienstag, 4. Februar 2014

Unsere Epoche scheint beispiellos zu sein. Jedenfalls könnte man diesen Eindruck erlangen, wenn man so hört, was die Medien alles verbeispiellosen. Jede Woche ein neuer Fall von beispielloser Tragweite. Zuletzt waren es die demographische Entwicklung, die NSA-Affäre oder Hartz IV als Erfolgsmodell. Alles ohne Beispiel. Derzeit firmieren unter diesem Etikett Artikel zu einem Hochhaus-Abbruch in Bockenheim - und so gut wie alle Empfehlungen für diverse Kandidaten für den Friedensnobelpreis sind mit diesem Adjektiv ausgestattet. Dieses Bemühen des Wortes beispiellos ist wirklich beispiellos.

Es handelt sich hier um ein Adjektiv der allgemeinen Alternativlosigkeit. Wer an politische Entscheidungsfragen mit der neoliberalen Losung Es gibt keine Alternative! herantritt, der ist natürlich darum bemüht, die Gründe seiner Entscheidung so auszumalen, dass sie möglichst keine andere Entscheidung zulassen. Wenn zum Beispiel (!) die Arbeitsmarktsituation beispiellos schlecht ist - wie um das Jahr 2000, als Deutschland zum kranken Mann geschrieben wurde -, dann ist die Entscheidung namens Hartz IV quasi alternativlos. Deswegen wehren sich die Befürworter der Agenda 2010 gerne gegen die Kritik, die diese Beispiellosigkeit leugnet oder wenigstens in Zweifel zieht. Denn wer daran zweifelt, dass es ähnliche Beispiele noch nie gab, der macht die logische Konsequenz aus alternativlosen Handeln heraus auch anstössig.

Die Rettung des Euro ist auch so ein beispielloser Vorgang - oder sagen wir so: Der Vorgang ist alternativlos, aber die Gründe, die zu einer Rettung auf Basis dieser Austeritätspolitik führten, die erklärt man für beispiellos. So sieht eine grundlegend falsche Politik plötzlich ganz anders aus. Besser und richtiger. Und selbst wenn Menschen dann zweifeln an dieser Politik, kann man ja sagen: Leute, die Sache war so beispiellos, wir wussten es eben nicht besser, aufgrund fehlender Beispiele in der Geschichte. Bei allgemeiner Beispiellosigkeit kann man auch mal geschichtsvergessen sein. Und da die gewaltsamen Übergriffe an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Sozialisten damals so beispiellos waren, kann man heute auch so beispielhaft gegen die ins Land kommenden Roma wettern oder gegen Moslems hetzen.

Die "mathematisch Formel namens beispielloses Szenario = alternativlose Reaktion" ist Ausdruck einer politischen Mentalität, die bereit ist, alles in einen Zustand der Singularität zu befördern. Geschichte als Reservoire menschlichen Erfahrungsschatzes verblasst da. Passend dazu wird der Geschichtsunterricht an Schulen geschrumpft. Wenn alles singulär erscheint, also kein Beispiel findet in ähnlichen Konstellationen, dann ist jede Maßnahme letztlich vielleicht richtig. Und die Verbrämung zur alternativlosen Handlung ist nicht mehr weit. Vieles was in der modernen Welt geschieht mag tatsächlich ohne Beispiel sein - oder sagen wir: ohne adäquates Beispiel. Aber die stetige Benutzung von beispiellos ist ein Freifahrtschein für beispiellose Politik. Es ist ein Modewort einer Epoche, die beispiellose Sensationsgier mit beispielloser Geschichtsvergessenheit paart und dabei beispiellose Alternativlosigkeit gebiert.


5 Kommentare:

Anonym 4. Februar 2014 um 07:15  

"[...]Es ist ein Modewort einer Epoche, die beispiellose Sensationsgier mit beispielloser Geschichtsvergessenheit paart und dabei beispiellose Alternativlosigkeit gebiert[...]"

Voll auf den Punkt gebracht, übrigens zum "beispiellos" paßt auch, dass man auch Beispiele aus der Geschichte Deutschlands umschreibt, und nicht nur in "Geschichtsvergessenheit" - Guido Knopp & Konsorten lassen grüßen.

Derzeit sieht man das an der Neu-Umschreibung der Geschichte zum 1. Weltkrieg, der eben nicht von Deutschland ganz allein vom Zaun gebrochen wurde, wie ich noch als Schüler lernen mußte, sondern eben auch von anderen damaligen Nationen ausgelöst wurde.

Auch zum II. Weltkrieg gibt es solche Beispiele moderner Geschichtsfälschung, ebenso wie zum Holocaust, der Vergasung von Menschen, die eben nicht einmalig war, wie manche Historiker neuerdings behaupten, die sogar Stalins Verbrechen übertreiben indem die der UDSSR Vergasungsmethoden vorwerfen, die eben sonst nur einmalig in Deutschland erfunden wurden, wie ich mal in der Schule gelernt habe - den Gaswagen z.B.

Wahrhaft "beispiellos" ist eben auch der neoliberaler Drang zur Geschichtsfälschung, siehe oben.

Vielleicht schreibst du ja auch mal was dazu?

Der längst verstorbene konservative Historiker Sebastian Haffner ( Autor z.B. von "Der Verrat") schrieb einmal, vor Jahren, dass auch Historiker nur politische Menschen ihrer jeweiligen Epoche wären, und dies eben in die Geschichtsschreibung einfließen würde - Derzeit grassiert eben, nicht allein in Deutschland, die neoliberale Geschichtsfälscherei bzw. der neoliberale Geschichtsrevisionismus nicht nur die "Geschichtsvergessenheit"

Gruß
Bernie

Anonym 4. Februar 2014 um 14:05  

Ist "Ohne historisches Vorbild" sowas wie "beispiellos"?

Ob ich da mal Birgit Breuel frage?

Anonym 4. Februar 2014 um 16:05  

ANMERKER MEINT:

Und dann haben wir ja noch unseren beispiellosen Bundespräsidenten, dem Jürgen Todenhöfer gerade einen "Offenen Brief" geschrieben hat:
"Jürgen Todenhöfer
Offener Brief an Joachim Gauck

LIEBER HERR BUNDESPRÄSIDENT, Sie fordern, dass Deutschland mehr Verantwortung in der Welt übernimmt. Auch militärisch. Wissen Sie wirklich, wovon Sie reden? Ich bezweifle es und habe daher vier Vorschläge:
Ein Besuch im syrischen Aleppo oder in Homs. Damit Sie einmal persönlich erleben, was Krieg bedeutet.
Vier Wochen Patrouillenfahrt mit unseren Soldaten in afghanischen Kampfgebieten. Sie dürfen auch Ihre Kinder oder Enkel schicken.
Ein Besuch eines Krankenhauses in Pakistan, Somalia oder im Yemen – bei unschuldigen Opfern amerikanischer Drohnenangriffe.
Ein Besuch des deutschen Soldatenfriedhofes El Alamein in Ägypten. Dort liegen seit 70 Jahren 4.800 deutsche Soldaten begraben. Manche waren erst 17. Kein Bundespräsident hat sie je besucht.
Nach unserem Grundgesetz haben Sie “dem Frieden zu dienen”. Angriffskriege sind nach Artikel 26 verfassungswidrig und strafbar. Krieg ist grundsätzlich nur zur Verteidigung zulässig. Sagen Sie jetzt nicht, unsere Sicherheit werde auch in Afrika verteidigt. So etwas ähnliches hatten wir schon mal. 100.000 Afghanen haben diesen Unsinn mit dem Leben bezahlt.
Wie kommt es, dass ausgerechnet Sie als Bundespräsident nach all den Kriegstragödien unseres Landes schon wieder deutsche Militäreinsätze fordern? Es stimmt, wir müssen mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber doch nicht für Kriege, sondern für den Frieden! Als ehrlicher Makler. Das sollte unsere Rolle sein. Und auch Ihre.
Ihr Jürgen Todenhöfer
PS: Mir ist ein Präsident lieber, der sich auf dem Oktoberfest von Freunden einladen läßt, als einer der schon wieder deutsche Soldaten ins Feuer schicken will. Von seinem sicheren Büro aus. Fast bekomme ich Sehnsucht nach Wulff. Der wollte Menschen integrieren, nicht erschlagen."

Soviel zur Besispiellosigkeit von Bundespräsidenten!

MEINT ANMERKER

ad sinistram 4. Februar 2014 um 17:03  

Ich habe damals, als der Wulff ging, schon geahnt, dass das ein "schlechtes Geschäft" wird. In diesem Bundespräsidenten schlägt sich die Verrohung der Gegenwart nieder.

maguscarolus 4. Februar 2014 um 19:42  

Ich erinnere immer gerne an Wulffs Lindauer Rede! So etwas wird man vom "Freiheitshelden" Gauck nie, nie, nie hören, und diese Rede hat ja auch sicher dazu geführt, Wulff wegen Verfehlungen, deretwegen andere Amigos im Bierzelt auf den Schild gehoben und gefeiert werden, aus dem Amt zu jagen.

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