Stillgestanden!

Mittwoch, 1. Mai 2013

Oft wiederholter Vorwurf der Opposition (die bald Koalition sein will) an die Koalition (die bald Opposition sein soll): Sie bedeute oder sei oder zeitige Stillstand. Neulich hat Trittin abermals den Stillstand als Anklage benutzt und die Regierung sogar als einen "fleischgewordenen Stillstand" geschimpft. Steinbrück hat Ähnliches auch schon gesagt - ist aber auch kein Kunststück: Steinbrück hat ja alles Sagbare schon mal gesagt.

Der Stillstand muss etwas geradezu Schreckliches sein, so oft wie er zum Vorwurf und zur Anregung einer Abwahl bemüht wird. Stillstand ist Rückschritt, kennt man ja als Bonmot. Ist Bewegung also demgemäß immer Fortschritt? Ganz gleich, in welche Richtung sich bewegt wird? Wer das als Motivation anführt, um diese Regierung abzuwählen, macht keine Werbung für sich, sondern stellt einen Freifahrtschein für Aktionismus aus, frei nach der Devise: Hauptsache wir bewegen uns, ganz egal wohin.

Vor einigen Jahren, als diese aktuelle Opposition gerade gemeinsam auf Regierung machte, hat man das ähnlich beklagt. Damals hieß es, die schwarz-gelbe Regierung hätte sich seit Jahren im Reformstau befunden, sich nach langer Zeit an der Macht kaum noch bewegt. Und weil dem so war, musste Rot-Grün nun dringend Reformen schmieden, den Stau auflösen und sich bewegen. Da entschieden sie sich dann für so Sachen wie für die Einführung des Dosenpfands oder für Hartz I bis IV. Vordringlich war nur, dass der Stillstand aufgehoben, der Stau beseitigt war.

Ist Bewegung irgendein Maßstab für irgendwas? Dass Stillstand Rückschritt sei, ist ohnehin ein haarsträubend dämlicher Spruch aus dem kapitalistischen Repertoire. Es ist dem Paradigma vom endlosen Wachstum geschuldet, vom endlosen Überschreiten irgendwelcher final frontiers, die dann aber nicht das Finale, sondern lediglich Ausgangspunkte zu neuen Expansionen sind, zu neuen Profitchancen und Akkumulationsofferten. Bewegung ist somit rein systemisch gesehen immer besser, denn nur sie komme der Rückschrittlichkeit zuvor und mache den Fortschritt erst möglich. Insofern ist die Beseitigung des Reformstaus mittels Agenda 2010 natürlich als fortschrittlich zu sehen. Aber ist diese Agenda in jedem Falle besser als der drohende Stillstand?

Eine Regierung, die wie die amtierende, von Anfang an verdächtigt wurde, gezielte Klientelpolitik zu betreiben und wirtschaftliche Partikularinteressen durchzusetzen, ist jedenfalls besser als befürchtet, sofern sie stillhält. Ich persönlich wäre froh gewesen, wenn diese Regierung viel öfter den Stillstand eingehalten hätte, ganz nach der Devise: Nichts anfassen, dann geht auch nichts kaputt. Dumm nur, dass sie so selten stillgehalten hat. Es war und ist nämlich leider nicht so, wie die Opposition jetzt skandiert. Die sollte daher nicht mit der Mahnung des Stillstands zur Abwahl der Regierung aufrufen, sondern diese dringend auffordern, sofort mit dem Stillstand zu beginnen.

Aber früher oder später bewegt sich dann doch wieder jemand. Und in welche Richtung sich dann bewegt wird, ist im Neoliberalismus eigentlich klar. Aber da dann schon mal Bewegung in der Sache ist, nennen sie es Fortschritt ...


8 Kommentare:

altautonomer 1. Mai 2013 um 07:16  

Frühaufsteher Roberto:
Bei Stillstand denke ich spontan die die mir in meiner Umgebung bekannten Tumorkranken. Die wünschen sich nichts sehnlicher, als zunächst erst mal einen Stillstand (Stagnation ist ja auch so etwas Negatives). Die negative Konnotation dieses Begriffs hat für mich keine allgemeine Gültigkeit und wird in der Ökonomie nur funktionalisiert um Wachstum zu ideologisieren.

Anonym 1. Mai 2013 um 10:23  

ANMERKER MEINT:

Es stimmt schon, das Wort Stillstand wird meist zur Desavouierung des jeweiligen politischen Gegners verwendet. Vielleicht wäre ja zur Definition von Zielsetzungen der Begriff Nachhaltigkeit besser. Wobei dann allerdings dazu gesagt werden müsste, dass damit z.B. "Stillstand" in der Oekonomie gehört und das wiederum ein gar nicht schlimmer "Stillstand" wäre, im Gegenteil. Stillstand als politischer Kampfbegriff ist jedenfalls nichts anderes als Gehirnvernebelung.

MEINT ANMERKER

Anonym 1. Mai 2013 um 11:08  

"[...]Aber früher oder später bewegt sich dann doch wieder jemand. Und in welche Richtung sich dann bewegt wird, ist im Neoliberalismus eigentlich klar. Aber da dann schon mal Bewegung in der Sache ist, nennen sie es Fortschritt ...[...]"

Hättest du dies als Mensch des Zeitalters der beginnenden Industrialisierung, und des damaligen Fortschrittsoptimismus der uns immerhin den 1. und 2. Weltkrieg, und diverse Umweltkatastrophen - ja, auch damals schon - beschert hat, wäre der Text nicht aktueller gewesen.

Tja, der Neoliberalismus zeigt auch hier, dass er nur eine neue Art des (ur-)alten Liberalismus ist.....mit all seinen verheerenden Folgen....und dass der Mensch eben doch ein lernresistentes Wesen ist....evtl. sogar ein masochistisches.....

Gerade am 01. Mai denke ich so, wenn diverse DGBler, und sonstige Gewerkschafter, an einem Feiertag öffentlich Reden halten lassen - von den rot-grünen Verrätern, die auch nicht besser als CDU/CSU/FDPler sind....

Wieso läßt man denn nicht gleich Bankoberbosse, und sonstige Gewerkschaftsfeinde bei DGB-Demos sprechen? So masochistisch wie die Gewerkschaftsoberbosse - nicht erst neuerdings - drauf sind?

Frägt sich ganz zynisch
Bernie

Anonym 1. Mai 2013 um 12:36  

Mal den Stillstand genießen und innehalten, weil dieser Weg der Richtige ist!

http://altonabloggt.wordpress.com/2013/04/30/hartz-iv-fuhrt-zur-erpressbarkeit/

Anonym 1. Mai 2013 um 18:18  

@ Bernie 11:08 Uhr

Ja, das mit der Kumpanei in DGB und SPD Kreisen mit den sog. Unternehmern ist wirklich mehr als augenfällig. Es ist deshalb kein Wunder, dass der Organisationsgrad in den DGB-Gewerkschaften schwindet und die Umfrageresultate für die SPD nicht minder. Ein Gipfel der Kumpanei ist ja, dass die Zeitung "vorwärts" der SPD zum 150jährigen Jubiläum der Partei auch den Arbeitgebervertreter Hundt mit einem Grußwort "ehrt" und diesen in diesem den ganzen neoliberalen Scheiß vortragen lässt, dem er ja nun verpflichtet ist - so what? Bleibt nur das mühsame Geschäft, nicht nur zu entlarven sondern auch zu fordern und diese Organisationen an ihrem Anspruch zu messen:die SPD an dem der Gerechtigkeit und den DGB und seine Gewerkschaften am wirklichen Kampf für die Beschätigten, was z.B. hieße: Her mit der Kampagne für die 30stundenwoche und her mit der Kampagne für den Generalstreik!

MEINT ANMERKER

klaus baum 1. Mai 2013 um 20:59  

ich weiß nicht, ob du es weißt, aber du hast heute deinen beckett-tag:

"Something is taking its course."

"Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben. So was Fragen, Hypothesen nennen. Fortschreiten, so was schreiten, so was fort nennen."

Es ist ein Merkmal politischer Propaganda, dass sie keine Sprachzweifel kennt.

Hartmut B. 1. Mai 2013 um 22:55  

Stillstand und Bewegung ist wohl immer eine Frage der Interessen.
Letztendlich sind fast alle Arbeiterbewegungen weltweit nahezu zum Stillstand gekommen.....

flavo 2. Mai 2013 um 10:46  

Stillstand ist wohl ein schwieriger Zustand für den Mensch in mancher Hinsicht. Das erste Problem ist dieses: der Lebensprozess bleibt von alleine nie stehen. Zweifellos kann man sich von seinem Sog etwas lösen und heraustreten daraus, allerdings auch nur so weit, dass man ihn spaltet und einen großen Strom vor sich stellt und betrachtet, wenngleich dieses Betrachten ein Prozessuales bleibt, man gewissermaßen aus dem fließenden Wasser gehüpft ist, aber nach wie vor auf der sich drehenden Erde steht. Diesem Vorgehen folgen im Wesentlichen alle Wege, die Meditation anbieten, vor allem wenn sie ernsthafter sind als all jene der Esoterik, welche sie unterscheidlich ausschmücken, oft gar bis zur Unkenntlichkeit verzerren und eigentlich im Wasser bleiben. Dieses Weg haben die Menschen, ob es einem passt oder nicht und vermutlich ist er einer, der noch viel zu wenig politisch betrachtet wurde.
Aber bleiben wir im Wasser. Dort finden man die Ideologie der Tat. Die Tat, sei es nun eine revolutionäre oder eine politische oder auch nur eine alltägliche, könne Veränderung bewirken. Wie alle sehen, hält man von der Revolution nicht mehr viel, die politische Tat taucht in neuer Bescheidenheit auf und begrenzt sich im Wesentlichen gemß der herrschenden Kommunikationsform auf Aufmerksamkeiterzeugung. Man will
Aufmerksamkeit erzeugen, welche in der Folge in den Fluss der praktizierten Politik einfließt und Veränderung erwirkt. Schreie nur laut genug, dass du dies oder jenes willst, dann wird das politische System wie ein Fleischwolf dies durcharbeiten und einen Output erzeugen. Wie alle wissen, nützt dies vor allem dazu, die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren und von vorn herein eine Plattform einer erwünschten Oppostion einzurichten, sodaß die Oppostion sich schon mal spaltet.
Aber komme ja nicht auf die Idee, zu revoltieren, zivil ungehorsam zu werden oder gar die Produktionsmittel besitzen zu wollen! Die Reihe illegitmimer politischer Taten ist länger geworden. Die Mitglieder der Akademien stehen inzwischen stramm und still in Reihe auf Seiten dieser Regel der herrschenden Verhältnisse. Man kann heute alles sagen, aber bitte ins bereitgestellte Mikrofon. Hier stehen wir also still.
Das der kapitalistische Ökonom und der Kapitalist darselbst den Stillstand verabscheuen, da der Mehrwert nicht von alleine entspringt und daher immerzu etwas zu tun ist, wurde bereits dargelegt.
Die Tat ist hier das Heil. Schmach, Scham und Schande belegen das Reich des Stillstandes. Feigheit gar und mancher würde eine Konnotation der Faulheit finden. Feigheit, Faulheit also auch, der Christ sieht sogleich die Trägheit als Sünde und spürt sogleich den mentalen Geißelschlag: Hopp, nun aber los! Der Psycholog sieht analog zum Christ nicht die Sünde, sondern die Depression: Hopp, nun aber los! Dort war es der Zehnte, hier der Profit der Stachel. Welche Summe an schmerzvollen Zuständen hat man im Reich des Stillstandes da nur angelegt. Einen Sumpf, in den man zu versinken droht. Das Leben ergraue. Man vertue alles. Man lebe umsonst. Man käme zu kurz. Man bliebe zurück. Man sei wohl krank, man bringe sich um die einfachsten wohligen Zustände, man sei nicht mehr verstehbar, man sei rätselhaft, gar beängstgend. Das Ausharren im Stillstand sei, das ist gegenwärtige Ansicht, ein Mangel weithin. Äße man gerade genug und schaute das Leben einen Baum an, man bekäme zu hören, dass man schlichtweg falsch gelebt hätte. Die ganzen Momente des Lebens wären keine Lebensmomente gewesen, sondern Unausprechliches, sagen wir X. Man hätte also geXt ('geixxt') und nicht gelebt. Xmomente geXt.

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